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17. Kapitel

Es fiel allgemein auf, daß der angesehenste Mann der ganzen Talschaft bei dem Begräbnis des Pfarrers fehlte. Der Klosterbauer war nicht erschienen. Indessen war es nicht der heimliche Groll – den er gegen den Verstorbenen hegte, weil dieser die Partei seines Sohnes genommen hatte –, weshalb er fehlte. Wie Lisei auf die vielen Fragen, die nach ihm gestellt wurden, erklärte, waren sie zusammen vom Klosterhof fortgegangen; auf dem Wege nach Monthan aber war ihnen ein Bote aus Bruneck mit einem Brief für ihren Vater begegnet. Da der Bote den Brief nur gegen Unterzeichnung des Postscheins auszuhändigen beauftragt war, so sei der Vater wieder umgekehrt, während sie ihren Weg fortgesetzt habe. Weshalb er nicht nachgekommen wäre, nachdem er den Boten abgefertigt, wußte Lisei nicht anzugeben.

Jerg war es lieb, daß der Klosterbauer nicht zugegen war. Er hoffte nun ungestört seine Angelegenheit mit Lisei zu Ende zu bringen. Als er sich aber Lisei gerade nähern wollte, kam ihm seine Stiefmutter zuvor, und dann sah er beide mit Ambros zusammenstehen. Mißtrauisch beobachtete er sie und gelobte sich, es ihnen zu vergelten, wenn sie ihm Unkraut unter seinen Weizen säen sollten. Er beschloß, Lisei auf ihrem Heimweg aufzulauern, und während die allgemeine Aufmerksamkeit auf Hannes gerichtet war, entfernte er sich von dem Kirchhof und schlenderte über die Trift nach dem Vigilbach. Er mußte lange warten, und um sich die Zeit zu verkürzen, versuchte er eine kleine Schar von Gänsen, die es sich in einer geschützten Bucht des Baches wohl sein ließen, in das heftig strudelnde Wasser zu scheuchen. Mit einem der Tiere gelang es ihm, und er lachte hämisch, als es von den raschen Fluten fortgerissen wurde. Das Element war indessen barmherziger als der Mensch und warf den ängstlich schreienden Vogel eine Strecke bachabwärts ans Ufer.

Jetzt kam Lisei, jedoch nicht allein. Ihr Bruder Hannes begleitete sie, und beide sprachen angelegentlich miteinander. Jerg drückte im ersten Augenblick ärgerlich die Hand zur Faust zusammen, dann aber durchblitzte ihn ein Gedanke, der ihm sehr glücklich schien. Wie, wenn er Hannes gegen Afra und Ambros ausspielte? Hatten ihm diese beiden – er zweifelte nicht daran – bei Lisei zu schaden versucht, dann war Hannes ein trefflicher Bundesgenosse für ihn. Er hatte keine allzu hohe Meinung von dem Verstand des Kuraten – hatte sich doch Hannes in seinen Schülertagen, wenn er zu den großen Ferien daheim gewesen, wehrlos von ihm hänseln lassen! Es dünkte ihn daher ein leichtes, Hannes für seine Sache zu gewinnen, wenn er sie in demselben Licht darstellte, wie er es bereits bei Lisei getan hatte, und zwar in deren Gegenwart.

Jerg schloß sich den Geschwistern, die still vorübergehen wollten, mit unbefangener Miene an. Dem Klosterbauern müsse doch wohl etwas zugestoßen sein, äußerte er, und er wolle daher Lisei auf den Hof begleiten, um sich zu erkundigen. Lisei und ihr Bruder schwiegen, und Jerg fuhr fort: »Wann ich ungelegen bin, will ich wieder gehn, aber ich hab halt gemeint, Lisei, daß der Herr Kurat weiß, wie wir beid miteinander stehn.«

»Und wie stehn wir denn miteinander?« fragte Lisei unwillig, indem sie stehenblieb.

»Potztausend, bist du so hitzig?« lachte Jerg. »Ich hab bloß gemeint, ob du dem Herrn Kurat schon alles gesagt hast, was ich dir neulich vorgestellt hab? Wann du's getan hast, so wird er mir recht geben, das weiß ich.«

»Das offne Feld ist wohl nit der geeignete Ort, um solche Dinge zu besprechen«, gab Hannes kühl zur Antwort

»Nein, liebsten Herr Hannes«, rief Lisei, »da er davon angefangen hat, will ich ihm auch gleich Bescheid geben. Was ich dir neulich schon gesagt hab, dabei bleib ich. Mein Jawort kriegst nimmer, nit mit Gutem, nit mit Gewalt!«

Trotz seiner Selbstbeherrschung verfärbte sich Jerg. Auf eine so entschiedene Ablehnung war er nicht gefaßt gewesen. »Das spricht der Ambros aus dir!« entfloh es ihm. In der nächsten Sekunde jedoch war er wieder Herr seiner selbst und fuhr fort: »Ja, der Ambros! Denn der Herr Kurat Falkner hat zuviel Verstand, um sich auf deine Seit zu stelln.«

»Genug!« rief Hannes und streckte Jerg die Rechte mit gespreizten Fingern abwehrend entgegen. »Ja, ich stell mich auf die Seit meiner Schwester. Du rühmst meinen Verstand. Nun wohl, er reicht hin, um zu begreifen, daß alle Vernunftgründ, durch die du Lisei für dich zu stimmen versucht haben magst, an einem treun Herzen ohnmächtig zerschelln. Drum steh ab von deiner Werbung! Oder willst Lisei durchaus aus ihrem Vaterhaus vertreiben?«

»Und mein Herz soll nix gelten?« begann Jerg von neuem und schlug sich mit der Faust auf die Brust, in der es vor Wut kochte.

Lisei wandte sich ab, um seinem Auge nicht zu begegnen. Wie war es nur möglich, daß er immer noch von seinem Herzen redete!

Hannes aber sagte mit wachsendem Unwillen: »Wann du ein Herz besäßest, so würdst nit taub sein gegen die Stimmen der Ehr und Scham. Sie gebieten dir, Lisei freizulassen!«

»Freilassen soll ich sie?« zischte Jerg. »Fragen Sie doch den Klosterbauer selbst, ob ich's gewesen bin, der von der Heirat zuerst angefangen bat! Ist nit seine Schwester, die Vefa, zu mir gekommen und hat mir angelegen, wie gut's dem Klosterbauer passen tät, wann ich und die Lisei ein Paar würden? Freilassen soll ich die Lisei? Gehn Sie doch hin auf den Klosterhof und versuchen Sie, ob Sie die Lisei von Ihrem Vater frei predigen! Nachher wolln wir zwei miteinander weiterreden!«

Er ging wütend davon, entschlossen, seine Werbung nicht aufzugeben.

Er war von sich selbst überzeugt, daß er noch nicht am Ende seines Witzes angekommen sei.

»Jetzt ist's besiegelt«, sagte Lisei leise vor sich hin, als er gegangen war. Es klang, als ob sie sich durch die Entscheidung erleichtert fühlte, und sie dankte ihrem Bruder, während sie zusammen ihren Weg fortsetzten, daß er ihr so treu zur Seite gestanden hatte.

