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4. Kapitel

Die Sonne war hinter der Pfeilerspitze verschwunden, verblaßt waren die Köpfe und Zacken des zerklüfteten Hochgebirges, und mit grauen Füßen kam die Nacht leise durch das Tal geschritten. In ihren dunklen Schleiern stand ein Bursche an dem Gartenzaun, auf den er sich mit beiden Armen gelehnt hatte. Rosen, Nelken und Geißblatt dufteten, und er mußte ein großer Blumenfreund sein, daß ihn der Wohlgeruch so lange festhielt Denn er war und blieb allein. Nach einer Weile öffnete er das Staket und setzte sich auf das Bänklein unter dem Geißblatt, wo Stasi gestern gesessen hatte.

Stasi war überzeugt, daß niemand in dem Gärtchen auf sie wartete. Sie konnte doch nicht wissen, daß der Bursche der Ansicht war, ein Nein auf den Lippen der Mädchen bedeute ein Ja in ihrem Herzen. Den ganzen Tag über hatte sie sich gesagt, daß er nicht kommen würde. Warum sollte er denn auch kommen? Er konnte doch nicht jeden Abend eine Rose von ihr haben wollen! Als es dann Abend geworden und sie in der Dunkelheit am Fenster saß – denn Licht wurde im Sommer nicht angezündet – unterwühlte die Neugierde ihre Überzeugung. Aber sie wäre jetzt um alle Schätze der Welt nicht in den Garten gegangen; sie hätte ja vor Scham in die Erde sinken müssen, wenn sie ihn getroffen hätte. Fühlte sie doch, wie sie in der Dunkelheit rot wurde, als jetzt etwas Dunkles an dem Fensterchen vorüberglitt. Ein Gespenst war es nicht, denn sie hörte deutlich den Weg knirschen, und als nichts mehr zu hören war, hätte sie vor Unmut fast geweint, daß ihre Bitten ihm so gar nichts galten.

Nein, sie galten Ambros nichts, und er war absichtlich an dem Hause vorübergegangen, um es ihr zu zeigen. Er fand sich auch am folgenden Abend wieder an dem Gartenzaun ein; aber das Glück war ihm nicht holder, und ebenso ungünstig schienen ihm die Sterne des nächsten. Es war ihm noch nie geschehen, daß er einem Mädchen zu Gefallen umsonst etwas unternommen hätte, und er wurde zornig auf Stasi, daß sie ihn zu narren wagte, zorniger aber noch auf sich selbst, daß er sich von ihr narren ließ. Wie würde die schöne Afra triumphieren, wenn sie wüßte, daß er sich Abend für Abend von dem jungen Ding äffen ließ, er, der Ambros Falkner! Es überlief ihn siedend heiß. Aber jetzt sollte die Sache ein Ende haben, gelobte er sich zähneknirschend, als er am Freitag wieder vergebens gewartet hatte, und langsam an dem Häuschen der Witwe vorübergehend, sang er laut:

»Wann kommst du aber wieder,
Herzallerliebster mein,
Und brichst die roten Rosen
Und trinkst den kühlen Wein?
Wann's schneiet rote Rosen,
Wann's regnet kühlen Wein;
So lang sollst du noch harren,
Herzallerliebste mein.«

»Wer mag denn das sein?« fragte Frau Larseit in der dunklen Stube; sie erhielt jedoch keine Antwort. David, der im Halbschlaf auf der Ofenbank hin und her schwankte, wußte es nicht, und Stasi, die den Sänger gleich erriet, ließ trübselig den hübschen Kopf sinken. So hatte er also alle Abende am Gartenzaun auf sie gewartet, und nun ging er auf Nimmerwiedersehen! Wie war ihr das Herz schwer! Warum war sie denn auch an all den Tagen nicht ein einziges Mal in das Gärtchen gegangen, nachdem sie das bei der Abendmahlzeit gebrauchte Geschirr gesäubert hatte? Sie hatte es doch sonst getan! Sie begriff es nicht. Und jetzt würde er nimmer wiederkommen! »Es schneit ja nimmer rote Rosen und regnet nimmer kühlen Wein, außer auf das Grab!« seufzte Stasi auf dem Bänklein unter dem Geißblatt

Der Abend war außerordentlich schwül, und über der Kornspitze, die ihre Fichtenkrone im Süden neben dem Jöchl zum Himmel erhob, wetterleuchtete es. Stasi hatte es in der stickigen Stubenluft nicht aushalten können, und sie war ja auch sicher, daß Ambros nicht kommen würde. Sie war dessen ganz sicher, aber trotzdem lauschte sie auf das leiseste Geräusch, ob es nicht etwa ein Fußtritt wäre. Es war aber immer nichts; er kam nicht. Was er wohl treiben mochte? Im Tal, jenseits des Baches, sah sie ein Licht blinken. Es kam aus dem »Stern«. Da fiel ihr ein, daß Sonnabend war, und sonnabends wurde im »Stern« gesungen. Mutschleitner, der Wirt, der aus dem Pustertal stammte, war in jüngeren Jahren als Mitglied einer Tiroler Sängergesellschaft durch manches Herrn Land gezogen. Er hatte sogar die Ehre gehabt, vor dem »guten Kaiser Franz« zu singen, worauf er immer noch ein wenig stolz war. Schlachtmusik und Kanonendonner hatten aber die frischen Stimmen der Sangesbrüder und Zitherspieler übertönt. Vor dem Waffengetöse mußten die Musen verstummen, und so hatte sich denn die Gesellschaft zerstreut. Mutschleitner war heimgekehrt, hatte ein Weib genommen und mit seinen Ersparnissen den »Stern« in St. Vigil erworben.

Der Liebe zur holden Frau Musika hatte er jedoch nicht entsagt, sondern sie vielmehr fleißig weiter gepflegt und sich die besten Stimmen im Orte zusammengesucht, mit denen er nun sonnabends im »Stern« übte. Noten kannte keiner von ihnen, auch Mutschleitner nicht; das tat aber nichts. Der Wirt sang oder spielte auf der Zither jedem seine Stimme so lange vor, bis er sie auswendig wußte.

Ambros gehörte auch zu den Sängern. Er hatte einen schönen Bariton, und der klang Stasi seit gestern abend fortwährend in den

Ohren:

»Wann kommst du aber wieder,
Herzallerliebster mein?«

Ach, er kam ja nimmer, nimmer wieder, wenn es ihm ihr Herz auch voll Bangen und Verlangen nachsang! Und es war daher ein recht trauriges Gesichtchen, das ihr am Sonntag morgen aus dem kleinen Spiegel entgegenblickte, vor dem sie ihr schwarzbraunes Haar kämmte und flocht. Sie hatte nur wenig geschlafen; denn die Mutter hatte eine böse Nacht gehabt, und darauf wollte Stasi auch zunächst die Ursache ihrer Niedergeschlagenheit schieben. Heute war zwischen Stasi und David verabredet worden, sich in die Krankenwache zu teilen. Stasi sollte nach der Messe den Ohm ablösen, der Hannes gern predigen hören wollte. Sie wäre am liebsten ganz zu Hause geblieben; aber die Mutter duldete es nicht und trieb zur Eile.

Das zweite Geläut verklang bereits, als sie aus dem Häuschen trat. Es war zu spät, um im Garten noch schnell ein Sträußchen für ihr Gürtelband zu pflücken, und sie eilte die Hecke entlang, an deren Ende ein Fußsteig begann, der im Zickzack durch ein steiles Kornfeld abwärtsführte und hinter den letzten Häusern von St. Vigil den Talboden erreichte.

