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10. Kapitel

Stasi konnte es noch immer nicht recht fassen, daß sie nun wirklich Ambros' Frau war. Sie mochte sich, während sie an ihrer Aussteuer gearbeitet, den Ehrentag, der ihr Mädchenleben beenden sollte, anders ausgemalt haben, als er sich wirklich gestaltet hatte. In aller Ruhe hatte sie sich der Aussteuer gewidmet, denn damit hatte es ja keine Eile gehabt; voraussichtlich hätte noch viel Zeit verfließen müssen, bevor der Klosterbauer willfährig gestimmt gewesen wäre. Nun war sie plötzlich wie von einem Wirbelsturm vor den Altar gerissen worden; keine Brautkrone mit flatternden Bändern hatte ihr Haupt geschmückt, keine Brautjungfern hatten ihr das Geleit gegeben, keine Böllerschüsse hatten dem heimatlichen Tal ihre Ehren verkündet.

Ihre ganze Umgebung war die altgewohnte: in diesem Stübchen, zwischen diesen Schemeln, Tischen und Kästen hatte sich ihr ganzes bisheriges Leben abgespielt. Nach der alten Wanduhr neben dem Ofen hatten schon ihre Kinderaugen geschaut, um zu sehen, ob nicht bald Essenszeit wäre oder ob der Vater nicht bald nach Hause käme. Sicherlich träumte sie nur! Aber da legte Ambros seinen Arm um sie und zog sie an seine Brust. Sie war wirklich seine Frau; sie gehörte ihm, und er gehörte ihr – fürs ganze Leben. Aller Kummer, alle Angst, alle Herzenskämpfe ihres kurzen Brautstandes gingen in dem einen großen Glück auf, und es trug für Stasi nicht wenig dazu bei, daß sie ihr liebes Heim nicht aufzugeben und Ambros in neue Verhältnisse zu folgen brauchte, die sie anfangs sicherlich verwirrt und geängstigt hätten und in denen sie ihren Ambros nicht so ganz hätte besitzen können, wie sie ihn hier ihr eigen nannte.

Die Novemberstürme brausten durch die Bergwälder, und der Schnee deckte das Tal zu. Um so traulicher wurde es in dem Häuschen unterhalb des Lärchenwaldes. Stasi schaltete und waltete in gewohnter Weise fort, doch der Mittelpunkt ihrer ganzen Tätigkeit war »ihr Mann«. Nur für ihn sorgte sie; es ihm bequem zu machen, ihm an den Augen abzulesen, wie und was er gern hätte – nur daran dachte sie. Ambros freilich griff vielfach störend in die Ordnung ein, indem er seine eigene Beschäftigung unterbrach, um nachzusehen, was seine Frau tue, um mit ihr zu scherzen. Selbst am Kochherd war sie vor seinen Überfällen nicht sicher, und manches Gericht verdarb durch seine Schuld.

Wie schön war es, wenn Ambros aus Stall oder Scheune in die warme Wohnstube kam und sich seinem hübschen Weibchen gegenüber an den Tisch setzte! Am schönsten aber waren die langen Abende. Obgleich die Sonne jetzt schon bald nach drei Uhr hinter dem Waldrücken, der das Gadertal barg, verschwand, waren die Abende für Ambros und Stasi nicht zu lang. Dann saßen sie am Ofen, in den noch einmal Holz nachgelegt war, Ambros mit der Pfeife im Mund und Stasi mit ihrem Spinnrad, und sie plauderten und flüsterten, liebkosten und neckten sich. Das Feuer prasselte dazu, das Spinnrad schnurrte, die Wanduhr tickte, und David murmelte seinen Rosenkranz oder schnarchte. Zuweilen las er auch mit monotoner Stimme aus einem Buch vor, das er vom Schullehrer entliehen hatte, oder Ambros sang lustige Gestanzeln Gestanzeln – eigtl. Stanzen (achtzeilige Strophen); in Süddeutschland übliche volkstüml. Strophenform für balladenhafte oder humoristische Lieder und Liebeslieder.

Am ersten Sonntag nach der Hochzeit erhielt das glückliche Paar den Besuch von Lisei und Wolf. Lisei machte ein sehr ernstes Gesicht; sie wußte durch ihren Bräutigam, dem Ambros die Besorgung des verhängnisvollen Briefes anvertraut hatte, was in St. Martin geschehen war. Wie konnte sie dem jungen Paare Glück wünschen, da sie Zeugin der Wut gewesen, in die der Vater durch die Nachricht von jener Heirat versetzt worden war? Sie zürnte dem Bruder und mehr noch Stasi, daß sie in ihrem Leichtsinn die Schiffe hinter sich verbrannt hatten. An dieser Tatsache war freilich nichts mehr zu ändern; aber Lisei liebte ihren Bruder zu sehr und war zu ehrlich, um den beiden eine heitere Miene zu zeigen. Sie mußte ihnen ihren Leichtsinn vorhalten.

Stasi fühlte, daß sie vor ihrem Richter stehe; sie war ganz rot und verlegen und wagte nicht, Lisei anzusehen. Ambros aber sprang der Schwester jubelnd entgegen, umfaßte sie und tanzte mit ihr in der Stube umher, obwohl sie sich heftig sträubte. Als sie endlich dazu kam, von dem furchtbaren Zorn des Vaters zu erzählen, meinte Ambros mit großer Gemütsruhe, daß er von dem Brief auch gar keine andere Wirkung erwartet habe; es wäre gut so: um so schneller würde der Vater sich austoben und wieder schön Wetter werden. Sorglos fragte er, was denn dem Vater auch anders übrigbliebe, als sich mit seiner Verheiratung abzufinden. Er habe doch nur den einen Ambros zum Sohne und Erben. Seine Zuversicht beschwichtigte auch Lisei, und sie ging auf Stasi zu, die sich noch immer beklommen zurückhielt, und küßte sie herzlich. Stasi lebte auf und beeilte sich, ihre Gäste nach besten Kräften zu bewirten, und ihr sanftes, freundliches Wesen gewann ihr vollends Liseis Herz und die Freundschaft des Schmiedes dazu.

Sie verstehe ihre Sache ordentlich, rühmte Lisei ihre Schwägerin auf dem Heimweg, und nach einer Weile fügte sie hinzu, daß der Vater seinen Zorn gewiß fahren lassen würde, wenn er sehen könnte, wie glücklich beide wären. Wolf erwiderte ausweichend, es müsse sich nun erweisen, ob der Klosterbauer den Ambros wirklich wie ein Vater liebhabe. Er dachte daran, wie glücklich auch sie sein könnten, wenn Lisei dem Beispiel ihres Bruders folgen würde. Er selbst hätte sich um den Zorn des Klosterbauern ebensowenig gekümmert wie Ambros. Aber er wußte, daß Lisei jetzt noch weniger als früher zu bewegen sein würde, gegen den Willen des Vaters mit ihm vor den Altar zu treten – und er konnte sie darum nur achten und schwieg.

»Ja, ich war recht bös auf die Stasi«, nahm Lisei wieder das Wort und lächelte. »Aber sie ist halt noch ein Kind! Wer kann da bös bleiben, wann sie einen so tief anschaut mit ihren klaren, unschuldigen Augen? Es ist, als ob man in einen tiefen Brunnen guckt.«

Wolf meinte, Ambros komme ihm gegen sie wie ein Prinz vor, der sich um der Liebe willen in einen armen Teufel verkleidet habe. Und Stasi blicke auch so glückselig demütig zu ihm auf, als ob er ein wirklicher Prinz wäre.

Ambros selbst erschien sein gegenwärtiges Leben in der Tat wie eine Art Komödie, wie ein köstlicher Scherz, der über kurz oder lang damit enden müßte, daß er Stasi im Triumphzug auf den Klosterhof führte. Vorläufig lag ihm daher nichts ferner als der Wunsch, daß diese wonneselige Weltabgeschiedenheit ein Ende nähme. Dennoch sollten die Leute nicht etwa glauben, daß er sich mit Stasi vor dem Vater versteckt halte, wie das Gerücht zu besagen schien. So etwas glaubte er jedenfalls aus den Mitteilungen Davids, der regelmäßig die Kirche besuchte, schließen zu müssen.

Er willigte daher eines Sonntags darein, mit Stasi, die ihn schon wiederholt darum gebeten hatte, zur Kirche zu gehen. Bevor sie aufbrachen, mußte er sich jedoch gefallen lassen, daß Stasi erst seinen Anzug musterte und ihm das Halstuch sorgfältiger knüpfte; denn jetzt, so meinte sie, sei sie dafür verantwortlich, daß er ordentlich vor den Leuten erschiene. Ambros kam das sehr komisch vor, und er trieb, während sie an ihm herumputzte, so viele Possen, daß der Akt ungebührlich viel Zeit in Anspruch nahm. Sie waren ausgelassen wie zwei Kinder.

Wenn die Leute, die noch auf dem Kirchhof beisammenstanden, erwartet hatten, daß der beim Klosterbauern in Ungnade gefallene Ambros eine demütige Figur machen würde, so fanden sie sich entschieden getäuscht, und ihre heimliche Schadenfreude mußte erheblich Not leiden. Ambros trat mit seiner gewohnten lässigen Sicherheit auf und blickte frei und stolz um sich, während Stasi verschämt die Augen niederschlug. Nicht er, sondern seine Bekannten fühlten sich unsicher und verlegen. Er grüßte, hielt sich aber nicht auf, sondern schlenderte der Kirchentür zu, und Stasi folgte ihm.

Da vertrat ihm Jerg den Weg. »Also, endlich kommst wieder zum Vorschein?« sagte er treuherzig. »Hab schon ganz vergessen, wie du ausschaust. Na, freilich! Hahaha! Die Flieg im Honigtopf!« Wieder lachte er, und zu Stasi gewendet, fuhr er fort: »Aber die junge Frau wird's gar nit glauben, daß wir zwei beide immer die besten Freunde gewesen sind. Ladet mich nit mal zur Trauung ein! Potztausend, was haben wir zwei nit für lustige Streich ausgeheckt! Und das Gesicht von deinem Alten möcht ich gesehn haben, wie er von der Geschicht gehört hat!« Abermals lachte er.

