Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15. Kapitel

Stasi war auf den Bodenraum ihres Häuschens gestiegen und kramte unter dem Gerümpel aller Art, das sich im Laufe der Zeit dort angesammelt hatte. Ambros stand in der Küche am Herdfeuer und goß Kugeln für seinen Stutzen, während David im Stall der Kuh und den Ziegen ihr Mittagsfutter gab.

Nach einiger Zeit hörte Ambros sich von seiner Frau rufen. Er möge heraufkommen und ihr helfen.

»Was gibt's denn?« fragte er.

Als er mit dem Oberkörper durch die Bodenluke gekommen war, blieb er stehen und wiederholte seine Frage nach Stasis Begehren.

»Siehst du, was ich hier hab?« fragte Stasi dagegen.

Er verneinte; denn es war unter dem Dach so finster, daß er überhaupt nichts sah. »Was ist's denn?«

Stasi antwortete jedoch nicht. Er stieg noch ein paar Leitersprossen höher, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fing er an zu lachen. Stasi stand wenige Schritte von ihm neben einem Ding, das große Ähnlichkeit mit einer Wiege hatte.

»Was lachst denn, du dummer Brosi du?« rief sie, ebenfalls lachend. »Nimm's und trag's hinunter!«

»Ja, wozu denn?«

»Jetzt hör einer den Buben an! Ich will sie rein machen und nachsehn, ob was dran auszubessern ist.«

»An dem alten Gerümpel?« versetzte er. »Das laß nur ruhig stehn.«

»O du böser Bub! Jetzt schilt er mich gar ein altes Gerümpel!« entgegnete sie, dicht an ihn herantretend, und zauste ihn am Haar. »Die Wiege ist just so alt, wie ich bin.«

»Also so klein bist du auch mal gewesen und hast mäh, mäh gemacht?« scherzte er.

Stasi lachte. Dann wiederholte sie ihre Bitte, daß er die Wiege hinunterschaffen möchte.

»Nit doch!« weigerte sich Ambros. »Mein Bub soll eine neue Wieg haben. Gleich heut nachmittag will ich hingehn und eine bestelln.«

»Aber Wozu ist denn das nötig?« wandte sie ein. »Diese hier ist gewiß noch ganz gut, und wir können das Geld sparn.«

»Sparn! Sparn!« rief er ärgerlich. »Was, nit einmal so viel soll ich an meinen ersten Buben wenden? Komm herunter!«

»Ach, Brosi, nimm's doch nit gleich so scharf!« bat sie. »Siehst denn nit ein, daß wir besser täten, unser bissl Geld zusammenzuhalten, anstatt uns unnütze Ausgaben zu machen? Das wär ja die reine Verschwendung, und wir haben's doch nit dazu!«

Ein Verschwender sei er nicht, versetzte er unwirsch, und sie hätte es am wenigsten nötig, ihm vorzuwerfen, daß er arm sei. Damit stieg er die Leiter hinunter, während sie ihm erschrocken nachrief, daß es ihr nicht eingefallen sei, ihm Vorwürfe zu machen; nur ihre Lage habe sie ihm vorstellen wollen.

Als David etwas später zum Mittagessen in die Stube kam, hatte Stasi rote Augen, und Ambros aß in verdrossenem Schweigen. David sah beide verstohlen an, und das Herz schwoll ihm traurig. Es war ein kurzer Sonnenblick gewesen, der nach der Fastnacht in das Häuschen gefallen war. Er hatte auch auf den Ohm, den Ambros' herrisches Wesen schwerer und schwerer drückte, belebend gewirkt. Nun war alles wieder trübe, und die Augen des Alten richteten sich unwillkürlich auf die Stelle, wo das Bett seiner Schwester gestanden hatte. Stasi bemerkte diesen Blick, und sie mußte vom Tisch weggehen, um ihre heraufquellenden Tränen zu verbergen. Ambros warf den Löffel hin, holte seine frisch gegossenen Kugeln hervor und begann die Bärte daran wegzuputzen.

»Das blinkt wie Silber und ist doch nur Blei«, äußerte David, nachdem er eine lange Weile von der Ofenbank aus, auf die er sich zur gewohnten Mittagsruhe zurückgezogen, auf die blitzenden Kräusel geschaut hatte, die unter Ambros' Messer von den Kugeln abfielen.

Ambros hob lebhaft den Kopf. »Es glaubt mancher, er hat einen Schatz, und es ist bloß Blendwerk«, sagte er mit bitterem Lachen.

Es war David schwerlich in den Sinn gekommen, eine Anspielung zu machen, und er hätte auch Ambros' Antwort als eine allgemeine Wahrheit hingenommen, wenn sie nicht von dem bitteren Lachen begleitet gewesen wäre. Dadurch wurde er stutzig. Grübelnd wiegte er seinen schweren Kopf hin und her, und plötzlich war es, als ob er einen elektrischen Schlag erhalten hätte. Er blickte sich wie verloren in der Stube um und fand sich allein. Ambros hatte die Kugeln weggetan, seinen Hut genommen und das Haus verlassen. »Jesus Maria! Jesus Maria!« stöhnte David leise. »Arme Stasi!« Er drückte die gefalteten Hände zwischen den Knien zusammen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Zwei dicke Tränen rollten ihm langsam aus den Augen.

In Ambros war die alte Wunde wieder aufgebrochen, die sein Stolz seit der letzten Begegnung mit dem Vater notdürftig überharscht hatte. Er war von Hause fortgegangen, um die Wiege zu bestellen; Stasis Einwendungen erschienen ihm höchst abgeschmackt. Die wenigen Gulden, die die Wiege kosten würde, könnte er schon anschaffen, wenn es not täte, dachte er. Er schalt Stasi beschränkt; und darum müßte sie lernen, sich seinem überlegenen Verstande unterzuordnen. Sie hatte zu gehorchen; denn er war der Herr! Oder bildete sie sich etwa ein, daß sie ihn nach Belieben gängeln könnte, weil der Hof ihr gehörte?

Statt zum Tischler ging er zu dessen Nachbarn, dem Bäcker, und ließ sich ein Glas Branntwein einschenken, um seinen Verdruß hinunterzuspülen. Die Schenkstube war leer, und Ambros setzte sich an den Tisch zwischen den Fenstern, den Rücken der Stube zugekehrt. Der Bäcker wollte ihm Gesellschaft leisten, erhielt aber nur kurze, unwirsche Antworten und überließ ihn daher sich selbst. Ambros stützte den Kopf in beide Hände und starrte in das vor ihm stehende Glas, das er zur Hälfte geleert hatte. Wie er in der Stille, die ihn umgab, den Bach vor den Fenstern rauschen hörte, fiel ihm ein, daß er am Allerseelentage zum letztenmal hiergewesen war, und die wenigen Monate, die seitdem vergangen waren, dünkten ihn Jahre – Jahre des Glücks? Er sah nur Schatten. Er sah wieder das schwarzbraune, runzlige Gesicht der Ahne vor sich und hörte sie von seinem Vater erzählen. Sie hatte recht behalten: Der Vater hatte kein Herz in der Brust! Aber was kümmerte ihn der Vater? Er wollte nichts mehr von ihm, er war fertig mit ihm! Hastig stürzte er den Rest seines Glases hinunter. Der Gedanke, den er ertränken wollte, tauchte jedoch in anderer Gestalt wieder auf. Er selbst sollte Vater werden! Wie war ihm die Welt verwandelt erschienen, als ihm Stasi in der ersten Stunde des Aschermittwochs das Glück, das seiner harrte, ins Ohr geflüstert hatte, und wie war er sich selbst als ein ganz anderer vorgekommen – so fest und stolz im Leben wurzelnd, so von froher Kraft durchdrungen, so ganz nun ein Mann! Und nun sollte sein Bube – er vermochte es sich nicht anders vorzustellen, als daß sein Kind ein Knabe sein müßte – ein Aschermittwochskind werden, bestimmt, nur die Fasten des Lebens kennenzulernen! Nicht einmal eine eigene Wiege sollte es haben! Gut, er begehrte nichts für sich; er hatte sich sein eigenes Los geschmiedet, und der Vater sollte nicht die Schadenfreude haben, daß es ihn zu Boden druckte. Aber welch andere Zukunft würde seinem Sohne blühen, wenn er noch der Erbe des Klosterhofes wäre!

Er stampfte mit seinem Glas auf den Tisch und ließ es sich nochmals füllen. Der Wirt machte im stillen seine Glossen darüber. Ambros war, wie er wußte, kein Schnapstrinker; aber freilich: wenn das Geld nicht mehr ausreicht, um den Verdruß in Wein zu ertränken, dann kommt der Branntwein an die Reihe. Ambros war nicht der erste, der ihm zu dieser Beobachtung Gelegenheit bot.