Die Leute waren schon alle in der Kirche, als Stasi auf dem Friedhof anlangte. Hastig tauchte sie die Fingerspitzen in das Weihwasser, dessen Becken in dem Portal angebracht war; aber ein jähes Erschrecken ließ sie vergessen, das Kreuz zu schlagen. Denn neben dem Becken stand Ambros und blickte sie finster an. Wie betäubt gelangte sie in die Kirche, wo gerade die Messe begann.

Stasi wagte nicht ein einziges Mal die Augen aufzuschlagen, aus Furcht, Ambros' finsteren Blicken zu begegnen. Da flüsterte ihre Nachbarin ihr zu: »Schau, der wilde Brosi ist auch mal wieder in der Kirch! Er steht uns just gegenüber.« Stasi hob ein wenig die Lider, senkte sie aber schnell wieder, denn ihr Blick war dem seinen begegnet. War es Täuschung, daß sein Gesicht jetzt gar nicht so finster war wie bei dem Zusammentreffen im Portal? Sie mußte sich davon überzeugen! Wieder begegnete sie seinem Auge, und sie wurde rot. Aber finster waren seine Mienen nicht; seine Augen leuchteten vielmehr wie – nun, wie damals, als sie ihm die Rose geschenkt. Erschrocken heftete sie die Augen auf ihr Gebetbüchlein. Allein, die Buchstaben und Worte flossen ineinander. Unbewußt hob sie die Lider, und ein langer Blick traf Ambros.

Aber ihre Augen waren nicht die einzigen, die auf ihm ruhten. Auch die schöne Afra hatte ihn herausgefunden; schwer war es nicht, denn seine schlanke Gestalt überragte die Umstehenden. Sie preßte die weichen, vollen Lippen fest und fester zusammen. Was fand er nur an Stasi, daß sie, Afra, plötzlich so ganz von ihm vergessen worden war? Daß er sie auch jetzt nicht bemerkte! Sie hatte darüber die ganze Woche gegrübelt und musterte Stasi jetzt mit jenem kritischen Scharfblick, den nur Frauen füreinander haben. Nun, im ganzen war Stasi ja leidlich hübsch; wenn man aber jeden Teil des Gesichts für sich betrachtete, so fand sich doch manches daran auszusetzen, und das eine hätte anders sein müssen, um zu dem anderen zu stimmen. Nein, es war ein ganz unregelmäßiges Gesicht, und nur auf den ersten flüchtigen Blick konnte man sie allenfalls für gerade nicht häßlich gelten lassen. Sie war ein ganz unbedeutendes Ding, und dennoch gab Ambros ihm den Vorzug vor ihr. Der Geschmack der Männer ist unbegreiflich! Nicht ein einziges Mal war er, der seinen Freund Jerg sonst so oft besucht hatte, während der letzten Woche in die Mühle gekommen, was sogar ihrem Mann aufgefallen war – denn sie war in den letzten Tagen auffallend schlechter Laune gewesen.

Der alte Arigaya hatte die schöne Afra eigentlich aus Großmut geheiratet. Sie war die Tochter eines Freundes, der als Müller zu Pikolein im Gadertal gesessen und bei einer Überflutung der Gader derartig zu Schaden gekommen war, daß er sein Gewerbe hatte aufgeben müssen und nach langem Siechtum in den dürftigsten Verhältnissen gestorben war. Afra war unter den vielen Kindern, die er hinterlassen, die zweitälteste. Arigaya hatte sich der Familie nach besten Kräften angenommen und auch die beiden Söhne ein Handwerk lernen lassen. Der ältere war Zimmermann, der andere Maurer geworden, und beide verdienten jetzt in der Fremde ihr Brot. Afra war stets unter den Kindern seines Freundes Arigayas Liebling gewesen. Sie war fleißig, wirtschaftlich und trotz der Armut, in der sie dann gelebt, immer heiteren Sinnes gewesen, und so hatte er sieh denn nach dem Tode seiner Frau entschlossen, sie zu heiraten. Es war Afra unter den obwaltenden Verhältnissen nicht schwer geworden, dem guten, alten Mann ihre Hand zu reichen, und sie hatte auch bisher keine Ursache gefunden, es zu bereuen. Jerg freilich hatte dieser zweiten Heirat seines Vaters scheel zugesehen, und Afra wußte sehr gut, daß er ihr und den Ihrigen nichts Gutes gönnte. Nur diese zweite Heirat war schuld gewesen, daß sich der Alte nach dem Tode seiner ersten Frau nicht zur Ruhe gesetzt und dem Sohne die Mühle abgetreten hatte. Jerg vergab Afra die Vereitelung seiner Hoffnungen nicht und rechnete ihr jeden Kreuzer, den sie für sich ausgab, als einen Raub an seinem Vermögen an.

Vielleicht hätte sie, oder vielmehr ihr Mann, sparsamer sein können. Aber er sah es gern, wenn sich seine junge, hübsche Frau, die übrigens seinem Hauswesen sehr tüchtig vorstand, trefflich putzte, und man konnte es ihr schwerlich verargen, daß ihr der plötzliche Wohlstand etwas zu Kopfe gestiegen war. Das fröhliche Leben, das mit ihr in die Mühle eingezogen war, hatte den Alten regelrecht verjüngt, und war er stolz auf den Beifall, den sie bei den Leuten fand, so war sie keineswegs gleichgültig gegen ihn. Sie war sich ihrer Reize wohl bewußt und freute sich des Eindrucks, den sie machte, durchaus. In Pikolein hatte sich niemand darum gekümmert, ob die arme Dirne hübsch oder häßlich war; jetzt aber hieß sie die schöne Müllerin, und jung und alt warb um ihre Gunst. Auch Ambros. Nichts schmeichelte ihrer Eitelkeit so sehr, als daß auch er, der reichste, schönste und stolzeste Bursche im ganzen Tal, ihr den Hof machte. Er tat es aber in einer Weise, die sie fortwährend reizte. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie ihn öffentlich in Gemeinschaft mit ihren anderen Verehrern ihren Triumphwagen hätte ziehen sehen! Dazu war er jedoch nicht zu bewegen, und fast schien es, als verlange er, daß Afra ihm schöntue. Wenn andere Burschen um sie herum waren, stand er beiseite, kalt, fast verächtlich. Die Frucht erschien ihm säuerlich und nicht des Verlangens wert, wenn er sah, daß sie von anderen begehrt wurde, und sie hatte heimlich schon manche Träne über die ungezogene Rücksichtslosigkeit geweint, mit der er ihr das Wohlgefallen an den Huldigungen der Burschen vorzuwerfen pflegte. Welches Recht hatte er dazu? Keines, wenn ihr Herz ihm keins gab! Ihr Herz aber wollte ihm ebensowenig wie den anderen ein Recht einräumen. Sie spielte mit dem Feuer, und wenn es von seiner Seite mitunter heftig aufloderte, erschrak sie wohl und wehrte ihn mit stolzer Miene ab; dennoch spielte sie weiter. Wie Lupattino, den grimmigen Wolfshund auf der Mühle, der nur ihr folgte wie ein Lamm, so wollte sie auch den wilden Ambros zähmen, und scherzhafterweise nannte sie ihn auch zuweilen das Wölfchen.