»Oh!« rief Stasi, und Ambros sagte ziemlich scharf: »Laß das!«

Jerg legte beteuernd die Hand aufs Herz und erwiderte: »Nein, wahrhaftig, ich hätt an deiner Stell ebenso gehandelt. Mag sich der Alte auf den Kopf stelln; das ist bloß zum Lachen. Und was ich sagen wollt: Gestern abend war's mit dem Singen im ›Stern‹ recht langweilig. Ohne dich hat's keine Schneid. Deine Frau erlaubt's schon, daß du an den Samstagen wieder hinkommst.«

Stasi lächelte darüber, daß sie Ambros etwas zu erlauben haben sollte.

Unterdessen war von den Bekannten einer nach dem andern herangekommen, und sie alle stimmten Jerg bei, daß Ambros an den Singabenden nicht länger fehlen dürfe. Jerg hatte ihnen eine bequeme Brücke zu der alten Vertraulichkeit geschlagen, und Stasi vernahm mit innerem Stolz, wie sehr allen an dem Verkehr mit Ambros gelegen war. Ambros versprach zu kommen.

Doch es war Zeit, in die Kirche zu treten. Der Klosterbauer war schon da. Er saß mit seiner Schwester und Lisei auf seinem gewöhnlichen Platz links vom Mittelgang, fast unmittelbar unter der Kanzel, das Portal im Rücken. Ambros trat mit seiner Frau gleich in eine der nächsten Bänke auf der rechten Seite. Im Begriff, sich hinzusetzen, gewahrte er die Seinen, und das Blut drang ihm stärker in die Wangen. Während Stasi in Andacht versunken war, mußte Ambros immer wieder nach dem Vater hinübersehen, von dem er nur das gelblich-graue Haar und die breiten Schultern wahrnehmen konnte. Der Klosterbauer regte und rührte sich während des ganzen Gottesdienstes nicht, und diese Unbewegtheit begann Ambros eigentümlich zu reizen. Er beherrschte jedoch seine Mienen, so gut er konnte; denn er war sicher, daß er und Stasi von all denen, die sie kannten, beobachtet würden. Darin täuschte er sich auch nicht. Keiner aber hatte ein so aufmerksames Auge für ihn und den Klosterbauern wie der lustige Jerg, dem nichts entging – weder der eisige Blick, mit dem der Klosterbauer, als er sich nach Beendigung des Gottesdienstes erhob und zum Gehen wandte, seinen Sohn anstarrte, noch die Lähmung, die Ambros an seiner Stelle festzubannen schien. Beide waren nach dem Amen des Geistlichen gleichzeitig aufgestanden – Ambros, als ob er mit Ungeduld auf das Wort gewartet, und der Klosterbauer mit jener steifen Langsamkeit, die seine Würde ausmachte –, und nun begegneten sich ihre Blicke. Nur einen Moment ruhte das Auge des Klosterbauern kalt, stechend und fremd auf dem Sohne und wandte sich dann so gleichgültig von ihm ab, als hätte es die Wand getroffen. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Ambros flimmerte es vor den Augen, und er sah nichts, selbst nicht die traurige Freundlichkeit, mit der die Schwester ihm und seiner Frau zunickte. Mit zornsprühenden Augen packte er Stasi am Handgelenk und riß sie mit sich aus der Bank und aus der Kirche.

Draußen vor dem Portal blieb er stehen und ließ die Kirchengänger an sich vorüber. Er hielt Stasi noch immer fest und schien nicht zu hören, wie sie ihn, geängstigt durch sein Benehmen, leise bat, ihr nicht weh zu tun. Hatte ihn der Vater in der Kirche nicht sehen wollen, so wollte er ihm nun hier vor allen Leuten entgegentreten und ihm seine Frau vorstellen. Schon kam der Klosterbauer in der ganzen Steifheit seines Hochmutes herangeschritten. Da trat der Sägemüller mit seiner Frau auf Ambros und Stasi zu und begrüßte sie mit herzlichem Glückwunsch. Ambros mußte ihm notgedrungen danken, und unterdessen ging der Klosterbauer an der Gruppe vorüber, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Auch Afra begrüßte Ambros.

»Viel Glück!« sagte sie lächelnd, und im nächsten Augenblick reichte sie Stasi mit einer raschen Bewegung die Hand. Aber sie sprach dabei nichts, und wenn die Rosen auf ihren Wangen in der letzten Zeit etwas verblaßt waren, so wurden sie jetzt noch um eine Schattierung lichter. Sie schaute Stasi mit einem tiefen Blick an, während sie ihr die Hand kräftig drückte, und zog sie dann nach dem Glockenturm hin mit sich fort. Hier ließ sie Stasis Hand fahren und sagte mit einem tiefen Aufatmen: »Mein Mann hat deinen Vater gut gekannt und auch dem Ambros seine Mutter, schon zu der Zeit, als sie noch Kellnerin im ›Stern‹ gewesen ist. Er hat mir erzählt, wie sie auseinander gekommen sind, und jetzt ist's Gottes Wille …« Den Schluß vermochte sie nicht über ihre Lippen zu bringen, und das verräterische Herzblut ließ die verblichenen Rosen auf ihren Wangen frisch erblühen.

»Ach ja, das hat der Herr Hannes auch gesagt«, bemerkte Stasi, »und darum hat er uns zusammengegeben. Aber der Klosterbauer will's nit gelten lassen.«

»Was der Klosterbauer ist«, fiel hier der Müller ein, der mit Ambros den beiden jungen Frauen gefolgt war und ihre letzten Worte gehört hatte, »so laßt ihn nur mucken; er wird schon zur Vernunft kommen. Es ist kein Stamm so knorrig, die Säg geht doch hindurch! Wann's am Morgen regnet, gibt's einen schönen Abend. Ich red wohl selbst bei Gelegenheit ein Wörtlein mit dem Alten.«

In dem Augenblick kam Wolf heran, und Ambros schaute sich lebhaft um und fragte nach seiner Schwester.

»Sie laßt dich und die Stasi grüßen«, sagte Wolf. »Sie hat's etwas eilig gehabt und ist mit dem Vater heim.«

»So eilig?« rief Ambros gedehnt.

Wolf schien es nicht zu hören. »Wir gehn ja ein Stück Wegs mitsammen«, äußerte er.

Darauf verabschiedeten sie sich von Arigaya und seiner Frau. Als diese über den Anger nach der Brücke gingen, sah der Müller seinen Sohn mit Vefa vor dem Pfarrhaus stehen. »Weiß der Himmel, was die beiden immer miteinander zu verhandeln haben!« sagte er kopfschüttelnd. »Was Gutes ist's schwerlich.«

»Sie wird ihn wohl verheiraten wolln«, meinte Afra zerstreut, und auch sie blickte nach den beiden hin. Oder galt ihr Blick Ambros, der den Kirchhof durch die kleine Pforte auf der Südseite verlassen hatte und nun mit Stasi und Wolf zusammen dem oberen Dorf zuging? Es war ein langer, schmerzlicher Blick, den sie ihm nachsandte, und dann seufzte sie tief auf. »Freilich, der Jerg kann einem das Herz schwer machen!« hörte sie ihren Mann sagen.

Auch Ambros bemerkte das Paar vor der Pfarre, und im Weitergehen äußerte er: »Auch die Muhm scheint's sehr eilig gehabt zu haben.«

»Ja, die pfeift mit dem Klosterbauer auf demselben Loch«, erwiderte Wolf mit sorgenvoller Miene.

»Und die Lisei wohl nit?« fragte Ambros heftig.

»Nein, die Lisei nit«, sagte Wolf nachdrücklich. »Denn sie hat dich lieb, tausendmal lieber als du sie!«

»Drum hat sie sich auch seit jenem ersten Sonntag nit wieder bei uns sehn lassen«, meinte Ambros ironisch.

Wolf begnügte sich damit, ihn mit seinen strahlendblauen Augen fest anzublicken. Dann sagte er: »Sie wär schon längst gekommen; aber sie darf nit.«

»Sie darf nit?« rief Ambros stehenbleibend.

»Komm nur weiter«, mahnte der Schmied und fügte hinzu: »Der Klosterbauer hat's ihr verboten.«

»Ach Gott, ist der hart!« klagte Stasi, während auf der Stirn ihres Mannes die Zornader schwoll.

Ob der Klosterbauer von Liseis Besuch bei ihrem Bruder wußte oder nicht, vermochte Wolf nicht zu sagen. Der Alte hatte sich darüber nicht geäußert; feststand, daß er ihr jeden Verkehr mit Ambros untersagt hatte.

Da Ambros sich selbst fremd gemacht habe, sollte er auch fremd bleiben, und keinerlei Fäden sollten mehr zwischen ihm und dem Klosterhof gesponnen werden.

»Und sie gehorcht!« knirschte Ambros.

»Was bleibt ihr denn übrig, da sie mit dem Vater leben muß?« fragte der Schmied. »Auf diese Art find't sie wohl Gelegenheit, dir zu nützen. Mit einem Seufzer fügte er hinzu: »Freilich, besser ständ's um uns alle, wann du damals meinem Rat gefolgt wärst, als du nach dem letzten Streit mit deinem Vater bei mir die Nacht zugebracht hast. Du hättst auf den Klosterhof zurückkehrn und dich noch eine Weil schicken solln.«

»Was hilft's denn der Lisei, daß sie sich schickt?« brauste Ambros auf. »Unter die Füß wird sie getreten, das ist alles.«

Sie waren mittlerweile vor der Schmiede angekommen, und Wolf sagte stehenbleibend: »Not bricht Eisen, aber Gewalt schafft Gewalt! Bei deinem hastigen Zufahrn ist auch von unserm Glücksrad der Reifen gesprungen.«

Ambros ging mit großen Schritten weiter, so daß Stasi Mühe hatte, an seiner Seite zu bleiben. Sie beobachtete ihn ängstlich, denn sie sah, daß etwas in ihm wühlte. Sie selbst beunruhigte der Vorwurf Wolfs, daß Ambros durch sein rasches Handeln das Glück seiner Schwester gefährdet habe. Er jedoch dachte nicht daran. Als sie hinter dem Dorf unter den Tannen weiterschritten, von deren Zweigen der Wind oder der Fuß eines Vogels dann und wann Schneeflocken auf sie herabstreute, sagte er, seinen Spitzhut mit einem Ruck tief über die Stirn ziehend: »Ja, das ist's! Als verlorner Sohn soll ich heimkehrn! Dahin möchten sie mich bringen – auch der Wolf –, daß ich vor dem Vater auf die Knie falln und ihn um Gottes willen bitten soll, er möcht mir doch verzeihn!«

Stasi legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Er funkelte sie mit düster glühenden Augen an und rief mit einem Hohnlachen:

»Der Ambros, der wilde Ambros, vor dem Klosterbauer demütig auf den Knien! Gelt, Stasi, so könnt ich dir gefalln?«

»Red nit so!« bat Stasi.