»Mein Haus ist auch dein Haus, das versteht sich von selbst«, versetzte Hannes. »In einem Punkt hat der Jerg aber recht.«

Welcher Punkt es war, darüber äußerte er sich nicht, und in Nachdenken versunken, bemerkte er auch nicht den fragenden Blick der Schwester.

Als sie jenseits des Spitzhörndlbaches den Uferrand erstiegen hatten und der Klosterhof aus dem jungen Getreide und den Wiesen wie aus grünen Meereswogen auftauchte, blieb Hannes stehen und sagte: »Ich werd mit dem Vater reden; ich begleit dich auf den Hof.«

»Heilige Mutter Gottes, das ist ja unmöglich!« rief Lisei erschrocken. »Was würd das geben?«

»Ich hätt's längst tun solln!« entgegnete Hannes ruhig. »Schon damals, als ich erfuhr, daß der Vater meinem Brief wegen Ambros und Stasi keine Beachtung geschenkt hatt. Ja, schon damals wär's meine Pflicht gewesen!« fuhr er fort, während sich eine Blutwelle in seine hageren Wangen ergoß. »Aber ich war feig.«

»Ach, herzliebster Bruder, wie können Sie sich selbst nur so schelten, Sie, der so mutig das Schwerste getragen hat?« wandte Lisei ergriffen ein.

»Vielleicht hab ich auch nur aus Mutlosigkeit gelitten«, versetzte er mit einem melancholischen Lächeln. »Es wär vieles, vieles anders gekommen, wann ich zur rechten Zeit die rechte Tapferkeit gehabt hätt. Auch dieser Auftritt mit Jerg eben wär uns wohl erspart geblieben, wann ich dem Vater schon damals männlich gegenübergetreten wär. So will ich denn jetzt das Versäumte nachholn.«

Lisei schüttelte den Kopf. »Sie werden den Vater nit andern Sinns machen, sondern ihn noch mehr aufbringen gegen sich«, sagte sie besorgt.

»Komm nur!« meinte er zuversichtlich. »Du warst zugegen, als man mich in St. Vigil bewegen wollt, der Nachfolger von Herrn Moltenbecher zu werden. Glaubst, daß sich auch nur eine Stimm für mich erhoben hätt, wann sie wüßten, daß ich nur den Mut des Duldens besitz? Ich werd die Pfarre nit erhalten, denn ich müßt mich der Regierung unterwerfen, wie's Angelo Lacedelli, der Vikar, getan hat; und dazu werd ich mich nimmer entschließen. Aber in jenen Zurufen vernahm ich das Vertraun, daß ich den Mut haben würd, die Rechte der Gemeind und der Kirch gegen die Willkürmaßnahmen der Regierung zu vertreten. Laß uns also gehn.«

Die Schwester blieb jedoch stehen. Sie bewunderte den Mut, den ihm die Liebe zu ihr eingab; aber sie sah für keinen Teil Gutes daraus erwachsen, wenn er seinen Vorsatz ausführte. Darum bat sie ihn jetzt nochmals und eindringlicher, davon abzustehen. Sie dankte ihm für den Beweis seiner Liebe; es würde aber ihr Los nur erschweren, wenn es ihm nicht gelänge, den Vater umzustimmen; und hierzu bestünde vorderhand keine Hoffnung. Um ihretwillen sollte sich das Verhältnis zwischen Vater und Bruder nicht noch schroffer gestalten. Das Bewußtsein, im äußersten Falle auf die Hilfe des Bruders rechnen zu können, würde ihren Mut kräftigen; aber ihre eigene Sache müßte sie selbst führen.

Es wurde ihr nicht leicht, Hannes von seinem Vorsatz abzubringen, und schon läutete die Mittagsglocke, als die Geschwister in der Nähe des Klosterhofs voneinander schieden.

Lisei fand den Vater in der Stube am Tisch, auf dem viele Papiere lagen, manche darunter von Staub und Alter vergilbt: Rechnungen, Schuldverschreibungen, Hypothekenscheine. Er war in Hemdsärmeln, und das Haar hing ihm unordentlich über die Stirn. Beide Arme auf den Rand des Tisches gelehnt, las er in einem Schriftstück, das er vor sich ausgebreitet hatte.

Zur gleichen Zeit saß Ambros in der Sägemühle, wohin er Afra nach dem Begräbnis begleitet hatte. Es war zwar ein Wochentag, und die Leidtragenden waren allmählich zu ihren Arbeiten zurückgekehrt, aber für Ambros gab es keine Wochentage. Die Arbeit auf dem kleinen Hof war ihm zu gering. Für zwei gab es zuwenig zu tun, und so überließ er alles David allein. Der Vergleich mit der Wirtschaft auf dem Klosterhof, wo er meistens auch nur mit Hand angelegt, wenn es ihm gefallen hatte, stand stets im Hintergrunde, und es kam ihm wie ein Spott auf seine Arbeitskraft und zugleich wie eine Demütigung vor, daß er nun so im Kleinen mit Kleinem als Herr und Knecht in einer Person seine Tage hinbringen sollte. Die Zukunft, die er seinem Kinde würde bieten können, erschien ihm so erbärmlich, daß es nicht lohnte, darum einen Tropfen Schweiß zu vergießen. Wenig oder nichts machen keinen Unterschied. War es dem Klosterbauern recht, daß sein Name von Bettlern im Tal geführt würde – ihm konnte es auch recht sein; und es gab Augenblicke, in denen er es sich beim Kirschwasser als Wollust ausmalte, dem Vater als ein Lump gegenüberzutreten und ihm zuzurufen: »Schau her, das hast aus deinem eignen Fleisch und Blut gemacht!« Müßig zu Hause zu liegen, brachte er jedoch auch nicht fertig, und so trieb er sich überall umher, voll Unruhe und Unbefriedigung und sich selber zur Last. Der Bäcker sah ihn oft genug in seiner Schenkstube, die dem Klosterambros sonst viel zu gering gewesen war; in den »Stern«, wo er seinen alten Kameraden begegnet wäre, mochte er nicht gehen. Allein, weder Schnaps noch Kartenspiel betäubte das nagende Gefühl in seiner Brust.

Auch in die Sägemühle ging er wieder; er hatte Afra ja versprochen wiederzukommen. Ob der alte Arigaya bei seinen Besuchen zugegen war oder nicht, war ihm gleichgültig. Er suchte nur Unterhaltung und Zerstreuung, und in Afras Gesellschaft verging ihm die Zeit wie im Fluge. Sie war immer gesprächig, immer heiter, und selbst seine übelste Laune hielt vor ihr nicht stand. Konnte Stasi nicht ebenso sein? Aber die war immer schweigsam, immer ernst, immer traurig. War es nicht fast wie eine Gnade, wenn sie ihm einmal ein freundliches Gesicht zeigte? Ihre Augen waren oft rot und geschwollen vom Weinen, und er konnte das Weinen nicht leiden. War es ihm da zu verargen, wenn er es zu Hause langweilig fand und nicht immer Stasis vergrämtes Gesicht vor Augen haben wollte? War das Leben nicht schon ohnedies schwer genug?

Der alte Arigaya war schon im Werkraum bei der Arbeit. Das Brausen des Wassers aufs Rad, das Zischen und Schnaufen der Säge vertrieb am besten die unangenehmen Gedanken. Die wieder häufiger gewordenen Besuche Ambros' erregten kein Arg in ihm; im Gegenteil, sie waren ihm willkommen, denn sie stimmten seine Frau heiter und verwandelten ihr Wesen in Sonnenschein, der sein altes Herz erquickte. Mit seinem Sohn redete er nur noch über die dringendsten Geschäftsangelegenheiten, und Jerg ließ sich außer zu den Mahlzeiten in der Wohnstube nicht blicken.