Der Branntwein schürte Ambros' Groll. Er fragte sich, ob es seine oder nicht vielmehr des Klosterbauern Schuld wäre, wenn sein Sohn zu einem Leben voll schwerer Arbeit und Entbehrung geboren würde. War er nicht vollkommen im Recht, wenn er dem Klosterbauern alle Schuld beimaß? Warum sollten er und seine Nachkommen es entgelten, wenn der Vater noch über das Grab hinaus den Vater Stasis haßte? Es war Unsinn, Verrücktheit, und er ärgerte sich, daß er dem Vater in dem Streit um Stasi nicht noch ärgere Dinge gesagt hatte. In Gedanken erneuerte er den Streit mit ihm und sagte ihm das Schlimmste, das ihm seine erregte Leidenschaft eingab. Plötzlich zuckte er auf. Hatte der Vater das Wort, das er im Geiste zu hören glaubte, bei ihrem damaligen Streit wirklich gebraucht, oder rief er es sich nur selbst zu? Es war die Stimme des Vaters, die er vernahm: »Du brauchst eine, die den Kopf vor den Leuten so hoch trägt wie du, und das kann eine Arme nit!« Das Blut in seinen Wangen schien sich zu entzünden, und er ballte die Faust, daß er darauf nichts zu erwidern wußte. Nein, das konnte Stasi nicht; darin hatte der Vater recht – hatte er es doch auf der Fastnacht sattsam erfahren! Er begriff nicht, wie er die Warnung seines Vaters so ganz hatte außer acht lassen können. Wieder stützte er den Kopf, jetzt zwischen die geballten Fäuste, und starrte mit weitgeöffneten Augen vor sich hin. Es wollte ihn bedünken, als hätte der Vater alles vergeben und vergessen, wenn Stasi nur verstanden hätte, etwas vorzustellen. Er verglich sie mit seiner Schwester; auch Lisei war gut und sanft, und dennoch wußte sie sich bei den Knechten und Mägden auf dem Klosterhof in Ansehen zu erhalten und mit allen Menschen unbefangen und mit ruhiger Schicklichkeit zu verkehren. Sie vergab sich trotz aller Freundlichkeit nichts gegen niedere Leute, und daß sie ihre Haltung auch gegen Höherstehende zu behaupten wußte – davon hatte er sich erst neulich in den Sennhütten von Tamers zu überzeugen Gelegenheit gehabt. Er wünschte, daß er Stasi nie geheiratet hätte. Sie paßte in keiner Beziehung zu ihm und zog ihn herunter, während er sie neben sich zu stellen versuchte. Sie war so schwerfällig, so kleinlich und beschränkt! Er hatte ihr seine ganze glänzende Zukunft geopfert und mußte sich nun von ihr vorhalten lassen, daß er ihre paar lumpigen Kreuzer nicht zusammenhalte!

Himmel, Herrgott!

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Schnapsglas fast umgefallen wäre. War es ihm auch nicht an der Wiege gesungen – setzte er seinen Gedankengang fort –, daß er eines Tages ein armer Teufel sein würde, so war es immerhin zu ertragen. Aber wie ein Tagelöhner für Weib und Kind zu schanzen, daß ihm das Blut unter den Nägeln hervorspritzte – in Wirklichkeit allerdings hatte er bisher alle Arbeit David fast allein tun lassen –, das ging denn doch über den Spaß! Zu nichts weiter dazusein im Leben, als für Weib und Kind ein Stück Brot zu schaffen! Dazu auch noch für den alten Schwachkopf von Ohm, der ihn nichts anging! Und wenn ihm seine Frau noch das Leben erleichtert hätte! Aber sie nahm alles so schwer. Sprach er einmal ein ernstes Wort mit ihr – gleich kamen ihr die Tränen in die Augen! Und war er einmal lustig, schnitt sie ein Gesicht, als ob er ein Verbrechen begangen hätte! Sie war ganz das Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter.

Er leerte sein Glas und trat an das nächste Fenster. Schräg gegenüber lag die Mühle Arigayas; Ambros blickte nach dem weißlichen Schindeldach hinüber und mußte daran denken, in welch guter Laune die schöne Müllerin stets wäre, obgleich sie es wahrlich auch nicht leicht hätte. Denn für das junge, schöne und lebenslustige Weib mußte der alte Mann doch wohl oft genug eine Last sein. Er wunderte sich, daß ihm das früher nie eingefallen war. Jedenfalls ließ sie keinen merken, daß sie ein Kreuz trug, und er erinnerte sich an die lustigen Stunden, die er früher in der Mühle verlebt hatte. Er gedachte auch der Fastnacht im Bannwald. Ja, das war eine Frau, die zu dem Ambros Falkner gepaßt hätte! Vor einer solchen Söhnerin wäre der Hochmut des Klosterbauern trotz all ihrer Armut geschmeidig geworden! Vor längerer Zeit war auf dem Viehmarkt in Bruneck eine Menagerie ausgestellt gewesen, und Ambros hatte gesehen, wie eine junge Frau einen Löwen allerhand Kunststücke hatte machen lassen. So, meinte er, hätte die schöne Afra durch ihr Wesen auch den Klosterbauern gezähmt. Es waren müßige Gedanken, und er wollte sich von ihnen abwenden. Aber das nach der Mühle wogende und sprühende Wasser zog seine Gedanken dorthin; Afras blühende Gestalt trat ihm immer deutlicher vor Augen, und es war ihm, als ob er wieder mit ihr die Forlane tanzte. Unwillkürlich drehte er die Spitzen seines Schnurrbarts in die Höhe. »Unsinn!« murmelte er, indem er sich vom Fenster abkehrte. Er wollte zahlen und heimgehen. Bei dem Gedanken an zu Hause seufzte er. Wie langweilig war es daheim, und wie munter wußte Afra immer zu plaudern! Stasi war so wenig gesprächig – kaum daß sie den Mund auftat, wenn er sie nicht etwas fragte! Und vollends David, der sich stumpfsinnig auf der Ofenbank hin und her wiegte, wenn er nicht gedankenlos Gebete murmelte!

Er zahlte und schlug den Weg nach der Brücke ein. Seit der Fastnacht war er nicht in der Mühle gewesen, und es wurde doch, wenn er nicht für einen ganz ungeschliffenen Menschen gelten wollte, endlich Zeit, sich zu erkundigen, wie dem alten Arigaya und seiner Frau das Waldfest bekommen sei.

Afra stand in der Haustür und spielte mit Lupattino, der, sobald er Ambros kommen sah, seine Herrin verließ und ihm in großen Sätzen über den Steg entgegensprang. Das Gesicht der jungen Frau glühte – vielleicht vom Spiel mit dem Wolfshund, dessen Liebkosungen Ambros kaum abzuwehren vermochte und der nun wieder zu Afra zurück sprang.

»Mich wundert's, daß der Lupattino dich noch kennt«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

»Wann's die Müllerin wundert«, versetzte er, ihre Hand kräftig schüttelnd, »so soll das wohl heißen, daß sie selbst ein kurzes Gedächtnis für ihre Freund hat?«

»Du kehrst den Spieß geschickt um!« lachte sie. »Nein, wen ich für meinen Freund halt, den vergeß ich nit wieder, selbst wann er's hundertmal verdient, daß ich's tät.«

Sie bückte sich, klopfte Lupattinos Kopf und hieß ihn Raum geben, damit der Gast ins Haus treten könnte, worauf sie selbst Ambros voran in die Stube ging. Ihr Spiel mit dem Hund mußte wohl sehr lebhaft gewesen sein, denn ihre Flechten, die sie tief im Nacken zusammengelegt trug, hatten sich von den Nadeln befreit und hingen bis über die Hüften herunter. Wie sie so über die Wölbung des Rückens glitten, schien sich Afras schlanke, doch volle Gestalt höher zu heben und elastischer zu werden. Ambros spürte ein Verlangen, nach den üppigen Flechten zu greifen.

»Mein Mann wird wohl gleich kommen«, sagte Afra in der Stube. »Sitz doch nieder.«

»Oh, ich hab mit dem Müller just nix zu reden«, erwiderte er. »Ich war hier in der Näh; da bin ich auf einen Augenblick vorgesprochen.«

Sie setzte sich ihm gegenüber, und als sie sich zurücklehnte, fühlte sie den Druck der heruntergefallenen Flechten. Mit einem verlegenen »Ach!« griff sie nach ihnen und warf sie aufstehend über die Brust.

»Was du für prächtige Zöpf hast!« rief Ambros bewundernd.

»Willst mir schmeicheln?« fragte sie mit einem Lachen, das deutlich genug verriet, daß sie die Schmeichelei freute. Sie trat ein wenig von ihm weg und begann, den Kopf neigend, die Flechten wieder aufzustecken. Ambros schaute ihr still zu, und ihre Unterarme, von den kurzen, mit Zwirnspitzen besetzten Hemdärmeln unbedeckt, dünkten ihn wunderbar weiß und rund. Auch Afra schwieg unterdessen; ihre schwarzen Augen ruhten auf Ambros, und um ihre vollen Lippen spielte ein leises Lächeln. Sie konnte sich unmöglich darüber täuschen, daß er sie mit Wohlgefallen betrachtete, und ein süßes Erschrecken überkam sie.