»Warum nit?« fragte er mit bösem Humor. »Dann ist die Sach auf einmal abgetan, und du bist morgen Klosterbäuerin!«

Stasi sah ihn vorwurfsvoll an und sagte: »Ach, Ambros, ich hab mich dir nit aufgedrängt, und um meinetwillen sollst dich nit demütigen. Mir liegt nix daran, Klosterbäuerin zu werden, das weißt! Bitt den Vater um Verzeihung, ja; aber wie ein verlorner Sohn sollst du ihm nit unter die Augen treten, und gar um meinetwillen – das ertrüg ich nimmer, das würd mir's Herz abdrücken. Ach Ambros, ich bin ja so stolz auf dich!«

»Bist du?« fragte er und nahm sie in seine Arme. »Und du willst nit, daß der wilde Ambros zahm wird?«

»Zahm schon«, wehrte sie sich gegen seine Küsse, »aber dabei stolz – nit stolz wie ein Haushahn, sondern wie …«

»Ein Zaunkönig!« fiel er lachend ein.

»O du böser Mensch!« schalt sie, gleichfalls lachend. »Nein, stolz wie ein Adler.«

In heiterer Stimmung kamen die beiden nach Hause. Es ließ sich indessen nicht vermeiden, daß der Klosterbauer, so wie er in der Kirche erschienen war, unwillkürlich wieder vor Ambros' Augen trat. Wenn der Bursche auch die Hoffnung nicht aufgab, daß jener sich eines Besseren besinnen würde, so konnte er sich doch nicht verhehlen, daß seine Rolle des verwunschenen Prinzen länger dauern könnte, als er vorausgesetzt hatte. Aber was lag daran, da er mit Stasi glücklich war?

Allein, es ist ein übel Ding, sich geflissentlich daran erinnern zu müssen, daß man glücklich ist. Wer zu rechnen anfängt, mag immer noch sehr reich sein; doch der sorgenlose Genuß des Reichtums hat einen dunklen Punkt. – Der Gedanke an den Eisblick des Vaters verdarb Ambros zuweilen die gute Laune, und der Ärger darüber, daß er sie sich dadurch verderben ließ, verbesserte seine Stimmung auch nicht. Er war doch sonst kein Grillenfänger, und um sich auf andere Gedanken zu bringen, beschloß er, am Samstag zum Sängerkränzchen zu gehen. Stasi selbst erinnerte ihn an sein Versprechen; er sitze viel zuviel zu Hause, daran sei er nicht gewöhnt, und am Ende würden die Leute wirklich glauben, daß er unter ihrem Pantoffel stünde. Es kam Ambros höchst drollig vor, daß er unter dem Regiment seiner kleinen Frau stehen sollte, und er nahm von Stasi mit Lachen Abschied, als er nach dem frühen Abendessen fortging.

Im »Stern« wurde er mit lautem Jubel empfangen, und von allen Seiten reichte man ihm die Gläser entgegen. Jerg hatte gewettet, daß er nicht kommen würde; denn gingen die Vögel zu Nest, sei es mit dem Singen vorüber. Nun war der Jubel auf Jergs Kosten um so größer, und Mutschleitner trug den verwetteten Wein mit der Bemerkung auf, Jerg könnt von Glück sagen, daß er seine Wette just noch vor Toresschluß verloren habe; in Kürze wäre sie ihm teuer zu stehen gekommen. Die nun ausgeschriebene Tranksteuer sei ein verteufelt Ding. Um so mehr Grund, den Wein nicht zu schonen!

Ambros' Anwesenheit wurde wie ein Fest gefeiert, und er ergriff wieder wie in alten Tagen den Kommandostab. Frischer und freudiger erklangen die Chöre, und höher sprühte die Lust auf. Mutschleitner trug zur Gitarre seine hübschesten Lieder vor und begleitete die komischen darunter so wirkungsvoll mit seinen treuherzig schalkhaften Blicken und Mienen, daß von dem dröhnenden Gelächter der Zuhörer die Fenster zu springen drohten. Auch Ambros, der gleich den meisten seine Joppe abgeworfen hatte, gab ein schelmisches Lied zum besten, und als Mutschleitner auf der Zither einen Schuhplattler anschlug, forderte er Moideli, die Kellnerin, zum Tanz auf. Den Spitzhut auf das rechte Ohr gedrückt, trat er übermütig den Takt und schlug sich klatschend auf die prallen Schenkel, die nackten Knie und an die Absätze, während sich das schlanke Moideli, die eine Hand in die Hüften gestemmt, in der anderen einen Zipfel ihres Fürtuches haltend, zierlich vor ihm drehte. Die Zuschauer jauchzten, und Ambros machte immer tollere Sprünge. Seine großen schwarzen Augen blitzten und flammten. – Später als sonst trennte man sich.

Am andern Tag hatte Ambros ein unbehagliches Gefühl, nicht so sehr infolge des reichlich geflossenen Weines als wegen des Tanzes mit Moideli. Es wollte ihn denn doch bedünken, daß es sich für einen verheirateten Mann nicht schicke, sich mit einer Kellnerin zu drehen. Und betroffen kraute er sich im Haar, als er seine Barschaft nachzählte. Er hatte sich nicht nur wie ein Junggeselle aufgeführt, sondern dabei auch das Geld nicht geschont, als ob er noch der reiche Kloster Ambros wäre. Dahin also war es mit ihm gekommen, daß er, der früher die Gulden nicht geachtet hatte, jetzt die Kreuzer erst umwenden mußte, ehe er sie ausgab? Und dann traf es ihn wie ein Donnerschlag, daß das Geld, das er sorglos vertan hatte, nicht ihm, sondern seiner Frau gehörte. Die wenigen Gulden, die er vom Klosterhof mitgebracht hatte, waren längst ausgegeben. Er besaß nichts. Jeder Bissen des guten Essens, das Stasi für den Sonntag zubereitet hatte, schmeckte ihm bitter. Es war das Brot seiner Frau, das er aß! Das war unerträglich und mußte ein Ende haben. Aber wie? Mit Gewalt war hier nichts zu erzwingen, und so wandte sich seine Erbitterung zunächst gegen die Herzlosigkeit des Vaters, durch die er in eine so demütigende Lage versetzt worden war.

Stasi versuchte die finsteren Wolken, die sie auf seiner Stirn lagern sah, zu zerstreuen; er aber wies sie ungeduldig und zuletzt mit barschen Worten zurück. Sie schaute ihn mit weitgeöffneten Augen an, worauf sie sich still in eine Ecke setzte und weinte. Ihre Tränen machten ihn nur noch verdrießlicher, statt ihn zu rühren. Das fehlte ihm noch, daß sie ihn mit ihren Launen quälte! Sie weinte um so stärker; es war ja so deutlich, daß er sie nicht mehr liebhatte! Hätte er sie sonst so hart angelassen, hätte er ihr nicht wenigstens jetzt, da er sah, wie unglücklich sie sich fühlte, ein gutes Wort gegönnt? Er tat es nicht; abgewendet von ihr, saß er hinter dem Tisch, blickte finster in die qualmende Flamme des Lichtstocks und kaute an seiner Pfeifenspitze. Die Weiber hätten auch gar keinen Verstand, grollte er in sich hinein. Stasi könnt sich doch selbst sagen, daß ihn die Unversöhnlichkeit des Vaters verstimme; aber wie alle anderen habe sie nur ihre Liebe im Kopf, als ob ein Mann nicht an Wichtigeres zu denken hätte. Es war gar zu albern!

Aber warum sagte er ihr nicht, was dieses Wichtigere war? Eher hätte er sich die Zunge abgebissen! Er schämte sich des Grundes, ohne es sich einzugestehen. Stasi suchte ihr Lager auf, um ihren Jammer über ihr verlorenes Glück unter der Bettdecke zu ersticken. Ambros blieb noch eine Weile sitzen und brütete über sein vermeintliches Kreuz und Elend. Mit einem Seufzer stand er endlich auf. Als er aber Stasis hübsches, verweintes Gesicht so blaß und unglücklich unter der Decke hervorgucken sah, konnte er sich nicht enthalten, sie zu küssen. Sie blickte ihn durch die betränten Wimpern ungewiß an, und dann schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und zog seinen Kopf an ihre Brust.

Der Frieden war ohne Worte geschlossen.

Wäre es jetzt nur Frühling gewesen! Gab es während des Winters in der kleinen Wirtschaft überhaupt wenig zu tun, so wurde dieses Wenige noch dadurch vermindert, daß es zwischen David und Ambros geteilt wurde, und so hatte der kraftstrotzende Bursche, der die ganze Arbeit spielend allein hätte verrichten können, mehr Muße, als für ihn ersprießlich war. Die bösen Gedanken kehrten wieder. Die Enge der Verhältnisse begann sich spürbar zu machen; er vermißte manches, woran er auf dem Klosterhof gewöhnt gewesen. Es kam ihm selbst erbärmlich vor, daß er sich dadurch verstimmen ließ – hatte er sich doch durch eigene freie Entscheidung in die Lage versetzt, die ihn nun drückte.

Allein, soviel er sich immer auf seinen Verstand eingebildet hatte – das Vernünfteln wollte nicht viel nützen.

Für Stasi war es ein Glück, daß David mit ihnen hauste. Manchen Ausbruch von Ambros' übler Laune, der sonst sie getroffen hätte, lenkte der Alte wie ein Blitzableiter auf sich. Aber nicht jedes Unwetter vermochte er an sich zu ziehen, und immer häufiger überzog sich der Ehehimmel mit Wolken …

Hannes hielt Stasi für glücklich, und es fiel ihm nicht auf, daß er von ihr und seinem Bruder keine Nachricht erhielt.

