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13. Kapitel

Der Klosterbauer hatte es mit seiner Würde nicht vereinbar gehalten, sich neugierig unter die Menge in St. Vigil zu mischen. Wenn er sich nachträglich berichten ließ, was dort geschehen war, so führte das den Leuten vor Augen, welch ein Abstand zwischen ihm und ihnen bestand. Seine bäuerlich-aristokratische Gesinnung prägte sich in dem Sprichwort aus: »Wer sich unter die Treber mischt, den fressen die Schweine.« Und was gingen ihn die etwaigen Folgen des Tumults an, nachdem er sich öffentlich von Wolf Lechner losgesagt hatte?

Ganz geheuer war ihm jedoch wegen der Verleugnung des Schmiedes nicht; denn da er nur von sich selbst eine gute Meinung hegte, erschien es ihm immerhin möglich, daß Wolf die Anwesenheit der Soldaten benutzte, um in irgendeiner Weise sein Mütchen an ihm zu kühlen. Er hüllte sich daher nur um so tiefer in die Würde eines herrischen Bauern und achtete just an diesem Tage streng darauf, daß die gewohnte Ordnung und Arbeit auf dem Klosterhof eingehalten wurde. Man hätte ihn füglich mit einem jener Senatoren im alten Rom vergleichen können, die wie die Statuen auf ihren kurulischen Stühlen Kurulische Stühle – Amtssitz des Magistraten, hier die Senatoren im alten Rom gemeint. saßen, als die Gallier die Stadt plünderten.

Das Schießen und Hurrarufen, das von Monthan herüberschallte, lockte ihn dennoch auf die Galerie seines Hauses. Die Bodengestalt verbarg ihm aber die dortigen Vorgänge. und er sah auf dem Schneefeld nur einige Menschengruppen, die gleich darauf verschwanden, als ob die Erde sie verschlungen hätte. Schon wollte er seinen Beobachtungsposten verlassen, als ein Geräusch wie fernes Meeresbrausen sein Ohr traf. Im gleichen Augenblick gewahrte er eine schwarze Menschenschlange, die über den Schnee heraufzuzüngeln begann und sich langsam in Richtung auf St. Vigil fortbewegte. Der Klosterbauer fand sich einem Rätsel gegenüber, das noch geheimnisvoller wurde, als er nun auch die Vigiler auf der Weide am Bach zusammenströmen sah und das Jubeln, aus dem einzelne Jauchzer wie Raketen aufstiegen, sowie das Knallen und feierliche Glockengeläut vernahm. Es wollte ihn plötzlich bedünken, als sei er es seiner Eigenschaft als Mitglied des Gemeinderates wohl doch schuldig, von dem außerordentlichen Vorkommnis Notiz zu nehmen, und da er auf das geräucherte Schweinefleisch mit Sauerkraut, woraus sein Mittagsmahl bestanden hatte, plötzlich einigen Durst verspürte, beschloß er, im »Stern« einen Schoppen zu trinken.

Bedächtig rüstete er sich zum Ausgang, und würdevoll, als schreite er zur Kirche, begab er sich auf dem kürzesten Weg, der bei Monthan über die Laufbrücke führte, zum »Stern«. Vor der Tür des Wirtshauses traf er mit Hartwanger zusammen, der eben mit seinem Glaserkasten auf dem Rücken herauskam und im Begriff stand, das Vigil- und Gadertal geschäftlich abzusuchen. Ein Hurrageschrei ertönte jenseits des Baches. Es kam von der Pfarre her, die wegen des davorstehenden Schulhauses vom »Stern« aus nicht sichtbar war. Der jubelnde Lärm galt aber nicht Herrn Moltenbecher, den man nach seinem Hause begleitet hatte, sondern seinem Befreier, Ambros, der jetzt im Triumphzug nach dem »Stern« geführt wurde.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Klosterbauer den Glaser, wobei er seinen Stock vor sich in den Schnee bohrte und beide Hände auf den Knauf legte.

»Das hat zu bedeuten, daß ihr euch hier eine hübsche Supp eingebrockt habt«, antwortete jener. »Euch Vigilern hat man gut Geduld predigen. Da gehn sie hin, prügeln die Soldaten durch und entreißen ihnen den Pfarrer!« Er sagte es mit einer Mischung von Verdruß und Vergnügen und berichtete dem verblüfft aufhorchenden Klosterbauern kurz die Ereignisse des Morgens. »Was draus werden wird, weiß der Himmel«, schloß er. »Aber Euerm Ambros ist's zu danken, daß der alte geistliche Herr jetzt nit als Gefangner nach Bruneck unterwegs ist. Da kommen sie!«

Bei der Erwähnung seines Sohnes nahm die Miene des Klosterbauern jenen Ausdruck eisigen Hochmuts an, mit dem er alles, was er nicht hören oder sehen wollte, wegzustarren pflegte. So stierte er dem fröhlich lärmenden Schwarm entgegen, der sich dem Wirtshaus näherte. Wäre er allein gewesen, so hätte er wahrscheinlich den Herankommenden den Rücken zugedreht und sich langsam entfernt. In Gegenwart Hartwangers aber hielt er sich zu dem Beweis verpflichtet, daß seine Charakterstärke nichts zu erschüttern vermöge, und er hielt stand – weniger dem Hirsch ähnlich, den die Meute gestellt hat, als dem Stier auf der Alm, der den Gegner erwartet.

Ambros stutzte, als er des Vaters ansichtig wurde, und das Lachen und Lärmen seiner Begleiter verstummte plötzlich. Im nächsten Augenblick jedoch trat er, dem Antrieb seiner gehobenen Stimmung folgend, mit ausgestreckter Rechten auf den Klosterbauern zu und rief aus voller Brust: »Grüß Gott, Vater! Wir wolln einander nit mehr zuwider sein und vergessen, was geschehn ist. Laß uns wieder Freund sein und zusammen hineingehn!«

Der Klosterbauer jedoch nahm die Hände nicht von dem Stockknauf, auf den er sich stützte, und mit harter Stimme versetzte er nach kurzem Zögern: »Wärst du ein gehorsamer Sohn gewesen, dann brauchtst mich jetzt nit hier vor all den Leuten um Verzeihung zu bitten. Ich hab's dir vorgestellt, was geschehn würd, aber du hast's nit anders gewollt. Jetzt iß aus, was du dir selbst eingebrockt hast«

Unter den Zuschauern erhob sich ein lautes Murren. Ambros aber rief mit glühenden Wangen: »Ich hab dich nit um Verzeihung gebeten, denn dazu hab ich keine Ursach nit. Aber schau, Vater, wann in diesem Augenblick mein ärgster Feind zu mir käm, ich würd ihm meine Hand geben, und alles sollt vergessen sein.«

Hartwanger raunte dem Klosterbauern zu: »So reicht ihm doch die Hand! Ihr habt alle gegen Euch, und er bleibt doch Euer Sohn!«

Der Klosterbauer aber entgegnete, während er sich mit seinen stählernen Augen unter den Anwesenden umschaute: »Da hört Ihr's! So spricht er mit seinem Vater!«

»Sein Vater ist auch danach!« rief eine Stimme, und eine andere, die ein mehrfaches Echo fand, übertraf sie noch an Lautstärke: »Der Ambros hat recht!«

»Hat er recht, dann kann er ja zufrieden sein«, erwiderte der Klosterbauer, wobei er sich aufrichtete. »Ich bin's auch. Der Klosterbauer ist keine Windfahn auf dem Kirchturm! Ihr mögt alle zusammen blasen, soviel ihr wollt – ich dreh mich nit. Und jetzt weiß ja wohl jeder Bescheid!«

»Vater!« rief Ambros, von seiner Leidenschaftlichkeit überwältigt, während der Klosterbauer sich bereits zum Gehen wandte. »Den Spott hat dir der Teixel auf die Zung gelegt! Jetzt nehm ich alle, die hier stehn, zu Zeugen! Wir sind alle dem Herrn Pfarrer in seiner Not beigesprungen; wann ich dich aber vom Tod erretten könnt und braucht bloß die Hand aufzuheben – nit den kleinen Finger tät ich rührn! Du bist tot für mich!«

Der Klosterbauer winkte mit der Hand hinter sich, als wolle er zu verstehen geben, daß all das nur leere Worte für ihn seien. Ambros schob den Gewehrriemen auf seiner linken Schulter zurecht und schritt stolz aufgerichtet ins Wirtshaus. Die anderen standen noch einen Augenblick wie gebannt unter dem Eindruck seines schrecklichen Gelöbnisses; dann löste sich allmählich einer nach dem andern von der Gruppe und folgte ihm schweigend.