Als sie ihr Haar wieder befestigt hatte, neckte sie Ambros, daß er inzwischen so andächtig dagesessen hätte wie in der Kirche. Sie wollte wissen, woran er gedacht habe. Aber sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern fuhr fort zu scherzen und zu plaudern, und bald waren beide mitten in den Erinnerungen an den Fastnachtstanz.

»Ach, war das schön!« seufzte sie, lehnte sich, die weißen Arme unter dem Busen verschränkend, auf ihrem Stuhl zurück und blickte ihn aus halbgeschlossenen Augen träumerisch an.

»Bei Gott!« bestätigte er, seinen Schnurrbart streichend.

Plötzlich lachte sie hell auf. Sie erinnerte sich, wie einer Dirne der Schuh vom Fuß geflogen war, als ihr Tänzer sie in die Luft geschwungen hatte. Der Schuh war wie eine Bombe zwischen die älteren Männer in der Ecke gefallen und hatte dem Oberförster, der eben trinken wollte, das Glas zerschlagen. Sie erzählte Ambros, der es nicht gesehen hatte, davon, und beide lachten ausgelassen.

»Ja, Glück und Glas, wie leicht bricht das!« rief sie darauf. »Aber Was tut's? Man muß es nur gut in acht nehmen; dann hält's schon vor. Meinst nit?«

»Freilich, wann's nit ein Zufall zerschlägt!« lachte er.

Sie schreckte leicht zusammen; dann aber lachte auch sie und rief: »Drum soll einer nit fragen, was nachher kommt, wann er das Glück in der Hand hält.« Ihre Augen flammten in die seinen.

»Ja, wer das Glück beim Schopf zu packen kriegt, der soll's festhalten!« versetzte er. »Zum Teixel, es hätt vorhin nit viel gefehlt, und ich hätt dich bei deinen Zöpfen gepackt!«

»Bin ich das Glück?« lachte sie und wurde bis über die Augen rot

»Ja, ich weiß nit«, entgegnete er etwas verlegen. »Aber ich hab's abgemalt gesehn als ein schönes Weibsbild, das auf einer Kugel steht. Warum sollst du's nit sein?«

»Aber ich steh auf einem Mühlrad!« lachte sie noch stärker.

»Um so besser!« rief er. »Die Kugel rollt fort, und das Mühlrad dreht sich immer auf derselben Stell. Da weiß einer doch, wo er das Glück zu finden hat.«

Sie schlug die Augen nieder und sagte ablenkend: »Der eine sucht's hier, der andre dort. Weißt du, wo dein Freund, der Jerg, es sucht?«

Ambros zuckte mit den Schultern. Was kümmerte es ihn? »Auf dem Klosterhof«, verkündete Afra.

»Jetzt laß mich aus!« rief er ungläubig. »Du hast davon schon in Tamers gered't; aber es ist kein Verstand nit drin.«

»Weißt du's besser?« fragte sie. »Damals hab ich bloß einen Verdacht gehabt; jetzt ist's aber gewiß. Denn er hat vom Müller verlangt – und ich bin dabeigewesen –, daß er für ihn um deine Schwester werben sollt. Der Müller hat's ihm aber abgeschlagen.«

Ambros war plötzlich sehr ernst geworden. »Eine Reiche hat er immer haben wolln, das weiß ich«, murmelte er. Dann aber fügte er zuversichtlich hinzu: »Es hat doch keinen Verstand, denn die Lisei ist treu wie Gold. Und wann sie's auch vielleicht nit erlangen kann, daß sie dem Wolf seine Frau wird – ich bitt dich, den Jerg nimmt sie nimmer! Die Lisei und der Spaßmacher, ja, die stimmten gut zusammen!«

»Und ich sag's dir nochmal: Du kennst ihn nit!« rief Afra eindringlich. »Du hältst ihn für ehrlich, weil du selber ehrlich und offen bist. Er hat dir geschmeichelt und dir nachgeäfft; darum glaubst du, daß er dir gleicht. Aber seine Späß sind nur Verstellung! Er ist eine boshafte, giftige Kröt! Das ist er.«

»Dann nimmt ihn die Lisei erst recht nit«, versetzte er.

»Aber der Klosterbauer wird sie zwingen, wann sie nit will!« warf Afra ein.

»Zu was Unrechtem laßt sich die Lisei nit zwingen, und überdies ist sie mündig«, behauptete Ambros.

Afra schüttelte ihren hübschen Kopf und sagte: »Eine Gitsche ist kein Bub.«

»Nein, das ist zweierlei«, pflichtete er ihr mit einem so trockenen Ernst bei, daß sie lachen mußte.

»Ach geh! Mit dir ist kein ernstes Wort nit zu reden. Ihr Männer wißt freilich auch nit, wie's so einem armen Madl zumut ist, das einen heiraten muß, den's nit mag. Und nachher! Ihr Mannsleut könnt tun und lassen, was ihr wollt; ihr geht und kommt, wie's euch gefällt, während wir armen Weiber …«

Sie verstummte vor dem mitleidigen Blick, den Ambros auf sie richtete, und wandte verlegen das Gesicht ab. Er nahm nachdenklich seinen Schnurrbart zwischen die Lippen, und nach einer Weile sagte er: »Ja, recht hast! Es geht nix über die Freiheit!«

»Oh, für euch! Aber wir dürfen nit die Hand danach ausstrecken«, rief sie lebhaft. »Glaubst denn, daß wir nit auch danach verlangen? Frag nur deine Schwester, wann sie erst ein Jahr mit dem Jerg verheiratet sein wird!«

»Zum Teixel mit dem Jerg!« brauste er auf.

Sie schlug zum Scherz ein Kreuz. »Du bist noch immer der alte!« sagte sie. »Gleich schlagt bei dir das Feuer zum Dach hinaus. Aber ich wollt's schon löschen, wann ich deine Frau wär.«

»Ja, wie denn?« fragte er.

Sie wiederholte die Worte, und beider Augen begegneten sich und blieben aneinander hängen. Afra drehte das Gesicht nach dem Fenster. Ambros stand auf. »Willst denn schon gehn?« fragte sie, ohne sich umzusehen, nach einigen Sekunden.

»Ja, ich will gehn«, antwortete er rauh.

Sie strich sich mit den Händen übers Haar und stand langsam auf. »Meinem Mann wird's leid tun, daß du nit auf ihn warten willst«, sagte sie. »Komm wenigstens bald wieder.«

Er nickte.

Afra folgte ihm mit den Augen, und nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, erhob sie beide Arme, focht die Hände über ihrem Kopf zusammen und schaute mit leuchtendem Blick zur Balkendecke hinauf, wobei sich ihre Lippen halb öffneten.

Ambros kam in noch schlechterer Laune nach Hause, als er fortgegangen war. Er suchte die Ursache dafür in Afras Mitteilungen über Jergs Werbung um Lisei und murrte, daß er überall nur Unangenehmes zu hören bekomme; die ganze Welt sei langweilig und griesgrämig geworden.

Niemand war in all diesen Tagen griesgrämiger als der Klosterbauer. In seinem Entschluß, alle Verhältnisse endlich klarzustehlen, kaute er all den Ärger und Zorn wieder, der in ihm gegoren hatte, seit der Bruch mit Ambros erfolgt war; und Lisei mußte es entgelten. Wenn sie ein Bube gewesen wäre, hätte alles einen glatten Verlauf genommen. Ob der Falkner, der nach ihm auf dem Klosterhof sitzen würde, mit Vornamen Ambros oder anders hieß, war ja gleichgültig, und alles wäre mit einem Federstrich geordnet gewesen. Daß aber der Klosterhof der Tochter folgen und der alte Name erlöschen sollte, daran stieß er sich noch immer – mochten auch durch eine Verbindung Liseis mit Jerg die beiden größten Vermögen zusammenflielßen. Der reichste Mann im Tal hieße dann nicht Falkner, sondern Arigaya.