Der junge Geistliche arbeitete fleißig an seiner Beschreibung der Alpenflora. Ihr widmete er die ganze Muße, die ihm seine amtlichen Obliegenheiten gestatteten, und mit ihrem Fortschreiten kam Ruhe über seine von den schweren Kämpfen zerwühlte Seele. Er arbeitete nicht mehr, um sich zu betäuben, sondern aus einem wachsenden inneren Drang heraus. Fiel sein Blick in der Dämmerung, wenn er die Feder niederzulegen genötigt war, auf den Kalkstein mit den Muschelabdrücken, der seine losen Papiere beschwerte, so spann er wohl seltsame Gedanken daran. Wie sich jener Masse, bevor sie zu Stein gehärtet war, die Gestalt von Schaltieren eingedrückt, so hatte sich in sein Herz das Bild Stasis geprägt. Jener Stein gab noch nach ungezählten Jahrtausenden Kunde von einem erloschenen Tiergeschlecht und lehrte, daß dieses Tal, wo jetzt Wohnungen der Menschen standen und ihre Herden sommers auf grünen Almen weideten, einst Meeresboden gewesen und daß es eine Zeit gegeben, in der das jetzt starr zum Himmel ragende Kalkgebirge eine in den Meeresfluten gebundene Substanz gewesen war. Ähnlich würde vielleicht das Werk, das er unter der Feder hatte, wenn nicht der Nachwelt, so doch der Mitwelt von dem Gefühl zeugen, das sich seinem Herzen so tief eingedrückt hatte: von der Liebe, deren kristallisierter Niederschlag es war. Vielleicht zöge es die Blicke der Kenner auf sich, und dann … Hannes rieb sich die Stirn. Auch er hatte davon gehört, daß König Max König Max – Maximilian I. Joseph (1756-1825), bis 1805 Kurfürst von Bayern, wurde im Frieden von Preßburg, der Bayern wesentliche Gebietserweiterungen (u. a. Tirol) brachte, von Napoleon I. zum König gemacht. Unfähig, das neugeschaffene Königreich selbst zu regieren, überließ der in jeder Hinsicht unbedeutende Maximilian die oberste Leitung der Staatsgeschäfte seinem Minister Montgelas. und sein Minister Montgelas Montgelas – Maximilian Joseph Graf von Montgelas (1759-1838), wurde beim Regierungsantritt Maximilians I. als Kurfürst (1799) bayrischer Minister der Auswärtigen Angelegenheiten. Er verstand es, sich dem ausschließlich an der Vergrößerung seiner Hausmacht interessierten Fürsten so unentbehrlich zu machen, daß dieser ihm nach der Umwandlung Bayerns in ein Königreich (1805) die politische und administrative Lenkung des Staates uneingeschränkt überließ. Montgelas, der 1785 Bayern hatte verlassen müssen, weil er Mitglied des aufklärerische, antikirchliche und weltbürgerliche Ideen verbreitenden Illuminatenordens war, führte in seiner Innenpolitik eine Reihe von Reformen nach französischem Vorbild durch. Er beseitigte feudale und kirchliche Privilegien, hob zahlreiche Klöster auf, deren Vermögen er zur Verbesserung der Landwirtschaft, des Verkehrs und des Bildungswesens verwandte, und zentralisierte Justiz und Verwaltung. In seiner Außenpolitik verfolgte er während der Napoleonischen Periode das Ziel, aus der Zertrümmerung des deutschen Reiches den größtmöglichen Vorteil für das bayrische Königshaus zu ziehen und Bayern zum führenden Staat innerhalb des von Bonaparte geschaffenen Rheinbundes zu machen. fähige und bedeutende Männer ohne Unterschied des Glaubens und des Vaterlandes in die Verwaltung, an die Gerichtshöfe, Universitäten und Schulen holten und daß nach der Aufhebung der Klöster gebildete Geistliche an die überall neugegründeten Schulen berufen worden seien. Hannes dachte an die Möglichkeit, daß auch er, wenn seine Arbeit gelänge, auf einen Lehrstuhl berufen werden könnte. Er dachte nicht daran, wie bitter die aufklärerischen Bestrebungen des Königs von den Frommen ohne Unterschied gehaßt wurden und daß Montgelas in ihren Augen als der leibhaftige Antichrist galt. In solchen Augenblicken vergaß der Gelehrte den Geistlichen.

Eines Tages – es war in der Weihnachtswoche – wurde Hannes durch Boten zu einer Pfarrerkonferenz in der Dechanei von Enneberg eingeladen. An dem bestimmten Tage machte er sich schon beim Morgengrauen auf den Weg. Er wollte vor der Konferenz noch die Ahne in Pleiken besuchen. Seit den Mitteilungen seines Bruders hatten sich seine Gedanken wiederholt mit ihr beschäftigt. Auch hier gab es ein altes Unrecht zu sühnen. Ambros hatte die Ahne in seinem Glück sicherlich ebenso vergessen wie den Bruder. Es mußte etwas für sie getan werden. Hannes wollte sie zu sich nehmen. Die Stube und die Kammer, die Frau Carlotta bewohnte, waren geräumig genug, um auch ihr ein Obdach zu gewähren.

Den Hut nach seiner Gewohnheit tief über die Ohren gezogen, die hagere Gestalt in den schon recht fadenscheinig gewordenen Mantel gehüllt – dieses Kleidungsstück hatte bereits mit Hannes die Universität bezogen –, so maß er mit langen Schritten den Weg, und unter den Sohlen seiner hohen blanken Stiefel knirschte der hartgefrorene Schnee. Enger schoben sich zu beiden Seiten die Berge zusammen und ließen zuletzt nur noch Raum für den schmalen Weg und den unmittelbar daneben tänzelnden Fluß, der in dieser Enge keine Eisfesseln duldete. Dann kam von rechts her zwischen Erlen, an denen noch das welke braune Laub raschelte, der Vigilbach hindurchgeschossen, und Hannes schritt an den Häusern von Zwischenwasser vorüber: an den Schneidemühlen mit ihren Holzgärten, dem Kirchlein und den Gehöften, die von steilen Waldbergen eingeschnürt waren. Frostnebel erfüllten die Schlucht; wie von Silber übersponnen erschien das Gezweig des Buschwerks am Bach, und an den Schindeldächern hingen Eiszapfen. Die Berggipfel wurden bereits von der Morgensonne beschienen. Hannes wandte sich hinter den letzten Häusern des kleinen Ortes nach links und begann auf einem schmalen, steilen Fußpfad, der durch dichtes Unterholz führte, aufwärts zu klimmen. Über ihm breiteten uralte Tannen ihr mächtiges, von Schnee belastetes Geäst aus. Bald kreuzte er die Straße, die sich, von St. Lorenzen kommend, abwärts schlang, und kurz darauf trat er am Fuße eines steilen Ackerfeldes in den Sonnenschein hinaus. In der Tiefe dampfte der Vigilbach, und von Osten her blinkten die Schneehäupter der Dolomiten. Weiter stieg Hannes nach kurzem Aufatmen auf gezacktem Pfad, der ihn über das Schneefeld zu verstreut liegenden Höfen führte. Wie Schwalbennester unter entlaubten Kirschbäumen hingen sie am Abhang. Höher hinauf mündete der Pfad in einen schmalen Fahrweg, der den Wanderer wenige Minuten darauf nach Pleiken brachte.

Es war ein ärmlicher Ort. Eine Gruppe dürftiger Häuser drängte sich dicht um das Kirchlein; die übrigen Hütten klebten hier und dort an den Abhängen. Die Matten und Haferfelder, die zu ihnen gehörten, säumte weiter unten ein Waldkranz. Von diesem verdeckt, zog die Landstraße das Gadertal abwärts nach Palfrad, während von Süden her der Peitlerkofl frei herübergrüßte. Gen Osten wurde das Auge des Kuraten, vorüberschweifend an der hoch und stattlich thronenden Kirche Ennebergs, von den mächtigen Kalkfelsen, die St. Vigil umschlossen, aufgefangen. Die winterlichen Morgennebel, die in der Tiefe wallten und wogten, ließen St. Vigil selbst nicht erkennen. Nur dann und wann ging vom Bache her ein Blinken durch den Nebel. Auf der Nordseite trat der Wald dicht an das Dorf heran, und nacktes Gestein wies seine Zähne dem Himmel.

Hannes warf einen flüchtigen Blick um sich. Er war vom Steigen erhitzt und empfand daher den scharf über die Höhe streichenden Ostwind um so beißender. Rasch wendete er sich der nächsten Hütte zu, unter deren Tür im gleichen Augenblick ein alter Mann erschien, der trotz der Kälte in Hemdsärmeln war. An den Füßen trug er plumpe Holzschuhe. Er mochte den Geistlichen schon vom Fenster aus beobachtet haben. Als ihn Hannes nach der Wohnung der Frau Strasser fragte, antwortete er kopfschüttelnd mit der Gegenfrage, was denn der hochwürdige Herr von ihr wolle. Gleich aber setzte er hinzu: »Ja, ja, die Frau Strasser, freilich! Da weiß der Löffel-Franz Bescheid.« Und barhäuptig und ohne Rock, wie er war, führte er Hannes um die Kirche herum nach einem verfallenen Häuschen, in das er dem Kuraten voran hineinging. Er öffnete eine Tür und rief: »Du, Franz, hier ist ein geistlicher Herr, und er fragt nach der Strasser.« Daraufhin setzte er sich auf die Fensterbank, um in aller Gemächlichkeit zu erfahren, weshalb der Fremde nach der alten Frau frage.

Hannes mußte sich bücken, um in die Stube zu gelangen, die mit heißer Stickluft und dem Geruch von frischem Holz und Tannenharz erfüllt war. Außer dem Löffel-Franz, den er von Jugend auf kannte, befanden sich dessen Frau und Tochter in der Stube – alle drei mit dem Anfertigen von Holzwaren beschäftigt, mit denen der Löffel-Franz hausierte.

Der Hausherr, der eben einen Harkenstock glättete, stand respektvoll von der Schnitzbank auf, worauf Frau und Tochter sich ebenfalls von ihren Sitzen erhoben. Hannes winkte ihnen, daß sie sich in ihrer Arbeit nicht stören lassen sollten, und sah sich nach einem Sitz für seine müden Glieder um. Die Frau brachte ihm einen Strohstuhl. Der Löffel-Franz blieb mit dem Schnitzmesser in der Hand stehen und sagte: »Wann Sie wegen Ihrer Großmutter hergekommen sind, dann kommen Sie zu spät, Herr Pfarrer.«

»Wie das?« fragte Hannes erstaunt. »Da mich der gute Alte hier zu Euch geführt hat, nahm ich an, daß die Ahne bei Euch wohnt«

»Freilich!« erwiderte der Löffel-Franz. »Sie hat auch hier gewohnt, seitdem ihr Mann gestorben war; aber sie ist fort – schon seit drei Wochen etwa.«

Der Alte auf der Fensterbank nickte, als wolle er die Mitteilung bestätigen, und Hannes rief mit noch größerem Erstaunen: »Fort – und wohin? Wo hält sie sich gegenwärtig auf?«

»Ja, wann's Hochwürden nit wissen, der doch ihr Enkel ist …«, äußerte der Löffel-Franz etwas scharf, lenkte dann aber mit der Bemerkung ein, die Alte habe das Heimweh bekommen und sei in ihr Geburtsdorf im Venetianischen zurückgekehrt.

