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18. Kapitel

Kein Schlaf hatte Stasi, wenn auch nur auf Augenblicke, die Herz und Hirn zerwühlende Qual vergessen lassen, und sobald es Tag geworden, hatte sie sich geräuschlos vom Bette erhoben und angekleidet.

Ambros schlief fest, und ein angenehmer Traum hatte den verdrossenen Geist, der sonst auf seinen Brauen thronte, verscheucht. Wie er nur so ruhig schlafen kann! dachte die arme Stasi, indem sie ihn betrachtete. Und jetzt, während sie in der Küche das Frühmahl bereitete – was war das? Sie hörte Ambros in der Stube pfeifen und singen, so heiter wie in der Jugendzeit ihres Glücks. Dann fand sich David zum Frühstück ein, und sie hörte ihren Mann mit ihm scherzen und lachen. Er konnte trotz seines schuldigen Gewissens fröhlich sein! Hatte er denn sein gestriges wildes Gebaren gegen sie vergessen?

Er hatte es vergessen und fühlte sich frei wie der Sperber in den Lüften. Krieg, Kampf und Schlachtgetümmel, wonach er sich wie nach einer Erlösung gesehnt hatte, standen ja nun in bestimmter Aussicht. Als Stasi mit dem dampfenden Mehlmus in die Stube kam, scherzte er auch mit ihr. Da er vergnügt war, verlangte er in seiner naiven Selbstsucht, daß auch sie es sein sollte. Es war ihr mit dem tiefen Weh im Herzen unmöglich, auf seinen Ton einzugehen, und er wurde verdrießlich, sprach kein Wort weiter, aß schnell sein Frühstück und ging fort. Die Bedauernswerte fühlte eine Eiseskälte näher und näher an ihr Herz dringen und betete, die heilige Mutter Gottes möge sie durch den Tod von ihrem Elend erlösen.

Ambros ging zu dem Gamsmanndl nach Monthan. Er mußte jemand haben, mit dem er über das große Unternehmen, in das er gestern eingeweiht worden war, reden konnte. Als er über den Kirchplatz kam, sah er den Wagen Arigayas vor der Tür des Pfarrhauses stehen und dessen Knecht Möbel heraustragen. Vefa machte ihr Wort wahr und räumte die Pfarre. Sie zog aber nicht zu ihrem Bruder; denn sie wollte den regen Verkehr mit den Gevatterinnen von St. Vigil nicht entbehren; dazu lag ihr der Klosterhof zu entfernt und einsam. Sie hatte sich in dem oberen Teil des Ortes ein Stübchen bei dem Färber gemietet, dessen Haus das stattlichste war. Es zählte drei Stockwerke, und seine Außenwände waren mit bunten Bildern von Engeln und Heiligen bemalt, denen jedoch die Unbill des Wetters übel mitgespielt hatte. Der Abzug aber war für Vefa kein Triumph, wie sie erwartet hatte.

Es sei gut – das war alles gewesen, was ihr der Vikar erwidert, als sie ihm nach dem Begräbnis Moltenbechers angekündigt hatte, daß sie die Pfarre verlassen werde. Gut sollte es sein, wenn sie ginge? Es war unerhört! So nichtachtend wurde eine Frau behandelt, die dem verstorbenen Pfarrer länger als dreißig Jahre gewirtschaftet und Wohl und Wehe mit ihm getragen hatte? Sie wäre an dieser Demütigung fast erstickt; sie war ihr so unbegreiflich, daß sie, selbst als das Fuhrwerk, das sie sich von dem Müller zum Umzug erbeten hatte, schon vor der Tür stand, noch hoffte, der Vikar würde sie zu bleiben bitten. Lacedelli aber hatte seinen Hut genommen und war am Bache aufwärts dem Bannwald zugegangen, um ihr nicht im Wege zu sein.

In der Bruscia, dort, wo der Bach breit und klar plätscherte, fand der Vikar den Fischer beim Forellenfang. Er schaute ihm eine Weile zu und kaufte ihm zwei Stück von seiner Beute ab. In seinem Taschentuch trug er sie heim; sie sollten ihm zum Mittagbrot köstlich munden. Aber es stand in dem Buch seines Schicksals geschrieben, daß er sie nimmer verspeisen sollte.

In der Pfarre sah es, als er zurückkam, öde und leer aus. Eine morsche Bettstelle ohne Kissen, ein Schreibpult, ein kleiner Schrank und das Gestell mit den Büchern, die der Verstorbene seinem Schüler Hannes vermacht hatte, waren alles, was Vefa als Inventar der Pfarre zurückgelassen hatte. Alle übrigen Möbel, die Betten, die Vorhänge an den Fenstern und die frommen Bilder an den Wänden waren verschwunden, und in der Küche war weder Topf noch Pfanne, weder Teller noch Glas, noch sonst irgendein Geschirr oder Gerät zurückgeblieben. Auch die Magd hatte den Staub des Pfarrhauses von ihren Füßen geschüttelt.

Der Vikar mußte lachen. Seine Lage war allerdings übel genug. Er mußte sein Mittagsmahl im »Stern« einnehmen, wie es der Zufall gerade bot, und Frau Mutschleitner ließ sich nur nach langem Sträuben von ihrem Mann, der ihr aus Klugheitsrücksichten zuredete, dazu bewegen, für den Verlassenen zu kochen, bis er sich seine Wirtschaft eingerichtet haben würde. Die Frau Landrichter half ihm mit demselben Widerstreben mit Bettstücken aus und lieh einstweilen zwei Stühle und einen Tisch. Der junge Geistliche mußte selbst nach Bruneck reisen, um ein paar Töpfe und das unentbehrlichste Geschirr einzukaufen. Eine Magd zu finden mißlang ihm jedoch. Kein Mädchen wollte bei dem abtrünnigen Priester dienen. Schließlich ließ sich der asthmatische Merkur und Zerberus des Landgerichts dazu herbei, ihm morgens aufzuwarten, die Stube zu kehren, Wasser vom Brunnen zu holen und Holz zu spalten. Sein Frühstück und sein Abendessen mußte er sich selbst bereiten. Er war ein Geächteter.

Zu der Öde und Unwirtlichkeit seines Hauses paßte der Zustand des Pfarrgartens. Die Gemüsebeete waren noch im Frühjahr bestellt und bis zum Auszug Vefas gepflegt worden; denn das hatte in das Küchendepartement gehört. Sie boten daher noch eine Zeitlang einen verhältnismäßig frischen Anblick. Um die Blumenbeete und Ziersträucher, die Herr Moltenbecher stets selbst sorgend behütet, hatte sich jedoch niemand gekümmert. Jetzt wucherte auf den Beeten das Unkraut, und die Stockrosen, für die der Verstorbene eine große Vorliebe gehabt hatte, waren wie der Sonnenglanz verkümmert und vertrocknet. Rauhhaarige Kürbisstengel krochen wie Wurmungeheuer über die ungesäuberten Kieswege; die Johannis- und Stachelbeerhecken sowie die Fliederlauben verwilderten, und die Obstbäume waren voller Raupennester. Angelo Lacedelli bemerkte das alles kaum. Er verstand nichts von der Gartenkunst und hatte keinen Sinn für sie. Nur selten sah man ihn einmal in dem Garten spazierengehen.

Während er die Entscheidung abwartete, ob er zu bleiben oder sein Zelt anderswo aufzuschlagen habe, arbeitete er fleißig an seiner Wörtersammlung der ladinischen Dialekte, nicht ahnend, daß das erste Werk dieser Art erst siebzig Jahre später das Licht der Welt erblicken würde. Sein Mut blieb indessen stark; denn er war überzeugt, daß der Sieg seiner Sache, der größeren Beharrlichkeit, zufallen müsse. Was hätte seine Ausdauer auch ermüden sollen, da seine Lage nicht schlimmer werden konnte, als sie war? Die Passivität, zu der er sich gezwungen sah, wollte freilich seinem feurigen Temperament wenig zu sagen.