Lisei ließ die Stürme auf sich einbrausen, ohne ihr Verhalten gegen den Vater zu ändern und ohne ihm zu verraten, wie sehr sie litt. Auch in ihrem Benehmen gegen das Gesinde blieb sie dieselbe. Ihr Gerechtigkeitssinn hätte ihr nicht erlaubt, die Dienstboten all die Kränkungen entgelten zu lassen, die sie leiden mußte. Sie wartete ergeben, bis sich der Sturm ausgetobt haben würde, und ihr Trost war Wolfs Brief, den sie auf ihrem Herzen trug. Mit Jerg verkehrte sie in der alten Weise; sie sah in ihm nur den Freund ihres Bruders. Er war auf sein Schlittenrecht nicht zurückgekommen, und wenn er sich vertraulicher an sie anschloß und häufiger als früher auf den Klosterhof zu Besuch kam, so kehrte er ein gesetztes Wesen heraus, das ihr wohltat. Der Klosterbauer meinte, es stecke in dem Burschen mehr gesunder Menschenverstand, als er ihm zugetraut hätte, und wenn er es früher arg getrieben habe, so sei er von Ambros dazu verführt worden. Der Alte erinnerte sich der Klagen über seinen Sohn, die in früheren Jahren häufig bei ihm eingelaufen waren, und glaubte jetzt an sie. Es gab nichts Schlechtes, das er jetzt nicht von Ambros geglaubt hätte. Eines Sonntagnachmittags hatte Lisei in ihrer Kammer den Brief Wolfs vor sich ausgebreitet. Die ungelenken, aber handfesten Buchstaben mahnten sie an seinen ehrlichen und kernigen Charakter. Sie war mit ihren Gedanken so sehr in den Brief vertieft, daß sie nicht auf die Stimmen achtete, die schon seit einiger Zeit in der Wohnstube unter ihr laut geworden waren. Erst als sie auf dem Flur unten ihren Namen rufen hörte, wurde sie aufmerksam. Es war die Stimme des Vaters, die nach ihr rief. Sie steckte den Brief in ihr Mieder und ging hinunter. In der Wohnstube fand sie Vefa und Jerg, und die Muhme begrüßte sie mit ihrem süßesten Mundspitzen. Jerg reichte ihr mit einem verlegenen Gesicht stumm die Hand. Der Vater, der auf seinem Lehnstuhl saß, befahl ihr, eine Flasche Wein und Gläser zu holen und, als sie damit zurückgekehrt war, einzuschenken.

»Und jetzt kredenz dem Jerg das Glas«, fuhr er zu kommandieren fort. »Er ist dein Bräutigam.«

Lisei wandte sich in jähem Erschrecken dem Vater zu. Alles Blut war aus ihrem Gesicht entwichen. Sie wollte sprechen, vermochte es aber nicht.

»Bist taub?« rief der Klosterbauer ungeduldig. »Du sollst dem Jerg den Brauttrunk bringen!«

Lisei regte sich nicht. Sie starrte den Vater mit weitgeöffneten Augen an, während Jerg sich heftig das Kinn rieb. Dem Klosterbauern schwoll die Zornader.

Vefa kam dem Ausbruch des Unwetters zuvor. »Ach, lieber Bruder!« flötete sie. »Wie kannst nur so mit der Tür ins Haus falln? Dergleichen sagt man doch einem Madl nit wie ein Straßenräuber, der einem mit der Pistol auf der Brust den Geldbeutel abfordert! Natürlich ist das arme Ding zum Tod erschrocken. Laß mich nur machen! Komm, Lisei, setz dich zu mir und beruhig dich; du wirst dich in dein großes Glück schon finden.«

Sie winkte Lisei mit einem zärtlichen Blick zu sich; doch diese wich einen halben Schritt zurück, und der Klosterbauer rief grob: »Dummer Weibertratsch! Was sie wissen muß, weiß sie. Die Sach ist abgemacht, und jetzt gehorch, oder …« Er erhob sich drohend.

Lisei, der das stockende Blut gewaltsam ins Gesicht zurückgeströmt war, stotterte mit einem flehenden Blick auf ihn: »Du weißt, daß ich dir nit gehorchen kann!«

Jerg faßte seinen ganzen Mut zusammen, streckte Lisei seine Hand hin und sagte mit dem treuherzigsten Tone, den er aufzubringen vermochte: »Komm, Lisei, ich bin dir so herzlich gut!«

»Mir?« fragte sie und richtete die Augen mit einem solchen Blick auf ihn, daß er seine Augen zu Boden schlagen mußte. »Du weißt doch, daß ich mit dem Wolf Lechner versprochen bin!« Der Vater stieß einen dumpfen Wutschrei aus und ballte die Faust. Nun sprang Vefa rasch dazwischen. Lisei aber rief in herzzerreißendem Ton: »Ja, schlag mich! Schlag mich tot! Dann ist alles gut. O Vater, du selbst hast mich mit dem Lechner verlobt! Wie kann denn nun der da mein Bräutigam sein? O Jerg, schäm dich doch, daß du den Lechner so hinterlistig verdrängen willst! Mein Gott, mein Gott! Gilt denn keine Treu mehr auf Erden?«

»Ungeratene Dirn!« knirschte der Klosterbauer mit verzerrtem Gesicht und stieß seine Schwester gewaltsam beiseite.

Jerg jedoch, der plötzlich einen glücklichen Ausweg aus der kläglichen Rolle, die er bisher gespielt hatte, erspähte, fiel ihm mit den Worten in den erhobenen Arm: »Halt, Klosterbauer, das leid ich nit! – Hab keine Angst, Lisei!« wandte er sich zu dieser. »Er soll dir nix tun!« Und wieder zu dem Alten, dessen Arm er festhielt: »Nein, Klosterbauer, wann die Lisei jetzt auch gar herb gegen mich ist, so solltet Ihr ihr doch um meinetwillen nix zuleid tun. Potztausend!«

Vefa raunte unterdessen ihrer Nichte zu, sie möge jetzt dem Vater aus den Augen gehen, und zitternd in ihrer Aufregung befolgte Lisei den Rat, während der Klosterbauer sich noch, wenn auch nur schwach, gegen Jerg sträubte.

»Der Klosterbauer ist zwar weit und breit der klügste Mann, das weiß jeder«, sagte Vefa, »aber solche Sachen verstehn wir Fraun besser anzufassen.«

Ihr Bruder, der sich von Jerg losgerissen hatte, griff nach einem der vollgeschenkten Gläser und stürzte den Inhalt hinunter, um den Brand seines Zornes zu löschen. Jerg sah ihn verschmitzt an und meinte selbstgefällig, daß er mehr bei Lisei gewonnen habe, indem er sie verteidigte, als der Vater durch seine Drohungen.

»Unsinn! Sie soll gehorchen!« schnob der Klosterbauer und warf sich in seinen Lehnstuhl.

»Ja, ja, sie wird schon gehorchen«, versicherte Vefa. »Aber wozu solchen Lärm machen? Soll's von dem Gesind im ganzen Tal herumgetratscht werden, daß der Klosterbauer seine Tochter mit Gewalt gezwungen hat, den Jerg zu nehmen? Ich hab's dir gleich vorgestellt, daß du mich zuerst mit ihr reden lassen solltst.«

»Und sagt ihr nur, daß sie mir schweres Unrecht tut von wegen dem Lechner«, fügte Jerg hinzu. »Ich will niemand verdrängen, aber ein Herz hab ich doch auch.«

Vefa nickte ihm zu, und nach einer Weile folgte sie ihrer Nichte. Aber sie kam sehr bald wieder. Lisei hatte sich in ihrer Kammer eingeriegelt und weder auf ihr Pochen noch auf ihr Rufen geöffnet. Der Klosterbauer lachte höhnisch. Vefa verbarg ihren Verdruß unter der leicht hingeworfenen Äußerung, daß die Sache ja keine Eile habe.

»Schwätzt ihr miteinander, soviel ihr wollt! Ich werd ihren Eigensinn schon brechen!« rief ihr Bruder und schlug mit der Faust auf die Lehne seines Armstuhls.

»Damit auch sie aus dem Haus läuft, wie der Ambros!« bemerkte Vefa schärfer, als es sonst ihre Art war. »Und was wird nachher aus dem Klosterhof?« Der Klosterbauer sah sie betroffen an, und sie fuhr mit süßem Mundspitzen fort: »O lieber Bruder, verdirb mir doch nit die einzige Freud, den Jerg und die Lisei miteinander glücklich zu machen Sie passen so gut zusammen, und mein Herz sagt mir, daß sie miteinander glücklich sein werden.« Sie warf einen fast schwärmerischen Blick auf Jerg, der sich mit verschränkten Armen auf den Tisch gestützt hatte und unverwandt, mit eingekniffenen Lippen, auf das Glas starrte, das Lisei ihm hatte kredenzen sollen. Der Klosterbauer murmelte etwas, was große Ähnlichkeit mit dem Lieblingstitel hatte, den er seiner Schwester zu geben pflegte. Diese redete sogleich weiter: »Ja, mein Herz sagt mir, daß sie füreinander bestimmt sind. – Aber jetzt muß ich wieder nach meinem Kranken sehn. Ach Gott! Ach Gott! Er löscht aus wie eine heruntergebrannte Kerzen.« Sie schüttelte trübselig den Kopf. Dann strich sie ihr blaues Fürtuch glatt und sagte hastig: »Behüt dich Gott, lieber Bruder! Der Jerg kommt wohl mit?«

Jerg erhob sich langsam. Mit fragendem Blick reichte er dem Klosterbauern die Hand.

»Was ich gesagt hab, das hab ich gesagt!« rief dieser, ohne seinen bequemen Stuhl zu verlassen.