In der Stube war es angenehm kühl, denn das weit vorspringende Dach hielt die Strahlen der Mittagssonne ab, und das Rauschen und Brausen des Baches lud zur behaglichen Ruhe und auch wohl zum Träumen ein. Ambros aber kaute verdrossen an seinem Schnurrbart. Obgleich er mit dem Vater ganz fertig zu sein geglaubt, mochte die Hoffnung, daß dessen Haß gegen ihn nicht über den Tod hinaus dauern würde, irgendwo in seiner Brust noch einen Versteck gefunden haben. Lisei hatte ihm und dem Bruder von dem neuen Testament des Vaters erzählt

Afra hatte ihren Hut abgelegt und verwahrt und stand nun mit verschränkten Armen vor ihm. Ihre großen, schwarzen Augen ruhten mit einem Glanz auf ihm, der ihm, wenn er nicht mit so unliebsamen Gedanken beschäftigt gewesen wäre, das heimliche Gefühl ihres Herzens hätte verraten müssen. Stolz, Eifersucht und Entsagung drängten ihre Liebe nicht mehr zurück. Sie glaubte damit an Stasi kein Unrecht zu begehen, weil sie Ambros nicht begehrte. Ja, er brauchte ja nicht einmal zu ahnen, daß er von ihr geliebt wurde. Wenn es wahr ist, daß kein Feuer so heiß brennt wie heimliche Liebe, so ist es nicht minder gewiß, daß dieses Feuer, wo es im Herzen brennt, das ganze Wesen durchglüht. Und ob solch Feuer nicht, trotz aller Wacht darüber, heimlich zündende Funken versprüht?

»Laß doch das Zersinnen! Der Jerg ist's wahrlich nit wert«, sagte Afra und verzog schmollend ihre vollen Lippen.

»Der Jerg ist ein Schuft!« rief er aufschauend. »Ich versteh's nit, wie ich so gut Freund mit ihm hab sein können.«

»Weil er dir schön getan hat; das ist einfach genug«, versetzte sie. »Sein drittes Wort ist immer der Ambros gewesen. Denn da du unter den Buben das meiste gegolten hast, so hat's ihm ein Ansehn gegeben, dein Freund zu sein. Seine Lustigkeit ist aber das Narrenseil, an dem er euch alle geführt hat!«

»Magst wohl recht haben«, murmelte er, sie betrachtend. Auch sie trug wegen des Begräbnisses ihren Sonntagsstaat. Wie aus dem Ei geschält sah sie aus, und ihre kurzen Hemdsärmel mit den breiten Spitzen wetteiferten an Weiße mit ihren runden Armen.

»Mit leern Taschen lernt einer die Menschen besser kennen als wie mit volln!« lachte sie, und dicht vor seinen Stuhl tretend, fuhr sie lebhaft fort: »Und jetzt, weil wir davon reden: ist die Armut denn ein so großes Unglück? Ihr Männer wißt euch freilich nimmer zu helfen und hängt an euern Gewohnheiten wie die Klett am Rock. Wann die Lisei in Dienst geht, wird sie kaum so schwer zu arbeiten haben wie jetzt, und ich mein halt, daß sie deinem Vater das Brot, das sie bei ihm ißt, teurer bezahlen muß, als es anderwärts kostet. Ich weiß, was es heißt: arm sein; aber ich bin nimmer so vergnügt und glücklich gewesen wie dazumaln, wo's daheim mitunter an Brot gefehlt hat. Damals hab ich an allem eine Freud gehabt: wann die Sonn geschienen hat wann am Sonntag morgen die Glocken geläutet haben und die Schwalben wiedergekommen sind. Du kannst's dir freilich nit vorstelln an was so eine junge, arme Gitsche ihre Freud hat.

»Doch«, sagte er und haschte nach ihrer Hand, die sie ihm achtlos überließ, während sie fortfuhr: »So lustig bin ich gewesen wie kein Maikäferl nit, und wann ich mir ein schönes rotes Blüml hinters Ohr gesteckt hab, da hab ich ganz drauf vergessen, daß mein Kittel Flicken gehabt hat. Ach, es war eine schöne Zeit!«

Sie blickte ihm mit einem wehmütigen Lächeln in die Augen, und beider Blicke wurden tiefer und tiefer.

»Aber tauschen möchtet jetzt doch nit wieder, gelt?« fragte Ambros mit einem eigentümlich gedrückten Ton.

»Gleich auf der Stell, wann ich wieder ein freies Madl werden könnt!« rief sie lebhaft, und Ambros die Hand entziehend und an den silbernen Kettchen ihres Mieders und der Schleife ihres Fürtuches zerrend, fuhr sie mit glühenden Wangen fort: »Was liegt an all dem Plunder? Mit tausend Freuden würd ich alles hier lassen, alles, alles, und wann ich barfuß davongehn müßt! Meinetwegen mag alles der Teixl holn!«

»Ja, mag alles der Teixl holn!« wiederholte er erregt und umfaßte mit beiden Armen ihren Leib.

Sie stemmte die Hände gegen seine Schultern und entwand sich ihm wortlos.

Er sprang auf. »Ja, ich wollt, wir wärn beid von allem los und ledig!« rief er und umfaßte sie von neuem. Stürmisch drückte er sie an sich und küßte sie.

»Oh, tu's doch nit!« murmelte sie und hatte doch nicht die Kraft, sich frei zu machen. Dann schmiegte sie sich immer fester an ihn an und ließ es geschehen, daß er sie wieder und wieder küßte.

Ein tiefer, summender Ton weckte beide aus ihrem Rausch. Es war die Mittagsglocke.

»Du mußt gehn!« flüsterte Afra und hielt ihn dennoch an beiden Händen fest, und er dachte nicht daran, ihrer Mahnung zu folgen. Mit beiden Armen umschlang er ihre Schultern und küßte ihren Mund wie ein Wahnsinniger. Ohne ein Wort des Abschieds stürmte er davon.