Noch weniger behagte sie Ambros. Immer wieder kam er zu Mutschleitner und erkundigte sich, ob das Zeichen zum Aufstand noch nicht gegeben sei. Es war ihm langweilig, wenn der Sternenwirt, Sampogna, der Färber und der Bäcker bei ihren Zusammenkünften über die Vorbereitungen und Mittel zum Aufstand ratschlagten. Das Zeichen zur Erhebung solle endlich gegeben werden, das sei alles, was not tue. Tirol würde auch ohne den Beistand Österreichs mit seinen Bedrückern fertig werden. Er hatte für nichts mehr Sinn als für den Kampf, und nun kam ein Umstand hinzu, der seine Ungeduld aufs höchste steigerte.

Gegen Abend des Tages nach dem Begräbnis des Pfarrers erhielt Afra einen merkwürdigen Besuch. David Fenchler, der seinen Fuß noch nie in die Mühle gesetzt hatte, erschien. Afra erwartete eine Botschaft von Ambros; David aber übergab ihr ein kleines Päckchen und sagte, Stasi schicke es. Als sie es öffnete, kam der Schmuck zum Vorschein, den sie einst Stasi geschenkt hatte. In dem Zustand, in den ihn Ambros versetzt hatte, erkannte sie ihn nicht gleich wieder und fragte verwundert, was sie damit solle.

»Ja, ich weiß nit«, antwortete David, denn er wußte es in der Tat nicht. »Ich hab's Euch abgeben solln, und die Stasi hat gemeint, daß Ihr schon wissen würdet, weshalb.« Aus eigenem Antrieb fügte er hinzu: »Der Ambros hat das Kreuzlein so zugerichtet. – Und jetzt will ich denn wieder gehn.«

Afra steckte den Schmuck, ohne eine weitere Frage zu stellen, in die Tasche. Sie begriff, daß Stasi ihr die Freundschaft kündigte. Warum Ambros aber das Kreuz zertreten hatte, blieb ihr ein Rätsel. Nun, er würde es ihr ja lösen – mußte er doch bald kommen. Stasis Eifersucht lockte ein mitleidiges Lächeln auf ihre Lippen.

Aber Ambros kam nicht, nicht an diesem Abend noch im Laufe der nächsten Tage, und Afra verlor ihre Ruhe. Sollte Stasi zum zweiten Mal den Sieg über sie davongetragen und Ambros ihr auch jetzt wieder entrissen haben, jetzt, nachdem sie seine Küsse auf ihrem Munde gefühlt hatte? Wehe Stasi und ihm dann! Er hatte ihre Leidenschaft wachgerufen, und diese duldete keinen Damm, keinen Zügel mehr. Wie sie ihn liebte, so konnte sie ihn auch hassen.

Eines Feierabends saß ihr Mann, wie immer nach dem Essen seine Pfeife schmauchend, auf einem der Rundhölzer, die vor der Mühle aufgestapelt waren; Es war ein warmer Tag gewesen, und die beginnende Kühle lockte auch Afra aus dem Hause. Wie sie noch neben ihrem Mann stand, näherte sich Ambros vom »Stern« her, und ein dunkler Feuerschein überflog ihr Gesicht. Mit fest zusammengepreßten Lippen erwartete sie ihn. Frisch und frei, wie damals, als er den Pfarrer befreit hatte, den Spitzhut keck auf das rechte Ohr gerückt, kam er heran.

»Wißt Ihr schon?« rief er mit ungewöhnlich leuchtenden Augen und fügte, ohne die Gegenfrage abzuwarten, hinzu: »Die Spanier haben wieder zu den Waffen gegriffen.«

»So, so, so!« sagte der Müller bedächtig.

»Ja!« rief Ambros, der von seiner Neuigkeit so ganz erfüllt war, daß er Afras düster-trotzige Haltung nicht bemerkte. Er setzte sich zu dem Müller und streckte die Hand nach Afra aus, um sie an seine Seite zu ziehen. Sie aber schlug die Schürze über ihre Arme und blieb stehen.

Es verhielt sich, wie er sagte. Ungeschreckt durch das furchtbare Blutgericht, das Murat über die Aufständischen von Aranjuez die Aufständischen von Aranjuez – Am 18. März 1808 kam es in der spanischen Stadt Aranjuez zu einer Volkserhebung gegen das korrupte und brutale Regime des sogenannten Friedensfürsten Manuel Godoy (1767-1851), des Günstlings und Geliebten der spanischen Königin Marie Luise von Parma. Godoy wurde gestürzt und König Karl IV. (1748-1819) von dem erbitterten Volk gezwungen, vorübergehend zugunsten seines Sohnes Ferdinand (s. Anm. 72) abzudanken. Der Aufstand wurde durch Murat (s. Anm. 64) blutig niedergeschlagen. gehalten, hatten sich die Spanier abermals gegen die französische Herrschaft erhoben. Mutschleitner, der eben aus Bruneck zurückgekommen war, hatte die Nachricht mitgebracht und manches von dem Heldenmut zu erzählen gewußt, mit dem sich die Spanier in Saragossa schlügen. Diese ausführlichen Nachrichten mochten wohl aus Wien in das Hinterstübchen des Kaffeesieders Nessing zu Bozen gelangt sein und begannen sich nun von dort aus durch das weiter und weiter verzweigte Geäder der Verschwörung über ganz Tirol zu verbreiten. Die Zeitungen erwähnten den Aufstand nur als eine ganz unbedeutende Ruhestörung.

Die Aufregung, in die er durch Mutschleitners Mitteilung versetzt worden war, hatte Ambros nach der Mühle getrieben. Er mußte sich Luft machen, und mit blitzenden Augen erzählte er, wie selbst Frauen sich an dem Kampf beteiligten und an Todesverachtung mit den Männern wetteiferten. »Und solln wir Tiroler uns von den Spaniern beschämen lassen?« rief er. »Jetzt ist auch für uns die Zeit da, nach dem Stutzen zu greifen!« Und fortgerissen von seiner Begeisterung, vertraute er seinen Zuhörern, daß man auch in Tirol nur auf das Zeichen zur Erhebung warte und daß ein geheimer Bund existiere, an dessen Spitze Andreas Hofer stehe.

Afra hatte sich längst still an seine Seite gesetzt, und er hatte im Eifer seines Berichts die Hand auf ihre runde Schulter gelegt. Sie ließ es geschehen und duldete den Druck, der zuweilen recht unsanft war. Er hielt sie ja fest als die Seine! Der Alte hatte seine Abendpfeife erlöschen lassen. Die Ellenbogen auf die Knie und das Gesicht in die Hände gestützt, hörte er Ambros zu.

»Das ist ein gefährlich Stück, was ihr da vorhabt«, sagte er nach einer Weile, als Ambros seine Mitteilungen beendet hatte, und richtete sich auf. »Ob es glückt, steht bei Gott. Aber ich will dabeisein, mit meinem Rat wenigstens, denn mitzutun, bin ich wohl schon was zu alt.«

»Es muß glücken!« rief Ambros energisch.

»Ja, ja, es ist weit mit uns gekommen«, fuhr der Müller fort. »Alles kann einer ertragen, aber wann uns die Bayern zwingen, in die Wälder und Einöden zu gehn, um uns an dem wahren Glauben zu erquicken, das ist zuviel.« Ambros blickte ihn fragend an, und er fuhr fort: »Der Löffel-Franz ist gestern bei mir gewesen. Er kam mit seinem Kram aus dem Gadertal zurück übers Jöchl. Hat er dir nit auch Botschaft gebracht von deinem Bruder, dem Herrn Kuraten?«

»Ach so, von wegen morgen nachmittag«, versetzte Ambros kühl. »Bei mir gewesen ist er nit, aber der Mutschleitner hat mir davon gesagt. Wann wir erst dem Bayer und Franzos predigen, wird's von allen Bergen widerhalln.« Er stand lachend auf.

Schon erfüllten die Abendschatten das Tal.

»Gehst du morgen nit hinauf?« fragte Afra, mit einem tiefen Blick zu ihm emporschauend.

»Vielleicht«, meinte er; doch sein Blick sagte ja. Dann ging er.