Das war nun zwar ein tröstliches Wort für den Jerg, aber es verlieh ihm doch nicht jenes Gefühl, mit dem er den Klosterhof zu verlassen sich ausgemalt hatte. Wie hatte er zu triumphieren geglaubt, wenn er als des Klosterbauern Eidam heimginge! Vefas mahnender Hinweis auf Ambros hatte ihm ein Unbehagen verursacht, das ihn nicht verlassen wollte; und hatte er bis dahin in der Vorstellung geschwelgt, wie er sich breit vor den Vater und seine Stiefmutter hinstellen und ihnen zurufen würde: Schaut, mich an, hier steht der künftige Klosterbauer! – so hielt er es jetzt für geraten, seine Bräutigamswürde einstweilen noch zu verbergen. Was half ihm des Klosterbauern Zusicherung, wenn Lisei bei fremden Leuten in Dienst trat? Nein, das unruhige, lauernd-nachdenkliche Gesicht, mit dem er neben Vefa herging, war nicht das eines glücklichen Bräutigams! Der Vogel, dem er mit einem Sprung an die Kehle zu fahren gedacht hatte, saß noch sicher auf dem Dach.

Es war eine eigentümliche Angst, mit der Lisei in ihrer Kammer saß und auf ihre im Schoß zusammengelegten Hände schaute, ohne daß sie zu weinen vermochte. Es war ihr, als ob die Berge ringsum auf sie einstürzten und sie lebendig begruben. Wie konnten sie auch noch feststehen, da es keine Treue mehr auf Erden gab? Wohl hatte Wolf sie gewarnt, daß der Vater ihnen sein Wort nicht halten würde; aber es zeigte sich jetzt in ihrer Betäubung, daß sie es nicht geglaubt hatte. Hatte es ihr stets heimlich weh getan, daß Wolf ihren Vater nicht so hoch stellte, wie sie es in ihrer Liebe tat, so ging es ihr nun wie ein Schwert durchs Herz, daß Lechner recht behalten sollte. Eine schmerzlich brennende Scham über die Wortbrüchigkeit des Vaters überzog ihre Wangen. Nicht genug, daß derselbe Mensch, der sein einmal gegebenes Wort wie einen unerschütterlichen Felsen hinzustellen pflegte, seine Ehre gleichgültig wegwarf – er wollte auch sie zur Treulosigkeit verführen und gar zwingen! Es gibt kaum etwas Schmerzlicheres, als diejenigen, die man liebt, nicht länger achten zu können. Und dieser Schmerz begann nun Lisei die bittersten Tränen herauszupressen. Ihre Liebe hatte um alle Schwächen und Fehler des Vaters einen Mantel geworfen: Er war stets ein Ehrenmann gewesen! Und das hatte sie als den gesunden, starken Kern in der stachligen Schale betrachtet. Nun erwies sich auch dieser Kern als angefault! Lisei vermochte den Gedanken nicht auszudenken; die Sinne vergingen ihr.

Es wurde dunkel, und Lisei trocknete ihre Tränen. Ihre hauswirtschaftlichen Pflichten riefen sie, und sie unterzog sich ihnen wie immer; nur still und bleich war sie dabei. Toni, die Großmagd, arbeitete ihr geschickter und flinker als sonst in die Hände. Sie hatte in behaglicher Sonntagsruhe in der Küche gesessen, als der Klosterbauer seine Tochter heruntergerufen, und die Stimmen in der Wohnstube waren zu laut gewesen, als daß sie sich den Vorgang dort drinnen nicht hätte zusammenreimen sollen. Voll Mitleid beobachtete sie Lisei. Auch der Klosterbauer schielte während des Abendessens verstohlen zu ihr hin, jedoch nicht mitleidig, sondern grollend. Sie bemerkte es nicht; wie geistesabwesend saß sie vor ihrer Schüssel, und dann und wann schien es, als ob es sie fröre. Als das Abendessen vorüber war, das Gesinde sich entfernt hatte und der Klosterbauer seine Pfeife anzündete, um zum Sonntagabendtrunk in den »Stern« zu gehen, bat sie ihn mit leise zitternder Stimme, noch einen Augenblick dazubleiben; sie möchte mit ihm reden.

»Was soll's?« murrte er.

»Versprich mir doch, daß du mich ruhig anhörn willst«, bat sie. »Nur das eine einzige Mal im Leben, Vater! Ich will gar nit von mir reden. Mit mir kannst ja machen, was du willst; aber um deinetwillen tut's mir so weh, was du mit mir im Sinn hast! Du stehst weit und breit in einem Ansehn wie kein andrer, und ich bin immer stolz drauf gewesen, daß ich deine Tochter bin – wann dir auch nix an mir liegt.«

»Mach's kurz!« brummte er.

»Jetzt, Vater«, fuhr sie fort, »wie soll ich's nur verstehn, daß du die nämliche Sach zweimal verkaufen willst? Ich gehör doch dem Wolf Lechner …«

Der Klosterbauer unterbrach sie mit einer Stimme, die hart wie Stein war. Er wolle sich mit ihr nicht herumärgern, wie er sich mit ihrem Bruder geärgert habe. Sie kenne seinen Willen; deutlicher könne er nicht reden, und damit sei die Sache ein für allemal zwischen ihnen abgetan. Er ließ sie stehen und warf die Tür mit solcher Gewalt hinter sich zu, daß die Fenster klirrten. Lisei rang die Hände.

Der Klosterbauer trat noch, ehe er das Haus verließ, in die Küche, wo die Knechte und Mägde beisammensaßen, und befahl dem Pferdeknecht, seinen Wagen mit dem Apfelschimmel für den folgenden Morgen um sieben Uhr bereitzuhalten.

Die Fahrt wurde jedoch einstweilen vereitelt; denn es erhob sich in der Nacht eines jener Unwetter, wie sie dem Frühling vorauszugehen pflegen, und dauerte ununterbrochen bis zum Abend des zweiten Tages fort

Liseis Seelenzustand an den folgenden Tagen glich dem Wetter draußen: er war verworren, aufgeregt, trostlos. Indessen brachte ihr das Stürmen und Regnen ein Gutes, ohne daß sie es wußte. Das Unwetter hinderte Vefa daran, auf den Klosterhof zu kommen, um, wie sie es ihrem Bruder versprochen hatte, Lisei zur Vernunft zu bringen; und auch Jerg ließ sich nicht blicken. Er war ein kluger Feldherr und wollte erst abwarten, bis Vefa eine Bresche in die Festung gelegt hätte, bevor er selbst zum letzten Sturm anrückte. Der Klosterbauer verwünschte sowohl das Wetter wie auch Vefa und Jerg; er wollte ohne viel Federlesens zu Ende kommen. Die traurigen Mienen Liseis machten ihn wütend, obgleich er sich nicht ärgern wollte; und wie der Sturm draußen, so tobte er im Hause und in den Wirtschaftsgebäuden umher. Es war für alle eine Erlösung, als er am Morgen des dritten Tages wegfuhr – nach Bruneck zum Notar.

Der schöne Morgen veranlaßte auch den Kuraten Hannes, einen längst gehegten Vorsatz auszuführen. Die Kunde von der Erkrankung des Pfarrers Moltenbecher war zu ihm gedrungen, und er machte sich auf, um ihn zu besuchen. Er schlug den Weg über das Jöchl ein, und verlockt von der warmen Märzsonne, setzte er sich droben auf die Bank neben dem Bildstock. Die Regengüsse der letzten Tage hatten den Schnee im Tal bereits an vielen Stellen vertilgt. Auf den Höhen lag die Winterdecke anscheinend noch unberührt, so auf der Brust des Peitlerkofs, der einen spitzen Eishut trug, und auf dem Scheitel des Kreuzkofls, der in gewaltigen Terrassen aus dem Gadertal hinanstrebte. Das Gebüsch am Bildstock trug bräunlich angehauchte Knospen; Hannes hatte sie untersucht, ehe er sich niederließ. Es mochte noch eine gute Weile dauern, bis sie sich öffneten; allein, sie waren doch ein untrügliches Zeichen, daß die Natur aus ihrem langen Winterschlaf zu erwachen begann. Auch das leise Murmeln, mit dem der schmelzende Schnee in unzähligen Rinnsalen zu Tal sickerte, verkündete es. Der Himmel war reingefegt von allen Wolken, und die zahlreichen Fenster der alten Feste Thurn, die sich mit ihren ungleichen Burghäusern und ihrem viereckigen Turm über St. Martin erhob, blinkten golden in der Morgensonne.

Die schmale Brust des Kuraten erweiterte sich durch das Einatmen der feuchten Märzluft. Sein Gesicht aber, über das der tief herabgezogene Hut einen Schatten warf, war blaß wie immer. La Bona Uschinas mütterliche Pflege wollte ihm nicht gedeihen: Geistige Unruhe verzehrt den Leib. Hartwanger war nach den stürmischen Ereignissen in St. Vigil mit seinem Glaserkasten das Gadertal aufwärts gewandert und auch nach St. Martin gekommen. Durch ihn wußte Hannes von dem Angriff auf die Schmiede und allem, was sich daran geknüpft hatte – bis zu dem letzten erbitterten Zusammenstoß zwischen dem Klosterbauern und Ambros. Alles brach dort zusammen, ohne daß er helfen konnte! Die Befreiung des Pfarrers aus den Händen der Soldaten war ein Aufblitzen, das ihn die Schwärze des Horizonts nur um so deutlicher erkennen ließ. Wohin er die Blicke richtete, zogen drohend finstere Wolken auf; nachtdunkel breitete sich der Himmel über ganz Tirol.