Hartwanger ging kopfschüttelnd dem Klosterbauern nach. Ihn einzuholen, verspürte er kein Verlangen; dennoch geschah es, weil der Klosterbauer in scheinbarer Gemächlichkeit dahinschritt, und zwar auf dem Fußpfad, zu dem sich der anfangs fahrbare Weg hinter Arigayas Mühle verengte. Der Glaser redete den Klosterbauern jedoch nicht an, und dieser blieb ebenfalls stumm. So gingen sie hintereinander nach Monthan hinunter und über die Brücke, gegen die der Bach wie in übermütigem Spiel kleine, blinkende Eisschollen trieb, die er vom Uferrand losgebrochen hatte. Auf der Landstraße ließ der Klosterbauer den Meister an sich herankommen und sagte im Weitergehen: »Meinetwegen könnt Ihr allerwärts erzähln, was da droben beim ›Stern‹ eben geschehn ist.«

»Ich bin kein Geschichtenträger!« versetzte der Glaser trocken. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Aber glaubt doch ja nit, daß Euch die Leut wegen Euerm Verhalten etwa rühmen werden! Es kann einer auf seinen Reichtum hin viel sündigen – das ist leider so in der Welt. Aber glaubt mir, das Stücklein, das der Ambros den Bayern aufgeführt hat, das wiegt schwerer hei den Menschen als der Klosterhof und Eure Geldsäck. Jetzt, da Ihr selber davon angefangen habt: wie soll das nur enden zwischen Euch? Bedenkt, Klosterbauer, daß die alten Tag Euch schon am Kragen haben!«

»Meint Ihr, ich hätt mich in der Komödie vorhin nit ausgekannt?« fragte der Klosterbauer im Ton selbstgefälliger Überlegenheit »O ja, der Klosterbauer merkt nix! Dem kann man schon was vormachen! Weil ich auf die heimliche Trauung nit angebissen hab, weil's mit dem Stücklein gefehlt war, da hat er gedacht: Wann ich jetzt den Alten vor all den Menschen herkrieg, da zwing ich ihn schon, da muß er sich geben! Jetzt hat er mich für tot erklärt; er soll sich wundern, wann ich's erst wirklich bin!«

Sie waren mittlerweile bei der Kapelle angekommen, und der Klosterbauer schlug mit einem kurzen, bösen Auflachen den Weg nach seinem Hof ein, ehe Hartwanger etwas erwidern konnte. Er hätte auch schwerlich gleich eine Antwort bereit gehabt; denn eine solche Ausdeutung des Auftritte vor dem »Stern« hatte er am wenigsten erwartet.

Zur selben Stunde schickte Wolf seinen Lehrburschen nach Zwischenwasser und ließ Pescol sagen, daß er am nächsten Vormittag nach St. Vigil heraufkommen möge, um den Kaufvertrag über die Schmiede abzuschließen. Das grausame, summarische Strafverfahren des bayrischen Kommissars überzeugte Wolf, daß seines Bleibens in St. Vigil nicht länger war, selbst wenn der alte Arigaya nachdrücklich für ihn einträte. Der Müller hätte sich nur bloßgestellt, ohne ihm zu nützen. Sehr vorteilhaft konnten die Bedingungen, unter denen Pescol Haus und Werkstatt, wie sie standen und lagen, zu übernehmen bereit war, gerade nicht genannt werden, und auch die Anzahlung die er zu leisten vermochte, war nur geringfügig. Doch Hartwanger der bei den Verhandlungen der beiden Parteien am Morgen des Montags zugegen gewesen war, als er die zertrümmerten Fensterscheiben in der Schmiede ergänzt hatte, war der Ansicht gewesen, daß sich Lechner in den schweren Zeiten, da sich das Geld wie ein Dieb versteckt hielt und selbst durch dreifache Sicherheit nicht hervorzulocken war, beglückwünschen könne, überhaupt einen Käufer gefunden zu haben. Überall in Tirol seien gegenwärtig die schönsten Häuser und Bauernhöfe für ein Butterbrot zu haben, und an ein Steigen der Preise sei nicht zu denken.

Pescols zerknüllte Bankozettel in der Tasche, ging Wolf zum letztenmal nach dem Klosterhof, um von Lisei Abschied zu nehmen. Das war wohl der sauerste Gang seines Lebens. Hinsichtlich seiner eigenen Zukunft war er voller Vertrauen auf seine Arbeitskraft, und der Schmerz darüber, daß er seine neue Heimat verlassen müsse, wurde durch das Gefühl zurückgedrängt, das unerträglich gewordene Verhältnis zu den Vigilern nun abschütteln zu können. Aber Lisei! Sie war der Eckstein in dem Bau seiner Zukunft, und er wußte von Hartwanger, daß der Klosterbauer öffentlich erklärt hatte, daß er ihm, dem Bayern, seine Tochter nie geben würde. Er wollte seine Rechte auf Lisei nicht aufgeben und sah doch kein Mittel, sich diese Rechte zu sichern. Wohin er den Fuß auch setzte – überall wich der Boden unter ihm.

In diesen sorgenschweren Gedanken fand er sich plötzlich dem Klosterbauern selbst gegenüber, der gerade um die Ecke seines Wohnhauses bog. Er stand im Begriff, sich zur Gemeinderatssitzung zu begeben, die der Müller einberufen hatte, um über das Urteil des Kommissars, soweit es den Schmied betraf, Beschluß zu fassen. Fast wäre er mit Lechner zusammengeprallt.

»Holla, was wollt Ihr denn noch?« fragte der Klosterbauer grob.

Wolf hatte nicht nötig, den Kopf aufzuheben, um dem Klosterbauern ins Gesicht zu blicken, denn dieser reichte ihm nur bis zu den Spitzen seines rötlichen Bartes. »Ja so, Ihr seid's«, sagte er, seine Gedanken sammelnd. Er komme, um von seiner Braut Abschied zu nehmen, da er morgen in der Frühe St. Vigil verlasse.

»Braut!« wiederholte der Klosterbauer das von Lechner betonte Wort, wobei er die Mundwinkel herabzog und die Unterlippe vorschob.