Und jetzt hatte sich Lupattino plötzlich von ihr abgewandt! Ihre tödlich verletzte Eitelkeit konnte es nicht glauben und ertragen. Mit welchen Künsten hatte ihn Stasi an sich gelockt? Das Geschöpf sah so unschuldig aus, als ob es kein Wässerchen trüben könnte. Aber das war nur Verstellung und Scheinheiligkeit! Ihre Blicke, die sie, wenn sie sich unbeachtet glaubte, auf Ambros schoß, verrieten es. Oh, sie verstand das Augenspiel! Aber Afra wollte ihre Künste schon zuschanden machen! Ambros mußte blind sein, wenn er sie und Stasi nebeneinander sah und dann auch nur eine Sekunde noch an das unbedeutende Ding dachte! Nicht nur, um Ambros hierzu Gelegenheit zu bieten, sondern auch, um Stasi ihre Verachtung für ihre Koketterie fühlen zu lassen, suchte sie in die Nähe des Mädchens zu gelangen, als der größte Teil der Andächtigen nach der Messe die Kirche verließ. Diese Absicht gelang ihr auch; nur kam es nicht zu dem gewünschten Vergleich, denn Ambros hatte schon zuvor die Kirche verlassen. Stasi aber, die der Müllerin einen freundlichen Gruß schuldig zu sein glaubte, weil sie von ihr am vergangenen Sonntag im Wagen eine Strecke mitgenommen worden war, erhielt aus Afras schönen Augen einen so verächtlichen Blick, daß sie ganz betroffen wurde. Gern hätte sie ihrer Nebenbuhlerin den Vortritt gegönnt, allein, das Gedränge hinderte sie daran, und so ging sie demütig und verlegen neben der schönen Afra her bis zum Portal, wo die sich stauende Menschenflut beide voneinander trennte.

Stolz trat Afra aus dem Portal. Die silbernen Kettchen an ihrem grünseidenen Mieder und ihre goldenen Ohrgehänge blinkten in der Sonne, und ihre runden Arme leuchteten unter den breiten, schneeweißen Spitzen aus Taufers. Taufers – gem., das Taufertal in Südtirol Von ihren Händen, die das Gebetbüchlein umfaßt hielten, hing ein Rosenkranz von roten Korallen mit einem goldenen Kreuzlein herab …

Da stand Ambros! Die Blicke der beiden trafen sich. Er grüßte gleichgültig, und sie tat, als ob sie es nicht bemerke. Als Stasi aus der Kirche kam, gesellte er sich ohne weiteres zu ihr und begleitete sie, weil sie nicht zur Predigt bleiben konnte.

Viele Frauen benutzten ebenfalls die Pause, um daheim schnell einen Blick nach Kind und Küche zu tun oder dem Rentmeister die fälligen Steuern ins Haus zu tragen, während die Männer sich zum größten Teil außerhalb des Kirchhofs zusammenfanden, an dessen Mauer sich eine Bank entlangzog.

Stasi war es in ihrer Betroffenheit über Afras feindliche Blicke gar nicht aufgefallen, daß Ambros sie angeredet hatte, und merkte auch nicht, daß sie ihm, statt hinter der Kirche links durch das Dorf zu gehen, zwischen den Häusern an der Oberförsterei vorbei geradeaus in den Bannwald folgte. Sie mußte sich schließlich gegen seine Vorwürfe verteidigen, daß sie ihn alle Abende umsonst hatte warten lassen. Sie habe ihm ja kein Versprechen gegeben, meinte sie, im Gegenteil! Aber sie gab zu, daß nichts langweiliger sei als vergebliches Warten, und der Eifer rötete ihre Wangen. Wirklich, es tat ihr leid, daß er den weiten Weg immer vergebens gemacht hatte, und sie hob die braunen Augensterne treuherzig zu ihm auf. Die Bruscia breitete ihre Tannenzweige über ihnen aus, und Ambros schien auf dem Grunde ihres Herzens lesen zu wollen. Er legte seinen Arm um ihre Gestalt, und sie standen still und schauten einander in die Augen, ganz, ganz tief, und dann fühlte Stasi die bärtigen Lippen des Burschen auf ihrem Mund. Darüber erschrak sie, aber sie konnte unter seinem Kuß nicht aufschreien, nur ein erstickter, ersterbender Laut wurde hörbar. Die Bruscia breitete ihre Tannenzweige diskret über die beiden.

»Ach, Ambros!« klagte Stasi mit gesenkten Lidern. Er aber drehte lächelnd seinen Schnurrbart. Tränen begannen unter ihren Wimpern bervorzuperlen.

»Warum weinst denn?« fragte er zärtlich. »Ich hab dich ja von Herzen lieb!«

Verschämt schaute sie zu ihm auf und drückte dann den Kopf gegen seine Brust. Er hielt sie still umfaßt, und über ihnen in der grünen Walddämmerung zwitscherten und lockten die Vögel.

»Komm!« flüsterte Stasi nach einer Weile, und Hand in Hand gingen sie langsam weiter. Ein Lächeln schimmerte aus den Augen des Mädchens.

Sie kamen an die Mur, die bei ihrem Niedergange vom Piz-Peres im Jahre 1677 St. Vigil zerstört hatte. Die breiartigen Massen, die sich in breitem Strom quer durch das Tal bis zu dem am südlichen Rande der Mur rauschenden Vigilbach geschoben hatten, waren längst zu Stein erhärtet, und auf ihrer verwitterten Oberfläche, in deren Mitte ein Bergwasser rieselte, hatten sich zarte Tannenstämmchen anzusiedeln begonnen. Die Natur duldet nichts Totes, und Ambros und Stasi lebten wie sie, voll und ganz dem Augenblick hingegeben. Sie sprachen nichts, von Zeit zu Zeit aber blieben sie am Rande der Mur, die sie aufwärts verfolgten, stehen, sahen sich an und küßten sich. Es gab viele solcher Stationen, bis die Mur unter ihnen lag. Ein schmaler Weg wand sich links zu gewaltigen Steinblöcken hinauf, die unweit von Stasis Heimstätte auf abschüssiger Halde standen. Braune, hochbeinige Ziegen grasten bei den Steinen, und eine von ihnen hatte den Scheitel des größten Felsblocks erklommen und schüttelte bedächtig ihren langen Patriarchenbart – sicherlich über das Schauspiel unter ihr: Stasi hatte sich auf die Fußspitzen erhoben und ihre beiden Arme um den Hals ihres Begleiters geschlungen, und unter seinen Küssen den Kopf zurückbeugend, schloß sie die Augen. Dann schwang Ambros sie, als wäre sie nur eine Feder, hoch in die Luft, indem er sich rundum drehte; dann preßte er sie mit aller Kraft wieder an seine Brust, und sie lächelte glückselig wie ein Kind. Plötzlich riß sie sich los und lief dem Hause zu. »Ich wart auf dich!« rief Ambros ihr nach. Aber sie schüttelte nur verneinend den Kopf, ohne sich umzusehen. Wie zierlich sie an der Hecke dahinlief! Der schwarze, faltige Rock und die blaue Schürze spielten wie Wellen um ihre rotbestrümpften Füße. In der Nähe des Hauses mäßigte sie ihren Schritt, und von der Türschwelle sah sie noch einmal zu Ambros zurück, wobei sie beide Hände auf ihr Herz drückte. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden ...