Er hatte sich ganz einspinnen wollen in seine Arbeit über die heimatliche Alpenflora, aber sie war seit der Pfarrerversammlung in der Dechanei zu Enneberg mehr und mehr ins Stocken geraten. Die Unterredung mit dem Landrichter und dem Oberförster hatte den Vorhang, der ihm bisher die Welt verhüllt, zerrissen, hatte seinen Blick von dem Persönlichen auf das Allgemeine, von seinen privaten Interessen auf das Vaterland gelenkt. Wie hätte er sich noch länger mit ganzer Seele in die Betrachtung des Kleinen vertiefen und Pflanzen beschreiben können, während der Fuß eines fremden Herrschers sein Volk zu Boden trat! Was waren die Leiden, durch die er sich mit blutendem Herzen hindurchgerungen, gegen die, unter denen sein Vaterland ächzte? Und noch immer kamen neue dazu. Das Regierungsblatt, das er jetzt zu halten genötigt war, brachte Erlasse über Erlasse, die zu der immer fühlbarer werdenden materiellen Not und dem politischen Druck einen immer schärferen Gewissenszwang fügten. Nachdem die allgemeinen Wallfahrten nach den Gnadenörtern und die besonderen Bittgänge der Gemeinden schon früher verboten worden waren, traf jetzt ein Interdikt nach dem anderen die öffentliche Abbetung des Rosenkranzes und der Lauretanischen Litanei, Lauretanische Litanei – eine aus Ehrentiteln Marias zusammengesetzte Litanei, die 1558 nachweisbar in der italienischen Stadt Loreto (Lauretum) gesungen wurde, wohin nach der Legende das Wohnhaus der Mutter Maris von Engeln getragen worden sein soll. den Gottesdienst in der Adventszeit und die Messe in der Christnacht. Selbst das Läuten des Sterbeglöckleins ward untersagt. Diese Maßregeln bewirkten indessen das gerade Gegenteil von dem, was die Regierung beabsichtigte. Nie waren die Kirchen Tirols an den Sonntagen und an den von der Regierung übriggelassenen Feiertagen so voll gewesen wie jetzt. Die Macht der Geistlichen, die gebrochen werden sollte, erstarkte mit jedem Tage mehr.

Auch die Gemeinde von St. Martin schloß sich enger um ihren Seelsorger. Hatte sich Hannes in der ersten Zeit den Pflichten seines Amtes hauptsächlich darum mit solchem Eifer unterzogen, um seine Liebe zu Stasi zu überwinden und den brennenden Schmerz der Entsagung zu betäuben, so war ihm nun ein höheres Ziel aufgegangen. Die Verse, die der Landrichter aus Schillers »Wilhelm Tell« angeführt hatte, klangen in ihm fort, wenn auch weniger den Worten als dem Sinne nach. Sie wurden für ihn zu einer inneren Stimme, die ihn für die ewig unveräußerlichen Rechte seiner unterdrückten Mitmenschen einzutreten mahnte, und die Mannhaftigkeit, mit der sich sein ehemaliger Lehrer, Herr Moltenbecher, seiner Gemeinde gegen die grausame Willkür des bayrischen Kommissars angenommen hatte, wurde dem noch innerlich Zagenden zum Vorbild.

Der Zweck des Ganges, auf dem er begriffen war, versenkte ihn, während er auf der Bank ruhte, wieder in die Gedanken, die ihn seinen botanischen Studien untreu gemacht hatten. Ein Ausruf der Überraschung veranlaßte ihn schließlich, sich umzusehen. Lisei war eben aus dem Walde getreten und näherte sich nun flinken Schrittes dem Bildstock.

»Lisei!« rief er, nicht weniger verwundert, indem er aufsprang und seiner Schwester entgegenging. Sie ergriff seine Hand und wollte sie küssen. Er aber schloß sie lebhaft in seine Arme und küßte sie auf den Mund. Liseis Augen wurden feucht.

»Du wolltest zu mir«, fragte er, »um endlich auch einmal nach dem armen Hannes zu sehn?«

Er wisse ja, wie schwer es ihr wurde, sich einmal von Hause frei zu machen, entschuldigte sie sich. Nun, da der Vater nach der Stadt gefahren sei, habe sie sich aufgemacht. »Ich mußt mit Ihnen reden«, fügte sie hinzu. »Sie solln mir mit Ihrem Rat helfen.«Sie erzählte ihm von Jergs Werbung und dem heftigen Auftritt, den sie infolgedessen mit dem Vater gehabt hatte.

»Ich kenn mich nit mehr aus in dem, was Recht und was Unrecht ist. Soll denn heut nit mehr gelten, was gestern gelobt worden ist? Wann ein Vater seinem Kind das Wort bricht, das ist ja noch viel schrecklicher, als wann ein Priester lügt. Und jetzt achtet der Vater seine eigne Ehr nit mehr und verlangt auch von mir, daß ich schlecht sein soll! Ich kann's vom Vater nit verstehn, daß er eine so schwere Sünd begehn will. Ich hab's ihm vorhalten wolln, aber er hat mir verboten, mit ihm zu reden. Und darum bin ich zu Ihnen gekommen, damit Sie den Vater vor so schwerem Unrecht gegen sich selbst bewahrn möchten.«

Hannes fingerte an seinen Taschen nach der Tabaksdose, aber er fand sie nicht, obgleich er sie bei sich trug – so sehr hatten ihn die Worte seiner Schwester erregt. Darauf war er nicht gefaßt gewesen, daß ihre Liebe zum Vater so stark wäre. Wie hatte es dieser nur erreicht, von Lisei so geliebt zu werden, daß sie auch in ihrer jetzigen Lage in erster Linie an ihn dachte?

»Sie wolln mir nit helfen?« fragte sie kleinlaut, als er nicht gleich antwortete.

»O gewiß«, versetzte er mit einem warmen Blick. »Hab ich dich richtig verstanden, so bist du entschlossen, Wolf dein Wort zu halten.«

»Ja, wie könnt's denn anders sein?« entgegnete Lisei und erzählte, daß sie Wolf bei seinem Scheiden von St. Vigil nochmals die Treue gelobt habe. »Und ist er nit der bravste Mensch auf der Welt?« fuhr sie fort »Da, lesen Sie nur, wie fest er auf mich vertraut!«

Sie reichte Hannes den Brief des Schmiedes. Deutlicher als ihre Worte redeten die Flecken auf dem Papier, durch die die Schriftzüge an manchen Stellen verwaschen waren, von ihrer innigen Liebe. Nachdenklich legte Hannes, nachdem er gelesen, das Schreiben zusammen, und es Lisei wiedergebend, sagte er: »Du stehst zwischen deiner Lieb zum Vater und deiner Lieb zu Wolf. Eins ist gewiß: wie du dich auch entscheiden magst – eine Einbuße wirst du erleiden. Drum prüf dein Herz und dann tu, was deine innere Stimme dich heißt. Darauf kommt's an, liebe Schwester, daß wir in den Prüfungen unser sittliches Wesen bewahrn, daß wir vor dem Richterstuhl unsres Gewissens bestehn. Der Vater wird kein Mitleid mit dir haben.«

Lisei seufzte und nickte einigemal leise mit dem Kopf. Hannes gedachte der eigenen schweren Herzenskämpfe, und eine Weile saßen beide schweigend nebeneinander.

»Ja, Lisei«, nahm Hannes schließlich wieder das Wort und legte seine Hand auf die der Schwester, »der Vater wird kein Mitleid mit dir haben, und Schweres steht dir wohl bevor; aber du wirst wie immer tun, was Pflicht und Gewissen dir raten. Niemand weiß das so gut wie ich, liebe Schwester.« Er hatte seine Dose gefunden und nahm langsam eine Prise. Mit ihr entschied er sich, Lisei etwas Besseres als seinen geistlichen Zuspruch zu geben: sein Vertrauen.

»Jedem Sterblichen wird der Leidenskelch geboten«, begann er sanft »Auch der Geistliche ist nur ein Mensch; auch ihm bleiben schwere Seelenkämpfe nit erspart. Vergiß, daß ich unter diesem alten Mantel das Kleid des Pfarrers trag. Auch dein Bruder hat sein Herz bezwingen müssen, um der Pflicht zu gehorchen.«

»Ach Gott, auch Sie?« fragte Lisei mit trauriger Verwunderung.

»Auch ich«, bestätigte er. »Ich will's dir nit verschweigen.« Er schob sich den Hut aus der Stirn und legte für eine Weile seine Hand über die Augen. Leise fing er dann an, von seiner Liebe zu Stasi zu erzählen, doch nannte er weder ihren noch einen anderen Namen. Anfangs war es, als ob er einen halb entschwundenen Traum erzähle; und wie wenn sich ihm dieser allmählich deutlicher vergegenwärtigte, so wurde seine Mitteilung nach und nach wärmer, farbenreicher und die Schilderung seiner Leidenschaft, seiner Verzweiflung und der Schmerzen seines Ringens ergreifender. Lisei flossen die Tränen herab, und als er geendet hatte, umschlang sie seinen Hals und rief:

»O Hannes, was hast du aushalten müssen!«

»Es ist überwunden«, sagte er tief aufatmend und machte sich sanft aus ihren Armen frei.