Der Schmied achtete scheinbar nicht darauf, sondern fuhr in seiner ruhigen Sprechweise fort: »Und so will ich denn auch Euch gleich Lebwohl sagen – bis ich wiederkommen kann. Denn wiederkommen tu ich eines Tags, Klosterbauer. Es wird mir ja in meinem eignen Vaterland nit fehln, und dann hol ich die Lisei.«

Der Klosterbauer trat einen Schritt zurück und starrte ihn an. Lechner ließ sich jedoch nicht irremachen, sondern führte seine Rede gelassen weiter: »Ein Jahr kann darüber wohl hingehn. Aber die Lisei wartet schon gern noch so lang, und Eure Einwilligung hab ich ja. Ihr habt freilich am Sonntag abend da im ›Stern‹ was hingeschwätzt; aber das war bloß Eure Aufregung über den Einzug der Soldaten, und es hat auch keiner für Ernst genommen. Ich am wenigsten, Klosterbauer. Denn der Klosterbauer wird sich doch nit öffentlich hinstelln und selbst laut in die Welt schrein, daß er ein wortbrüchiger Schuft ist.«

Diesem stieg das Blut zu Kopf; aber er fühlte unter dem Bann der strahlenden Augen des Schmiedes seine Kehle wie zugeschnürt. Er hatte regelrechte Furcht, und Lechner wandelte ein an Verachtung streifendes Mitleid mit dem Manne an, der jeden, bei dem er es ungeahndet tun zu können glaubte, rücksichtslos unter die Füße trat.

»Schaut, Klosterbauer«, sagte der Schmied, indem er näher zu ihm herantrat und ihm seine mächtige Hand auf die Schulter legte, »die Lisei ist die einzige unter Euern Kindern, die Euch immer aufrichtig liebgehabt hat. Wär's anders, dann wärn wir schon längst Mann und Frau und hätten uns den Henker drum gekümmert, ob's Euch genehm gewesen wär oder nit. Die Lisei hat ein goldnes Herz, und ich kann mir nit vorstelln, daß einer so niederträchtig sein kann, das einzige Herz, das an ihm hängt, zu peinigen und mit Füßen zu treten. Ein Vater sein eignes Kind, und jetzt Euer einziges Kind, Klosterbauer! – Und wie gesagt, ich komm wieder!«

»Was wollt Ihr?« raffte sich der Klosterbauer auf. »Jetzt könnt Ihr doch nit Hochzeit halten. Ihr habt meiner Tochter jetzt nix zu bieten, und wann Ihr soweit seid, laßt sich ja weiter drüber reden. Glückliche Reis denn! Ich muß fort.«

Lechner aber drückte ihm die Hand etwas fester auf die Schulter und erwiderte: »Nur noch ein Wort! Vorreden braucht kein Nachreden. Ich will Euch bloß noch sagen, daß ich Euch bei dem Wort festhalt, das Ihr mir und der Lisei gegeben habt. Komm ich wieder, und Ihr habt derweilen die Lisei unglücklich gemacht, dann …« Seine breite Brust schwoll hoch auf, und seine Augen strahlten von einem Feuer, das der andere nicht zu ertragen vermochte. »Dann, Klosterbauer, dann sei Gott Euch gnädig! – Und jetzt will ich Euch nit weiter aufhalten.«

Der Klosterbauer taumelte fast davon, und der Schmied blickte ihm nach, bis er auf dem zwischen den Feldern mehr und mehr sich verlierenden Weg verschwunden war. Dann stöhnte Wolf tief auf. Er hatte dem Klosterbauern seine Meinung gesagt! Das war, wie er fühlte, sein ganzer Gewinn, und schweren Herzens, wie vorher, stieg er die Steintreppe zur Haustür hinauf.

Lisei reichte ihm mit einem traurigen Blick die Hand. Sie erriet, weshalb er kam. Auch ihr war es nach den jüngsten Vorgängen klar, daß er nicht in St. Vigil bleiben könnte. Ach, warum wird dem Herzen so schwer zu tragen, was ihm der Verstand aufbürdet!

»Du wirst einen harten Stand gegen den Vater haben, wann ich fort bin«, sagte Wolf. »Er wird's dir nimmer freistelln, ob du auf mich warten willst; denn du bist nit mehr die arme Lisei, die er mir hat geben wolln, weil ich mit dem Wenigen zufrieden war, was du mitbringen solltst. Du bist jetzt des reichen Klosterbauers einziges Kind und seine Erbin.«

»Ach, heilige Mutter Gottes, das kann ja nit sein!« rief Lisei erschrocken. »Wie könnt ich denn den Brosi aus seinem Recht drängen?«

»Um dessen Recht kümmert sich der Klosterbauer nit mehr«, antwortete der Schmied. »Zwischen den beiden ist's für alle Zeit aus.« Lisei seufzte, und er fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Drum muß zwischen dir und mir alles klar sein, Lisei. Da dein Vater uns sein Wort nit halten wird, darum überleg's dir noch einmal frei, was du tun willst. Stell's dir vor, als ob wir zwei beid einander nix versprochen und nix gelobt hätten. Ich geb dir dein Wort zurück und werd dich nit weniger lieb und wert behalten, wann du jetzt auch willst, daß wir fürs ganze Leben voneinander scheiden solln. Sag's ganz frei heraus, Lisei, was du denkst und willst – ich sag zu allem ja und amen!«

Sie hatte, während er redete, auf ihre im Schoß gefalteten Hände niedergeschaut. Nun hob sie ihre klaren Augen mit einem tiefen Blick zu ihm auf und sagte: »Ich weiß, daß du bloß aus Gutheit so redst; sonst würden mir deine Worte wie ein Schwert durchs Herz gehn. Ach, Wolf, ich hab seit Sonntag morgen an nix andres gedacht, als ob ich nit von dir lassen sollt um deinetwilln. Du mußt dein Leben in der Welt von vorn anfangen, und da würd ich für dich bloß eine schwere, schwere Last sein. Das hab ich mir immer vorgehalten, Wolf. Aber jetzt, wo ich weiß, wie du gesinnt bist: nein! Dir hab ich mich aus freien Stücken und ganzem Herzen verlobt, und dir bleib ich zugetan in Treu.«

Sie streckte ihm beide Hände entgegen, und er erfaßte und drückte sie in herzlicher Bewegung. »Amen!« sprach er. »Jetzt werd ich schaffen, als ob ich vier Arme hätt.«

Er legte seinen Arm um sie und zog sie sanft an sich.

»Laß nur recht oft von dir hörn, damit ich weiß, wo du bist und wie's dir geht«, bat Lisei, wobei sie tapfer mit den heraufquellenden Tränen kämpfte.

Er versprach es. Dann blieben beide eine Weile stumm. Lisei begannen die Tränen leise über die Wangen zu rollen, und Wolf schaute sich in der Stube um und dachte an die schönen Stunden, die er hier zwischen den dunklen Möbeln mit Lisei verlebt hatte.

»Von dem Herrn Hannes hätt ich gern noch Abschied genommen«, sagte er. »Aber über St. Martin ist's ein Umweg von fast vier Stunden, und die Tag sind noch immer so kurz. Grüß du ihn noch von mir, wann du ihn siehst. Und, Lisei, wann dir der Vater Überlast antut – der Herr Hannes wird dir raten und helfen.«

Lisei schlang ihre Arme um seinen Nacken und weinte laut auf. Seine Worte zeigten ihr jäh ihre traurige Vereinsamung, wenn auch er nun gegangen sein würde.

»Arme Lisei!« murmelte er erschüttert.

Da drückte sie sich gewaltsam die Tränen aus den Augen und begann sich zu erkundigen, ob er für die Reise auch ordentlich versehen sei. Sie fragte nach allem und bat ihn, sich doch ja in acht zu nehmen, damit er nicht unterwegs krank würde. Darauf verließ sie ihn für kürze Zeit, um ihm eine Wegzehrung zurechtzumachen, und er nahm das Gebotene um ihretwillen mit Dank an. Dann setzte sie sich wieder zu ihm auf die Ofenbank, ergriff seine Rechte und preßte sie zärtlich zwischen ihren beiden Händen. »Daß ich dir auch gar nix zum Andenken mitgeben kann!« sagte sie leise. »Aber es ist alles so schnell gekommen!«

»Es braucht kein Andenken«, versetzte er. »Denn ich trag dich in meinem Herzen und denk an dich, wo ich auch bin.«

Lisei drückte seine Hand, und eine Weile saßen beide stumm ihren Gedanken hingegeben. Der Tag verglomm.