Afra – und nicht sie allein – hatte wohl bemerkt, wie Ambros Stasi angeredet und mit ihr den Kirchhof verlassen hatte. Sie löste sich aus dem Kreise, den ihre Freunde und Verehrer um sie gebildet hatten, und schritt, sich in den Hüften wiegend, auf ihren Mann und den Klosterbauern zu, die im Gespräch beisammenstanden. Sie mußte ein wenig Unheil stiften. Ungestraft sollte Ambros ihre Eitelkeit nicht verletzt haben, und es würde sich bestimmt eine günstige Gelegenheit finden, gebührend Rache an ihm zu nehmen. Sie lächelte, und ihr Mann, eine hagere, von den Jahren bereits gebeugte Gestalt, blickte ihr, auf seinen Krückstock gestützt, wohlgefällig entgegen.

»Ist's denn wahr, Klosterbauer, daß der Herr Hannes heut predigen wird?« fragte sie, und auf dessen Bejahung fügte sie hinzu: »Da müßt Ihr heut eine rechte Freud haben!«

»Hat mich auch Geld genug gekostet«, versetzte jener, sich breitbeinig hinstellend.

»Darum ist also Euer Ambros heut wieder mal zur Kirch gekommen?« rief Afra.

»Hast wohl gemeint, um deinetwillen?« scherzte ihr Mann, und der Klosterbauer lachte breit

»Aber Mann!« warf Afra den Kopf auf.

»Nun, nun«, beschwichtigte er, »hättst ihn selber fragen und Frieden mit ihm schließen solln. Denn daß ihr beiden euch wieder mal gezankt habt, ist doch klar.«

Afra zuckte die runden Schultern und sagte:

»Ich hab bloß gefragt, weil ich geglaubt hab, daß er wegen der Stasi Larseit gekommen wär!«

Der Klosterbauer zog die Brauen in die Höhe. Er konnte den Namen Larseit noch immer nicht nennen hören, ohne daß es ihm einen Stich gab.

»Dacht ich mir doch gleich, wie ich dich so daherkommen sah, daß dich der Schelm im Nacken hat!« rief der Müller. »Jetzt zieh schon die Schleus auf!«

»Oh, es ist gar nix Spaßhaftes dabei!« entgegnete sie. »Ich hab nur nit gewußt, daß der Ambros und die Larseit miteinander bekannt sind. Wie sie aus der Kirch gekommen ist, da hat sie der Ambros gleich angesprochen, und nachher sind sie zusammen fortgegangen.«

»Ist doch ein Teufelsbub!« sagte der Müller kopfschüttelnd. Der Klosterbauer aber starrte unbewegt ins Blaue.

»Und ein hübsches Paar ist's«, schielte Afra nach ihm. »Das muß man lassen. Schad, daß die Stasi so arm ist.«

»Unsinn!« rief der Klosterbauer grob und nahm ohne weitere Rücksicht auf die schöne Afra das Gespräch mit ihrem Mann wieder auf.

Afra strich lächelnd an ihrer Schürze herunter und ging.

Von den männlichen Kirchenbesuchern hatte sich ein großer Teil auf dem Anger vor dem Kirchhof zusammengestellt, einige saßen auch auf der langen Bank an der Mauer. Auf der äußersten Kante der

Bank hockte, sein Pfeifchen rauchend, der Löffel-Franz, so genannt nach den geschnitzten Löffeln, die einen Teil seiner Waren bildeten, mit denen er in den Bergen Handel trieb. Außer den Löffeln führte er Rechen, Schaufeln, Dengelstöcke, Schwefelspäne, Salzgefäße und dergleichen. Seine Waren, die er während des Winters selbst angefertigt, lagen neben ihm auf dem Boden. Einige Kauflustige nahmen sie in Augenschein, der Löffel-Franz achtete ihrer jedoch nicht, denn das eigentliche Geschäft begann erst nach dem Gottesdienst. Er betrachtete die jungen Männer, die er lachen und scherzen hörte, und sagte mißbilligend:

»Schau mir einer die Buben an! Haben sie nit die Hüt mit Blumen besteckt, als ob es Hochzeit gäb? Ist denn kein Bayer im Land? Das wird lustig werden, wann mal vom Spitzhörndl dort das Kreitfeuer Kreitfeuer – Kreidefeuer; Signalfeuer, das zum Zeichen eines feindlichen Einfalles auf den Höhen angezündet wurde. aufbrennt!«

»Was gibt's denn?« fragte man und trat näher. Das Lachen hörte auf. Der Löffel-Franz spuckte erst aus, bevor er antwortete. »Ich mein nur so«, grollte er. »Den roten Adler haben sie an die Kette gelegt, und ihr seid lustig.«

»Sei still!« warnte einer und deutete mit den Augen über die niedrige Kirchhofsmauer. Dort standen Lisei und ihr Verlobter im Gespräch, und Wolf sah plötzlich alle Augen jenseits der Mauer auf sich gerichtet, und zwar mit einem Ausdruck, der ihm die Zornröte ins Antlitz trieb. Mit gutem Gewissen hielt er den Blicken stand, und als er sich daraufhin mit Lisei entfernte, sagte er bitter: »Jetzt hast dich selbst überzeugen können, wie sie gegen mich gesinnt sind.«

Der Löffel-Franz aber fragte: »Was leidet ihr die Horcher unter euch, wann ihr sie kennt?«

»Freilich, was leiden wir, daß uns die Mücken stechen?« lachte Jerg, der sich auch unter den Zuhörern befand. Er war der Warner gewesen.

Gleich darauf saß der Löffel-Franz wieder allein auf der Bank bei seinen Waren. In der Kirche hatte die Predigt begonnen.

Hannes stand auf der Kanzel, und als er von der erhöhten Stelle aus auf die zahllosen Köpfe schaute, die er alle kannte, als er seinen Vater, gleich den übrigen, zu seinen Füßen sitzen sah, mochte er wohl einigen Stolz empfinden und seine Seele den Druck abwerfen, der auf ihr gelastet hatte, soweit er zurückzudenken vermochte.

Der Klosterbauer saß mit emporgezogenen Augenbrauen steif da, als ob es sein Amt wäre, jedes Wort von Hannes auf der Waage des unbestechlichen Richters zu prüfen. Die Glückwünsche seiner Freunde nach beendigtem Gottesdienst nahm er mit einer Miene auf, als verstehe es sich ganz von selbst, daß ein Falkner gut predigen könne. Er nahm die Ehre des Erfolges auf sein Haupt; dem armen Hannes kam der neue Schößling, den des Vaters Hochmut trieb, nicht zugute.

Afra sah sich während der Predigt immer nach Ambros um. Aber er fehlte, und Stasi auch. So war es denn unzweifelhaft, daß er sich nur um des Mädchens willen vorher in der Kirche eingefunden hatte, und in dem Herzen der schönen Frau gärte es von Gefühlen, die mit christlicher Liebe nichts zu tun hatten. Ihre Eitelkeit wetzte das Messer für Ambros, der zu dieser Zeit in dem Lärchenwald über dem Gehöft der Witwe Larseit lang ausgestreckt auf dem Rücken lag. Er hatte die Hände unter dem Kopf gefaltet und schaute durch das feingefiederte Laub in den Himmel. Er dachte an nichts und träumte auch nicht. Ihn, der sonst immer etwas tun, der immer in Bewegung sein mußte und ein ewiges Getriebensein in sich verspürte, erfüllte zum erstenmal in seinem Leben eine wunschlose, selige Ruhe. Brütende Stille war um ihn.