Stasi und David hatten bereits zu Mittag gegessen, als Ambros nach Hause kam. Er wollte nicht, daß Stasi mit den Mahlzeiten auf ihn wartete, wenn er nicht zur rechten Zeit da war, und sie hatte sich endlich gefügt. Worein hätte sich ihre Liebe zu ihm nicht gefügt? Sie machte ihm keine Vorwürfe wegen seiner unregelmäßigen Lebensweise, keine wegen seines Müßiggangs und ertrug seine Verdrossenheit wie sein Aufbrausen und die Rauheit, mit der er sie dann behandelte, ohne Klagen. Sie selbst arbeitete mit David um so angestrengter, und der Ohm war froh, daß Ambros sich nicht mehr um die Wirtschaft kümmerte. Er hatte ruhigere Tage, und es ging auch alles glatter seinen Gang, seit er mehr auf sich selbst angewiesen war und durch kein ungeduldiges Kommandieren mehr eingeschüchtert wurde. Er überlegte mit Stasi, was zu tun sei, und wußten sie beide nicht Rat, so halfen die Nachbarn. Wenn nur Stasi nicht gar so wehleidig dreingeschaut hätte, wäre er jetzt so zufrieden wie in seinem Kloster gewesen. Ihr Kummer schnitt ihm tief ins Herz, und er sann immer darüber nach, wie er ihr eine Freude machen könnte. Er hatte das Gärtchen neben dem Hause wieder in Ordnung gebracht und hegte und pflegte es mit der größten Sorgfalt; aber Stasis Lob, daß er alles so schön gemacht habe, machte ihn nicht froh, da sie nicht mehr wie sonst in der Dämmerung oder in den stillen Stunden des Sonntags das Bänkchen unter dem Geißblatt aufsuchte. Er zwang sich, gesprächig zu sein, wenn er mit ihr allein war, und erzählte ihr von seinem Klosterleben, den Mönchen, dem roten Haspinger und dessen Haß gegen die Franzosen; aber er merkte wohl, daß sie ihm nur scheinbar zuhörte. Es waren freilich alte Geschichten, die sie schon öfter von ihm gehört hatte, und seine zerfahrene, schleppende Erzählweise war nicht dazu geeignet, ihnen neuen Reiz zu verleihen und Stasi von der Beschäftigung mit ihrem Gram abzulenken.

Stasi grübelte immerzu. Das Schrecklichste, was sie sich einst vorgestellt hatte, war ja nun wirklich eingetroffen. Ambros liebte sie nicht mehr! Trotz allem Sträuben konnte sie sich gegen diese Erkenntnis nicht länger verschließen. Warum, wodurch hatte sie das verdient? Darüber brütete sie Tag und Nacht; doch hörte niemand sie klagen und jammern. Nur wenn sie sich allein wußte, machte sich ihr zusammengepreßtes Herz Luft, und dann schrie sie laut vor Schmerz und Verzweiflung. Wenn eine Liebe, für die Ambros alle seine Aussichten auf Besitz und Reichtum hingegeben hatte, von so kurzer Dauer war, was hatte dann noch Bestand?

Nun reute es ihn. Er sagte es ihr nicht; denn davon hielt ihn noch ein Rest seines Stolzes oder Trotzes ab, dem es immer unerträglich gewesen war, anderen die Verantwortlichkeit für sein Tun zuzuschieben, und vollends einem Weibe! Aber sie fühlte und sah, daß es ihn reute. Und hatte nicht auch sie ihm das Höchste zum Opfer gebracht? Um seinetwillen war sie meineidig geworden, hatte sie den Schwur gebrochen, den sie der sterbenden Mutter geleistet.

In ihren Schmerz, ihre Verzweiflung mischte sich ein Grauen vor etwas, was sie noch treffen mußte. Die schwere Stunde, der sie entgegensah, erfüllte ihr Gemüt ganz und gar mit der schwärzesten Schwermut. Ach, warum war sie es nicht, die man dort unten in die Erde legte, dachte sie, während sie vor dem Hause der Bestattung des Pfarrers zuschaute. Aber nein, sie durfte an keine Erlösung durch den Tod denken! Sie mußte leben um des anderen Lebens willen, das sie unter ihrem Herzen trug, leben für ihr Kind, das der Sünde des Meineids entsprossen! Jetzt begriff sie, weshalb die Hoffnung, die sie auf dieses neue Leben gesetzt hatte, zusammengebrochen war; und keine neue Hoffnung ließ sich an die Geburt des Kindes knüpfen.

Das Herz der armen Stasi klopfte stärker, als sie den Schritt ihres Mannes vernahm. Ambros bemerkte nicht, daß sich ihre Blicke bei seinem Eintritt erhellten. Er sah absichtlich fort, und als sie aufstand, um das für ihn warm gestellte Essen aus der Küche hereinzuholen, kehrte er sich ab. David schlurfte hinter seiner Nichte aus der Stube. Ambros schleuderte seinen Hut weg und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das Haar. Das Blut brauste ihm in den Ohren. Wie, war er ein solch erbärmlicher Kerl geworden, daß er seiner Frau nicht mehr ins Gesicht sehen konnte? Stasi fand ihn, den Kopf in beide Hände gestützt, am Tisch sitzend.

»Gesegn's dir Gott!« sagte sie leise, indem sie eine irdene Schüssel mit Roggenmus vor ihn hinstellte. Dann hob sie seinen Hut vom Fußboden auf, legte ihn beiseite und setzte sich ihrem Mann gegenüber, der unterdessen hastig zu essen begonnen hatte. Er sah immer nur auf die Schüssel und seinen Löffel; aber er fühlte, daß Stasis Augen auf ihm ruhten. Es wurde ihm unerträglich, und schon wollte er sie anfahren, was sie ihm fortwährend auf den Mund zu schauen hätte. Das Wort blieb ihm jedoch in der Kehle stecken; denn als er die Augen hob, trafen sie das Kreuzchen an ihrem Hals, das Afra ihr einst geschenkt hatte. Es war ihr aus dem Mieder geschlüpft, als sie sich nach seinem Hut gebückt hatte. Er zuckte unwillkürlich zusammen; dann überflog eine jähe Röte sein Gesicht, und den Löffel auf den Tisch werfend, schrie er sie mit ausbrechender Heftigkeit an, sie solle das Kreuz abtun.

»Ja, was hast denn?« fragte sie erschrocken und griff mit der Rechten nach dem Kreuzchen, als wolle sie fühlen, was ihn daran ärgern könnte.

Er aber wiederholte seine Forderung nur noch leidenschaftlicher. »Du sollst das nit tragen! Tu's ab, oder ich reiß es dir vom Hals!« Er sprang auf.

Sie erschrak noch mehr. »Bleib doch nur ruhig!« bat sie. »Ich tu's ja gern ab, wann du willst; ist mir doch nix dran gelegen.«

Bevor sie jedoch damit zu Rande kam, griff er schon mit beiden Händen in das dünne Kettchen, an dem das Kreuz hing, zersprengte es, warf alles zu Boden und stampfte mit dem Fuß darauf.

Stasi saß bleich und zitternd da, und es überkam sie die tödliche Furcht, daß er den Verstand verloren habe. So wütend hatte sie ihn noch nie gesehen. »Heilige Mutter Gottes, was hat dir denn das unschuldige Kreuzlein getan?« stammelte sie.

»Ja, unschuldig!« lachte er ingrimmig auf. »Ich wollt, ich könnt sie auch zertreten wie ihr Kreuz, die teuflische Hexe, die Schlange!« Er gab dem Schmuck mit seinen schweren Nagelschuhen einen letzten Tritt.

Ein Schrei entrang sich Stasis Kehle. An Afra hatte sie die Liebe ihres Mannes verloren! Jetzt wußte sie es. Er hatte aus seinen Besuchen auf der Mühle kein Hehl gemacht und zuweilen auch die Grüße bestellt, die Afra ihm aufgetragen; aber sie hatte sich nichts Arges dabei gedacht. Jetzt sah sie plötzlich wie auf einer chinesischen Zauberscheibe Afra in der Kirche mit feindseligem Blick an sich vorüberschreiten, sah sie Ambros mit dem schönen Weib in der Sennhütte von Tamers die Forlane tanzen. Ambros stand bei ihrem Schrei einen Augenblick wie in den Boden gewurzelt; dann griff er nach seinem Hut und eilte mit einem scheuen Blick auf sie aus dem Hause.