»Wo du morgen um diese Zeit wohl schon bist?« versuchte sich Lisei ihren traurigen Gedanken zu entreißen.

»Ja, laß sehn! Da bin ich wohl schon in Unter-Vintl, vielleicht auch schon durch die Mühlbacher Klaus. In Mühlbach bleib ich zur Nacht, wann meine Fuß das Wandern noch nit verlernt haben. – Sie werden doch nit!«

Er wollte in diesen Zusatz einen scherzhaften Ton legen, aber es mißlang. Lisei versuchte zu lächeln, aber auch das glückte nicht, und so schwiegen beide wieder. In der Stube wurde es dunkler und dunkler. Plötzlich stand Wolf auf, und Lisei folgte seinem Beispiel. Die Herzen waren ihnen wie zugeschnürt.

»Es muß sein«, murmelte er. »Laß den Mut nit sinken, lieb's Herz!«

»Ja, Wolf«, antwortete sie leise mit zuckenden Lippen.

Er zog sie an seine Brust, und sie lehnte weinend ihre Stirn gegen seine Schulter. Sanft strich er ihr mit seiner großen, schwieligen Hand über das Haar.

»Behüt dich Gott, herzlieber Schatz!« klang es dumpf durch die tiefe Dämmerung.

Die Tür fiel hinter Lechner ins Schloß. Schwerfällig und langsam klang sein Fußtritt auf den Steinstufen.

In der Mitte über dem Bannwald schwebte die erste feine Sichel des zunehmenden Mondes an einem blaßgrünen Himmel, und darunter blinkte der Abendstern. Der Schmied schaute nicht auf.

In seiner Stube setzte er sich, ohne Licht anzuzünden, an den Tisch, legte die Arme kreuzweise auf die Platte und ließ das Gesicht auf die Arme sinken. Er war allein in der Schmiede; seinen Lehrbuben, den Peseol zu sich nehmen wollte, hatte er zu den Eltern geschickt.

Ein Pochen am Fenster störte ihn auf. An der Stimme, die seinen Namen rief, erkannte er den Müller. Er zündete einen Kienspan an und leuchtete damit in die dunkle Werkstatt hinaus. Seine sonst so treuherzige Miene war düster. Oder schien es dem Müller bei der in der Zugluft hin und her wehenden Flamme nur so? Aber Lechners Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als beide dann einander gegenübersaßen und der Span, fest in den Lichtstock geklemmt, gleichmäßig sein Licht verbreitete. Schweigend hatte Wolf dem Gast einen Stuhl an den Tisch gestellt; auch fragte er nicht nach seinem Begehren.

»Vielleicht kann ich dir worin zu Dienst sein?« begann Arigaya, sich in der Stube umsehend. Sein Blick blieb auf einer mit Stricken umschnürten Kiste haften, die mitten in der Stube stand.

Wolf schüttelte den Kopf. Er war bereits mit Peseol übereingekommen, daß dieser ihm die Kiste, die seine Habseligkeiten enthielt, nachschickte, sobald er darum schreiben würde.

Arigaya zog eine große lederne Brieftasche hervor und begann Geld auf den Tisch zu zählen. Der Schmied sah ihm einige Sekunden lang erstaunt zu und fragte dann, was das bedeuten solle. Es waren die hundert Gulden Schmerzensgeld, zu denen der Kommissar die Gemeinde von St. Vigil verurteilt hatte.

Über Wolfs Gesicht flammte ein roter Schein, und voller Bitterkeit stieß er hervor: »So ist's recht! Ihr werft dem Ausgetriebnen ein Almosen nach. Ein Guldenzettel auf mein zerstörtes Glück macht alles wieder gut!«

»Nimm's nit so herb!« bat der Müller. »Es ist gerecht, daß dir die Gemeind in etwas deinen Verlust ersetzt. Gott weiß, wie lieb es mir wär, wann du nit fortzugehn brauchtst; und so denkt wohl noch mancher andre, wann er's auch nit offen bekennt.«

»Ja, von dir weiß ich's, und dir gilt's nit, was ich sag«, versetzte der Schmied. »Aber das Geld da steck wieder ein; ich nehm's nit. Ich lass' mir das Unrecht, was mir geschehn ist, nit von euch abkaufen. Das ist Blutgeld.«

Des Müllers Gegenvorstellungen vermochten ihn nicht umzustimmen. »Meint ihr denn«, rief er, »weil mir Unrecht geschehn ist und weil ich ein Bayer bin, drum soll ich frohlocken über die Gewalt und Grausamkeit, mit denen meine Landsleut gegen euch verfahrn sind? Verteilt das Geld unter den armen Menschen, die für alle haben büßen müssen und die vielleicht nit mal die Schuldigsten gewesen sind. Ich will den Haß, den ihr auf mich und meine Landsleut habt, nit noch mehr schürn, indem ich das Sündengeld von euch annehm.«

Arigaya mußte die Scheine wieder einstecken. Er werde der Gemeinde mitteilen, wie brav Wolf gesinnt sei, versicherte er. »Und wann du hier einen Freund nötig hast, dann weißt, wo du ihn findst!« Er reichte Wolf die Hand, und dieser schüttelte sie kräftig.

Die Sonne war noch nicht über den Col de Rü heraufgekommen, als Wolf Lechner am nächsten Morgen die Schmiede hinter sich verschloß. Den Schlüssel nahm er mit, um ihn seinem Nachfolger in Zwischenwasser auszuhändigen. Einen derben Stock in der Rechten, über seinen Kleidern denselben Wanderkittel und auf dem Rücken dasselbe Felleisen, mit dem er vor sechs oder sieben Jahren seinen Einzug in St. Vigil gehalten hatte – so zog er jetzt wieder von dannen. Sein Herz aber war nicht das unbeschwerte von damals. Niemand gab ihm das Geleit, und keine menschliche Seele begegnete ihm. Es war bitter kalt, und die Hecken und Bäume waren wie mit blinkendem Silber von Reif übersponnen. Als Wolf jenseits des Spitzhörndlbachs die Feldhöhe erreichte, blieb er stehen und schaute nach dem Klosterhof hinüber. Wann würde er wiederkommen? Und würde er Lisei noch wiederfinden, wie er sie verlassen hatte? Wer vermochte ihm darauf Antwort zu geben?

In dem Wirtshaus von Salen, bei dem sich die Bergstraße rechts von der Gader abwendete, hielt er eine kurze Rast. Es war die herkömmliche Haltstelle für den Verkehr zwischen Bruneck und dem Gebirge. Vor dem Hause standen einige Schlitten, die Rundholz und Bretter in das Pustertal hinunterführten. Die Knechte saßen in der Schenkstube beim Glase; auch einige Männer aus Salen waren dort. Sie redeten lebhaft miteinander, und Wolfs Eintritt wurde kaum bemerkt Selbst der Wirt, der bei seinen Gästen hockte, blickte nur flüchtig über die Schulter nach dem Ankömmling und überließ dessen Bedienung seiner Frau, die hinter dem Schenktisch strickte. Wolf ließ sich an einem freien Tisch nieder, holte seine Wegkost hervor und trank dazu hin und wieder ein Schlückchen von dem Kirschwasser, das er sich bestellt hatte.