»Überwunden?« wiederholte sie. »Ach, Bruder, kann denn das Herz zu lieben aufhörn, wann's einmal liebt?«

»Nein, Lisei, das vermag es nit«, versetzte er mit leuchtenden Augen. »Aber die Lieb, die unter tausend Schmerzen der einen allein gehört hat, den Mitmenschen zuzuwenden – das vermag es! Was haben mich früher die Leiden meines Nächsten gekümmert, was die des Vaterlands? Mein Herz war selbstsüchtig und verstockt in der Lieb zu der Einzigen.«

Lisei ergriff seine Hand und küßte sie. Wer die Einzige gewesen sei, fragte sie nicht. Der Name tat ja auch nichts zur Sache; er konnte das Vertrauen, das er ihr geschenkt hatte, nicht kostbarer machen.

Bewegt schwiegen beide. Nach einiger Zeit stand Lisei auf und sagte, sie wolle jetzt, wenn es ihr der Bruder nicht übelnehme, lieber nach Hause gehen und ihn ein andermal besuchen. Hannes begleitete sie, da es, wie er ihr nun mitteilte, seine, ursprüngliche Absicht gewesen war, Herrn Moltenbecher zu besuchen. Hand in Hand stiegen sie durch den Wald abwärts, auf demselben Pfad, über den er einst sein Herzeleid so schwer den Berg hinaufgetragen hatte. Als sie auf dem Kirchplatz voneinander schieden, versicherte Lisei, jetzt habe sie wieder Mut, und Hannes nickte zufrieden.

Der Pfarrer streckte, seinem ehemaligen Schüler beide Hände entgegen, und sein abgezehrtes Gesicht, über dessen weiße Bartstoppeln lange kein Schermesser gekommen war, färbte sich ein wenig. Ihm fehle nichts, wehrte er die teilnehmenden Erkundigungen des jungen Geistlichen ab; nur müde sei er, als ob er einen steilen Berg erstiegen hätte. Aber das tue nichts; habe er doch Zeit, sich auszuruhen. »Volle, volle Zeit! Denn die Herrn in Bruneck sind gar zärtlich um mich besorgt«, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, indem er mit den Augen auf die Tür zum Nebenzimmer deutete. »Sie haben mir einen Vikarius geschickt; vor einer Stund etwa ist er angekommen. Vefa hat ihn in meinem Studium einquartiert. Nun, ich werd's ja nit mehr brauchen. Die Bücher hab ich dir vermacht, das übrige der Vefa. Mein Haus ist bestellt. Meine Gemeind hatt ich freilich andern Händen zu hinterlassen gehofft als diesem Priester mit dem – Regierungsfuß.« Er lachte über das letzte Wort still vor sich hin.

Hannes wollte ihm die Todesgedanken ausreden; er würde sich bald wieder kräftig fühlen.

»Nein, nein, liebes Kind!« entgegnete der Pfarrer. »Meine Zeit ist zu End und die Feder eingetunkt, um auf die letzte Blattseit das Finis zu schreiben, Ihr jungen Leut mögt nun sehn, wie ihr mit den Welthändeln fertig werdet und euch des Höllengeists entledigt, der die Welt in Gestalt des Korsen mit Feuer und Schwert durchrast, – Nein, Kind, schau mich nit so trübselig an! Laß uns von erfreulicheren Dingen reden!«

Er fuhr fort, mit Hannes zu plaudern, erzählte und ließ sich erzählen. In der Tat, er hatte alle irdischen Sorgen von sich abgeschüttelt, und es trat sogar dann und wann ein Zug jenes derben Humors hervor, der ihm in seinen gesunden Tagen so reichlich zur Verfügung gestanden hatte. Mitten in der Unterhaltung fielen ihm jedoch die Augen zu, und er schlummerte ein.

Hannes verhielt sich ganz still und betrachtete wehmütig das welke und so friedliche Antlitz des Schlafenden.

Auf dem Kirchturm begann das Mittagsgeläut, und der Pfarrer erwachte. »Ich glaub, ich hab ein wenig geschlafen«, lächelte er. »Wovon sprachen wir doch?«

Hannes hatte zuletzt von den Versteinerungen erzählt, die im Grödnertal gefunden wurden, und Herr Moltenbecher sagte: »Richtig! Das ist sehr wunderbar.«

»Man könnt sie eine Bilderschrift nennen, die dem Menschen offenbart, was lang vor seinem Erscheinen auf Erden geschehn ist«, bemerkte Hannes.

»In den fünf Tagen, die vor seiner Erschaffung verflossen sind?« fragte Herr Moltenbecher und drohte Hannes gutmütig mit dem Finger.

Hier steckte die Magd den Kopf durch die leise geöffnete Tür herein und meldete, daß der Herr Vikar den Herrn Kuraten bitten lasse, bevor er fortginge, auf einen Augenblick zu ihm zu kommen.

»Was kann er nur von mir wolln?« fragte Hannes verwundert den alten Pfarrer. »Sie haben mir seinen Namen noch gar nit genannt.«

»Meiner Treu, ich erinnere mich nit«, antwortete Herr Moltenbecher nach einigem Nachsinnen. »Mein Kopf wird schwach. Du siehst, das Neue ist nit mehr für mich. Aber geh nur zu ihm. Geh nur gleich und komm nachher wieder.«

Hannes kam der Aufforderung nach. Der Vikar, der vor dem Büchergerüst stand und die kleine Bibliothek des Pfarrers musterte, wandte sich mit einer raschen Bewegung dem Eintretenden zu.

»Lacedelli!« rief Hannes höchlich überrascht. Er befand sich einem seiner Studiengenossen von Innsbruck gegenüber.

»Ich hörte in der Nebenstube eine mir bekannte Stimme«, sagte der Vikar, »und da ich von der Magd erfuhr, daß Sie hier wären, konnte ich dem Verlangen nicht widerstehen, Sie gleich zu begrüßen.«

Hannes fand nicht gleich ein Wort der Erwiderung. Angelo Lacedelli, der Sohn eines Gastwirts aus Cortina, hatte in dem Priesterseminar zu Innsbruck, das er nur gewählt, um sich der deutschen Sprache vollkommen mächtig zu machen, für einen der fähigsten Köpfe gegolten. Er hatte bei den Professoren in hoher Gunst gestanden, und nun fand ihn Hannes als einen Anhänger der bayrischen Regierung wieder! Aber nicht der Vikar, sondern er war verlegen, als er nun der mittelgroßen, geschmeidigen Gestalt mit den lebhaften schwarzen Augen und der intelligenten, etwas fliehenden und von dichtem schwarzem Haar umkräuselten Stirn gegenüberstand. Angelo Lacedelli war ein schöner Mann. Er hatte Hannes im Ampezzaner Dialekt, der in seinem Munde fast den Schmelz des Venetianischen gewann, begrüßt. Jetzt vertauschte er ihn mit der deutschen Sprache.

Er sagte, vielleicht, um Hannes über seine unverkennbare Befangenheit hinwegzuhelfen: »Lassen Sie uns deutsch reden wie in Innsbruck; denn das Ladinische ist doch nur eine Bauernsprache und zu dürftig für den Gedankenaustausch. Die Dialekte sterben aus, müssen aussterben, weil sie von der Kultur überholt worden sind; und wir Ladiner werden uns wohl für Deutschland entscheiden müssen, da alle unsere Interessen dorthin gravitieren – mag uns auch Italien sympathischer sein.«

»Ja, wir Tiroler gehörn zu Österreich«, antwortete Hannes schlicht.

Um Lacedellis Lippen spielte ein unmerkliches Lächeln; er ließ die Äußerung jedoch unbeantwortet, sondern lenkte auf die botanischen Studien seines Besuchers ab, um die er von Innsbruck her wußte, und äußerte, daß auch er sich ein Steckenpferd für seine Mußestunden auserwählt habe. Er trage sich mit der Absicht, ein Wörterbuch der ladinischen Sprache anzulegen. »Das ist auch eine Art botanischen Studiums – die Herbarisierung einer geistigen Alpenflora«, sagte er.

Unterdessen war die Magd hin und her gegangen und hatte den Tisch gedeckt – für zwei Personen. Der Herr Pfarrer lasse den Herrn Kuraten bitten, mit dem Herrn Vikar zu speisen, berichtete sie. Sofort versicherte Angelo Lacedelli, wie sehr er sich freuen würde, wenn Hannes sein Mahl teilen wollte; und dieser konnte die Einladung nicht füglich ablehnen.