Der Müller und seine Frau blieben noch eine Weile draußen sitzen, beide mit ihren Gedanken über das, was sie von Ambros vernommen hatten, beschäftigt. Es waren seltsame Gedanken, die Afra bewegten und ihr das Blut schneller durch die Adern trieben, so daß sie die Kühle nicht fühlte, die ihren Mann zuerst ins Haus zurückzugehen veranlaßte …

Im Westen, oberhalb Monthan, lag unter den Tannen des mächtigen Bergrückens, über den die Einsattelung des Jöchls zum oberen Gadertal führt, eine kleine Waldblöße. Kein Weg noch Steg leitete zu ihr; eine schmale, steinige Straße, die ein Waldgehöft mit Monthan verband, zog tief unter ihr durch den Tann. Nach dieser versteckt gelegenen Wiese hatte Hannes die Gemeinde von St. Vigil heimlich durch den Löffel-Franz entbieten lassen, und um die festgesetzte Stunde war der Platz voll Menschen, Männer und Frauen, die, um keinen Verdacht zu erregen, einzeln oder in kleinen Gruppen von verschiedenen Seiten durch den Wald heraufgestiegen waren. Sie alle trugen ihre Werktagskleider, unterhielten sich aber nur flüsternd, als ob sie in einer Kirche wären.

Afra hatte sich allein eingefunden; ihrem Mann war das Steigen bei seinem Alter zu beschwerlich. Auch Lisei kam. Sie hatte sich jedoch, durch ihre häuslichen Geschäfte gehalten, etwas verspätet, und als sie auf die kleine Blöße hinaustrat, hatte der Gottesdienst schon au gefangen.

Barhäuptig lauschten die Männer der Stimme des Kuraten, der sich an dem südlichen, etwas höher gelegenen Rand der Wiese mit einem Büchlein in der Hand aufgestellt hatte. Neben ihm im Grase lagen seine Pflanzentrommel, sein Hut und sein Stock. Er stand in dem schmalen Schatten, den die Tannen auf diese Seite warfen, während der übrige Teil der Wiese im vollen Sonnenlicht lag.

Lisei mischte sich still unter die Frauen und Mädchen, wobei sie ihre nächsten Nachbarinnen mit einem vertraulichen Kopfnicken grüßte und die Versammlung flüchtig überschaute. Da war auch Ambros. Er lehnte seitlich mit untergeschlagenen Armen an dem Stamm einer Tanne und hatte Hannes fast den Rücken zugekehrt. Worauf er nur so unverwandt seine Blicke gerichtet hielt? Ob er Stasi mitgebracht hatte? Lisei bemerkte sie nicht, wohl aber entdeckte sie Afra. Galten ihr die Blicke des Bruders? Doch in Liseis Ohr tönten die Worte: »Pilatus aber sprach zu ihnen: Was hat er Übles getan? Aber sie schrien noch viel mehr: Kreuzige ihn.« Es war die Geschichte der Leiden und der Auferstehung Christi nach dem Evangelium des Markus, die Hannes aus dem Büchlein verlas, und Lisei richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn. Seine Stimme klang wie das Murmeln eines Baches über die Wiese; Finkenschlag tönte aus dem Wald, und sanft rauschten die Tannenwipfel. Harzgeruch erfüllte die Luft.

Dann steckte Hannes sein Buch in die Tasche, räusperte sich und begann die Predigt. Seine dumpfe Stimme gewann Helle und Kraft. Er verglich die Leiden und die Auferstehung Christi mit der Lage der Kirche und erzählte, wie der Kaiser der Neufranken seine Hand frevelhaft nach dem Besitztum des Heiligen Vaters ausstrecke, wie er ihm die Legationen von Ancona, Urbino und andere bereits entrissen habe und sich anschicke, Rom zu besetzen. Dann ging er zu den Verfolgungen des Glaubens in Tirol über und schilderte mit starken Worten die Willkür und Härte der Fremdherrschaft. Jedoch sollten seine Zuhörer darum nicht verzagen; denn wie Jesus, bevor er zum Himmel gefahren, es denen verheißen, die da glaubten, so würden die bayrisch-französischen Teufel ausgetrieben, und so würde die Schlange des Unglaubens und der Gewalt vertilgt werden. Wie die Religion Christi nicht am Kreuz erloschen, sondern aus Grabesnacht zur Weltleuchte erstrahlt sei, so würde der wahre Glauben über die falschen Priester und Gewaltknechte triumphieren und Tirol aus seiner Entwürdigung und Schmach zu neuer Herrlichkeit auf erstehen.

In diesem Augenblick stieß das Gamsmanndl Ambros mit dem Ellbogen an und deutete nach oben. Hoch über der Waldblöße schwebte ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln. »Das ist der Gamsmörder«, flüsterte Sampogna, den die Jagdleidenschaft alles um ihn vergessen ließ.

Aber auch Hannes, der die Augen begeistert in die Höhe gerichtet hatte, gewahrte den mächtigen Vogel, und er rief, zum Himmel weisend: »Seht das Zeichen!«

Alle schauten hinauf, und nach dem Schweigen einer Sekunde erscholl es: »Ein Zeichen! Der Adler Tirols!«

»Ja«, rief Hannes mit glänzenden Augen, »wie der Herr mit seinen Jüngern wirkte und das Wort durch Zeichen bekräftigte, also gibt er auch uns, die wir in seinem Geist hier versammelt sind, ein Zeichen, daß der Adler Tirols eines Tags wieder auf freien Schwingen über unsern Bergen schweben wird. Er ist das Zeichen, daß Gott in uns Schwachen mächtig sein wird; denn er leidet kein Unrecht. Drum wird er auch mit uns Barmherzigkeit haben, daß wir uns unsrer Knechtschaft entledigen.«

Zündend trafen seine Worte die Herzen. Die meisten Frauen weinten vor Begeisterung. Lisei war in tiefster Seele erschüttert und lauschte noch andächtig, als er schon den Segen gesprochen hatte. Die Bewegung, die nun um sie her entstand, und das laute Sprechen in ihrer Nähe brachten sie in die Gegenwart zurück. Von den Männern traten viele zu Hannes heran, während Ambros und Afra im Westen zwischen den hohen Tannen, die die Lichtung umsäumten, verschwanden.

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Afra hatte sinnend den Kopf geneigt und die Hände leicht ineinandergefaltet.

»Ich hätt nimmer geglaubt, daß es mein Bruder so gut kann«, äußerte Ambros schließlich. »Wir haben ihn immer das Kräuterweibl genannt, weil er für nix keinen Sinn gehabt hat als für die Pflanzen, und jetzt red't er auf einmal von Tirol und der Freiheit wie die Apostel am Pfingsttag!«

»Ja, so hat er gered't«, pflichtete ihm Afra bei und tat die Hände auseinander. Tief aufatmend, fuhr sie fort: »Gestern hast erzählt, daß es allerwärts in Tirol in den Herzen brennt; so brennt's auch in seinem – und in mir brennt's auch.«

»Das ist die Lieb in dir«, scherzte er.

Sie schüttelte leise den Kopf. »Seit du gestern abend fortgegangen bist, ist ein Brausen in mir gewesen wie Feuer im Ofen«, sagte sie. »Jetzt weiß ich, was es bedeutet. Dein Bruder hat's mir ausgelegt. Wann das Zeichen gegeben wird, zieh ich mit dir aus und streit an deiner Seit.«

Er sah sie überrascht an. »Du?« rief er und lachte.

»Ja!« versetzte sie fest. »Du wirst mir's weisen, wie eine Büchs geladen wird.«

Er lachte noch immer; dann sagte er, sich den Schnurrbart streichend: »Der sauberste Schütz wärst du schon. Aber Büchsen- und Kanonenkugeln sind keine Zuckererbsen, und die Musik, die sie aufspieln, ist kein Schleifer.«

»Spott nit!« entgegnete sie mit einer Falte zwischen den Brauen. »Mir ist der Tanz recht, den sie aufspieln. Glaubst denn, daß ich weniger Mut hab als die spanischen Madln? Kommt nachher eine Kugel geflogen und trifft mich an deiner Seit – das ist ein seliger Tod.«

»Ans Sterben denkst?« fragte er bestürzt.