Seine eigenen Angelegenheiten beschäftigten ihn zu sehr, als daß er auf die Unterhaltung der anderen geachtet hätte. Aber nannten sie nicht eben seinen Namen? Er hatte sich nicht getäuscht: die Leute unterhielten sich über ihn und die jüngsten Ereignisse in St. Vigil. Sie billigten und lobten das Verhalten der Vigiler gegen ihn, und der Wirt meinte, es wäre nicht übel, wenn man es mit den Bayern anderswo ebenso machte. Hauptsächlich aber drehte sich das Gespräch um die Befreiung des Pfarrers Moltenbecher aus der Gewalt der Soldaten. Der eine wollte über den Vorgang genauer unterrichtet sein als der andere; man erzählte, verbesserte und stritt miteinander. Die Überrumpelung der Soldaten schwoll dabei zu einem blutigen Gefecht an, und als der Wirt dem widersprach und auf die kleine Zahl der Bayern verwies, die er nach St. Vigil hatte marschieren und von dort zurückkommen sehen, fand er keinen Glauben. Man jubelte über die Niederlage der Soldaten und ließ Ambros hochleben.

Wolf beglich still seine kleine Zeche und ging. Es war nicht das letzte Mal, daß er auf seiner Wanderschaft durch das Pustertal Zeuge wurde, wie sich die Leute über das ihn so nahe berührende Ereignis unterhielten. Wie sich das Wasser der Gader in die Rienz und das der Rienz in die Eisack ergießt, so schien die Kunde von dem Geschehen in St. Vigil durch die Täler zu fließen, und wohin sie kam, frohlockten die Menschen.

Auch die drei Männer, die zu Bozen in dem Hinterstübchen des Kaffeesieders Franz Anton Nessing beisammensaßen, unterhielten sich darüber, oder richtiger: der eine von ihnen erzählte, und die beiden anderen hörten aufmerksam zu. Der Erzähler war Peter Hueber, der Wirt des Gasthauses »Zum Hirsch« in Bruneck, ein Mann von etwa vierzig Jahren, dessen rundliches Gesicht und breite Stirn ein festes, energisches Gefüge zeigten. Franz Anton Nessing war der älteste von den dreien, und durch sein so schlichtes braunes Haar zog sich hier und da schon ein Silberfaden. Seine hohe, quergefurchte Stirn, die Spitz zulief, bildete an den Schläfen scharfe Kanten, und dichte Brauen überspannten die blauen Augen, zwischen denen sich kühn eine kräftige Nase vorbog. Der Mund wurde zum Teil von einem starken Schnurrbart verdeckt. Nessings Augen leuchteten in ruhiger Klarheit. Er wie Hueber waren städtisch gekleidet, während der dritte, eine kräftige, breitschultrige Gestalt von mittlerer Größe, Joppe und Brustlatz trug. Statt der Bundschuhe und Strumpflinge hatte er jedoch hohe Reitstiefel an. Sein ovales Gesicht umrahmte – gegen die damalige Sitte der Tiroler Landleute – ein Vollbart, der wie flockige blau-schwarze Seide bis auf die Mitte der Brust herabfiel. Das kurzgeschorene dunkle Haupthaar hing ein wenig in die runde, nach oben sich verbreiternde Stirn herein, und die großen schwarzen Augen hatten einen tiefen, sanften Blick. Die Nase war leicht gewölbt und endete in weichen Flügeln, die die Scheidewand etwas sichtbar machten. Der Mund war nicht gerade klein, bildete aber eine schön geschwungene Linie. Um die weich gewölbten Lippen, deren Rot der dunkle Bart lebhaft hervortreten ließ, spielte in diesem Augenblick ein Zug schalkhafter Anmut. Auf dem Schild seines Leibgurts waren die Buchstaben A und H zu lesen. Den »bärtigen Andrä« nannten die Leute den weit und breit bekannten Mann, der etwas über vierzig Jahre zählte. Es war der Wirt am Sand im Passeiertal: Andreas Hofer.

Er lachte hell auf, als Peter Hueber erzählte, wie Ambros plötzlich den Pfarrer auf seinen Armen fortgetragen habe, und nachdem der Wirt aus Bruneck den Ausgang des Handels berichtet hatte, rief er mit fröhlichen Augen: »Das haben die Buben gut gemacht! Wackre Buben! Den Namen von dem Ambros Falkner will ich mir doch merken.«

»Ja, wann er zu gehorchen verstünd!« wandte Hueber ein. »Aber davon will er nix wissen.«

Anton Nessing schüttelte den Kopf und meinte: »Mir will die Sach nit gefalln. Der Hofstetten kann und wird sie nit ruhig hinnehmen, und die Vigiler werden übel an die Kost kommen. Statt zwanzig Mann wird er ihnen eine Kompanie über den Hals schicken, wann's vielleicht in diesem Augenblick nit schon geschehn ist!«

»Der Kreishauptmann soll sich freilich vor Wut nit zu lassen wissen«, entgegnete Hueber. »Dem Oberleutnant von Reitzenstein hat er vierzehn Tag Stubenarrest gegeben, und seine Mannschaft sitzt auf vier Wochen im Torturm hinter den eisernen Gardinen. Aber du irrst! Durch eine Kompanie Soldaten lassen sich die Vigiler nit ins Bockshorn jagen! Die schlagen sie lustig zum Tal hinaus. Und sollt's auch ein Bataillon oder gar ein Regiment sein. Wann die Vigiler nur rechtzeitig Wind kriegen – und dafür werd ich schon sorgen –, so solln sich die Bayern wohl vergebens die Schädel einrennen. Dazu braucht's nur, daß auf der schmalen Bergstraßen durchs Gadertal die Brücken über die Schründ und an den Felswänden abgebrochen werden, und die Bayern sitzen in der Falle, können nit vorwärts und nit rückwärts und werden von den Höhen herunter in die Gader gefegt wie die Fliegen an der Stubendecke von einem Salbeistrauch ins Feuer. Ich wünscht, es käm dazu! Das Maß der Bayern ist voll!«

»Und wann's dazu käm – was nützt der Putsch?« fragte Nessing. »Vielleicht zündet er hier und dort; um so schlimmer für uns! Die Aufständ werden einzeln niedergeschlagen, unsre Kraft wird gelähmt, und der Bayer bleibt auf seiner Hut. Ich mein, wir müssen noch warten.«

»Warten! Warten!« rief Hueber unmutig. »Ich hatt auch den Freunden in St. Vigil sagen lassen, daß sie sich still halten sollten. Was hat's genutzt? Die Leut wolln sich nit mehr zurückhalten lassen. Und ich mein, bricht's jetzt im Vigiltal los, so fliegt das Feuer über ganz Tirol.«

»Und der Augenblick wär gar günstig!« fiel Andreas Hofer mit einer vollen, weichklingenden Stimme ein. »Ihr wißt ja, daß der Napoleon auf Spanien losgeht; da solln ihm denn die deutschen Bundestruppen die Kastanien aus dem Feuer holn. Die Deutschen gelten ihm doch bloß als Kanonenfutter, und so müssen sie voran. Die bayrischen Regimenter sind auch schon auf dem Marsch, und an ein Umkehrn ist nit zu denken. Drum mein ich freilich, daß der Hofstetten sich besinnen wird, eh er jetzt was gegen die Vigiler unternimmt. Aber er ist ein Hitzkopf, wie ihn der Hueber uns beschrieben hat; und geht er los und das Feuer brennt auf, dann, liebe Freund, ist's Gottes Wille, daß wir nit länger warten solln, und er wird uns auch den Sieg leicht machen!«

Hueber stimmte ihm lebhaft zu. Der besonnene Nessing aber sagte: »Daß uns Gott unter solchen Umständen den Sieg verleiht, obgleich wir mit unsern Vorkehrungen noch nit fertig sind, ist möglich. Aber ihn auf die Dauer behaupten – das können wir nit allein; dazu brauchen wir Beistand, und von einem solchen ist noch nix zu spürn. Ihr kennt das letzte Schreiben noch nit; vorgestern ist's aus Wien angelangt.«

Er zog einen Brief aus der Tasche, faltete ihn auseinander und begann mit gedämpfter Stimme zu lesen. Der Inhalt stand scheinbar in gar keinem Zusammenhang mit dem vorhergegangenen Gespräch, und ein Unbeteiligter hätte sich nicht wenig über das große Interesse gewundert, das die drei Männer an ihm nahmen. Das Schreiben handelte von einer Liebesgeschichte. Das aber war nur das Gewand, in das sich das große Ziel hüllte, das die drei Männer seit fast einem Jahr verfolgten: die Befreiung ihres Vaterlandes von der Fremdherrschaft.