Stasi merkte nichts davon. Ihr Gehirn wirbelte. Mit weitgeöffneten Augen starrte sie auf den zertretenen Schmuck. Da lag das Kreuz, das ihr Afra selbst umgehängt und das sie bisher arglos getragen hatte. Da lag es und war zertreten; doch das schwere Kreuz des Elends, das Afra ihr auferlegt, war nicht von ihr genommen, es brannte sich in ihr Fleisch ein. Mit einem gellenden Schrei sprang sie auf. Der Bach würde den Brand löschen!

Zwei Arme fingen sie in der Tür auf. Es war Hannes, der von Lisei zurückkam. Stasi blickte verstört zu ihm auf. Jetzt erkannte sie ihn, riß sich los und lief in die Schlafkammer, deren Tür sie hinter sich verriegelte. Hannes stand betroffen da. David kam hinter ihm in die Stube. Er hatte Ambros toben hören und wollte noch einmal nach Stasi sehen, bevor er wieder an die Arbeit ging.

»Was ist nur geschehn?« fragte Hannes mit, gepreßter Stimme und deutete auf den zertretenen Schmuck. Das verstümmelte Kreuz und Stasis verstörtes Wesen erfüllten ihn mit einem schrecklichen Argwohn.

David schüttelte den Kopf. »Und wo ist sie?« fragte er.

Hannes sagte es ihm.

»Kommen Sie!« flüsterte David und führte den Kuraten ins Gärtchen zu der Bank unter dem Geißblatt, wo er sich niederließ.

»Aber so reden Sie doch, um Himmels willen!« rief Hannes, während er sich ebenfalls setzte. »Was ist vorgefalln?«

»Ja, ich weiß nit«, ächzte der Alte. »So wüst schrein und stampfen hab ich ihn noch nimmer gehört.«

»Er hat sie tätlich mißhandelt?« fuhr Hannes entsetzt auf.

»Ja, ich weiß nit«, schüttelte der Alte den Kopf. »Aber das hat er wohl noch nimmer getan. Ach, daß Sie gekommen sind! Ich weiß gar nit mehr, was ich anfangen soll. Sie ist gar so unglücklich.«

Hannes seufzte tief auf, und David begann allen Kummer, der sich in ihm aufgehäuft hatte, dem Kuraten zu vertrauen. Hannes ließ ihn reden – wie er auch, dem jeweiligen Antrieb gehorchend, in seinen Mitteilungen hin und her schweifte, einem Kahn gleich, der sich von' der Uferkette losgerissen hat und nun den Bewegungen von Wind und Wetter folgt »Und sie nimmt den schlechten Menschen noch in Schutz«, schloß er. »Sie habe ihn unglücklich gemacht, weil sie gegen ihn nit standhaft geblieben ist, sagt sie.«

Wie diese Mitteilungen dem jungen Geistlichen in die Seele schnitten, kann man sich leicht vorstellen. Aber er blieb stumm. Er hatte sein Gesicht mit der Rechten verdeckt, indem er den Ellbogen mit der linken Handfläche unterstützte.

David wiegte seinen großen Kopf trübselig hin und her. Nach einer Weile hob er wieder an: »Ja, ich weiß nit, sie hat an nix keine Freud mehr. Abends, wann ich den Rosenkranz hersag, betet sie wohl mit, aber nach einer Weil wird sie still, und ich merk's, daß ihre Gedanken weit weg sind. Dann hat sie so einen nach einwärts gekehrten Blick, daß es fast grausig ist. Einmal hat sie zu mir von ihrem Tod gered't und wie's dabei mit ihr gehalten werden sollt. Wann das Kind nur auch stürb, hat sie gesagt, und die Tränen sind ihr aus den Augen gestürzt ›Heilige Mutter Gottes, welche Sünd!‹ hab ich gerufen. Da ist sie ganz erschrocken gewesen und hat gestottert: ›Ja, ja, es darf nit sein!‹ Ach, was ist das für ein Jammer!«

Zwei dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Hannes war ganz in sich zusammengesunken.

Während David Hannes auf der Bank unter dem Geißblatt, wo Stasi einst so gern zu sitzen pflegte, in dieser Weise zum Vertrauten seines Kummers machte, ohne zu ahnen, daß er diesem damit glühende Kohlen aufs Herz schüttete, stürmte Ambros durch den Lärchenwald oberhalb seines Gehöfts, eine Beute seines schlechten Gewissens und der Wut darüber. Er konnte sich nicht verhehlen, daß Stasi seine Untreue erraten hatte, und wenn er in diesem Augenblick seine Hände um Afras weißen, runden Hals hätte schlingen können, so würde er sie in seinem Grimm erwürgt haben. Dann aber lockte wieder sein Trotz gegen den Stachel des Gewissens. Nun ja, er hatte Afra geküßt. Was war weiter dabei? War das eine Todsünde? Er liebte Stasi nicht; es war ein dummer Streich gewesen, daß er sie geheiratet hatte. Aber sollte er deshalb fortan wie ein Mönch leben? Er und ein Mönch! Und da war Afra – himmlischer Herrgott, mit was für Augen sie ihn anschaute! Er stieß sie von sich und riß sie wieder an sich und küßte sie wie ein Rasender.

Hier gebunden, dort gebunden, und er strengte sich vergebens an, die Stricke zu zerreißen. Aber sie mußten reißen! Er mußte frei werden von Stasi, von Afra, von allen!

Er war dabei auf einem Pfad, der ihm zufällig unter die Füße gekommen, immer weiter gegangen. Schmale grüne Täler hatten in der Tiefe neben ihm gelegen, rieselnde Wasser seine Wege gekreuzt; aus Wäldern heraus war er auf duftende Matten getreten und hatte sich wieder in Busch und Wald verloren; an weidenden Kühen war er vorübergekommen, und in der Ferne war der Jauchzer eines Geißbuben erschollen; aber er hatte auf nichts geachtet. Höher und höher war er gekommen, und kühler wurde die Luft, die er atmete. Auch das bemerkte er nicht. Der Pfad wurde immer unkenntlicher, und in einem steil ansteigenden Fichtengehölz verlor er sich ganz; Ambros ging jedoch immer weiter, quer durch den Wald. Es war ihm ja gleichgültig, wohin er kam, und die Leidenschaften wühlten in ihm fort. Ein breiter, grüner Rücken mit einem kleinen Höcker in der Mitte reckte sich jenseits des Waldes vor ihm in die Höhe, und verwundert blieb er stehen. Es war der Gipfel des Spitzhörndls, an dessen Fuß er stand. »Meinetwegen!« murmelte er vor sich hin und begann den mit kurzem, rauhem Gras bewachsenen Abhang schräg hinaufzusteigen.

Nun stand er oben. Mit tiefen Zügen sog er die kalte Luft ein und nahm den Hut ab, um sich die heiße Stirn zu kühlen. Als Knabe war er in jedem Jahr wenigstens einmal auf dem Spitzhörndl gewesen:

am Johannistag, Johannistag – Tag Johannes des Täufers, der 24. Juni, der noch heute mit dem traditionellen, vom Sonnenwendfest übernommenen Johannisfeuer gefeiert wird. da er mit den anderen Buben aus St. Vigil hier oben den Scheiterhaufen errichtet und bei einbrechender Dunkelheit in Brand gesteckt hatte und dann Feuerräder den Berg hatte hinunterlaufen lassen. Nun war er schon seit einigen Jahren nicht mehr heraufgekommen. Die starke körperliche Bewegung hatte das Stürmen in ihm einigermaßen beschwichtigt. Der großartige Blick in die Tiefe und die Weite zog ihn wenigstens eine Zeitlang von seinen unseligen Gedanken ab.