»Was wär's Großes?« gab sie ihm ruhig zurück. »Ist denn das ein Leben, das ich bis jetzt geführt hab? So fortgehn kann's nit mehr, jetzt nimmer. Du kannst's auch nit weiter so aushalten. Ich versteh das aus mir, und ich mein, wann der Glockenstreich angeht in unsern Tälern, dann bricht der Ostertag an für uns beid.«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und blickte ihm tief in die Augen. Er drückte sie fest gegen seine Brust, und ihre Lippen wollten sich nicht wieder voneinander trennen. Unter ihren verzehrenden Küssen ging ihr bisheriges Leben in Brand auf.

Endlich gingen sie weiter, immer der sich neigenden Sonne entgegen. Ambros hielt den rechten Arm um Afras Schulter geschlungen, und sie schmiegte sich an ihn, doch nicht demütig. Unversehens zeigte sich unter ihnen das einsame Waldgehöft, und sie blieben stehen. Blaue Rauchwölkchen stiegen aus dem Schlot, und ein Mann spaltete vor dem Blockhaus Holz. Eine Frau trat mit einem Kind auf dem Arm aus der Tür.

»Mir ist recht geschehn, daß ich als leichtherzige Gitsche gemeint hab, mit der Lieb ist's nix«, sagte Afra mit einem unterdrückten Seufzer.

»Du bist mein guter Kamerad!« rief er. »Laß fahrn dahin!« Nach einer Weile fuhr er, halb zu sich selbst redend, fort: »Es ist wunderlich. Eigentlich hat mir nimmer keine jeso gut gefalln wie du, und dennoch – ja, du wärst die rechte Frau gewesen, die zu mir paßt.«

»Komm fort!« bat sie und wandte sich nach rechts, in das Gehölz zurück, um dem Bilde des ehelichen Glücks zu entfliehen, das das Waldgehöft bot. Dann sagte sie: »Es war zu spät für uns beid, als wir uns kennenlernten. Nimm's, wie's ist« Er drückte sie heftig an sich, und sie fuhr fort: »Was gewesen ist, ist gewesen, und was morgen sein wird, das wissen wir nit. Es hat ja jetzt nix einen Bestand in der Welt; der Krieg wirft alles durcheinander. Fest ist nur unsre Lieb. Ich bin dein, und du bist mein.«

»Ja, du bist mein«, murmelte er und zog sie mit sich nieder ins Moos und küßte sie.

»Herr, mein Gott, wie hab ich dich so lieb!« rief sie mit Tränen der Leidenschaft in den Augen. »Ich hab's nimmer wahrhaben wolln und hab mit meinem Herzen gerungen, und du hast nix davon merken und wissen solln.« Sie preßte seinen Kopf mit aller Gewalt gegen ihren Busen. »Oh, lieb mich doch auch!« bebten ihre Lippen. »Lieb mich! Lieb mich!«

Plötzlich entstand in den schwärzlichen, von Sonnengold durchsprengten Wipfeln, die sich wie ein Dach, von schlanken rötlichen Säulen getragen, über ihnen ausbreiteten, ein häßliches, vielstimmiges Kreischen. Es kam von zankenden Elstern. Ambros sprang ärgerlich auf. Da wirbelte der Schwarm in die Luft; aber das Gekreisch dauerte fort, und daß es das diebische Volk nicht bei dem Schimpfen bewenden ließ, zeigten die herunterstiebenden Federn. Ambros hob einige davon auf und steckte sie in sein Hutband. Sie seien zum Einölen des Flintenschlosses gut, bemerkte er zu Afra, die unterdessen ebenfalls aufgestanden war; und lachend setzte er hinzu: »Gelt, die verstehn das Keifen so gut wie alte Weiber.«

Afra erwiderte nichts. Sie faltete ihre Hände über seinem Arm zusammen, und so stiegen beide in Richtung auf Monthan hinunter.

»Das war auch ein Zeichen«, äußerte Afra nach einiger Zeit.

»Wovon denn?« fragte er.

»Daß Neid und Eifersucht allerwärts in der Welt keinem ein Glück gönnen mögen«, versetzte sie.

»Schau, das hast gut ausgelegt!« rief er. »Aber's gibt schon noch Mittel gegen den Neid und dergleichen: da!« Er zeigte ihr seine geballte Faust.

Der Pfad, der von Monthan zur Schneidemühle führte, war anfangs von den Bergabhängen und dem Bach so eingeengt, daß zwei Personen nebeneinander nicht Raum hatten. Afra ließ Ambros vorausgehen. Nach einigen Schritten zog sie etwas aus der Tasche. Blitzend fuhr es durch die Luft und versank in dem strudelnden und schäumenden Wasser. Es war das Kreuz mit dem Kettchen, das ihr Stasi zurückgeschickt hatte.

Ambros wollte sich vor der Mühle von Afra verabschieden. Sie aber bat ihn, noch mit hereinzukommen. Es sei gar so öde mit dem Müller allein, flüsterte sie, und er folgte ihr zu seinem Unglück.

Vater und Sohn waren in der Wohnstube. Jerg wartete bereits auf das Abendessen und hatte sich inzwischen auf der Ofenbank ausgestreckt. Ambros zuckte es in den Brauen, als er ihn erblickte.

»Endlich!« rief Jerg, während er sich langsam aufrichtete. »Die Frau Mutter ist wohl satt vom Wort Gottes, daß sie uns so lang hungern läßt? – Na, grüß Gott, Brosi.«

Afra ließ seine Äußerung unbeachtet, und Ambros warf, dem Alten die Hand schüttelnd, die Bemerkung hin, daß Jerg ja auch hätte satt werden können, wenn er hinaufgekommen wäre.

Das hätte ihm noch gefehlt, meinte Jerg und gähnte. Er wüßte seine Zeit besser anzuwenden.

»Ja, du verstehst's, deine Zeit wahrzunehmen!« rief Ambros mit einem verächtlichen Blick.

Der Müller lenkte ab, indem er Ambros aufforderte, zu berichten, wie es auf der Waldblöße zugegangen sei. Ambros erzählte. Afra rüstete unterdessen, zwischen Stube und Küche hin und her gehend, den Tisch zum Abendessen, stellte die Schüsseln auf und legte Löffel und Messer dazu. Zuweilen fügte sie Ambros' Mitteilungen eine Bemerkung oder eine Ergänzung bei. Ambros wurde es warm, wie er die Worte seines Bruders wiederholte. Jerg lachte dann und wann spöttisch dazwischen. Es machte sich darin sein Groll gegen Hannes Luft, und als der Adler erwähnt wurde, schlug er sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und rief: »Schau, ich hab den Hannes immer für einen Dummkopf gehalten; aber er versteht seine Sach wie jeder Schwarzrock. Es ist lustig, wie einfältig die Leut sind; da hätt ich doch beisein mögen, um die Gesichter zu sehn! Gelt, Ambros, das muß dir auch Spaß gemacht haben; du glaubst ja nit einmal an den Teixel!«

»Seitdem ich dich recht kenn, fang ich an, an ihn zu glauben«, sagte Ambros gedehnt, und ein Blitz schoß aus seinen Augen auf Jerg.

»Es zwingt dich keiner zuzuhörn, wann's dir leidig ist«, rief diesem der Vater zu und bat Ambros fortzufahren.

»Wir reden wohl noch ein andermal davon«, lehnte Ambros ab und drehte an seinem Schnurrbart.

Jerg zuckte mit den Schultern, und da Ambros stumm blieb, sagte er: »Jetzt, was soll das Predigen von deinem Bruder? Wann der Vikar davon hört – und wie sollt er nit –, wird er's anzeigen, und der Hannes und ihr alle kommt in Teixels Küch. Ich bin froh, daß ich nit dabeigewesen bin.«

»Glaub's!« warf sein Vater bitter ein.