Als der Landrichter Zengerl auf dem Kirchplatz von St. Vigil mit dem Dichter seufzte: »Wann wird der Retter kommen diesem Lande?«, da war das Hinterstübchen in Nessings Kaffeeschenke schon längst zum Rütli Tirols geworden. Nicht in den Köpfen betitelter Politiker und Diplomaten, sondern in den warmen patriotischen Herzen der drei befreundeten Männer aus dem Volke war das große Werk geboren worden, und von ihnen war die erste Anregung am Wiener Kaiserhof ausgegangen. Anton Nessing, der die Feder dieses Dreimännerbundes war – wie später der schwarzbärtige Andrä dessen Schwert –, hatte sich dem jungen Erzherzog Johann eröffnet. Der Tiroler Anton Steger, der als Büchsenspanner im Dienste des Kaisers Franz stand, war der Kanal, durch den der Briefwechsel hin- und herging, und Joseph Kugstatscher, der wackere Postmeister von Bozen, trug Sorge für die sichere Beförderung der Liebesbriefe durch die Post.

Erzherzog Johann Erzherzog Johann – Johann Baptist Joseph Fabian Sebastian, Erzherzog von Österreich (1782-1859). Im 3. Koalitionskrieg der verbündeten Russen und Österreicher gegen Napoleon, der 1805 begann, widmete er sich vornehmlich der Bewaffnung Tirols und Vorarlbergs und trat an die Spitze des österreichischen Armeekorps, das sich den Franzosen und Bayern entgegenstellte. Unterstützt von dem Tiroler Landvolk, brachte er den Bayern unter Deroy Anfang November 1805 die erste Niederlage am Strubpaß bei. In den auf den Preßburger Frieden (Dezember 1805) folgenden Jahren entwarf er den Plan eines Volkskrieges in den österreichischen Alpenlanden und rief im März 1809 nach dem Wiederausbruch der Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Österreich die Tiroler zur Erhebung auf. Als Befehlshaber des innerösterreichischen Heeres schlug er den Vizekönig Eugen (s. Anm. 87 – Eugen Beauharnais) zuerst bei Pordenone, dann am 16. April entscheidend bei Sacile. Die Niederlage bei Wagram (6. 7. 1809), der am 14. Oktober 1809 der Friedensschluß zu Wien folgte, lähmte die weitere Initiative Johanns. – Im Jahre 1848 wurde Erzherzog Johann von den Liberalen in der Frankfurter Nationalversammlung zum Reichsverweser gewählt; in dieser Rolle hat er sich bald offen auf die Seite der fürstlichen Reaktion gestellt. hatte die Hand, die ihm Tirol in den drei einfachen Männern entgegenstreckte, lebhaft ergriffen; doch die Angelegenheit wollte nicht in Fluß kommen. An der Spitze der Staatsgeschäfte stand zwar mit dem Grafen Stadion Graf Stadion – Johann Philipp Karl Joseph Graf von Stadion (1763-1824), österreichischer Staatsmann; betrieb als Botschafter in Petersburg eifrig die Bildung einer Koalition mit Rußland und wurde nach dem Preßburger Frieden (s. Anm. 1) mit dem Außenministerium betraut. Er war Josephiner (s. Anm. 12 – Joseph II.) und hatte die Absicht, Österreich im Innern zu reformieren, seine äußere Macht wiederherzustellen und es an die Spitze eines wiederbefreiten Deutschlands zu bringen. Die Reform des österreichischen Heerwesens und die Bildung einer Landwehr waren größtenteils sein Werk. Der unglückliche Ausgang des auf sein Bestreben unternommenen Krieges von 1809 gab dem stockreaktionären Kaiser Franz I. den willkommenen Vorwand, den von Stadion verfolgten innenpolitischen Kurs radikal zu ändern. Stadion wurde entlassen. An seine Stelle trat Metternich, der Vertreter des Hochadels und der Bankiers. ein Mann, der das Beste Österreichs zu fordern bemüht war, aber die Partei, die ihn am Hofe und in der Gesellschaft trug, besaß nicht den ernsten Willen, die Hindernisse zu besiegen, die sich dem Minister auf der Bahn der Reformen entgegenstellten. Die Überzeugung des Grafen Stadion, daß sich der Kaiserstaat in ähnlicher Weise wie Preußen nach der Katastrophe von Jena durch die Entbindung und Entfaltung der im Volke schlummernden Kräfte regenerieren müsse, mochte noch so lebhaft sein – über Ansätze und einzelne Versuche kam er nicht hinaus. Dazu war die hocharistokratische Reaktion zu mächtig. Sie hatte den blutigen Lehren, die Österreich durch die jüngste Zeit erteilt worden waren, nichts entnommen und träumte nur davon, die Zustände auf den Standpunkt der mittelalterlichen Feudalität zurückzuschrauben. Diese Partei ging mit den Jesuiten Hand in Hand und hatte auf der andern Seite ihre Bundesgenossen in den Emigranten, die die Säkularisierung der geistlichen Reichsstände Säkularisierung der geistlichen Reichsstände – Der Reichsdeputationshauptschluß zu Regensburg (1803) bestimmte die Entschädigung der durch die Abtretung des linken Rheinufers im Frieden von Lunéville (1801) um ihren Besitz gebrachten Fürsten und die Einziehung (Säkularisation) von 23 Bistümern. und die Errichtung der Rheinbundstaaten in Österreich angesammelt hatten. Unter der Wiederherstellung Deutschlands verstand sie nur die Restauration ihrer geistlich-weltlichen Herrschaft sowie ihrer Pfründe. Aber wenn es vielleicht auch noch möglich war, diese Parteien durch ihre selbstsüchtigen Interessen gegen die Herrschaft Napoleons und seiner Satrapen in Bewegung zu setzen – wie wollte man die in allen Ecken der Hofburg raunende Furcht vor dem demokratischen Geist der Volksheere zum Schweigen bringen? Wenn man die Tiroler heute zum Aufstand für Österreich ermutigte – wer stünde dafür, daß sie sich morgen nicht gegen das Kaiserhaus wendeten? Und diese Furcht war es denn auch, die den Plan des Erzherzogs Karl, Erzherzog Karl – Karl Ludwig Johann, Erzherzog von Österreich und Herzog von Teschen (1771-1847), österreichischer Feldherr; begann seine selbständige militärische Laufbahn 1796 mit der Ernennung zum Reichsfeldmarschall. Napoleon erkannte in ihm den bedeutendsten aller seiner Gegner. Nach dem Frieden von Lunéville (1801) zum Hofkriegspräsidenten und 5 Jahre später zum Kriegsminister mit unumschränkter Vollmacht ernannt, widmete sich Karl, zusammen mit Graf Stadion (s. Anm. 59), der Reform der Armee. Die spanische Patriotenpartei ließ ihn am 31. Mai 1808 zu Saragossa als König Spaniens ausrufen, er lehnte jedoch diese Würde ab. Er setzte sich energisch für die Organisation einer österreichischen Landwehr ein, sprach sich aber 1809 gegen den Krieg aus, in dem er dann bei Wagram (6. 7. 1809) verwundet wurde. Nach der Entlassung Stadions büßte er, ebenso wie Erzherzog Johann, jeden Einfluß ein. das österreichische Heer nach dem Vorbilde Scharnhorsts und Gneisenaus umzugestalten. schon in der Wiege, in der er jetzt eben lag, verkrüppeln ließ. Den größten und traurigsten Einfluß aber übte jener glänzende Schwarm von Männern und Frauen, die kein anderes Interesse als ihr Vergnügen hatten und von Genuß zu Genuß taumelten. In der Pestluft, die diese Gesellschaft ausatmete, erstickte alles Bessere und faulte das Mark der Entschlossenheit.