Diese Nachricht erschien Hannes unglaublich – mußte doch die Ahne nach seiner ungefähren Schätzung wenigstens siebzig Jahre alt sein

»Dennoch!« bekräftigte der Löffel-Franz. Das Heimweh sei schon seit dem Tode ihres Mannes nicht mehr von ihr gewichen. Jeden Herbst und Winter habe sie davon gesprochen, daß sie in ihre südliche Heimat zurückkehren wolle, wo die Menschen auch im Winter nicht frören. »Aber sie hat nit fortgekonnt, es hat sie was festgehalten.« Er begegnete dem fragenden Blick des Geistlichen, und indem er sich auf die Kante der Schnitzbank setzte, fügte er hinzu: »Nix für ungut, Herr Falkner! Wir wissen hier in Pleiken alle Bescheid, wie die Sachen zwischen ihr und dem Klosterbauer gestanden haben.«

Der Gast auf der Fensterbank stimmte wieder durch ein Kopfnicken bei, und der Löffel-Franz, der sich ebensowenig wie die anderen um ihn kümmerte, fuhr fort: »Am Tag Allerseelen letzthin ist sie nach St. Vigil, um das Grab ihrer Tochter noch einmal zu sehn. Wie sie dann ist zurückgekommen, ist sie ganz anders gewesen als sonst. Still ist sie gewesen und in sich gekehrt und hat mitten in der Arbeit auf ihre Spindel oder die Nadeln vergessen. Hat auch nit davon gered't, was ihr etwan in St. Vigil geschehn war. Und dann hat sie ihre wenigen Habseligkeiten zu Geld gemacht und hat sich weder von mir noch von meinem Weib bedeuten lassen, daß sich in so später Jahreszeit und bei so rauhem Wetter selbst ein junger und kräftiger Mensch bedenken würd, die weite Reis durch das Pustertal und das Ampezzotal zu unternehmen. Sie hat sich aber nit halten lassen. Unterwegs träf sie wohl gute Menschen genug, die ihr beiständen, hat sie gemeint. Da ist sie denn gegangen. Drei Wochen sind's her.«

Hannes hatte den Bericht mit keinem Wort unterbrochen. Peinlich genug war es ihm, zu hören, daß die unerquicklichen Familienverhältnisse so allgemein bekannt waren, doch konnte er sich darüber mit den Leuten unmöglich in Erörterungen oder Erklärungen einlassen.

»Wir wolln hoffen, daß sie ihre Heimat glücklich erreicht hat«, sagte er nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen und erhob sich.

»Ja, Hochwürden«, versetzte der Löffel-Franz, indem er gleichfalls aufstand. »Es hat ihr ordentlich frische Kraft gegeben, daß sie endlich in ihre Heimat zurückkäm, und eine arme alte Frau find't in der ganzen Welt barmherzige Seelen. Es wünscht sich jetzt wohl auch mancher andre aus Tirol fort, so lieb er's hat. Was gilt denn der Tiroler noch in seinem eignen Land? Als einen Hund ästimiert ihn der Bayer!«

Hier öffnete der Alte auf der Fensterbank zum erstenmal den Mund. »Ja, das sei Gott geklagt!« seufzte er.

Hannes erwiderte hierauf nichts. Er dankte dem Löffel-Franz für seine Auskünfte, erteilte allen den Segen und entfernte sich. Der Alte, der ihn geführt hatte, blieb zurück – gab doch der Besuch des Kuraten Stoff zur Unterhaltung.

»Der ist zag«, murrte der Löffel-Franz.

In fast gerader Linie und nur wenig abschüssig lief der schmale Fahrweg, der Hannes zuletzt nach Pleiken geführt hatte, den nördlichen Abhang entlang, vorüber an der ehemaligen Stammburg der Ritter von Brack, nach dem kaum eine Viertelstunde entfernten Enneberg. Der Weg war mit zahlreichen Kirschbäumen bepflanzt, die wie schwarze Gerippe dastanden. Hannes schritt, in tiefes Grübeln versunken, unter ihnen hin. Was konnte die Ahne bewogen haben, so plötzlich ihre zweite Heimat aufzugeben? Wäre er Zeuge der Vorhaltungen gewesen, die Lisei ihr gemacht hatte, so hätte er vielleicht die Lösung des Rätsels gefunden …

So lange, lange Jahre hatte sie von der Hoffnung gezehrt, daß dem Klosterbauern einst vergolten würde, was er an ihrer Tochter verbrochen, und nun hatte sie durch ihre Enkelin erfahren müssen, daß sie selbst nicht ohne Schuld an dem Unglück Kathis sei. Es war natürlich, daß sie sich wieder und wieder dagegen sträubte, die eigene Schuld anzuerkennen; allein, in den schlaflosen Nächten, die ihr das Alter bereitete, drängten sich ihr die Erinnerungen an all die Vorhaltungen, Überredungskünste, Schmeicheleien und Drohungen auf, die sie angewandt hatte, um ihre Tochter willfährig zu machen. Umsonst versuchte sie ihr aufgestacheltes Gewissen damit zu beschwichtigen, daß der Sohn Kathis und Stasi einander liebten und miteinander glücklich werden würden. Sie kannte den Klosterbauern zu gut, als daß sie sich mit der Hoffnung hätte betrügen können, er werde seinen Haß gegen Kaspar Larseit fahren lassen und dessen Tochter als Söhnerin willkommen heißen. Wenn Stasi reich gewesen wäre – vielleicht! Angst und Grauen überkamen sie bei der Vorstellung, daß ihre Schuld auch noch über die Kinder Kathis und Kaspars Unglück bringen müsse; ihr Verstand verwirrte sich. Sie fand keine Ruhe mehr, sie mußte fort. Dadurch, daß sie die rauhen Berge Tirols hinter sich ließ, glaubte sie alles von sich abzuschütteln …

Hannes kam zu früh zur Konferenz; er war jedoch nicht der erste in der Dechanei, die unmittelbar neben der schönen Kirche lag. In dem Zimmer, das ihm zugewiesen wurde, traf er schon zwei Amtsbrüder aus dem unteren Gadertal an. Ein Frühstückstisch stand bereit, und die beiden Adjunkten des Dechanten, die den Gottesdienst in Pleiken und Hof versahen, luden den Ankömmling ein, sich zu erfrischen. Der Dechant war noch nicht anwesend. Die beiden Herren aus dem unteren Gadertal hatten einen guten Appetit mitgebracht; indessen hinderte sie seine Befriedigung nicht, sich in allerlei Vermutungen über den Zweck der Konferenz zu ergehen.

»Ich fürcht, es betrifft unsern hochwürdigsten Herrn Bischof von Brixen«, äußerte der ältere der beiden Pfarrer. »Man hatte ihn damals nach Innsbruck geladen, weil man hoffte, ihn in Güte für die Regierung zu gewinnen. Jetzt wird man sich wohl überzeugt haben, daß er ebenso fest zu Rom steht wie die hochwürdigsten Herren von Chur und Trient, und ihn deren Schicksal teiln lassen. Bald werden wir in Tirol eine Herde ohne Hirten sein.«

Hannes horchte auf. Im Ringen mit seinem Herzen hatte er in seinen Studien Vergessenheit gesucht. Nur wie ein Traum schwebte ihm die Erinnerung an die Gewaltmaßregeln vor, die der Generalkommissar von Bayern, Graf von Welsberg, gegen die Bischöfe von Chur und Trient ergriffen hatte. Durch die Unterhaltung seiner beiden Kollegen aus dem Gadertal, zu denen sich bald noch andere Pfarrer der Diözese Enneberg gesellten, gewannen die Ereignisse jetzt für ihn lebhaftere Farben. Die seltene Gelegenheit eines mündlichen Verkehrs, die die anberaumte Konferenz bot, ergriffen die geistlichen Herren – ohne daß sie dabei das Essen und Trinken vergaßen – begierig, um die näheren Umstände, von denen jene Gewaltmaßregeln der Regierung begleitet gewesen, durchzusprechen und die empfangenen Eindrücke auszutauschen. Die Bischöfe von Trient und Chur, die nach Innsbruck geladen worden waren, um sich dort der Staatsgewalt zu unterwerfen, hatten das Ansinnen des Generalkommissars von sich gewiesen. Da sie fest geblieben waren, hatte man den Bischof von Trient als Gefangenen nach Salzburg und den Bischof von Chur durch Bewaffnete über die Landesgrenze geführt und beide ihrer Ämter enthoben. Neu war für den schweigend zuhörenden Kuraten von St. Martin das Nachspiel dieser Vorgänge. Er erfuhr, daß Herr von Hofstetten, der Kreishauptmann von Bruneck, nach Meran gekommen war und die dortige Geistlichkeit zu sich berufen und aufgefordert hatte, einen Revers zu unterzeichnen, durch den sie sich von dem Bischof von Chur lossagte und der Regierung Gehorsam gelobte. Auf ihre Weigerung hin waren die Wortführer – der Stadtpfarrer Patschnider, der Geistliche Rat Lutz und drei Priester des Seminars – verhaftet worden. Die letzteren hatte der Kreishauptmann über die Grenze bringen lassen, die anderen waren teils in Innsbruck, teils in Trient eingekerkert worden.