Jerg aber fuhr, unbekümmert darum, fort: »Ich könnt's euch beweisen, anders als mit Worten, daß ich den Bayern nit grün bin. Bei Gott, das könnt ich! Aber so dumm bin ich nit, daß ich Hab und Gut und Leben aufs Spiel setz, bloß weil's mich kitzelt, große Wort vor den Leuten zu machen. Ihr schreit: ›Freiheit! Vaterland!‹, und sie antworten drauf mit Kanonen, Säbeln und Flinten. Es ist ja alles Unsinn, und für das Vergnügen, an Österreich zu schossen statt an Bayern, verbrenn ich mir nit die Finger.«

»Nein, du holst dir lieber mit andrer Leut Finger die Kastanien aus dem Feuer!« bemerkte Afra, die inzwischen wieder in die Stube gekommen war.

»Ich hab's bisher nit gewußt, daß die Müllerin gar so gewissenhaft wär, wann's sie nach einem Leckerbissen verlangt«, versetzte Jerg mit einem stechenden Blick auf sie.

Ambros stand jäh von seinem Stuhl auf. »Und mancher schnappt schon nach einem fetten Bissen – da fahrt ihm eine Faust über die Fuchsschnauz.« Er brachte die Worte nur mühsam heraus.

»Und das da, an deinem Hut, das sind wohl Federn von dem Adler, der über die Lichtung geflogen ist?« rächte sich Jerg. »Ihr habt sie wohl mitsammen im Wald aufgelesen, du und die Müllerin?«

»Himmlischer Herrgott, was bist du für ein hundsgemeiner Bub!« stöhnte der Alte.

»Jedem das Seine«, meinte Jerg trocken.

»Ja, jedem das Seine!« rief Ambros mit flammendem Gesicht und riß die Federn aus seinem Hutband. »Ich hab sie für dich aufgehoben, der du grad so schwatzhaft bist wie eine Elster und ebenso diebisch!« Er schleuderte ihm die Federn ins Gesicht »Staffierst dich ja gern mit fremden Federn aus, daß dich die Leut für einen rechten Hahn halten solln, und bist doch ein feiger Lump. Wehrlose Weiber zu lästern, dazu reicht dein Mut!«

»Jetzt, das geht übern Spaß!« zischte Jerg, dem alles Blut aus dem Gesicht gewichen war, und blickte wie suchend um sich. Er stand auf, und während sein Vater und Afra Ambros zu beruhigen versuchten, erfaßte er mit raschem Griff vom Eßtisch das nächste Messer und rief, die Hand mit der Waffe hinter sich bergend: »Noch bin ich nit verlumpt wie du; noch hab ich nit im Gefängnis gesessen wie du, noch hab ich keinem andern seine Frau verführt wie du und der eignen nit die Treu gebrochen!«

Aus Ambros Kehle rang sich ein dumpfer Laut; er schüttelte den Müller und dessen Frau von sich ab und stürzte mit geballter Faust auf Jerg zu. Vor seinen Augen blitzte das Messer, und er prallte zurück.

»In deine Fratz soll sich keine mehr vergaffen!« schrie Jerg mit tückischem Augenfunkeln.

Schon aber hatte Ambros mit beiden Händen den schweren Holzstuhl, auf dem er vorher gesessen, ergriffen, und ein furchtbarer Schlag schmetterte Jerg nieder. Afra wollte ihm in den Arm fallen, doch es war zu spät. Sie taumelte entsetzt zurück, und ihr Mann ächzte. Blutend lag Jerg am Boden und regte kein Glied mehr. Ambros starrte mit weitgeöffneten Augen auf ihn, während seine Hand noch krampfhaft die Lehne des Stuhls umfaßt hielt.

»Barmherziger Gott, du hast ihn totgeschlagen!« rief Afra und rang die Hände. »Flieh! Flieh!«

Da durchbebte es Ambros, und er ließ den Stuhl fahren.

»Ach, du unglückseliger Mensch!« wehklagte Afra und warf sich, alles vergessend, neben Jerg auf den Boden.

Ambros entfloh.

Der Alte war blasser als der Tote; seine Augen rollten zwischen diesem und Afra hin und her. Dann ging er in den Werkraum und befahl dem Knecht, das leichte Wägelchen anzuspannen und den Doktor aus Bruneck zu holen. Seine Stimme war kaum verständlich.

Als er zurückkam, kniete Afra noch neben Jerg und bemühte sich, das Blut zu stillen. Sie kehrte ihrem Manne ein geisterbleiches Gesicht zu und flüsterte: »Er ist tot!«

Er bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort hervor. Sie trugen den Entseelten in seine Kammer und legten ihn auf das Bett. Kalter Schweiß bedeckte die Stirn des Alten, und er zitterte, als ob er selbst der Mörder wäre.

Ambros eilte am Bache aufwärts, über die Brücke, schneller und immer schneller, als ob er gejagt würde.

Ruthler sah ihn vom Fenster aus am Schulhaus vorüberstürmen und sagte zu seiner Frau: »Der Falkner läuft, als ob's daheim brennt. Kannst dich parat halten, Alte.«

»Es eilt noch lang nit«, versetzte diese. »Komm jetzt und iß. Bist wieder so lang auf dem Klosterhof gewesen.«

Ja, es brannte, aber nicht daheim, sondern in Ambros' Herzen, und auch vor seinen Augen brannte es blutrot. Dies war keine Täuschung: Die Dolomiten standen in flammender Abendglut. Ihn aber dünkte es, als ob sie mit Blut übergossen wären, mit dem Blut, das unter Jergs Haar hervorquoll, und er sah nichts anderes. Wenn ihm die Kinder, die auf dem Kirchanger spielten, und die Ziegen, die eben von der Weide kamen, nicht rasch ausgewichen wären – er hätte sie umgerannt; und die Kinder starrten ihm, vor Schreck gelähmt, nach, so unheimlich war er ihnen erschienen. Keuchend, in Schweiß gebadet, mit starren, unheimlich gleißenden Augen stürzte er zu Hause in die Stube, nach der Wand, an der sein Schießzeug hing. Er sah weder Stasi noch David.

»Jesus! Ambros, was hast?« rief das unglückliche Weib, zitternd vor Schreck, und schwankte zu ihm.

»Ich muß fort!« keuchte er, indem er sich die Kugeltasche umhängte und die Büchse vom Nagel riß.

»Fort?« bebte sie und ergriff ihn mit beiden Händen am Arm. »Fort? Wohin? Barmherziger Gott, was ist dir geschehn? Was hast du vor? Ambros!«

Er richtete die glitzernden Augen auf sie und starrte sie eine Sekunde lang an.

»Du?« rief er und fügte, mit einem Ruck emporschnellend, dumpf hinzu: »Den Jerg hab ich erschlagen!«

Er eilte hinaus, verfolgt von einem markerschütternden Schrei.

Wie die Hölle glühte vor ihm das Rauhtal; die steinernen Flammen ringsum aus der Bruscia leckten gen Himmel. Ambros sprang in die Schlucht am Piz-Peres hinunter und über die Mur, die einst St. Vigil vernichtet hatte, in den Bannwald. So hatte nun die niedergehende Mur seiner Leidenschaft sein Lebensglück zerstört! Aber er dachte weder daran noch an etwas anderes. Nur ein Bild stand ihm immer vor Augen, und immer wieder sah er Jerg unter seinem Schlage blutend zusammenbrechen. Geröll knirschte unter seinen Sohlen; ein Nebenarm des Vigilbachs hatte einen breiten Streifen des Waldbodens damit bedeckt, und ein Wassergeäder durchzog es. Ambros durchschritt achtlos die plätschernden Rinnsale, die er nicht überspringen konnte, und er suchte weder die Schrittsteine noch die Brücke, die ihn, weiter rechts, trockenen Fußes hinübergebracht hätte. Der Wald, den ein starker Harzgeruch erfüllte, nahm ihn wieder auf. Unter den Birken, Tannen und Rüstern begann es zu dunkeln. Der Brand der Berge erlosch; wie fahle Totengesichter schauten sie auf den Flüchtling, der plötzlich die Büchse von der Schulter riß. Wer war der wüste Gesell, der dort neben ihm herhuschte und jetzt ebenfalls die Flinte herunterriß? Es war sein eigenes Bild, das sich bei dem letzten blassen Tagesschein in dem kleinen See unter den Klippen der Eisengabel abspiegelte. Mit einer Anwandlung von Scham über seine Schreckhaftigkeit ging er weiter. War es mit dem Ambros Falkner so weit gekommen, daß er sich fürchtete?