Erst als die Glocke von St. Vigil mit leisem Summen zu ihm herauftönte, erhob er sich und trat unter die Bäume am Waldrand. In der Tiefe strömten die Menschen aus der Kirche, standen noch eine Weile in Gruppen beieinander und zerstreuten sich dann heimgehend auf Wegen und Stegen, zwischen Feldern, Wiesen und Hecken. Er sah den Sägemüller mit seiner Frau der Brücke zuschreiten, nachdem sie sich von seinem Vater und Lisei verabschiedet hatten. Aber der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt. Er gewahrte, daß Jerg seine Schwester begleitete, während der Klosterbauer mit stattlicher Würde voranging; und er sah Herrn Moltenbecher mit seinem Bruder, den jener untergefaßt hatte, über den Anger nach dem Pfarrhaus gehen. Hannes sollte heute bei seinem ehemaligen Lehrer speisen, und Ambros fühlte bei dem Gedanken, daß ihn sein eigener Magen mahnte. Er suchte den nächsten Abstieg in der Richtung des Klosterhofes.

Das Saatkorn der Verdächtigung, das Afra in die Brust des Klosterbauern gesenkt hatte, war auf steinigen Acker gefallen. Es war zu ungereimt, daß Ambros irgendwie ernstlich an die Tochter Kaspar Larseits denken sollte; zudem war ja Hartwanger auf der Brautschau für ihn. Der Klosterbauer dachte so wenig noch an Afras Äußerungen, daß kein Argwohn in ihm erwachte, als Ambros während des Essens freimütig gestand, daß er die Predigt des Bruders gar nicht mit angehört habe.

»Auf die Berg bin ich gestiegen und hab in den Himmel hineingeschaut, ob den Engeln denn wirklich das Herz im Leib lacht«, setzte er hinzu. Da ließen alle fragend die Messer ruhen, und Ambros erklärte: »Ja, hast du's denn nimmer gehört, Vater? Die Muhme Vefa behauptet's, daß sonntags selbst den lieben Englein der Mund wäßrig wird, wann sie den guten Geruch von ihrem Kochen, Backen und Braten aus dem Pfarrschornstein verspürn. Und weil heut der Hannes dort zu Gast ist, da gibt's gewiß eine Extrafreud für sie.«

»Oh, du gottloser Bub du!« schalt der Klosterbauer und schmunzelte. Lisei aber sah ihn bekümmert an, und als sie ihn am Nachmittag auf der Galerie pfeifen hörte, ging sie hinauf, um mit ihm über Stasi zu reden. Denn auch sie hatte ihn mit dem Mädchen fortgehen sehen und konnte sich daher leicht vorstellen, weshalb er die Predigt geschwänzt hatte.

Er putzte an seinem Stutzen und ließ sich durch Liseis Kommen in seinem Pfeifen nicht stören. Sie setzte sich auf einen umgestürzten Zuber und sah ihm schweigend zu.

»Schieß schon los!« rief er endlich. »Jetzt soll ich doch die Predigt zu hörn kriegen, aus der ich weggelaufen bin.«

»Ich wollt, ich könnt zu dir reden, wie's unser Herr Hannes versteht«, seufzte die Schwester. »Denn Zeit wär's wohl endlich, daß du zum Guten einlenkst. Ach, Brosi, soll denn das immer so fortgehn in Saus und Braus? Der Vater wünscht auch, daß du ein gesetzter Mensch wirst. Ihm könntest du mit nix eine größere Freud machen. Du solltest doch dran denken, daß du der künftige Klosterbauer bist und daß du alt genug bist, endlich ans Heiraten zu denken, meint der Vater.«

»Meint der Vater?« Ambros sah verwundert von seiner Beschäftigung auf. »Und das hat er zu dir gemeint?«

»Ach nein, wie sollt er! Die Muhme hat mir heut morgen davon gered't.«

»Da bin ich doch neugierig, in was für einen Kochtopf die mich stecken will!« scherzte er.

Lisei entgegnete mit dem Anflug eines Lächelns: »Den Topf haben sie noch nit ausgesucht, sie und der Vater. Die Muhme Vefa hat mir aber erzählt, daß der Vater dem Hartwanger, wie er das letztemal hier gewesen ist, den Auftrag gegeben hat, sich nach einer Frau für dich umzuschaun.«

»Das ist lustig!« lachte er laut. »Möcht wohl sehn, wie die beschaffen ist, von der der Hartwanger glaubt, daß sie mir gefallen könnt!«

»Wirf's nit so weit von dir!« mahnte Lisei.

»Warum denn?« fragte er, während er das Schloß, das er inzwischen eingeölt hatte, wieder an die Büchse schraubte. »Ach so, ich versteh!« Er pfiff leise. »Du willst mich rasch unter die Haub bringen, damit du nit länger auf deinen Wolf zu passen brauchst«

Liseis Wangen röteten sich ein wenig stärker, aber ruhig entgegnete sie: »Nein, Brosi, daran hab ich nit gedacht. Wir können schon noch warten, wann's sein muß.«

»Wie die Juden auf den Messias«, spöttelte er. »Zum Teixel, Lisei, warum läßt den Lechner nit laufen? Du könntest jeden Tag einen Bessern haben.«

»Nein, Bruder, einen Bessern nit«, versetzte sie warm. »Du tätst auch nit so reden, wann du ihn kennen würdst. Was hat er dir nur getan, daß du ihm so zuwider bist? Mir tut's weh, Brosi.«

»Was könnt der mir auch tun?« rief er hochfahrend, indem er sein Haar aus der Stirn schüttelte. »Aber er ist ein Fremder, ein verdammter Bayer ist er!«

»Er hat sich in der Gemeind eingekauft mit einer Feuerstell und als Meister«, entgegnete Lisei nachdrücklich. »Darum gehört er zu uns, und er hält auch in allen Stücken zu uns. Seine Schuld ist's doch nit, daß wir haben bayrisch werden müssen! Und hat er darunter nit ebensoviel zu leiden wie wir? Er hat mir auch oft erzählt, daß die Menschen in Garmisch, wo er daheim ist, in Oberbayern, ganz dieselben sind wie in unserm Tirol. Sie haben denselben Glauben wie wir, sie reden dieselbe Sprach wie die Deutschtiroler, und ihr Land schaut aus wie das unsrige. Es könnt einer weit, weit ins Oberbayrische hineinwandern, sagt er, und würd nimmer glauben, daß er nit mehr in unserm Tirol ist. Ich hatt immer gehofft, daß du dem Wolf ein rechter Bruder sein würdst, und er ist dir gut gesinnt, wann er auch in seiner Verständigkeit nit alles loben kann, was du anstellt. Jetzt hast du dich aber auch zu seinen Widersachern gestellt. Du mußt doch wissen, daß alles, was du gegen ihn sinnst und tust, auch deine Schwester trifft«Sie sah ihn traurig an, und er murrte unbehaglich: »Na, Lisei!«

Mit einem wehmütigen Lächeln fuhr sie fort: »Als wir zwei noch Kinder warn und du wolltst den armen Hannes, der sich gegen dich nit wehrn konnt, drücken und zausen, da hab ich wohl manchmal mit dir gerungen und gerauft, wann du im Guten nit hören wolltst. Jetzt ist's mit dem Raufen zwischen uns vorbei, sonst tät ich's, von wegen dem Unrecht, das du dem Wolf tust.«

»Ja, Mut hast gehabt, das ist wahr!« lachte er, und sie setzte hinzu:

»Ich geb dir auch jetzt keine Ruh, bis du's eingesehen hast, daß der Wolf Lechner der bravste Mensch ist. Und daß du's weißt: von ihm lassen tu ich nit!«

»Meinetwegen. Im Grund geht's mich nix an«, erwiderte er, ihr die Hand reichend. »Na, Lisei, ich will dir nit entgegen sein.«

»Und, gelt, Brosi, allzulang wirst uns nit warten lassen?« rief sie, seine Hand herzlich schüttelnd.