Nach all diesen Vorgängen schienen neue Gewaltmaßnahmen gegen die Kirche unausbleiblich, und die geistlichen Herren regten einander durch unheilvolle Prophezeiungen mehr und mehr auf. Einhellig verurteilten sie die Regierung, nur Hannes blieb still; und Herr Moltenbecher, der sich als letzter eingefunden hatte, gab dem Gedanken aller mit den Worten Ausdruck: »Die Kirch zur bloßen Magd des Staats zu machen, das ist der Zweck der Regierung!«

Der Dechant ließ die Herren in das Konferenzzimmer bitten. In seiner Haltung lag mehr Festigkeit als geistlicher Stolz, und bei der Begrüßung der Kollegen wußte er bei aller Kordialität den Unterschied der hierarchischen Stellung zu wahren. Er knüpfte an die Vorgänge in Innsbruck an. Es lag eine darauf bezügliche Verordnung der Regierung vor, von der er den Geistlichen seines Bezirkes, obgleich sie zum Bistum Brixen gehörten, Mitteilung zu machen hatte. Danach sollte der Klerus, der bisher dem des Amtes entsetzten und geächteten Bischof von Chur, dem Freiherrn Karl Rudolf von Buol-Schauenstein, unterstellt gewesen war, vom 1. Januar 1808 ab dem Bischof und Konsistorium von Augsburg Gehorsam leisten. Wer zu dem Geächteten oder seinem Vikar weiterhin Verbindungen unterhielte, von ihm Befehle empfinge und sie ausführte, würde fortan als Staatsverbrecher angesehen werden. Dann kam der Dechant zu dem Punkt, der ihn und all seine Pfarrer persönlich anging: In dem Erlaß wurde ferner befohlen, daß jeder Seelsorger Tirols fortan das königliche Regierungsblatt zu halten und den darin veröffentlichten Allerhöchsten Erlassen in kirchlichen Angelegenheiten unverbrüchlich nachzukommen habe.

Bestürzt blickten die Geistlichen einander an. Der Dechant legte das Schriftstück, aus dem er die Verordnung vorgelesen hatte, vor sich auf den Tisch und sagte, den Blick auf das Papier geheftet: »Die Tragweite dieses Mandates ist klar, und die Verfügungen, die unsere Kirche mit gebundenen Händen der weltlichen Macht überantworten, werden nicht auf sich warten lassen.«

Ein Murmeln erhob sich, und während er die Augen im Kreise umherschweifen ließ, fuhr er fort: »Ich muß es Ihrem Gewissen überlassen, welche Stellung Sie zu diesen Verfügungen einnehmen wollen. Ein Recht, sich in die Angelegenheiten unserer Kirche zu mischen, besitzt die Regierung nicht; es ist die Gewalt, der wir uns gegenübergestellt sehen. Der Furchtsame, der Ehrgeizige wird sich beugen.«

Man protestierte lebhaft.

Der Dechant sagte: »Ich habe meiner Pflicht gegen die Regierung genügt, indem ich Ihnen die Verfügung zur Kenntnis gebracht habe. Weiter habe ich mit ihr nichts zu schaffen. Wir sind Diener der Kirche, nicht Diener der bayerischen Krone. Die Gebote Gottes stehen über denen der Kaiser und Könige.« Es sei die heiligste Pflicht ihres Apostelamtes, in dieser Zeit schwerer Prüfungen fest zu ihren Gemeinden zu stehen, die sich durch die Maßregeln der Regierung in ihrem Gewissen beängstigt fühlten. Wenn es ihnen etwa bestimmt wäre, für ihren Glauben zu leiden, so könnte sie die Überzeugung stärken, daß die Kirche schließlich dennoch siegen würde. »Noch hat keiner«, so schloß er, »der sich mit der Kirche entzweite, seit König Samuel ein glückliches Ende genommen.«

Herr Moltenbecher erlaubte sich die Frage, wie sich der Bischof von Brixen, dessen Krummstab Krummstab – Würdezeichen des Bischofs; ein gekrümmter Hirtenstab. das Pustertal samt seinen Nebentälern hütete, zu den Forderungen der Regierung stelle.

»Kann darüber ein Zweifel herrschen?« fragte der Herr Dechant dagegen. »Mag auch von beiden Seiten noch der Schein eines guten Einvernehmens gewahrt werden – unser hochwürdigster Herr Bischof wird den Rechten unserer Kirche kein Titelchen vergeben, davon dürfen Sie überzeugt sein. Den gegenwärtigen Forderungen der Regierung gegenüber ist eine Reserve nicht länger möglich. Es ist Bayern, das der Kirche das Schwert in die Hand zwingt.«

Aufgeregt trennte sich die Versammlung. Ein Teil der geistlichen Herren setzte die Konferenz noch in dem gegenüberliegenden Wirtshaus fort, obgleich bekannt war, daß der Herr Dechant den Wirtshausbesuch seiner Pfarrer ungern sah. Um seine Adjunkten davon abzuhalten, lieferte er ihnen die Maß Wein um zwei Kreuzer billiger als der Wirt gegenüber. Es half aber nicht viel.

Hannes begleitete seinen ehemaligen Lehrer, der sich gegen ihn noch immer des Du bediente, nach St. Vigil. Herr Moltenbecher hatte seine gute Laune eingebüßt, und er seufzte schwer, als sie bei der Kirche nach dem Glisiabach hinunterstiegen, der in der tiefen Einbuchtung zwischen Enneberg und Hof sonst in Kaskaden von den Felsen stürzte und im Grunde eine Mühle trieb, jetzt aber, zu phantastischen Eisgebilden erstarrt, an den nackten Steinen hing, Moltenbecher war kein streitbarer Priester wie der Dechant, und nun sah er noch am Spätabend seines Lebens das stille Hochtal in den Kampf hineingerissen und den Frieden aus dem Lande fliehen. Am meisten bekümmerte ihn das Schicksal seiner Gemeinde nach seinem Tode. Die Bischöfe hatten nur noch das Recht des Vorschlages bei freigewordenen Pfarrstellen; die Regierung wählte und ernannte den Kandidaten durch ein Patent. Daß sie keinen bestallte, auf dessen unbedingten Gehorsam sie nicht rechnen konnte, verstand sich nach der jüngsten Verordnung von selbst

Als Hannes den alten Herrn trösten wollte, schüttelte der den Kopf. »Ich zweifle nit am endlichen Sieg der Kirche, aber die friedlichen Zeiten, auf die du mich verweist, liegen mir zu fern. Vielleicht würd ich für sie auch nit mehr taugen. Ich seh so manches zum Licht drängen, was ich nit mehr versteh. Das Alte zerbröckelt, und das Neue hat noch keine erkennbare Gestalt.«

Auf einer Planke überschritten sie bei der Mühle den Glisiabach und folgten dessen Lauf durch ein Gehölz in Richtung Monthan.

»Ich seh nur, daß die ganze Welt wie ein Wasser aufgerührt und trüb ist«, nahm der Pfarrer von St. Vigil wieder das Wort. »Allerwärts nix als Hader und Streit, im Großen wie im Kleinen. Auch zwischen deinem Vater und dem Ambros ist kein gutes End abzusehn.« Er berichtete dem betroffenen Hannes, daß der Klosterbauer die Gültigkeit der Ehe angreifen und Ambros enterben wolle. Vefa war die Quelle, aus der er schöpfte.

Hannes wollte sich bei Monthan verabschieden, um durch persönliches Einwirken auf den Vater den Frieden wiederherzustellen.

Herr Moltenbecher aber hielt ihn davon zurück. »Wann durch vernünftige Vorstellungen von dem Alten was zu erreichen wär, so hätt ich's erreicht«, sagte er. »Ich hab ihm den Kopf gewaschen, und nit mit laulichem Wasser. Du richtest vollends nix aus, denn dir mißt er die Schuld bei, daß der Ambros sein Stück durchgesetzt hat. – Ein Vater ist er dir niemals gewesen, und so wird's dich nit allzusehr packen, lieber Freund, wann ich dir sag: Du hast keinen Vater mehr. Du hast nur noch eine Mutter: die Kirche.«

Dennoch »packte« es Hannes; er war tieferschüttert. Während ihm der Pfarrer freundlich zusprach, lächelte er nur bitter. Dort auf dem Hügel lag der stattliche Klosterhof, und seine vielen Fenster glitzerten in der Mittagssonne. Es war nicht mehr sein Vaterhaus. So riß ein Faden, der ihn an die Menschen knüpfte, nach dem anderen. Nun ja, der römisch-katholische Priester durfte eben keine Familie, keine Heimat haben – seine Kirche sollte alles für ihn sein. Hannes hob aber keineswegs stolz das Haupt.

Den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, stieg er nach dem Ansitz der Larseits hinauf, nachdem er sich vor der Pfarre von Herrn Moltenbecher verabschiedet hatte. Wie mochte Ambros den Fehlschlag seiner Berechnungen tragen? Herr Moltenbecher hatte ihm darüber nichts zu sagen gewußt. Vor der Haustür blieb er einen Augenblick stehen und preßte die Hand aufs Herz.

Ambros, Stasi und David saßen beim Mittagsmahl. Auf dem Tisch dampfte eine Schüssel mit goldgelber Polenta. Stasi sprang, als sie den jungen Geistlichen erblickte, mit einem frohen Schrei auf. David verzog den Mund zu einem lautlosen Lachen, und Ambros empfing den Gast, indem er sich lässig zur Tür wandte und langsam aufstand, mit den Worten: »Schau, der Herr Bruder!«

Hannes glaubte aus dem Ton einen Vorwurf herauszuhören, daß er das junge Paar nicht schon früher besucht habe, und bemühte sich, seiner Antwort einen heiteren Anstrich zu geben: »Wann der Bauer seine stille Zeit hat, dann muß ihm der Pfarrer heran und der Doktor!«

Ambros wünschte, es gäbe keine stille Zeit

»Oho, das sagst du?« rief sein Bruder und wollte einen Scherz daran knüpfen; aber er fand keinen. Er hatte keine humoristische Ader.

Stasi hatte inzwischen reines Geschirr geholt, auch einen besonderen Teller, denn es schickte sich doch für einen geistlichen Herrn nicht, aus der gemeinschaftlichen Schüssel mitzuessen. Hannes aber verschmähte den Teller, und für eine Weile tauchten alle vier ihre Löffel still in den goldenen Maisbrei. Die Beschäftigung des Essens hinderte den Kuraten indessen nicht, die anderen zu beobachten. Der Gesichtsausdruck seines Bruders gefiel ihm nicht, und Stasi warf verstohlen besorgte Blicke auf ihren Mann. Dieser murrte: »Ihr Brief, Herr Hannes, hat den Vater nit andern Sinns gemacht.«

»Leider hab ich's schon vernommen«, seufzte Hannes, und Stasi sagte leise: »Und die Lisei darf auch nit mehr zu uns kommen.«

Ambros warf hastig den Löffel hin und rief: »Ist's denn nit zum Tollwerden, daß sich der Alte nit dreinfinden will?«

»Es versteht sich von selbst, daß dir die Härt des Vaters weh tut; aber das Grübeln darüber tut nit gut«, meinte Hannes. »Du verschlimmerst deine eigne Lag nur dadurch.« Stasi warf ihm einen dankbaren Blick zu, und er fuhr fort: »Du solltest dich vielmehr darauf richten, daß es vielleicht noch lang, lang dauern kann, bis dem Vater deine Heirat ansteht. Und nehmen wir den Fall an, daß er dir gram blieb?« Ambros fuhr so jäh in die Höhe, daß Hannes sich beeilte, beschwichtigend hinzuzusetzen: »Es ist nur eine Annahme; ich sag nit, daß es geschehn wird. – Doch ich seh, daß niemand mehr ißt!«

Ambros griff nach seiner Pfeife, und Stasi ging, den Tisch abräumend, hin und her. David begab sich mit einem Stückchen Brot auf den Hof und fütterte die Hühner. Das tat er täglich; doch heute wiegte er dabei den schweren Kopf nachdenklich hin und her. Eine Ahnung der Ursache für Ambros' unwirsches Wesen in der letzten Zeit begann in ihm aufzudämmern.