Unter solchen Umständen konnte der Erzherzog Johann die Patrioten in Bozen immer nur zur Geduld mahnen und auf die Zukunft vertrösten. Sie aber hatten darum die Hände nicht in den Schoß gelegt, sondern jeder hatte in seinem Kreise zuverlässige Freunde geworben. Der solide Grund, auf dem sie langsam fortbauten, war die allgemeine Wehrhaftigkeit und Waffengeübtheit Tirols. Knallten doch überall an den Sonn- und Feiertagen vor und nach dem Gottesdienst die Büchsen nach den Scheiben! Fast in jeder Hütte hing ein Schießzeug, und außerdem gab es im Lande noch Waffen genug vom Jahre 1805 Jahr 1805 – Wiederbeginn des Krieges gegen Napoleon, der mit der für die verbündeten Österreicher und Russen unglücklichen Schlacht bei Austerlitz (2. 12. 1805) endete. her, da sich Erzherzog Karl mit der Absicht getragen, in Tirol eine allgemeine Landwehr zu errichten. Auch an kundigen Führern fehlte es seit dem Schützenauszug im Jahre 1797 Schützenauszug im Jahre 1797 – Als Napoleon zu Anfang des Jahres 1797 von Oberitalien aus gegen Österreich vordrang, erhob sich im Rücken der Franzosen die patriotisch gesinnte Bevölkerung, insbesondere die Tiroler, unter denen sich Andreas Hofer (1767-1810), der spätere Führer des Tiroler Volkskampfes von 1809, als Kommandeur einer Schützenkompanie besonders hervortat. nicht. Andreas Hofer hatte sich einen Namen gemacht, der ruhmvoll durch die Alpentäler klang, und wer den bärtigen Andrä, der durch seine Geschäfte weit im Lande herumgeführt wurde, nicht von Angesicht zu. Angesicht kannte, der hatte doch von seiner Tapferkeit und seinem unerschütterlichen Gottvertrauen gehört.

Der Brief, den Nessing heute seinen Freunden vorlas, mahnte zwar auch wieder zur Geduld, er enthielt aber wenigstens einen Hoffnungsschimmer. Der Schleier der Liebesgeschichte barg die Mitteilung, daß die Erzherzöge Johann und Karl eine Unterredung mit dem Kaiser, dem erdichteten Brautvater, gehabt hätten. Zwar habe derselbe auch jetzt noch nicht seine Zustimmung zu der Partie gegeben, aber er habe auch nicht mehr nein gesagt. Unbildlich gesprochen, erhellte aus dem Brief, daß die Frage der Kriegsbereitschaft Österreichs verhandelt worden war. Leider stehe es damit schlimm; die Kassen seien erschöpft, und die Rüstungen könnten daher nur langsam fortschreiten. Indessen sei Erzherzog Karl voll Feuereifer und betreibe die militärischen Angelegenheiten mit Nachdruck. Die Freunde sollten den Mut nicht sinken lassen und die von ihnen geplante Organisation, die völlige Billigung finde, rüstig weiterführen.

»Jetzt, ihr lieben Freund, wer hat recht behalten?« fragte Hofer, nachdem Nessing zu Ende gelesen hatte. »Hat unser Herrgott ein Einsehn und ein Erbarmen mit der Not Tirols?«

»Freilich!« versetzte Hueber nicht ohne Spott. »Da das Kind vor Hunger schreit, denken sie daran, den Acker zu pflügen. Wann, meint ihr denn, wird das Brot gebacken sein?«

»Wir brauchen halt auch noch Zeit, um bereit zu sein«, bemerkte Nessing. »Die neue Getränksteuer treibt uns zwar die Wirte im ganzen Land in die Arm – die Regierung hat sie sich durch diese Maßnahme alle zu erbitterten Feinden gemacht –, aber es ist doch noch manche Masch an dem Netz zu stricken. Über den Brenner sind wir noch lang nit hinüber.«

»Alleweil kommen wir auch über den Berg«, sagte Hofer gelassen. »in Sterzing und Gossensaß haben wir bereits Freund, und auch im oberen Inntal spinnt's sich sacht an. Also Geduld, Freund Hueber! Unser guter Kaiser Franz wird uns nit steckenlassen, und meine Ahnung sagt mir, daß der Tag unsrer Befreiung nit mehr fern ist.«

Nessing lächelte unmerklich zu dem naiven Vertrauen, das der treuherzige Sandwirt in seinen »guten Kaiser Franz« setzte. Hueber meinte: »Dir ahnt immer nur Guts, Freund Andrä!«

Dieser versetzte: »Dahingegen muß ich doch Einsprach tun! Aber ich wollt, es wär so. Schaut, wie ich heut morgen von Haus gen Meran ritt und dacht so an unser armes Tirol, wie sie in München oder Innsbruck wieder neue Drangsal gegen unsern Glauben ausgeheckt haben, da hat's mich in meiner Kümmernis auf einmal so frisch und warm angeweht, als ob's plötzlich Frühling worden wär, als ob ich durch einen Rosengarten ritt, und war doch um mich her nix als eitel Schnee und Eis. Da ward ich fröhlich in meinem Herzen; denn ich wußt wohl, was das bedeutet.« Seine Augen leuchteten von einem inneren Glanz, und mit einem Lächeln fuhr er fort: »Drum laßt uns auf Gott vertraun und nach Wien schreiben, daß sie sich eilen möchten mit ihren Rüstungen; denn dem Bräutigam brennt's schon gar zu heiß unter seinem Brustlatz. Im übrigen aber tät er seine Sachen ordentlich.«

»Am besten wär, sie schickten uns einen her«, meinte Hueber. »Der sah dann mit eignen Augen, wie's steht.«

»Ja, wann der junge Erzherzog Johann selbst kommen könnt!« sagte Hofer. »Aber das geht nit an. Und so ein Schreiber, der sieht nur immer, was er sehn will, nit wie's wirklich ausschaut. So ein Schreiber ist viel zu klug, als daß es in der Welt anders ausschaun könnt, als er's sich vorstellt.«

Nessing und Hueber lachten, und dann verabredeten die drei mit ruhigem Bedacht noch manches über ihr Vorhaben, für das ihre Herzen so warm schlugen.

»Und jetzt, ihr lieben Freund, frisch ans Netzstricken, wie's der Nessing nennt!« scherzte der Sandwirt, indem er mit Hueber aufbrach.

Vor dem Hause trennten sich ihre Wege. Andreas Hofer bestieg in dem Wirtshaus »Zur Sonne« sein Pferd, das er dort eingestellt hatte, und trabte munter gen Meran. Sein langer schwarzer Bart wehte im Winde wie eine Fahne. Peter Hueber war angeblich auf Weinkauf nach Bozen gekommen, und als er von dem »Goldenen Engel«, wo er eingekehrt war, abfuhr, lagen auf seinem Wägelein einige Weinfäßchen.