»Du meinst, weil der Hartwanger auf die Brautschau gegangen ist?« fragte er achselzuckend. »Bah!«

»Ich wollt deine Frau liebhaben, als ob's meine wirkliche Schwester wär«, versicherte Lisei mit Wärme.

»Alleweil denk ich nit daran«, äußerte er sorglos, indem er Hahn und Pfanne seines Gewehrs federn ließ.

»Und die Stasi Larseit?« fragte die Schwester leise. Er schaute sie mit großen Augen an.

»Bruder!« bat sie und streckte die Hand gegen ihn aus.

»Ich weiß nit, was du willst«, versetzte er. »Ja, die Stasi, das ist eine Gitsche, so lieb, wie es keine zweite auf der Welt nit gibt. Und ich will keinem raten, sie in den Mund zu nehmen! Auch von dir leid ich's nit!«

»Aber du selbst bringst sie ins Gered der Leut!« rief seine Schwester eindringlich. »Sie ist gut und lieb, ja, aber was soll daraus werden?«

»Ja, was soll denn daraus werden?« fragte er halb ärgerlich, halb verwundert. »Kann denn einer kein Wort mit einem hübschen Madi reden, ohne daß gleich der Glockenstreich angeht? Feurio!«

»Du denkst immer nur an dich«, sagte die Schwester bekümmert. »Du kannst auch nit wissen, wie ein Madl ganz anders denkt und fühlt. Und jetzt gar so ein junges Ding, wie es die Stasi ist, und so ganz unerfahrn! Ich hab neulich manches mit ihr gered't, auf der Heimfahrt von St. Lorenzen. Sie ist noch ein Kind. Ach, Brosi, der ist leicht was in den Kopf gesetzt, und sie hält es fest mit dem Herzen! Deine Frau kann sie doch nit werden, und nachher ist ihr Unglück fertig fürs ganze Leben.«

»Daß ihr Gitschen doch gleich ans Heiraten denken müßt!« rief er ärgerlich. »Als ob der Mensch allein dazu auf der Welt wär! Da ist ja kein Verstand nit drin.«

»Ja, du steifst dich immer auf deinen Verstand und tust das Gegenteil!« antwortete Lisei etwas heftig. »Ich bitt dich, Brosi, nimm's zu Herzen, was ich dir vorgestellt hab!«

Er aber schulterte seinen Stutzen und ging in seine Stube.

Wonnig lachte vor ihr das Tal mit seinen grünen Matten, seinen reifenden Kornfeldern und seinen rosig erblühenden Buchweizenäckern. So recht sonnig-behaglich lagen die braunen Holzhäuser eingenestelt in dem Grün der Wiesen und Gebüsche, und zart und träumerisch erhoben sich die Dolomiten über den Tannenwäldern. Lisei sah das alles nur durch einen grauen Flor.

Nicht lange nach der Unterredung verließ Ambros den Klosterhof. Den Stutzen auf dem Rücken, die silberbeschlagene Pfeife im Mund, so schlenderte er sorglos zwischen den Feldern und über die Triften nach St. Vigil.

Am Rande des Bannwaldes begann das Schießen nach der Scheibe, die jenseits des Baches vor der Felsenwand aufgestellt war. Es war ein lustiges, eifriges Knallen – infolge der Reden des Löffel-Franz am Vormittag vielleicht eifriger als gewöhnlich, und manch stachliger Scherz auf die Bayern traf mit den sicheren Kugeln ins Schwarze. Wolf Lechner hatte sich schon seit mehreren Wochen nicht mehr auf dem Stande blicken lassen. Manch herbes Scherzwort galt ihm persönlich, namentlich aus dem Munde des stets spottlustigen Jerg.

Der Klosterhof war zu weit entfernt, als daß Lisei das Schießen hätte hören können. Stasi aber vernahm das Knallen der Büchsen und das Einschlagen der Kugeln deutlich, und es lockte sie von dem Bett, das die Mutter heute nicht verlassen hatte, ans Fenster. Sie gewahrte die Schützen an der Waldecke, aber sie konnte Ambros unter ihnen nicht erkennen, obgleich das Herz ihre jungen Augen schärfte. Sie saß ganz still, legte die Hände im Schoß zusammen und stellte sich vor, daß er jetzt zu ihrem Häuschen hinaufschaue und ihre Blicke sich begegneten. Sie nickte ihm zu und schalt sich dann, daß sie so kindisch war. Er konnte ja ihren Gruß nicht wahrnehmen; aber sie sah ihn ganz deutlich vor sich stehen. Ach, wie war es nur möglich, daß er sie lieben konnte? Es überschauerte sie, daß ihr ohne alles Verdienst ein so großes Glück zugefallen war. Groß? Es war ja ganz ohne Ende! – Warum sie ihn nur den Wilden nannten? Sie bedeckte ihr glühendes Gesicht mit den Händen, denn sie dachte an die leidenschaftliche Gewalt, mit der er sie an seine Brust gedrückt und herumgewirbelt hatte. Sie lächelte.

Die Sonntagsruhe war so recht dazu geeignet, sich in das süße Gefühl einzuspinnen und wenn Stasi sonst die Mußestunden des Sonntags mit einem unverstandenen, schwermütig gefärbten Sehnen zugebracht hatte, so erfüllte ihr Herz heute ein glückseliger Rausch. Ambros hatte Stasi nicht gesagt, ob er sich abends am Gartenzaun einfinden würde; sie war jedoch überzeugt, daß er kommen würde, und sie warf manchen Blick auf den Kreuzkofl und den Pares, die ihre Sonnenuhr waren. Noch ruhte das volle, warme Licht auf ihnen.

Als Stasi nach einer Weile wieder hinsah, erschienen sie wie von einem leichten Schleier verhüllt. Rasch wob er sich um alle Gipfel des zerrissenen Kalkgebirges und wurde dichter und dunkler. Die Kirche von St. Vigil stand in einem fahlen Licht. Kein Blatt bewegte sich an den Bäumen. In das Ave Maria klang ein dumpfes Murren hinein.

Das unsichere Licht und der drohende Himmel hatten die Schützen schon vorher veranlaßt, das Schießen einzustellen. Die älteren Männer waren nach Hause gegangen, die jungen Leute hatten sich in den »Stern« zurückgezogen. Ambros saß nicht gerade in der rosigsten Laune unter ihnen – drohte doch seine Hoffnung, Stasi am Abend wiederzusehen, buchstäblich zu Wasser zu werden. Auf dem Stand war er der Ausgelassenste gewesen. Die anderen neckten ihn, und er gab scharfe Antworten. Mutschleitner holte seine Zither, spielte erst ein Stücklein und hob dann an:

»Mir ist so wohl
Auf den Bergen von Tirol …«

Alle stimmten ein. Urplötzlich stand die ganze Stube in bläulichem Feuer, und unmittelbar darauf folgte ein Schlag, der die Fenster erklirren ließ. Der Gesang brach jäh ab, und Ambros warf in die Stille hinein die Worte: »Jetzt fangt droben das Kegelschieben an.«

Es lachte jedoch niemand.