Der Kurat hielt Umschau in dem Stübchen, wo er so manche gute Stunde zugebracht hatte. Es hatte sich nichts darin verändert; nur das große Bett, in dem die Witwe krank gelegen, war fortgeschafft worden. Es stand in der Kammer nebenan als Ehebett, und an seiner Stelle hing das Schießzeug seines Bruders an der Wand. Der Stuhl in der Nähe des Fensters, auf dem Stasi zu sitzen pflegte, während er mit der Kranken geplaudert, stand noch an der alten Stelle, und die alte Uhr tickte wie sonst – Was hatte sie alles hinweggetickt? Auch das Glück, das Stasi von Ambros erwartet hatte? Es kam Hannes vor, als sei ihr liebliches Gesicht viel ernster geworden, als liege ein Schatten über dem sinnenden Ausdruck ihrer Augen. Er strich sich mit der Hand über die Stirn und die eigenen Augen.

»Halten Sie's denn wirklich für möglich, daß der Vater hart wie ein Stein bleiben könnt?« fragte jetzt Ambros, seine Spannung hinter dichten Rauchwolken verbergend.

Hannes nahm eine Prise und erwiderte, daß er an des Bruders Stelle eine solche Möglichkeit wenigstens ins Auge fassen würde. »Du kannst's ja ruhig abwarten«, sagte er ergänzend, »da du mit deiner Frau glücklich bist. Laß die Zeit walten und trüb nit durch Grübeln euer beider Lebensglück. Was willst eigentlich? Du bist jetzt dein eigner Herr und stehst auf deinem eignen Grund und Boden! Also schaff zu, als ob's keinen Klosterhof auf der Welt gäb!«

»Mein eigner Herr?« versetzte Ambros bitter. »Bin ich hier was andres als der Großknecht von meiner Frau? Ihr gehört alles; ich hab nix!«

»Ach Ambros, wie kannst nur so reden!« schrie Stasi, die in dem Augenblick wieder in die Stube gekommen war, schmerzlich auf. »Gehört dir nit alles, was ich hab?« Die Tränen traten ihr in die Augen.

»Und gehört deiner Frau nit alles, was dein ist, jetzt und künftig?« fragte Hannes unwillig. »Rechnet denn die Lieb? Ist sie nit stolz und glücklich, im Geben wie im Empfangen?«

Stasi hatte sich zu ihrem Mann gesetzt und bat ihn, seine Hand streichelnd, er möge doch gut sein.

Hannes aber fuhr nach einem Griff in seine Schnupftabaksdose fort: »Du übertreibst außerdem! Hättst auf dem Klosterhof etwa nit für deine Frau und die Kinder, die euch der Himmel noch schenken wird, gearbeitet und in Zukunft arbeiten müssen?«

»Just darum!« grollte Ambros, den bittenden Blicken seiner Frau ausweichend. »Der Mann soll die Frau ernährn, und nit umgekehrt!«

»Ernährst du sie etwa nit, indem du ihren Hof bewirtschaftest?« fragte der Bruder dagegen. »Ist euer Hof nur klein, um so fleißiger und sorgsamer wirst wirtschaften müssen, damit's den Deinigen an nix gebricht«

»Vor der Arbeit hab ich mich mein Lebtag nit gescheut!« hielt Ambros dem anscheinenden Verdacht des Bruders entgegen, und Stasi rief zur Bestätigung: »Ach nein, er macht sich ja fortwährend was zu schaffen! Er kann ja nimmer stillsitzen.«

Der Kurat nickte nur. Er hatte sehr wohl herausgehört, daß es die beschränkten Verhältnisse waren, vor denen Ambros zurückschreckte. »Die Stasi hat recht«, rief Ambros, wobei er seine Frau mit dem linken Arm umfaßte und den rechten Arm an sich zog und energisch fortschnellte. »Wozu hat der Mensch seine Kräft, wann er sie nit brauchen kann? – Dabei fallt mir ein, daß ich den Kuhstall ausbessern muß, solang das Wetter schön ist«

Stasi lächelte und drückte verstohlen die Hand, die er um ihren Leib gelegt hatte.

Hannes bestärkte ihn in seiner besseren Stimmung. Als er aber Abschied genommen, begleitete ihn die Sorge, daß er den Dämon, der sich in seinem Bruder regte, nur für den Augenblick beschwichtigt habe. Angesichts dieser Sorge war es ihm um Stasis willen, deren Glück er gefährdet sah, doppelt schmerzlich, daß ihm der Klosterhof verschlossen war. Sollte er dem Vater noch einmal schreiben? Doch das Schicksal seines ersten Briefes war nicht ermutigend.

Er lenkte seine Schritte nach der Schmiede Wolf Lechners, um der Schwester durch ihren Bräutigam einen Gruß zu schicken. Vielleicht wußte Wolf einen Rat. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte ihm das ruhige, sichere und verständige Wesen des Schmiedes von jeher Achtung eingeflößt

Wolf stand unter dem Vordach seiner Schmiede und war gerade dabei, Hufeisen zu schärfen.

Der Eigentümer des Pferdes stand dabei. Es war ein Bauer aus Pikolein, der geschäftshalber nach St. Vigil gekommen war. Er kannte Hannes und erbot sich, ihn in seinem Schlitten, den er im »Stern« eingestellt hatte, bis Pikolein mitzunehmen. In einer Stunde etwa gedachte er aufzubrechen.

Hannes nahm das Anerbieten mit Dank an, und Wolf führte ihn, nachdem er seine Arbeit beendet, in seine Stube, die neben der Werkstatt lag. Man merkte der Stube nicht an, daß sie von einem Junggesellen bewohnt wurde – so ordentlich sah es in ihr aus.

»Daß Sie nach dem, was geschehn ist, jetzt nit auf den Hof gehn mögen, versteh ich«, sagte der Schmied, als ihm Hannes den Zweck seines Besuches mitgeteilt hatte. »Niemand tut das mehr leid als der armen Lisei.« Er bestätigte, daß der Klosterbauer auf Hannes einen ebenso großen Zorn wie auf Ambros habe. Man müsse die Zeit walten lassen und mit gelinden Schlägen nachhelfen, meinte er. Die Kraft allein tue es beim Schmieden nicht, man müsse vor allen Dingen das Eisen kennen, das man unter dem Hammer habe. Was Lisei und er tun könnten, um den Alten allmählich zu besänftigen, das würde gewiß geschehen. Von den Sorgen, die ihn infolge von Ambros' übereilter Verbindung mit Stasi hinsichtlich seines eigenen Lebensglücks bedrückten, schwieg er. Er wußte ja, daß Hannes in der besten Absicht gehandelt hatte, und es lag nicht in seiner Art zu klagen, am allerwenigsten, wo er, wie in diesem Falle, überzeugt war, daß ihm der andere nicht helfen könnte.

Die Sonne des kurzen Wintertages war bereits untergegangen, und es dunkelte schon, als Hannes und Wolf unter dem Vordach der Schmiede die letzten Worte wechselten. Keiner von ihnen ahnte, daß sie einander erst nach Jahren wieder begegnen würden.

Hannes begab sich, wenig ermutigt, in den »Stern«, um auf den Pikoleiner zu warten. In der Herrenstube, wo bereits die Öllampe über dem Tisch angezündet war, traf er den Landrichter und den Oberförster beim Vesperschoppen.

Die beiden Herren luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen, und der Landrichter sagte: »So ist die Konferenz in Enneberg doch zu was gut gewesen; man würd Sie sonst wohl gar nit mehr in St. Vigil zu sehn kriegen.«

»Moltenbecher hat erzählt, daß er zur Konferenz müßt«, erklärte der Oberförster, während er seinen silberbeschlagenen Meerschaum mit Tabak füllte. »Die Verordnung der Regierung in bezug auf die Geistlichkeit steht übrigens schon im Regierungsblatt, das Mutschleitner gestern aus Bruneck mitgebracht hat Auch die Erhöhung der Tranksteuer fürs neue Jahr ist darin publiziert. Nur so fortgefahrn – so gewinnt man die Tiroler!«

»Darf man fragen, was in Enneberg beschlossen worden ist? Oder ist's Amtsgeheimnis?« fragte der Landrichter und hielt sein halbgefülltes Glas gegen das Lampenlicht.

»Was können die Herrn beschlossen haben, wann nit eine Abweisung der bayrischen Forderung?« kam der schwarzbärtige Oberförster dem Kuraten zuvor.

»Ein Beschluß konnt von der Konferenz wohl nit gefaßt werden«, äußerte Hannes, »wann wir auch alle der Meinung warn, daß sich die Kirch unmöglich diesen Eingriffen in ihre uralten Rechte fügen kann.«

»Die uralten Rechte!« wiederholte der Landrichter, wobei ein Lächeln um seine Lippen spielte. »Wann überhaupt ein Recht vor Gewalt beständ in unsrer Zeit, so braucht' der Klerus nur den Friedensvertrag von Preßburg für sich anzurufen.«

»Ihr macht mich lachen, Freund Zengerl!« rief der Oberförster Planta und klopfte den Fidibus, dessen er sich zum Anzünden des Tabaks bedient hatte, heftig an seinem Pfeifenrohr aus.