Zu seinen Füßen lag das Pustertal, durchströmt von der Rienz, deren Wellen um den Schieferfelsen des ehemaligen Klosters von Sonnenburg blinkten. Dem Zuge des Tals gen Osten folgend, schweifte Ambros' Blick über die ehrwürdig kahlen Riesenhäupter der Dolomiten, von denen die einen rötlich, die andern grau oder weiß gefärbt waren, bis nach Lienz, wo sie, das Pustertal abschließend, in gewaltigen Stufen hinabzusteigen scheinen. Offen lagen vor ihm die von der weiten Talebene bei Bruneck nach Norden in das bewaldete Mittelgebirge hineinstrahlenden grünen Täler von Gsies, Antholz und Taufers, überragt von dem Rieserferner, dessen Schneefelder einen silbernen Hintergrund für das graue Schloß von Taufers bildeten. Im Nordosten türmten sich die ungeheuren Massen der Hohen Tauern, des Großglockners und des Großvenedigers zu den Wolken auf, die ihre Gletscher und Firnen vor dem Betrachter verbargen. Um so heller blitzten, strahlten und funkelten die zahllosen Zinken und Zacken der Zillertaler Alpen. Wie ein silbernes Diadem umfaßten sie die grünen Täler und Berge zu Ambros' Füßen. Westlich von den in der Sonne blinkenden Schneezacken tauchten jenseits Sterzing und Brixen aus wehenden Schleiern die Eisfelder der Stubaier Alpen, die Ötztaler Gletscher und die Kolosse des Ortlers. Es war ein kokettes Spiel, das sie mit ihren Nebelschleiern trieben; jeden Augenblick drapierten sie sich anders, stets lockend die Reize verratend, die sie zu verhüllen bemüht schienen. Nach Süden sich wendend, hatte Ambros sein freundliches Heimattal unmittelbar unter sich, dahinter den Peitlerkofl und die sanft geschwungenen Berglinien des Eisacktals bis zu den aus leuchtendem Firnschnee aufragenden Zinnen der Marmolata. Daran schlossen sich dann gegen Lienz zu, das großartige Rundbild vollendend, die von Sonnenduft umdämmerten Dolomiten des Ampezzotals.

Mitten in dieser Herrlichkeit blieben Ambros' Blicke lange auf einen kleinen Punkt gerichtet: auf das graue Schindeldach der Schneidemühle von St. Vigil. Gewaltsam wandte er sich endlich davon ab, wieder nach Norden. Wie schön war die Welt, diese grünen Täler mit den verstreuten Wohnstätten der Menschen in dem warmen Goldton der Nachmittagssonne, darüber die ernsten Wälder und, über diese weit emporragend, die stolzen Berge mit ihren funkelnden Kronen! Seine Brust dehnte sich. Das alte Kraftgefühl schwellte seine Muskeln; ein Ruck, und er war frei! »Frei!« rief er und machte eine Bewegung mit den Armen, als ob er wirklich Fesseln sprenge. Stolz richtete er sich auf, und sein Auge flammte. Frei, und hinaus in die weite Welt!

Er stieg hinab. Unterhalb des Föhrenwaldes, in den der Fuß des Spitzhörndls auf der Mittagsseite tauchte, waren die Matten ganz rot von blühenden Alpenrosen, durch die er beim Anstieg achtlos hindurchgegangen war. Jetzt pflückte er einen Strauß von ihnen und schmückte seinen Spitzhut damit

Weitergehend, summte er vor sich' hin:

»Ein Gamsbart auf 'm Hut,
Im Herzen frischen Mut,
Das Büchserl in der Hand,
Für Gott und Vaterland
Gibt der Tiroler gleich
Sein Blut und Leben hin,
Drum bin ich stolz,
Daß ich Tiroler bin.«

Es war die erste Strophe eines Liedes, das sie oft im »Stern« gesungen hatten. Plötzlich brach er ab und rief: »Heiliges Kreuz, darauf hatt ich in den Tod vergessen!«

Bei dem Begräbnis am Morgen war das Gamsmanndl zu ihm gekommen und hatte ihm zugeraunt, daß er sich am Abend im »Stern« einfinden, aber niemand etwas, davon sagen solle. Mit bedeutungsvollem Augenzwinkern war der Kleine wieder im Gedränge verschwunden, bevor ihn Ambros hatte fragen können, was er dort solle. Diese geheimnisvolle Bestellung kam ihm jetzt wieder in den Sinn, und über deren Zweck nachgrübelnd, stieg er auf einer stark abschüssigen Halde in das schmale Wiesental hinunter, das sich von dem Vigiltal gegen das Spitzhörndl hin tief in die Berge erstreckte. Auf dem Hinweg hatte er es oberhalb umgangen.

Die kleinen Fenster eines Gehöfts links auf der Höhe glühten in der untergehenden Sonne wie Feuer. Über den Wiesengrund, durch den der Spitzhörndlbach floß, schwebte bereits ein weißlicher Nebel. Der Bach rauschte leise, und im Grase zirpten die Heuschrecken. St. Vigil lag in dem letzten verblassenden Dämmerschein des Tages, und die Kinderstimmen, die die Stille des Abends so frisch und melodisch zu unterbrechen pflegen, waren bereits verstummt, als Ambros über den Dorfanger nach der Brücke schritt. Der Vigilbach allein sang seine ewige Melodie, in die jeder hineinlegt, was ihn bewegt – der eine Heiteres, der andere Trauriges. Sie paßt zu allen Stimmungen.

Das Gamsmanndl erwartete Ambros bereits. Er saß an einem Ecktisch allein und im Dunkeln. Ein einziges Licht brannte auf dem langen Haupttisch, an dem sich fünf Männer, unter ihnen der Sternenwirt, gegenübersaßen.

»Jetzt, warum hast mich herbestellt?« Mit diesen Worten nahm Ambros neben dem Gamsmanndl Platz.

»Red nit so laut!« flüsterte Sampogna, wobei er seine kurze Pfeife für einen Augenblick aus dem Munde tat »Es gibt einen Spaß.«

»Zum Spaßen bin ich just nit aufgelegt«, entgegnete Arnbros. »Wirst schon aufgelegt sein!« meinte das Gamsmanndl zuversichtlich. Mutschleitner kam an den Tisch. Ambros bestellte sich eine Wurst, Brot und Wein, und während der Wirt seinen Auftrag ausführte, musterte er flüchtig die anderen Gäste. Es waren der Färber, der Bäcker, der Einhofbauer vom Jöchl und ein Fremder, den das Garnsmanndl als den Steinbauern aus Pleiken bezeichnete. Alle hatten eckige, knorrige Gesichter, und wenn das des Bäckers und des Färbers eine entwickeltere Intelligenz als die der beiden anderen zeigten, so lag in den Augen des Einhof- und des Steinbauern ein düsterer Trotz. Sie sprachen, seit Mutschleitner aufgestanden war, kein Wort miteinander, und wenn nicht dann und wann ein Rauchwölkchen aus ihren Pfeifen aufgestiegen wäre, hätte man sie für Wachsfiguren halten können, so unbeweglich saßen sie da. Als sich der Wirt wieder zu ihnen gesetzt hatte, bewegten alle die Köpfe zu ihm hin, und er sprach ganz leise mit ihnen. »Eine wunderliche Gesellschaft!« murmelte Ambros und machte sich über die Speisen her. »Was haben sie nur miteinander vor? Den Bäcker hab ich auch noch nimmer hier zu Gast gesehn. – Jetzt red, was gibt's?«

»Einen Spaß«, wiederholte das Gamsmanndl trocken. »Iß derweiln nur ruhig fort und mach kein Aufhebens. Der Spaß gilt dem Bayer und Franzos.«

Ambros richtete lebhaft den Kopf auf. »Wann du mich zum Narrn halten willst …«, begann er.