Das Gewitter zog bald vorüber, aber es regnete weiter, und die Luft blieb schwül. Ambros mußte sich darein finden, Stasi heute nicht mehr zu sehen. Als der Donner nur noch in der Ferne grollte, erhob sich ein weißköpfiger Alter, um heimzugehen. Dabei rief er Ambros zu:

»Du sollst nit solche sündhafte Reden führn. Wer Gott lästert, des freut sich der Teixel. Nimm dich in acht!«

»Der Teixel ist auch was Recht's!« murrte Ambros und hüllte sich in dichte Tabakswolken.

»Gelt, das würdest ihm nit ins Gesicht sagen?« rief Jerg.

»Warum nit?« trotzte Ambros. »Aber es gibt eben keinen.«

Es erhob sich ein allgemeines Geschrei über diese kühne Behauptung. »Was braucht's einen Teixel in der Welt?« überbot sie Ambros. »Die Menschen tun schon seine Sach ohne ihn. Stern und Hagel, könnt der Böse schlimmer im Land hausen, als es der Bayer und der Franzos tun?«

»Nein, da hat er recht!« rief es von allen Seiten.

Mutschleitner schlug einige starke Akkorde auf seiner Zither an und räusperte sich zu einem Lied, um von dem gefährlichen Thema abzulenken. Aber die Burschen ließen sich nicht davon abbringen, zumal der Wein bereits die Köpfe erhitzt hatte. Der Sternwirt drang nicht durch, und nachdem die Bayern, Franzosen und der Teufel eine Weile bunt durcheinandergeworfen worden waren, machte Jerg den Vorschlag, daß Ambros, um den Streit zu entscheiden, den Teufel rufen sollte. Gäbe es einen, so käme er gewiß, denn er sei ja gut Freund mit Ambros.

Schallendes Gelächter belohnte den Vorschlag; nur Ambros verzog keine Miene. »Ich will's tun«, sagte er ruhig, »wann mich der Jerg als Zeuge um Mitternacht auf den nächsten Kreuzweg begleiten will.«

Jerg streckte abwehrend beide Hände vor sich hin.

»Oder sonst einer von euch«, rollte Ambros seine Augen umher.

Keiner verspürte Lust dazu, und einige der Burschen schlichen sich sacht davon. Die Zurückbleibenden lachten sie aus.

»Es muß doch mit euerm Christentum allesamt schlecht beschaffen sein, daß ihr auf das Vaterunser oder sonst ein fromm Sprüchlein nit vertraut! Dagegen kann der Böse nit an.«

Eine rauhe Stimme war es, die diese Äußerung getan; sie kam von einem Mann, der von den Gästen am Tisch bei dem Ofen allein zurückgeblieben war. Er hatte still dort gesessen, aus einer kurzen Holzpfeife qualmend und nur dann und wann an einem Glase Branntwein nippend. Es war das Gamsmanndl aus Monthan, bekannt in allen Tälern durch sein großes Jagdglück. So viele Gemsen wie er hatte noch nie ein Sterblicher erlegt; freilich wollte man wissen, daß er sich auf Freikugeln verstände. Seines Zeichens war er Gerber; da jedoch die Gemsenjagd für ihn eine Leidenschaft war wie für andere das Spiel, vermochte ihm sein Handwerk auf keinen grünen Zweig zu helfen, und sein bestes Zeug, das er zur Feier des Sonntags angelegt hatte, verriet seine mißliche Lage. Er war kein junger Mann mehr – das bezeugten die grauen Fäden in seinem mächtigen Schnurr- und Knebelbart. Gesicht und Hände schienen in brauner Lohe gebeizt, und an seinem Leib war kein überzähliges Lot Fleisch. Seine dunkelbraunen Augen, die jetzt unter dem Schlapphut hervor auf die jungen Leute gerichtet waren, hatten den festen, scharfen Blick eines Falken.

»Das Gamsmanndl!« murmelten die Burschen, und Ambros rief ihm zu, er möge sich zu ihnen setzen. Als er der Aufforderung nachkam, zeigte sich, daß das Diminutiv Diminutiv – Verkleinerungsform eines Wortes. gut auf ihn paßte: Er war kaum von mittlerer Größe.

»Du mußt freilich wissen, ob das Mittel gegen den Bösen hilft«, spöttelte Jerg.

»Ja, das weiß ich!« versetzte das Gamsmanndl mit einem Ernst, der ihn überhaupt nie verließ. Keiner hatte ihn je lachen hören oder lustig gesehen. »Es hilft in jeder Not und Gefahr, nur in einer nit.«

»Und das wär?« rief es neugierig ringsum.

»Ja, gegen die Geister und Gespenster, die zur Straf umgehn müssen, da hilft kein Beten«, sagte das Männlein.

»Ob's wahr ist?« zweifelte einer, und ein anderer, den seine Kameraden Sebi nannten, rief: »Holla, Ambros, das wär ein Stücklein für dich, das solltest du erproben!«

»Warum nit?« entgegnete dieser. »Sag mir nur, wo ich welche finden kann.«

»Oh, ich sollt meinen, du brauchst bloß um Mitternacht auf den Kirchhof zu gehn«, gab Sebi an.

»Weiter nix?« fragte Ambros. »Meinetwegen.«

»Tu's nit, Ambros!« warnte das Gamsmanndl und legte ihm die Hand auf den Arm.

Doch Ambros rief: »Wann du also was an deinen seligen Großvater auszurichten hast, Sebi – heut um Mitternacht will ich's bestelln. Als Botenlohn zahlst am nächsten Samstag, wann wir zum Singen herkommen, jedem von uns eine Halbe.«

»Es gilt, es gilt!« lärmten die übrigen durcheinander, mit Ausnahme des Gamsmanndls, das nur den Kopf schüttelte.

»Und was soll ich ihm von dir ausrichten, Sebi'?« fragte Ambros. »Der Sebi will frein und hat kein Geld«, scherzte Mutschleitner.

»Frag den Alten, wo der Sebi einen Schatz heben kann«, fügte Jerg hinzu.

»Da braucht einer die Toten nit zu verinkommodieren«, meinte ein dritter. »Das weiß ja jeder, daß unter den Zirbeln halbwegs am Anstieg zum Jöchl ein Schatz vergraben liegt.«

»Oder in den Kellern vom Schloß Asch«, ergänzte ein anderer. »Es ist ihm freilich schlimm beikommen, denn der Ritter von Brack hütet ihn, der wilde Franz Wilhelm, der in der Ebene vor Corvara ist erschlagen worden.«

»In welcher Gestalt geht er denn um?« fragte wieder ein anderer.

Darüber waren die Ansichten geteilt, und aus jeder entwickelte sich irgendeine Schatzgräber- oder Gespenstergeschichte. Die meisten konnten hierzu einen Beitrag liefern. Man rückte enger zusammen sprach mit gedämpfter Stimme und scheute sich, in die dunklen Ecken der Stube zu blicken. Manchem lief es fröstelnd über den Rücken. Ambros erzählte Schauergeschichten von dem wilden Jäger, die das Gamsmanndl mit feierlichem Kopfnicken bestätigte. Jerg berichtete einige Stücklein von dem Berggeist Orco, der gern die Menschen foppe, aber schwere Vergeltung an denen übe, die ihn selber neckten.