Alle drei aber strickten fleißig und umsichtig weiter, und alle Heerstraßen und Bergpfade entlang, bis in die einsamsten Täler hinein, liefen allmählich die Fäden und verschlangen sich zu einem Netz, das sich über ganz Tirol breitete. Die Wirtshäuser an den Straßen und Berglehnen bildeten in diesem Netz die Knotenpunkte; von ihnen gingen die Fäden nach allen Richtungen aus, in ihnen verknüpften sie sich …

Die Jugend von St. Vigil kostete ihren Triumph über die Mannschaft des Oberleutnants von Reitzenstein voll aus. War Ambros durch seine rasche Entschlossenheit die Führerschaft zugefallen, so verlangten seine alten Freunde und Kameraden nun von ihm, daß er sie auch ausübe; sie wollten ihn bei ihren Zusammenkünften in den Wirtshäusern nicht missen. Er schloß sich denn auch nicht aus. Aber er war nicht mehr der alte. Merkten es seine Kameraden nicht, so gewahrte es doch Stasi, daß ihm die rechte Herzensfreudigkeit bei dem lustigen Treiben fehlte. Eine düstere Glut glomm in seinen Augen.

Während die Jugend eine Gelegenheit herbeiwünschte, um sieh mit den Unterdrückern Tirols ernstlich zu messen – denn der durch die Verhaftung des Pfarrers herbeigeführte Zusammenstoß mit den Bayern war nach ihrem Geschmack gar zu harmlos verlaufen –, fehlte es unter den älteren und namentlich den vermögenderen Leuten nicht an solchen, die im Geiste schon die Soldaten racheschnaubend mit Feuer und Schwert in St. Vigil einfallen sahen. Besitz ist keine Quelle, aus der man Mut trinkt, und so scharten sie sich instinktmäßig um den Klosterbauern, der die Niederlage, die er vor dem Wirtshaus erlitten hatte, mit großer Genugtuung in einen Sieg über Ambros sich verkehren sah. Ja, ja, der Klosterbauer traf mit seinem Tun immer das Richtige, wenn man es auch mitunter nicht gleich erkannte! Wer so wie Ambros dem eigenen Vater trotzte, von dem könnte es nicht wundernehmen, wenn es ihm gleichgültig wäre, ob um seinetwillen ganz Vigil zugrunde ginge.

Indessen geschah das Gefürchtete nicht. Murat, Murat – Joachim Murat (1767-1815), General Napoleons und Gatte von dessen Schwester Karoline; hatte u. a. hervorragenden Anteil an den französischen Siegen bei Austerlitz (2. 12. 1805), Jena (14. 10. 1806) und später bei Dresden (26./27. 8. 1813). Im Sommer 1808 zur Niederschlagung des Aufstandes nach Spanien geschickt, zog er am 23. April 1808 an der Spitze der französischen Armee in Madrid ein, erhielt daraufhin jedoch nicht, wie er gehofft hatte, den spanischen Thron, sondern das Königreich Neapel. 1814 fiel er von Napoleon ab und trat auf die Seite der Alliierten. Ein Jahr später allerdings begann er ohne Kriegserklärung wieder die Feindseligkeiten gegen Österreich. Am 13. Oktober 1815 wurde er bei Pizzo von italienischen Patrioten gefangengenommen und erschossen. der Schwager Napoleons, befand sich auf' dem Marsch nach Spanien. Der Rheinbund hatte die Truppen stellen müssen, und Bayern war genötigt gewesen, Tirol zu entblößen. Der Kreishauptmann von Hofstetten mußte daher sein heißes Verlangen, die Vigiler zu züchtigen, einstweilen unterdrücken; denn mit der kleinen Macht, die ihm zu Gebote stand, in die Engpässe des Gader- und Vigiltals einzudringen wäre Wahnsinn gewesen. Statt der bayrischen Soldaten erschien eines Tages in St. Vigil ein Gerichtsbote mit einer Vorladung für den Pfarrer vor den Kreishauptmann.

Er war beauftragt, Herrn Moltenbecher die Vorladung persönlich zu übergeben und sich den Empfang von ihm bescheinigen zu lassen. Vefa weigerte sich jedoch, ihn vorzulassen, denn der hochwürdige Herr sei krank und liege zu Bett. Sie sprach die Wahrheit. Die Aufregung über die jüngsten Ereignisse hatte den Greis auf das Krankenlager geworfen. Aber er hatte nicht gewollt, daß der Arzt aus Bruneck geholt würde; er sei nur müde. Und er schalt Vefa ob ihrer wehleidigen Miene, daß sie ihm nicht gönne, sich einmal in seinem langen Leben ordentlich auszuruhen.

Vefa stellte sich breit vor die Tür der Schlafstube, stemmte die Hände in die Hüften und fragte den Boten der Justiz, dessen Nase wie eine Fackel über seinem dicken Schnurrbart glühte, ob die Bayern nicht genug daran hätten, den hochwürdigen Herrn krank gemacht zu haben, sondern ihn noch umbringen wollten. Wenn er den Mut dazu hätte, sollte er sie nur anfassen und mit Gewalt von der Tür fortzudrängen versuchen.

Den Mut dazu hätte er schon, versetzte der Bote mit großer Gemütsruhe, und wenn die Jungfer jünger wäre, würde er gern herzhaft zugreifen. Mit so alten Sachen aber befasse er sich nicht.

Vefa kreischte wild auf, und der Bote hielt es für geraten, sich aus dem Bereich ihrer Fingernägel zurückzuziehen. In diesem Augenblick wurde die Tür von innen geöffnet, und der Dechant von Enneberg, der sich eben bei dem Pfarrer befand, erschien auf der Schwelle und erkundigte sich nach der Ursache des Lärms. Er hieß den Boten eintreten.

»Er sieht, guter Freund, daß ich alleweil nit nach Bruneck kommen kann«, sagte Herr Moltenbecher, nachdem er einen Blick auf die Vorladung geworfen, und scherzend setzte er hinzu: »Der Herr Kreishauptmann ist zwar ein großmächtiger Herr, aber es hilft nix, daß er mir zuruft: ›Steh auf aus deinem Bett und wandle!‹«

»Und wenn er Wunder wirken könnte, so dürften Sie dennoch seinem Ruf nicht Folge leisten!« rief der Dechant und legte seine Hand auf die des Pfarrers, die bereits den Bleistift des Boten ergriffen hatte, um den Empfangsschein zu unterzeichnen. »Nicht vor dem Kreishauptmann von Bruneck haben Sie sich zu verantworten; Ihr Richter ist der Herr Bischof von Brixen! Sie dürfen Ihrer Stellung nichts vergeben; Sie müssen gegen die ungesetzmäßige Forderung des Kreishauptmanns protestieren!«

»Freilich, freilich, ich muß protestiern«, seufzte der alte Herr kläglich, und der Dechant ging in die nebenan liegende Studierstube des Pfarrers, um den Protest zu Papier zu bringen.

Der Bote hüstelte in seine vorgehaltene Hand. Geduldig wartete er auf dem ihm angewiesenen Stuhl, bis der Dechant mit dem Schreiben fertig war. Er hatte die Hände übereinander auf den Knopf seines dicken Amtsstockes gelegt und wandte kein Auge von dem Kranken. Einmal räusperte er sich, als ob er reden wolle; es kam aber kein Wort über seine Lippen. Der Dechant trat wieder in die Stube, und der Bote versprach, den Protest getreulich abzugeben. »Aber helfen wird das nit; das kennen wir!« meinte er, seinen Rock zuknöpfend.

»Und da Hochwürden so krank ist … Hier oben ist das Wetter doch gar zu rauh.«

Er ging. Der Dechant und Herr Moltenbecher tauschten einen Blick miteinander.

»Da sei Gott für, daß ich meine Gemeind im Stich lass'!« sagte Herr Moltenbecher leise, und der Dechant nickte.


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