Der kleine Gerber ließ ihn jedoch nicht ausreden. »Hör nur zu und sag nix!« flüsterte er. »Im Herrnstübl sitzen noch der Sergeant und der Steuereinnehmer beim Spiel; die brauchen uns just nit zu hörn. Iß ruhig weiter!« Er legte seine Pfeife auf den Tisch und fuhr, näher zu Ambros heranrückend, in leisem Ton fort: »Ja, der Spaß ist auf den Bayer gemünzt. Wir werden wohl unsern Span mit ihm ausmachen können. Ich hab einen Vogel davon pfeifen hörn. – Aber ich red kein Wort weiter, wann du nit still bleibst!« unterbrach er sich. »Was, bist ein Jager und kannst nit ruhig bleiben? Mußt der Gams in die Witterung kommen!«

»Schon gut!« zwang sich Ambros zur Ruhe. »Was war das für ein Vogel, den du hast pfeifen hörn?«

»Neulich in der Nacht, wo der Herr Pfarrer gestorben ist, da gab er Hals«, nahm das Gamsmanndl wieder das Wort. »Du warst schon heimgegangen. Es gab einen Mordslärm, von wegen daß die Totenglock nit geläutet werden sollt. Wär's nach mir gegangen, hätten wir das Pförtle unten im Turm aufgebrochen, wo die Glockensträng herunterhängen; aber der Mutschleitner hat mich davon abgehalten. ›Laß die Totenglock jetzt nur still sein‹, hat er zu mir gesagt, ›sie wird nachher um so heller klingen, wann Tirol aufersteht!‹ Und dann sind wir zusammen fortgegangen, hierher, und haben hier beisammengesessen, mutterseelenallein, bis tief in die Nacht hinein. Kurios war's; hab den Mutschleitner immer nur angeschaut, weil er den Schalk im Nacken hatt, und hab gemeint, der müßt jetzt gleich zum Vorschein kommen. Aber das war gefehlt.«

»Aber von dem, was ihr geschwätzt habt, davon läßt du kein Wörtlein heraus«, brummte Arnbros mit vollem Munde.

Das Gamsmanndl trank erst einen Schluck aus seinem Glas und strich sich den Zwickelbart, bevor er mit einem humorvollen Augenzwinkern fortfuhr: »Der Mutschleitner behält doch recht. Ich sollt dir noch nix sagen, hat er gemeint. Auf dich zählen könnten wir ja doch sowieso, und du wärst zu hitzig, dieweiln die Sach doch wohl noch eine Weil verziehn müßt. Ich hab aber gemeint, daß ich mit dir reden wollt, damit daß du deine Gedanken auf was zu richten hast. Denn schau«, fuhr er noch leiser als zuvor fort und legte seine magere Hand, an der die Sehnen hoch hervortraten, so daß sie einem Hahnenfuß glich, beschwichtigend auf Ambros' Arm. »Du kannst dich nit hineinfinden, daß dir der Klosterbauer den Stuhl vor die Tür gesetzt hat, und läßt alles gehn, wie's gehn mag. Also hab ich gemeint, daß du auf andre Gedanken gebracht werden mußt.«

Ambros wollte aufbrausen, aber es lag etwas so Ungewohntes in dem sonst so festen Blick Sampognas, daß er beschämt den Kopf senkte.

»Gut also«, fuhr Sampogna nach einer Sekunde fort und zog seine Hand mit einem leichten Druck zurück. »So unzufrieden wie wir hier sind die Leut allerorten in ganz Tirol mit der bayrischen Wirtschaft, und darum, hat mir der Mutschleitner vertraut, hat sich ein Bundschuh Bundschuh – Bauernschuh mit langen Binderiemen, Symbol und Name der weitverzweigten Bauernverschwörungen, die sich von 1493 an 20 Jahre hindurch im Oberrheingebiet, vor allem 1502 im Bistum Speyer, gegen die unerträglichen Steuern und gegen die Leibeigenschaft bildeten und Vorläufer des Großen Deutschen Bauernkrieges von 1525 waren, in dem sich auch die Tiroler Bauern unter Führung Michael Geismeiers erhoben. aufgetan wie dazumalen, als der arme Mann auch so hart ist gedrückt worden wie jetzt von den Edelleuten, Schreibern und Pfaffen. Ich hab davon erzähln hörn, als ich noch auf der Wanderschaft gewesen bin. So ein Bundschuh geht jetzt auch wieder durch die ganze Bauernschaft von Tirol und hat sein heimlich Wesen allerwärts. Der Mutschleitner weiß darum, und wann's Zeit ist, wird zur selbigen Stund im ganzen Land der rote Adler der rote Adler – Landeswappen Tirols. aufgeworfen. Dann mögen die Blauen und der Franzos zuschaun, wie sie mit heilen Knochen aus unsern Bergen herauskommen. Das wird ein Jagen werden! In der Johannisnacht gieß ich Freikugeln dazu. Jetzt, was sagst zu dem Spaß?«

»Und das ist gewißlich wahr?« fragte Ambros in größter Spannung.

»Freilich«, bestätigte das Gamsmanndl. »Die dort am andern Tisch reden auch davon.«

»Herr Gott!« rief Ambros mit wogender Brust und blitzenden Augen. »Und wann – wann geht's los?«

»Pst!« machte Sampogna. »Im Herrnstübl haben sie aufgehört zu spielen.«

Das Gamsmanndl griff nach seiner Pfeife und setzte sie gemächlich in Brand, während Ambros in seiner Aufregung den Hut auf seinem Kopf hin und her schob.

In dem Herrenstübl wurden Stühle gerückt, und Mutschleitner ging auf den Flur. Gleich darauf hörte man ihn den beiden Gästen eine gute Nacht wünschen. Dann trat er in das Herrenstübl, hieß Moideli, die die gebrauchten Gläser und Flaschen wegtrug, zu Bett gehen, löschte die über dem Tisch hängende Öllampe und kam wieder in die Schenkstube, die Verbindungstür offenlassend.

»He, Wirt!« rief ihn Ambros an, der seine Aufregung nicht mehr zu beherrschen vermochte. »Jetzt zahl ich ein Flascherl, aber du mußt sie ankreiden, denn Geld hab ich keins mehr. Der Bayer soll hin sein! Darauf sollt ihr alle mit mir trinken!«

An dem andern Tisch drehten sich die Köpfe nach ihm hin, und es ließ sich jenes kurze, halb unterdrückte Lachen vernehmen, wie es der Erregung eigen ist, in der leicht jedes Wort zündet. Mutschleitner hatte mit den Leuten in der Tat über denselben Gegenstand gesprochen wie das Gamsmanndl mit Ambros.