Es wurde finster, und Ambros mußte langsamer und vorsichtiger ausschreiten, um nicht über die Steine und Wurzeln auf dem ausgefahrenen Wege zu fallen. Ein Stern blinkte durch das Geäst über ihm und verschwand wieder. Ein leises Flüstern in den Blättern war alles, was er vernahm. Die Aufmerksamkeit, die er auf den Weg wenden mußte, drängte das blutige Bild des Erschlagenen zurück. Da waren die Sennhütten von Tamers unter der Sellawand, und die riesigen Wettertannen mit ihren Moosbärten standen im Sternenlicht. Hütten und Hürden standen leer, denn die Sennen waren mit den Rindern längst zu Berg gefahren. Ambros ging an den Brunnen neben den Blockhütten; ein brennender Durst plagte ihn, und er trank gierig das eisige Wasser, das über eine Borkenrinne in einen darunter stehenden Trog floß. Mit einem Seufzer der Befriedigung richtete er sich endlich auf, lüftete den Hut und strich sich mit den Fingern durch das Haar, das ihm an Stirn und Schläfen klebte. Er sah zum Himmel auf, ließ aber die Blicke schnell wieder sinken; dann setzte er den Hut auf und zog ihn tief über die Augen. Die Sterne blinkten ihn wie drohend an und erstickten den Vorsatz, in den Hütten zu rasten. Und wieder verschlang ihn die Wildnis.

Erst jetzt fragte er sich, wohin er fliehen solle. Er fand jedoch keine bestimmte Antwort. Gleichviel wohin, nur fort aus dem Vigiltal! Er dachte nicht daran, daß der Übergang über den Col de Rü in der Dunkelheit unmöglich war. Der Aufstieg aus dem Rauhtal nach den Sennhütten von Fodara vedla, den er auf seinen Jagdgängen oft gemacht hatte, mochte ihm wohl glücken; aber den Abstieg in das Boitetal hatte er nie versucht. Der Paß wurde überhaupt höchst selten einmal betreten. Nach einiger Zeit erschien es ihm zweifelhaft, ob er auch nur den Aufstieg finden würde. Der hintere Teil des Bannwaldes, Pöderü oder Pöderua genannt, war wohl noch nie von der Axt berührt worden, und dicht wie ein Mauergeflecht stand unter den alten Bäumen das Unterholz. Der schmale Fahrweg hörte bei den Sennhütten von Tamers auf, und die Andeutung eines Steges, die weiter durch das Dickicht zum Fuß des Passes führte, hatte Ambros verloren. Mußte man doch selbst am hellichten Tage gut aufpassen, um nicht von ihm abzuirren. Ambros wußte nicht, wo er sich befand, und schon dachte er daran, sein Lager in dem Gebüsch aufzuschlagen, als es ihn durchblitzte: Wie ein wildes Tier, das sich im Dickicht vor dem Jäger zu verstecken sucht! Aus dem Jäger war ein Wild geworden, und vielleicht jagte man schon seiner Spur nach! Das trieb ihn weiter.

Nach einer Weile, in der er sich bald nach rechts, bald nach links hatte wenden müssen, um das Unterholz zu durchbrechen, sah er es weißlich durch die Bäume schimmern. Plötzlich hörten die Bäume auf, und er befand sich auf dem Boden eines weißen Kessels, dessen Wände sich fast senkrecht bis an die Sterne zu erheben schienen. Niedergegangene Muren und abgebröckelte Kalksteine bedeckten den ganzen Boden. Ambros atmete auf. Dort, etwas zur Linken, wo es schien, als sei aus dem Rande des Kessels ein Stück herausgebrochen, führte der Paß in das Boitetal. Wie er die Blicke dorthin richtete, war es ihm, als habe der Himmel darüber einen blassen Schein. Sollte es nur eine Täuschung sein, hervorgerufen durch die Kalkberge ringsum, oder begann bereits der Morgen zu dämmern? Letzteres dünkte Ambros unmöglich; denn mehr als drei Stunden konnten nicht verflossen sein, seit er von Hause geflohen war.

Rasch schritt er über das Geröll. Senkrecht erhob sich vor ihm die Felswand; doch seitlich zeigte sich eine Schurre, Schurre – (Holz-)Gleitbahn, Rutsche etwa drei bis vier Fuß breit. Das war der Aufstieg zum Col de Rü. Seine Neigung betrug etwa drei Viertel eines rechten Winkels. Ambros hängte sich die Büchse quer über den Rücken und begann die Bergfahrt. Nicht einmal blieb er stehen, nicht einmal schaute er zurück; er dachte weder zurück noch voraus, es war alles dumpf in ihm. Weiter oben wurde der Pfad allmählich weniger steil; Gesträuch und Alpenrosen begannen den Boden zu bedecken, und ein eiskalter Luftstrom wehte dem Flüchtling von Osten her entgegen. Rechter Hand erhoben sich graue Felsen, zur Linken lag der tiefschwarze Schatten eines Tales, und jenseits dämmerten die Höhenzüge des Monte Sella in blassem Sternenschein.

Am Rande einer flachen Grasmulde machte er halt, um Atem zu schöpfen. Sein umherschweifendes Auge war voll Trotz. Der kalk-weiße, durch Rasenstreifen und Gebüsch vielfach zersplitterte Pfad, auf dem er in der letzten halben Stunde vorwärtsgeschritten war, wandte sich hier links nach den Sennhütten von Fodara vedla hinauf. Ambros schritt pfadlos quer durch eine Mulde. Jenseit der Einsenkung gewahrte er vor sich ein goldgelbes Leuchten. Es war der Mond, der gerade über den dunklen Bergrändern im Osten heraufkam. Ambros hatte eine Halde betreten, aus deren Boden überall nacktes Gestein aufragte. Unheimlich stand es mit seinem Schatten in dem grauen Silberdunst, den das Nachtgestirn über die Halde hauchte. Sie glich einem Kirchhof mit gewaltigen Leichensteinen. Ambros wandte sich zwischen ihnen hin und her, als ob er irgendein Grab suchte. Bald verschwand er hinter den Blöcken oder in ihrem Schatten, bald tauchte er wieder in dem Schein des höher schwebenden Mondes auf und warf selber phantastische Schatten. Seine Schritte dämpfte das kurze, graue Gras zwischen den Steinen, so daß kein Geräusch, kein Ton die unheimliche Stille unterbrach.

Ambros hatte zuletzt eine nördliche Richtung eingeschlagen und beschleunigte nun seine Schritte. Er kämpfte gegen das Gefühl an, das ihm die Brust zusammenschnürte, als er sich an jene wilde Nacht erinnerte, in der er auf dem Kirchhof von St. Vigil das Kreuz Kaspar Larseits abgebrochen hatte. Damals hatte ihm bei dem Krachen des Donners und dem Flammen der Blitze, in denen die Gräber der Toten mit ihren Kreuzen hell aufleuchteten, kein Nerv gezuckt, und jetzt erschrak er vor seinem eigenen Schatten, vor dem Kreuz auf der Paßhöhe, vor den Felsblöcken im Mondlicht. Aber die Toten, die dort in ihren Gräbern schliefen, standen erst am jüngsten Tage auf, das wußte er, und den Toten in der Mühle zog seine Schuld hinter ihm her. Es war ihm, als lauere er hinter den Felsblöcken und weide sich mit schadenfrohen Blicken an seiner Angst. Nein, diesen Triumph sollte Jerg nicht genießen! Er drehte sich um und rief: »Komm hervor!«

Vielleicht dachte er die Worte auch nur; aber er hatte den Mut, sein Auge über die von dem ungewissen Mondlicht übergossene Halde schweifen zu lassen – wenn auch nur eine Sekunde lang –, und ruhiger schritt er weiter. Sein Gehirn aber begann wieder zu arbeiten. Warum floh er eigentlich? fragte er sich. Hatte er Jerg nicht nur in der Notwehr erschlagen? Er war kein Mörder! Er versuchte sich zu erinnern, wie es zu der Tat gekommen war; aber nur die Stachelreden Jergs waren in seinem Gedächtnis haftengeblieben, nicht die Beschimpfung, die er selber dem Lästerer entgegengeschleudert hatte. Jerg trafen die Folgen seiner eigenen Schuld! Warum sollte er also fliehen?