»Darin ist ausdrücklich festgestellt worden«, fuhr der Landrichter fort, »daß Tirol bei seinen ererbten Privilegien, Rechten und Freiheiten belassen werden soll und daß unsre ständische Verfassung, unsre religiösen Institutionen und Gebräuch nit angetastet werden solln. Auf diese Bedingungen hin hat Tirol dem König von Bayern die Treu gelobt!«

»Ach!« rief Hannes aus, indem sich sein Gesicht tiefer rötete. »Und dennoch wagt man, unsre Bischöf zu entsetzen und zu bannen und unsre Priester in die Gefängnisse zu stecken! Und dennoch verbietet man dem Volk das Wallfahrten nach den Gnadenörtern!«

»Geduld, Geduld, mein Bester, das ist erst der Anfang!« höhnte Planta ingrimmig. »Auch dürfen Sie ja nit glauben, daß Bayern sein Wort in den andern Stücken besser gehalten hat und hält. Unsre ständische Verfassung existiert nit mehr, und obgleich Tirol nach wie vor von der Konskriptionspflicht Konskriptionspflicht – die nach Altersklassen bestimmte, bedingte Verpflichtung der Staatsbürger zum Kriegsdienst, die noch Befreiung durch Loskauf (Erstattung einer bestimmten Summe oder Stellung eines Vertreters) zuließ. Auch die für die Truppenkontingente des Rheinbundes benötigten Mannschaften wurden auf dem Wege der Konskription ausgehoben. befreit bleiben sollt, werden unsre jungen Männer zum Kriegsdienst im Interesse des Franzosenkaisers gezwungen und verwildern unter den Rheinbundstruppen. Rheinbundstruppen – die Truppenkontingente der 16 deutschen Fürsten, die sich auf Drängen Napoleons im Jahre 1806 zu einem Staatenbund unter dem Protektorat Frankreichs, dem Rheinbund, zusammengeschlossen hatten. Das bayrische Kontingent betrug 30 000 Mann.. Die Steuern werden uns nach fremdem Gutdünken auferlegt, und wir haben nur noch das Recht, zu zahln und das Maul zu halten!« Er blies dichte Rauchwolken von sich.

Herr Zengerl hatte unterdessen mit der Hand in seinem Haar gewühlt, wie es seine Angewohnheit war. Jetzt sagte er, sich räuspernd:

»Dazu macht sich die materielle Not von Tag zu Tag fühlbarer. Die Sperr zwischen Tirol und Bayern ist zwar gefalln; dafür aber hat Napoleon das ganze europäische Festland mit der Kontinentalsperre Kontinentalsperre – die im Jahre 1806 von Napoleon verhängte Sperre des europäischen Festlandes für alle englischen Waren, mit der er Englands Wirtschaft einen tödlichen Schlag versetzen wollte. Diese Blockade erfüllte jedoch die Hoffnungen nicht, die die französische Bourgeoisie auf sie gesetzt hatte, da der europäische Handel Mittel und Wege fand, die Sperre zu umgehen. Trotz Napoleons Dekret vom 19.10.1810, das über die schließlich erhobene 50prozentige Kontinentalsteuer hinaus die Verbrennung und Vernichtung aller beschlagnahmten englischen Waren anordnete, erblühte der Schleichhandel mit diesen immer mehr. Die Kontinentalsperre fand 1813 ihr Ende. umklammert, die die Preise für alle Bedürfnisse zu einer kaum noch erschwinglichen Höh hinauftreibt. Nehmen Sie ferner die Verschlechtrung des Gelds, die hohen Steuern und die andern übeln wirtschaftlichen Maßregeln, das Stocken von Handel und Wandel infolge der ewigen Kriegsunruhen und den tief erschütterten Kredit in Verbindung mit dem schlechten Hypothekenwesen! Mancher wohlhabende Mann in den Städten wie auf dem Land ist dadurch bereits an den Bettelstab gebracht worden. Auch in unserm Tal häufen sich die Schuldklagen und fruchtlosen Exekutionen, und ich kenn manchen, der hart vor der Gant steht«

»Das ist ja schrecklich!« murmelte der Kurat.

»Schrecklich?« rief der Oberförster mit seiner tiefen, starken Stimme. »Es ist viel schrecklicher, daß wir uns das gefalln lassen! Himmlischer Herrgott, wann ich so sonntags die Büchsen am Stand knalln hör …!« Er starrte mit düsteren Augen in die Rauchwolken.

Hannes machte erschrocken eine abwehrende Bewegung. »Wo solln wir denn Recht suchen gegen die Vergewaltigung durch die bayrischen Obersten, Kommissarien und Kreishauptleut, wann nit bei uns selbst? – Treibt man Tirol nit zum Äußersten?« fragte Herr Planta.

Herr Zengerl, der sinnend in sein Glas blickte, sagte: »Als unsre Nachbarn, die Schweizer, einst von den österreichischen Landvögten vergewaltigt wurden, da erhoben sie sich wie ein Mann. Draußen im Reich ist vor ein paar Jahrn ein Dichter gestorben – Schiller hieß er –,der hat ein Drama draus gemacht. Da heißt's an einer Stell:

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben …« Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden ... – Mit diesen Worten feuert Stauffacher im 2. Akt von Schillers Drama »Wilhelm Tell« seine Landsleute an, das Joch der Unterdrückung abzuschütteln.

Er hatte die Verse nur mit halber Stimme und ohne Pathos, aber doch mit Nachdruck gesprochen und dabei mit zurückgebogenem Kopf in das Licht der Lampe über dem Tisch geblickt, als läse er dort die Worte Schillers ab. Die Wirkung, die sie auf den heißblütigen Oberförster ausübten, äußerte sich darin, daß er seinen mächtigen schwarzen Schnurrbart strich und rief: »Das ist mir aus der Seel gesprochen! Das sind goldne Worte! Und Sie sagen, der Mann ist tot? Das muß ein großer Mann gewesen sein. Trinken wir auf sein Gedächtnis!«

Er erhob sein Glas, und auch Hannes tat ihm Bescheid. Dieser fühlte sich von allem, was er gehört, wie von einem Wirbelsturm ergriffen. Es war ihm sehr angenehm, daß Moideli jetzt meldete, daß der Mann aus Pikolein angespannt habe. Er mußte allein sein, um das Gehörte zu überdenken und sich zurechtzufinden. Der Landrichter lud ihn ein, bald wiederzukommen; in dieser bösen Zeit müsse man sich enger aneinanderschließen, um sich die bedrückte Brust wenigstens durch gelegentliche Aussprachen zu erleichtern. Der Oberförster aber rief:

»Ja, ja, Herr Pfarrer, zum letzten Mittel ist uns das Schwert gegeben!« Stark atmend saß Hannes in dem rasch dahingleitenden Schlitten. Droben am klaren Winterhimmel glitzerten die Sterne. Hannes schaute zu ihnen auf und dachte daran, wie er sich selber um seiner Liebe willen auf das unveräußerliche Menschenrecht hatte stellen wollen. Nun verwiesen auch diese Männer in ihrem Schmerz um die traurige Lage des Vaterlandes darauf. Vaterland! War es für ihn nicht nur leerer Klang? Hatte er denn ein anderes Vaterland als die Kirche? Eine Feuerflocke war in seine Brust gefallen, und sie brannte fort … »Aber was hilft das alles!« seufzte unterdessen der Oberförster und klopfte seine Meerschaumpfeife aus. »Dem Schwert fehlt die Faust und den Fäusten der Kopf!«

»Sie halten das Schwert am Himmel für einen Kometen?« scherzte der Landrichter, in seinen Haaren wühlend. »Freilich, Tirol könnt jetzt einen Michael Geismayer brauchen; darin hätten Sie recht.«

»Michael Geismayer? Wer ist denn das?« fragte Herr Planta.

»Sie haben nie von dem Sekretär des Bischofs von Brixen und nachmaligen Zöllner zu Klausen gehört? Es sind allerdings dreihundert Jahr her, daß Michael Geismayer sein Wesen trieb. Zur Zeit des deutschen Bauernkriegs war's; er wollt nach dem Vorbild der Schweiz aus Tirol eine freie Eidgenossenschaft machen, eine christliche Republik – ohne Pfaffen. Der Mann hatte große Gedanken und eine gewaltige Tatkraft, und der gemeine Mann stand zu ihm von Innsbruck bis Trient. Nun, das Unternehmen scheiterte, und so zog er sich mit seinen Mannen durch das Gadertal auf das venetianische Gebiet zurück. Dort wurd er auf Anstiften des Erzherzogs Ferdinand und des Bischofs von Brixen ermordet.«

»Ermordet?« rief der Oberförster. »Doch hoffentlich nit durch Tiroler?«

»Nein, zwei Spanier überfieln ihn zu Padua im Schlaf und brachten seinen Kopf nach Innsbruck«, antwortete Herr Zengerl.

»Gott sei Dank, daß es nit unsre Landsleut warn!« atmete der Oberförster auf und leerte sein Glas. »Also der Klerisei wollt dieser Geismayer an den Kragen?« fragte er darauf mit gedämpfter Stimme.

Der Landrichter nickte, in Sinnen verloren.

»Wär ihm sein Stück gelungen, so könnten wir heitrer in die Zukunft blicken!« sagte er nach einer Weile. »Jetzt stehn wir mit dem Klerus Schulter an Schulter gegen Bayern. Da wird so manche gute Saat zerstampft werden. Wann nur die von den Bayern in unserm Land eingerichteten und reformierten Schulen und Lehranstalten wenigstens ein halbes Jahrhundert älter wärn!«

»Was kommt's darauf an?« fragte der Oberförster und stand auf. »Für die Unabhängigkeit des Vaterlands zahl ich jeden Preis.«

»Wohl, wohl, aber was nachher kommen wird, das gibt zu denken«, versetzte Herr Zengerl, indem er den Rest seines Weines austrank und gleichfalls aufstand. »Sehn Sie nur, wie die Schwarzen in Bayern den Pöbel gegen die liberaln Institutionen der Regierung und die von ihr berufnen Männer hetzen! Das gibt zu denken.«

»Sie sind und bleiben ein hartgesottner Voltaireaner!« Voltairianer – Anhänger des französischen Philosophen, Historikers und Dichters François-Marie Arouet, genannt Voltaire (1694-1778). Die meisten philosophischen Schriften Voltaires sind von einem leidenschaftlichen Haß gegen die Kirche erfüllt, so daß ihm die Pariser Geistlichkeit bei seinem Tod ein kirchliches Begräbnis verweigerte. rief der Oberförster lachend.

»Ich kann mich nit mit Schiller bescheiden, daß der Mensch auch in Ketten frei sein soll«, entgegnete der Landrichter, und als sie auf dem Kirchplatz voneinander schieden, fügte er hinzu: »Wann wird der Retter kommen diesem Land?«


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