»Eil mit Weil!« sagte der Wirt. »Es wird wohl noch viel Wasser in die Gader fließen, eh dein frommer Wunsch an den Bayern in Erfüllung geht. Ihr sollt nit verzagen, wann's auch just gar so wüst bei uns ausschaut; das ist meine Meinung gewesen, weshalb ich hier zu den Mannen gered't hab, und sie solln ihren Bekannten auch wieder Herz machen. Unser Herrgott verlaßt keinen ehrlichen Tiroler nit. Wir schlüpfen wohl alle lieber heut als morgen aus dem Schuh, der uns drückt. Aber wir müssen noch warten; denn wann dem Bayer die Prügelsupp mit Bohnen gut bekommen soll, dann muß sie auch ordentlich gar gekocht sein. Die Flaschen zahl ich gern selbst, und auch eine zweit. Setzt euch nur her zu den andern, du und das Gamsmanndl! Ich werd euch nachher sagen, worauf wir trinken wolln.«

Ambros und Sampogna leisteten seiner Aufforderung Folge. Er selbst füllte erst aus dem Tönnchen, das auf dem Schragen in der Stube lag, zwei Flaschen mit rotem Wein, bevor auch er seinen früheren Platz wieder einnahm.

»Jetzt wißt ihr, was im Werk ist«, ergriff er wieder das Wort. »Wollt ihr dabeisein?«

»Wie kannst noch fragen?« rief Ambros hitzig. Die anderen zögerten wohl eine halbe Sekunde mit ihrer Antwort. Sie bedachten sich nicht, aber sie mußten das Ja tief herausholen aus ihrer Brust, und dann reichten sie alle Mutschleitner die Hand.

»Ein Mann, ein Wort!« nickte Mutschleitner. »Ihr werdet zu keinem von der Sach reden, dem ihr nit traun könnt wie euch selbst, und steht mir bei, daß es in unserm Tal ruhig bleibt, bis ich euch sag, daß es Zeit ist. Sorgt derweiln in euern Häusern für einen Ort, wo man Pulver und Gewehre sicher verstecken kann, und schafft für eure eignen Stutzen so viel Pulver und Blei, als ihr könnt, ohne Verdacht zu erregen. Die Instrument müssen gut gestimmt sein, daß es nachher eine reine Musik gibt, wann das Konzert losgeht. Daß der Kaiser Franzl mit seinen Österreichern zur rechten Zeit einfalln wird, darauf könnt ihr euch verlassen.«

Ein Murmeln und eine Bewegung ging um den Tisch.

»Aber's muß einer dabeisein, der den Ton angibt und den Takt schlägt!« äußerte der Bäcker mit einem Räuspern.

»Ja, einen Kopf muß die Geschicht haben«, murmelte auch der Färber, und der Jöchl- und der Steinbauer nickten dazu. Nur das Gamsmanndl rauchte seine Pfeife mit einer Miene, als kümmere ihn die ganze Verhandlung nicht

»Freilich, einen Kopf und ein Herz muß unsre Sach haben«, stimmte Mutschleitner zu, der unterdessen sämtliche Gläser gefüllt hatte. »Ihr kennt den Wirt vom Sand im Passeier; was meint ihr zu dem Kopf?« Er schaute sich rings am Tische um.

Die Augen der anderen bohrten sich förmlich in ihn hinein. Das Gamsmanndl blinzelte Ambros zu und sagte: »Der beste und tapferste Schütz im ganzen Land!«

»Ja, der Sandwirt ist echt in der Farb!« bestätigte der Blaufärber.

»Also, worauf wir trinken wolln«, erhob Mutschleitner sein Glas. »Der bärtige Andrä soll leben!«

Ein unwiderstehlicher Zug riß alle von ihren Sitzen auf. Mit glänzenden Augen stießen sie die Gläser zusammen und leerten sie.

»Unsere Sach ist gut und gerecht!« rief der Einhofbauer vom Jöchl.

»Wär's nit so – der Hofer würd die Hand nit dran legen«, bemerkte Mutschleitner.

»Wer von uns tät's, wann wir uns der Not noch anders zu erwehrn wüßten?« fragte der Steinbauer mit düsterem Blick und drückte seine Faust gegen die Tischplatte.

»Ob wir den Oberförster und den Landrichter nit in unsern Bund ziehn sollten?« warf der Färber eine wichtige Frage auf. »Gut österreichisch sind sie!«

»Laßt die Herrn außen, sag ich!« rief der Steinbauer mit gerunzelter Stirn. »Die Herrn und wir Bauern – das gibt ein ungleich Gespann. Sie sind zu klug für uns. Meint ihr, sie werden sich dem fügen, was so schlichte Leut, wie der Hofer ist, verordnen? Die Städtischen wissen ja immer alles besser wie wir, und nun gar die Schreiber und Advokaten!«

»Der Steinbauer hat recht!« pflichtete diesem der Jöchlbauer nachdrücklich bei, »Ich sag nix gegen den Herrn Zengerl und den Herrn Planta – es sind rechtschaffne Leut –, aber was wir unter uns angefangen haben, das wolln wir auch unter uns zu End führn.«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Mutschleitner bedächtig. »Wer unter den Städtischen, den Studierten und Edelleuten ein Herz für Tirol hat, der wird sich uns schon anschließen, wann wir unsre Büchsen von der Wand nehmen.«

»Wann's nur erst losging!« rief Ambros in sprühender Ungeduld.

»Auch der Tag wird kommen«, tröstete Mutschleitner und verteilte den Rest des Weins. »Für heut wolln wir auseinandergehn. Den letzten Tropfen Wein, den letzten Tropfen Blut für Tirol!«

Sie tranken den Toast und schieden mit einem kräftigen Händedruck voneinander. Mutschleitner verschloß hinter ihnen die Haustür.

Ambros fühlte die Erde nicht unter seinen Füßen. War denn das noch die Kirche von St. Vigil, dort die alten Berge und darüber im Funkeln und Flimmern, so weit sein Auge reichte, die alten Sterne? Das fragte er sich. Kein Gedanke daran, daß daheim zwei Augen in Kummer und Gram über ihn wachten und weinten!

Auch Hannes wachte in dieser Nacht noch lange in der einsamen Studierstuhe seines Widdums, Widdum (Witthum) – Pfarrgut, kirchl. Amtsbereich die mannigfaltigen Eindrücke des Tages nachfühlend und überdenkend. Er stand an einem Wendepunkt seines Lebens. Das Vertrauen, das andere in ihn setzten, überwand sein Mißtrauen gegen sich selbst, beflügelte seine Fähigkeiten und seinen Mut Der Zuruf der Leute auf dem Kirchhof von St. Vigil, daß er der Pfarrer werden solle, wurde für ihn zur Stimme Gottes. Sollte er gegen ihren Ruf taub bleiben, weil ihm die Sanktion der weltlichen Macht fehlte? Taub bleiben hieße, sie an Glauben und Vaterland zugleich verzweifeln lassen; denn beides war für sie eins.


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