Er erreichte eine kleine, in Felsen eingezwängte Alm, auf der eine elende Hütte stand, vermutlich von Wildheuern Wildheuer – Alpenbauer, der an gefährlichen Hängen heut (Heu macht) hergestellt zum Unterschlupf bei gar zu bösem Wetter. Ambros öffnete die Tür, konnte sich jedoch nicht entschließen, hineinzugehen. Das Mondlicht, das durch die klaffenden Spalten der Bretterwände fiel, zeigte ihm das von Rauch geschwärzte Innere. Er setzte sich auf die Schwelle und legte sein Gewehr schußfertig und handgerecht neben sich. Er wollte eine Weile ausruhen und dann heimkehren. Was konnte ihm denn Schlimmes geschehen, wenn er zu Hause das Gericht erwartete? Der Müller und Afra konnten ja bezeugen, daß er die Tat nur in gerechter Notwehr begangen hatte. Wenn man ihn eine Zeitlang einsperrte, so war das bei weitem nicht so schlimm, wie unstet in der Fremde umherzuirren. Dann hatte er wenigstens Ruhe – Ruhe!

Die Müdigkeit überwältigte ihn, und er schlief ein. Sein Schlaf dauerte jedoch nur wenige Minuten, und jäh wurde er wieder wach. Er hatte im Traum mit den Landjägern gerungen; sie hatten ihn überwältigt und in Ketten gelegt. Er hatte schaudernd das kalte Eisen an seinen Gliedern gefühlt und fühlte es noch im Erwachen. Es fror ihn, aber er war noch frei, Gott sei Dank! Nein, sie sollten ihn nicht in das Kriminalgefängnis nach Bruneck schleppen, solange er noch ein Glied rühren konnte! Er griff nach seinem Stutzen, als müsse er sich gleich zur Wehr setzen, und wollte aufspringen; aber es gelang ihm nicht, denn er war steif von der Müdigkeit und von der Kälte auf der Paßhöhe. Fünf Stunden war er nun schon ohne Rast unterwegs. Er untersuchte seinen Jagdranzen. Seine Feldflasche fand sich zwar darin, aber sie war leer. Mühsam erhob er sich und fing an, die Arme kreuzweise über die Brust zu schlagen, um sich zu erwärmen.

Er mußte in ein fremdes Land gehen – das stand fest. Tausendmal lieber in der Fremde betteln, als die Freiheit verlieren! Daß man ihn auch in der Fremde ergreifen und an die bayrischen Gerichte ausliefern könnte, daran dachte er nicht. Er hängte seine Büchse, die er unterdessen an die Hütte gelehnt hatte, wieder über die Schulter und ging weiter. Sein Schritt war schwerfällig, schleppend. Eine stumpfe, wie aus mächtigen Blöcken aufgetürmte Pyramide, die zur Linken vor ihm im Mondlicht auftauchte, war sein Wegweiser. Es waren die Trümmer eines Bergsturzes, und Ambros, dessen Schritt sich allmählich wieder gefestigt hatte, befand sich bald inmitten der weit umhergestreuten Steine. Unter ihm in der Tiefe lag der Anfang des Boitetals. Nach dort hinunter war der Felsen zusammengebrochen, und die ungeheuren Blöcke lagen wüst durch- und übereinander. An ihrem Fuße flimmerte im Mondlicht, das blendend die jenseitigen Kalkwände des schmalen Tales beschien, ein einsames Haus, und an ihm vorüber spann sich in einem dünnen Silberfaden die Aqua di Campo Croce.

Ambros ließ sich auf einem der umherliegenden Steine, die die Zeit bereits mit Moos umhüllt hatte, nieder, um seine Kräfte zum Abstieg zu sammeln. Wie friedlich lag die Hütte von Campo Croce dort unten! So still lag jetzt wohl auch sein eigenes Heim im Silberlicht des Mondes, das über der Bruscia schwebte. Sein eigenes Haus! Er hatte keine Heimat mehr; sein Lebensglück war jäh zusammengestürzt wie der Fels neben ihm, und darunter lag alles begraben. Der Aufschrei Stasis durchschnitt seine Seele. Er ächzte und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Aber für Reue war sein Gemüt noch lange nicht reif, und statt seinen Jähzorn anzuklagen, begann sich sein Groll gegen Jerg von neuem zu regen. Dieser war es, der ihn von Weib, Hof und Vaterland fortgetrieben! Fluch über den schlauen Fuchs, der sich in sein Erbe zu schleichen gedacht! Nun war ihm der Appetit danach für immer vergangen, und Lisei war jetzt auch frei. Ach, es war doch gut, daß er Jerg niedergeschlagen hatte! Was lag an einem solch erbärmlichen Burschen? Keiner hätte dessen nichtswürdige Sticheleien und Verleumdungen ruhig ertragen und dazu die giftigen Mienen, die noch mehr sagten als seine Worte. Er sah ihn wieder vor sich, sein Blut wallte wieder auf, und er schlug ihn abermals nieder. Oh, wie oft würde er ihn noch im Geiste niederschlagen, wie oft ihn noch im Geiste bleich und blutig zu seinen Füßen liegen sehen, so wie jetzt! Wenn er nur diesem Anblick entfliehen könnte! Er schnellte auf. Fort! Aber die Knie zitterten ihm.

Östlich der Stelle, an der er sich befand, zeigte sich ihm ein geeigneter Abstieg. Hart am Rande des Abgrundes ging es anfangs hinunter über scharfkantigen Schotter, der mehr als einmal unter seinen Sohlen lebendig wurde. Mit großen Sätzen sprang er vorwärts, das ganze Gewicht seines Körpers auf die Hacken werfend. Nach zwanzig Minuten hatte er eine Art Straße erreicht, die nach dem einsamen Haus von Campo Croce führte. Er überlegte, ob er dort nicht um ein Nachtlager bitten solle. Aber er wußte nicht, wie er die Fragen der Leute nach dem Woher und Wohin mitten in der Nacht beantworten sollte. Sie mußten Verdacht schöpfen, ihm ansehen, daß er ein schlechtes Gewissen habe, und er wollte die Verfolger nicht auf seine Spur leiten.

Er umging das Haus und folgte dem Wässerlein auf dem linken Ufer talabwärts. Das schmale Tal, dessen Abhänge dicht bewaldet waren, erweiterte sich ein wenig, und er kam an einer Gruppe von Häusern vorüber, die sich jenseits des Baches an die Berge drückten. Dann gelangte er an ein kleines Dorf, in dem die Hunde bei seiner Annäherung ein wütendes Gebell erhoben. Aber das Gebell weckte niemanden auf; wenigstens blieben die Läden und Türen geschlossen. Das Gekläff verhallte hinter ihm, und wieder umgab ihn die unheimliche Stille, die kaum durch das leise Gurgeln des Baches neben ihm unterbrochen wurde. Allmählich kam es wie eine Betäubung über ihn, ein Halbschlaf, aus dem er auffuhr, sobald sein Fuß an einen im Wege liegenden Stein stieß. Wie ein Betrunkener schwankte er von einer Seite des Weges auf die andere. Dann schreckte er plötzlich wieder auf, doch nicht weil er gestrauchelt war, sondern weil er Stimmen zu hören glaubte. Die Stimmen ertönten vor ihm, und er blieb horchend stehen; aber er sah niemanden, obgleich es hell genug war – wenn auch nicht mehr so hell wie bei seinem Abstieg in das Boitetal. Seine Sinne waren sofort wieder ganz klar geworden, und er erkannte das Zischen, Brausen und Klingen eines Wasserfalls. Er befand sich dicht an einem Kessel, in den der Bach silbern aufblinkend von Stein zu Stein hinuntersprang. Auch andere Wässerlein woben gleitende Silberschleier, spielten in kleinen Kaskaden über die Wände und hüpften in der Tiefe lustig miteinander davon. Über die Waldwipfel blickten marmorbleiche und rötlich angehauchte Felsenhäupter, und darüber erhob sich der prismatische Gipfel des Monte Tofana. Ambros wußte den Namen nicht; er gewahrte die stolzen Berge nur dadurch, daß er zum Himmel aufschaute, um etwa die Zeit zu erkunden.