Hannes kam sich recht steif vor gegenüber dem Vikar, der in zuvorkommender Weise den Wirt machte und dabei unbefangen von ihrem gemeinsamen Leben in Innsbruck, von ihren dortigen Kameraden und deren Schicksalen plauderte und schließlich auf Herrn Moltenbecher sowie dessen Gemeinde, über die er sich zu orientieren wünschte, zu sprechen kam.

»Hoffentlich ist das Vorurteil gegen die vereidigten Geistlichen noch nicht bis in dieses einsame Hochtal gedrungen?« fragte er zwar lächelnd, doch mit einem etwas gespannten Blick.

»So haben Sie sich also wirklich der Regierung unterworfen?« rief Hannes, wobei sich sein Gesicht höher rötete.

»Allerdings«, versetzte Lacedelli ruhig. »Befiehlt uns nicht der Stifter unserer Religion, der Obrigkeit gehorsam zu sein und dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist? Was wollen Sie? Es gab für mich keine andere Möglichkeit, zu einem Amt zu gelangen, als der Regierung zu gehorchen, und ich wollte wirken.«

»Grad von Ihnen hätt ich einen solchen Schritt für unmöglich gehalten«, erwiderte Hannes. »Ich erinnere mich, welch große Hoffnungen unsre Lehrer in Sie setzten.«

Lacedelli lächelte. »Gibt es denn nur den einen, seit einem Jahrtausend vorgezeichneten Weg, um diese Hoffnungen zu erfüllen? Aufrichtig, Herr Collega, was sind das für große Erwartungen, die ein armer Dorfpfarrer hegen kann? Sie wissen ebensogut wie ich, daß für unsereins die geistliche Laufbahn mit der Dorfpfarre abgeschlossen ist. Die Zeiten sind längst vorüber, in denen die Weltgeistlichkeit zu hohen Ehren emporsteigen konnte. Der Weg zu ihnen führt nur noch durch die Klöster. Nehmen Sie an, ich besäße den Ehrgeiz – von Fähigkeiten will ich nicht reden –, nach Ansehen und Bedeutung in der Kirche zu streben, so werden Sie mir zugeben müssen, daß es mir bei der Erstarrung unserer hierarchischen Ordnung unmöglich gewesen wäre, ihn zu befriedigen. Die Regierung hat diese Hierarchie durchbrochen, und Sie sollten sie mit mir preisen, denn sie hat uns Pfarrer aus dem Joch niederer Dienstbarkeit erlöst. Wir haben aufgehört, die glebae adscripti glebae adscripti – (lat.) die zu einem Stück Erde Gehörenden, d. h. die Leibeigenen. der Kirche zu sein. Wissen und Fähigkeit eröffnen auch uns freie Bahn.«

»Es ist freilich richtig, daß wir Landgeistliche gewissermaßen an die Scholle gekettet sind«, mußte Hannes zugeben, »aber der Preis, den Sie für Ihre Freiheit gezahlt haben, ist enorm. Verzeihn Sie mir, daß ich's offen aussprech! Für diese Freiheit haben Sie sich dem Unterdrücker unsres Vaterlands zur Dienstbarkeit verpflichtet. Ach, der Ehrgeiz ist etwas Schreckliches!«

»Beruhigen Sie sich! Der Ehrgeiz hat keinen Anteil daran«, entgegnete Angelo Lacedelli mit blitzenden Augen. »Ich bin aus demselben Holz wie neun Zehntel unserer Landgeistlieben. Einen Abfall vermag ich jedoch in dem Schritt, den ich getan habe, nicht zu erkennen. Es ist wahr: die Regierung hat in ihren Maßregeln die religiösen Gefühle des Volkes wenig geschont; allein, wann und wo hätten diese Maßregeln das Dogma unserer Kirche angegriffen? Überall sind es nur die Disziplin und äußere Formen, die von ihnen getroffen werden. Keine Glaubenslehre, kein Sakrament ist angetastet worden. Nur der Macht des Heiligen Vaters, seine militärisch disziplinierte Armee von Geistlichen zu politischen Zwecken, selbst gegen das Landesoberhaupt fremder Staaten, zu verwenden, will man eine Schranke setzen. Ein neuer Geist flutet mächtig durch die Zeit, und gleich jenem dänischen König, der dem heranrollenden Meere befehlen wollte, vor seinem Stuhle haltzumachen, so will man in Rom den Geisteswogen befehlen, vor dem Heiligen Stuhl zu ersterben!«

»Welche Freiheit, die durch Ströme von Blut gewatet ist und die einen Napoleon erzeugen konnte!«

Der Vikar, der nach seinem Glase gegriffen hatte, um seine trocken gewordene Kehle anzufeuchten, versetzte: »Ich bin weit davon entfernt, Napoleon für einen Apostel der Freiheit zu halten. Ich sehe in ihm nichts als einen ehrgeizigen Eroberer. Aber er kann den Geist der Revolution, aus der er hervorgegangen ist, nicht abschütteln. Die Ideen der Freiheit hängen an den Sturmesschwingen, mit denen er über die Erde braust, und sie sinken als Saat in die Furchen, die sein Schwert zieht. Man nennt ihn die Geißel Gottes, und man hat recht. Die Throne Europas sind unter seinem ehernen Tritt zusammengebrochen oder doch in ihren Fundamenten geborsten, weil die Fürsten ihre Völker durch Knechtschaft entgeistigt hatten. Wollen Sie behaupten, daß die Kirche an der Verkommenheit der Völker keine Schuld trage? Nun, da ist dieser Kaiser der Neufranken in die Welt gekommen als Racheengel. Er zwingt die Fürsten, die verrotteten Zustände zu verbessern, und die Völker beginnen zu erwachen. Mögen sie sich auch noch schlaftrunken die Augen reiben – sie werden schon zu dem Bewußtsein kommen, daß die alte Knechtschaft zu Ende ist. Soll ich mich gegen das Bessere verschließen, bloß weil ich ein Geistlicher des römisch-katholischen Glaubens bin? Soll ich mich mit den Jesuiten und Finsterlingen in der Kutte verbünden; um das wohltätige Licht auszulöschen und die alte Nacht zurückzubringen? Nein, und tausendmal nein! Ich will ein Diener Gottes sein und bleiben, aber nicht als willenloser Knecht Roms, sondern als freier Staatsbürger!«

»So gilt Ihnen das Vaterland nix?« fragte Hannes, von der Beredsamkeit Lacedellis verwirrt. »Sie verkaufen Tirol für ein Linsengericht. Welche Verblendung! Hörn Sie nur, Herr Collega, wie das Land unter der von Ihnen so hochgepriesenen Regierung ächzt! Sehn Sie denn nit, wie unser armes Volk unter der Bürde dieser Zeit verschmachtend zu Boden sinkt? – Timeo Danaos et dona ferentes!« Timeo Danaos et dona ferentes – (lat.) Ich fürchte die Danaer (gemeint sind die Griechen überhaupt), besonders wenn sie Geschenke bringen. – Mit diesen Worten warnt der Priester Laokoon in Vergils »Aeneis« die Trojaner, das von den Griechen bei ihrem scheinbaren Abzug vor Troja zurückgelassene hölzerne Pferd – das sprichwörtlich gewordene unheilbringende »Danaergeschenk« – in die Stadt hereinzubringen.

»Das Herz blutet freilich, wenn alte, liebgewohnte Bande gewaltsam zerrissen werden«, erwiderte der andere mit verfinstertem Blick. »Und die Menschenwürde empört sich dagegen, als Ware behandelt zu werden. Glauben Sie mir, ich habe das alles in mir selbst durchgefühlt. Aber was vermögen wir gegen die unwiderruflich gewordenen Tatsachen, und was hat Österreich getan, was tut es jetzt selbst, um den unabwendlich gewordenen Forderungen der Neuzeit gerecht zu werden? Soll ich darum schmollend beiseite stehen, weil Tirol einmal zu Österreich gehört hat, und das Gute zurückweisen, weil es meinem Vaterlande von München und nicht von Wien aus geboten wird? Wenn unser Volk das Gute nicht zu erkennen vermag, wenn es bei dem Übergang in den neuen Zustand leidet, wenn man es vielleicht zu rauh und rücksichtslos anfaßt, nun, so erkenne ich eben meine priesterliche Aufgabe darin, ihm in dieser Krisis beizustehen, es zu trösten und zu belehren, es dem Besseren entgegenzuführen. Ich will meine Fähigkeiten verwenden, um das Werk der Humanität zu fördern, auf daß der Mensch dem Ebenbilde, nach dem er erschaffen worden ist, ähnlicher und ähnlicher werde. Die Vertiefung der Erkenntnis ist die Veredelung des Glaubens. Sie werden mich daher nicht für glaubenslos oder auch nur für einen schlechten Priester halten dürfen, weil ich es zum Gedeihen der Staaten, zum Wohl der Menschheit für notwendig erachte, daß die Allmacht des Heiligen Stuhles eingeschränkt wird.«

Hannes schüttelte den Kopf und seufzte, in Nachsinnen verloren.

Angelo Lacedelli aber lächelte: »Ich hoffe, wir werden uns noch verständigen.«


 << zurück weiter >>