Die Sterne waren nicht mehr erkennbar, und die Kanten des Monte Tofana, des Col Rossa und des Taburio schimmerten safrangelb. Ambros reckte sich, gähnte laut und ging auf dem um den Kessel des Pian di Luova sich abwärts krümmenden Wege weiter. Das Waldtal verengte sich wieder, und unter den Bäumen herrschte Dunkelheit. Schärfer als das Gewissen begann Ambros das Nagen des Hungers zu spüren. Um ihn zu betrügen, zog er seine Pfeife hervor. Doch er steckte sie gleich wieder in die Tasche; es war ihm unmöglich zu rauchen. Bei den nächsten Häusern, auf die er stieße, wollte er anklopfen und ein Stück Brot kaufen. Aber er ging und ging, und nicht Haus noch Hütte zeigte sich. Eine Vogelstimme erhob sich leise im Holz und verstummte nach kurzem Zwitschern, dann eine andere, schon lauter. Die gefiederten Schläfer erwachten allmählich. Bleich und kalt breitete sich der Himmel über dem Waldtal aus; unter den Zweigen aber wurde es immer munterer. Nah und fern, hüben und drüben zwitscherte, pfiff und trillerte es, und die Boite murmelte den Baß in das fröhliche Konzert. Der Specht begann sein rasches Trommeln, und der Himmel wurde blau.

Schwerfällig, mit gesenktem Kopf schritt Ambros durch die Walddämmerung. Sein Gesicht war aschgrau, eine tiefe Falte stand zwischen seinen Brauen, und die Arme hingen ihm schlaff am Leibe herunter. Alles freute sich des neuen Tages, und nur er war dazu verurteilt, in der Nacht zu bleiben und als ein Ausgestoßener umherzuirren, freudlos und friedlos. Er zog den Hut tiefer über die Stirn, auf der ein Zeichen brannte, das die Vögel nicht sehen sollten – und auch die Sonne nicht, wenn sie heraufkam.

Plötzlich schweiften die bewaldeten Berge, die ihn bisher eingeengt hatten, zur Rechten und Linken auseinander, und die Boite floß, einen weiten Bogen beschreibend, in ein breites Tal hinaus. Es war das Ampezzotal. In der Ferne, wo das Silberband der Boite im Wiesengrün verschwand, dämmerte durch die Morgennebel ein schlanker, spitzer Kirchturm: Cortina! Gewaltig bauten sich im Osten die Dolomiten auf und zwangen selbst Ambros ein flüchtiges Staunen ab. Was wollten die Kalkberge seiner Heimat gegen diese Ungeheuer bedeuten, aus deren Kiefern sich der Monte Tofana, der Cristallo, der Antelao, der Pelmo, und wie sie sonst heißen mochten, gleich riesigen Stoßzähnen in den Himmel bohrten? Auf ihren Spitzen lag der Glanz der noch tief hinter ihnen stehenden Sonne, und den Cristallo, den König dieser Berge, schmückte eine flimmernde Lichtkrone, während über dem Tale noch bläulicher Nebeldunst ruhte.

Ambros hatte seine Büchse von der Schulter genommen und maß, mit beiden Händen auf ihre Mündung gestützt, vom Fuße des Monte Cristallo aus die Entfernung bis Cortina. Sie mochte wenigstens zwei gute Stunden betragen, und er war sterbensmüde. Als er sich nach einer Stelle umsah, wo er eine Weile sicher würde rasten können, bemerkte er links auf der Höhe, von der die Landstraße, die vor ihm die Boite auf einer steinernen Brücke überschritt, herunterkam, die Ruinen eines Schlosses. Aus dichtem Gesträuch erhoben sich zerbröckelte Ringmauern zwischen starken Türmen, von denen einer noch in seiner ganzen Höhe erhalten war; dahinter zeigten sich die Trümmer verschiedener Bauten mit kleinen viereckigen oder schmalen, spitzbögigen Fenstern. Die Ruinen hatten einst das feste Schloß Peutelstein gebildet, das von den deutschen Kaisern zum Grenzschutz gegen die Venetianer erbaut und, nachdem es eine Zeitlang im Besitz Venedigs gewesen, zuletzt von Kaiser Maximilian Kaiser Maximilian – (1459-1519), deutscher Kaiser; schlug 1492 bei Villach die Türken und erbte 1496 das Land Tirol. Sein Versuch, auch Italien seinem Hause einzuverleiben, scheiterte besonders an dem Widerstand der Venezianer. in wehrhaften Stand gesetzt worden war. Es war verfallen mit der sinkenden Macht der Dogen, Dogen – die seit dem 8. Jahrhundert von den Bürgern gewählten, im Laufe der Zeit immer mehr an Macht einbüßenden Staatsoberhäupter der Republik Venedig. Durch den Frieden von Campo Formio, der 1797 den Krieg zwischen Österreich und Frankreich beendete, hörte die Republik und damit auch die Dogenwürde auf zu bestehen. deren Erbschaft Napoleon den Habsburgern zugewiesen, im Frieden von Preßburg ihnen aber wieder entrissen und dem Königreich Italien unter Eugen Beauharnais, Eugen Beauharnais – Engène de Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg und Fürst von Eichstätt (1781-1824), Sohn der späteren Kaiserin Joséphine; wurde 1804 von seinem Stiefvater Napoleon zum französischen Prinzen und 1805 zum Vizekönig von Italien ernannt. 1806 vermählte ihn der Kaiser mit der Prinzessin Amalie Auguste von Bayern, adoptierte ihn ein Jahr darauf und bestimmte ihn zum Erben des Königreichs Italien. 1817 erhielt er von seinem Schwiegervater, König Maximilian I. (s. Anm. 40 – König Max), die Landgrafschaft Leuchtenberg und das Fürstentum Eichstätt. seinem Stiefsohn und Schwiegersohn des Königs von Bayern, einverleibt hatte. Seitdem bildeten die Ruinen des Schlosses den Markstein, an dem die Grenzen von Österreich, Bayern und Italien zusammenstießen.

Ambros stieg zu den Ruinen hinauf; er zwängte sich, ohne den Eingang zu suchen, durch das Buschwerk, schwang sich über ein niedriges Stück Ringmauer und kletterte dann aus dem inneren Hof durch ein Bogenfenster, dessen Basis im Schutt begraben lag, in das Schloßgebäude. Eine Halle, deren Wölbung zum Teil eingestürzt war, empfing ihn. Daß er hier nicht der erste Gast war, bewiesen die angebrannten Äste und Kohlen sowie die in einer Ecke der Halle aufgehäufte Asche. Oft genug mochte hier ein Feuer angezündet worden sein, denn die Decke war nach der Öffnung hin, durch die der Himmel hereinschaute, von Rauch geschwärzt. Ambros sah sich nicht weiter um. Er streckte sich unweit der Feuerstelle auf den Boden, legte den Stutzen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Pfanne mit Pulver gefüllt war, mit gespanntem Hahn neben sich und schob den Jagdranzen als Kissen unter den Kopf. Jetzt stehen sie daheim auf und gehen an die Arbeit, und ich muß mich wie ein Raubtier vor dem Tageslicht verkriechen! – das war sein letzter bitterer Gedanke, und gleich darauf fiel er in einen tiefen Schlaf.

Aber Stasi war nicht unter denen, die sich zur Arbeit erhoben. Sie lag in Fieberphantasien. Eben schickte sich in der vorderen Stube Frau Ruthler zum Fortgehen an. David rührte und regte sich nicht. Er starrte nur immer auf die kleine, mit einem Tuch verhüllte Leiche, die vor ihm auf dem Tisch lag. Frau Ruthler erbot sich, auf dem Heimweg gleich das Grab zu bestellen. Es blieb ungewiß, ob er sie vernommen hatte. Seine Gedanken taumelten fortwährend im Kreise: Ambros, Stasi, das Kind …


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