Schließlich tat das Gamsmanndl die Pfeife weg, schlürfte die Neige seines Branntweins aus und hob eine Geschichte von der verfallenen Mühle im Bannwalde an. Seine rauhe, monotone Stimme, die Unbeweglichkeit seines braunen Gesichts, aus dem die Augen wie die eines Raubvogels glänzten, steigerten noch das Grausen seiner Erzählung. Die Mühle, deren Schauplatz sie war, lag eng eingeklemmt zwischen dem Bach und den schroffen Wänden des Pares, so daß sie nur schwer zugänglich war. Ihr letzter Eigentümer sei ein schrecklich habsüchtiger Mensch gewesen, dem nichts heilig war. In das Brotmehl habe er immer einen großen Teil zerriebenen Kalk gemischt, und zuletzt habe er seine Seele dem Bösen für ein Paar Glückswürfel verkauft. Damit habe er spielen dürfen, wo und wann er gewollt, nur nicht in der heiligen Weihnacht. Verstieße er gegen diese Bedingung, so sollte es jedesmal ein Leben derjenigen kosten, die ihm die Liebsten auf der Welt waren, zuletzt sein eigenes. Zum Zeichen, daß seine Zeit gekommen wäre, würde er sieben Augen werfen.

»Kisten und Kasten hat er mit dem Silber und Gold gefüllt, das ihm die Würfel einbrachten«, fuhr das Gamsmanndl fort, »und ihr könnt euch schon vorstellen, daß er in seiner Gier nit achtgehabt hat auf die heilige Zeit. So hat er denn das Leben seiner Frau und seiner Kinder verwürfelt, und wie zuletzt in einer heiligen Weihnacht die sieben Augen sind gefallen …«

Ein schreckliches Heulen und Pfeifen unterbrach ihn. Seine Zuhörer wurden blaß, und den meisten sträubte sich das Haar.

»Just so war's damals! Ein furchtbarer Sturm erhob sich«, begann der Erzähler wieder.

Da schlug die Wanduhr die Mitternachtsstunde. Das Gamsmanndl verstummte.

Als die Uhr ausgeschlagen hatte, stand Ambros auf. Auch er war ein wenig blaß geworden; doch seine Stimme klang wie gewöhnlich.

»Jetzt geh ich auf den Kirchhof«, sagte er. »Vielleicht krieg ich den Müller zu sehn, wie er umgeht in glühenden Ketten, das Gesicht im Genick.«

Einige schlugen das Kreuz, die anderen starrten ihn mit weitgeöffneten Augen an. Mutschleitner versuchte, ihn von seinem Vorhaben dadurch abzubringen, daß er ihn auf das draußen tobende Unwetter aufmerksam machte. Ambros aber ließ sich nicht halten, und durch das Brausen, Heulen und Pfeifen vernahmen die Zurückbleibenden das krachende Zuschlagen der Haustür.

Eine Windsbraut raste vom Col de Ril her durch das Tal, und Ambros hatte sich mit aller Kraft gegen die Haustür stemmen müssen, um ins Freie zu gelangen. Gleich darauf riß es ihm den Hut vom Kopf. Er machte keinen Versuch, ihn wiederzufinden. Undurchdringliche Finsternis umgab ihn, und sie war erfüllt von Staub, Sand, Blättern und abgerissenen Zweigen. Es war ihm unmöglich, auch nur einen halben Schritt weit zu sehen, und nur mit allergrößter Mühe behauptete er sich gegen die Gewalt des Wirbelsturmes. Zur Linken hörte er den Bach tosen, doch konnte er weder ihn noch die Brücke erkennen. Er blieb stehen, um den Gewittersturm vorübersausen zu lassen. Da tobte es über dem Bannwalde auf, ein unheimlicher Donner erfüllte das Tal, und eine Sintflut begann aus den Wolken zu stürzen. Dunkelheit, schwärzer als zuvor, umgab den tollkühnen Burschen. Der Blitz hatte ihm jedoch gezeigt, daß er noch eine gute Strecke von der Brücke entfernt war, und er schritt vorsichtig weiter, wobei er über manchen im Wege liegenden Stein stolperte. Wieder flammte ein Blitz auf und unmittelbar darauf ein zweiter und dritter in anderer Richtung. Es waren mehrere Gewitter über dem Tale zusammengetroffen. überall ein Flimmern und Aufzucken. Und der Donner rollte unaufhörlich gleich dem Brüllen von Geschützen in der Schlacht. Dazwischen rauschte und zischte der Regen und toste der im Nu angeschwollene Bach. Beim Leuchten der Blitze gelang es Ambros, die Brücke zu finden. Eine blaue Feuerkugel fuhr durch den Regen, und der nachfolgende Donnerschlag warf Ambros betäubt gegen das Brückengeländer. Aus dem Bergwald zu seiner Rechten brannte eine Riesenfackel auf. Der Regen löschte sie jedoch bald wieder aus, und es trat eine Pause in dem Aufruhr ein; nur der Regen rauschte durch die Finsternis weiter. Kaum aber hatte Ambros das andere Bachufer gewonnen und begann den Anger hinaufzugehen, als das Toben und Wüten von neuem anhob. Jetzt lohte der ganze Himmel in fahlem Lichte auf. Die Kirche, die auf dem Plan verstreuten Häuser, die Berge ringsum und die Dolomiten dahinter dämmerten gespenstig bleich durch die Regenmassen. Die Welt schien unterzugehen in Flammen und Fluten, und unter brüllendem Donner versank sie in jäher Finsternis.

Bleich blickten die Gesichter im Wirtshaus drein. Einige beteten, andere machten bei jedem Wetterschlage das Zeichen des Kreuzes. Keiner sprach. Nur das Gamsmanndl saß ruhig da und rauchte aus seiner Holzpfeife, die es wieder gefüllt hatte. Mutschleitner ging in der Stube hin und her und warf zuweilen einen Blick auf die Wanduhr. Nach einer Weile brachte er eine Flasche Kirschwasser und nötigte seine Gäste zum Trinken. Das Feuerwasser regte die Geister wieder ein wenig an.

»Wann er nur glücklich über den Bach gekommen ist!« äußerte der Wirt.

»Nach Haus hat er sich gemacht, und wir sitzen hier wie die Narren!« meinte Jerg. »Ich kenn ihn. Morgen wird er uns alle auslachen.«

Sebi verteidigte den jungen Falkner. Es könnte niemand von ihm behaupten, daß Reden und Tun bei ihm zweierlei seien.

»Ein Prahlhans ist er!« rief Jerg giftig.

Das Gamsmanndl richtete seine Falkenaugen auf ihn und sagte unter einer Rauchwolke: »Das lügst in deinen Hals hinein. Wer so viel Mut hat wie der Ambros, der überlaßt das Prahlen andern. Wir beide sind manches liebe Mal zusammen den Gemsen nachgestiegen; da erfahrt man's schon, ob einer das Herz auf dem rechten Fleck hat oder nit. Was der sich in den Bergen getraut, das getrau ich mir nit mal. Er hat zuviel von dem, was dir fehlt, und das wird noch sein Unglück werden.«

Jergs Antwort war daß er ein Gesicht schnitt, und Mutschleitner sagte: »Du mein Heiland, wie das wieder blitzt und kracht! Bei dem Wetter bleiben selbst die Gespenster daheim!«

»Fangt Ihr wieder davon an?« rief einer von den Burschen grämlich. Da, Schritte! Die Stubentür ward aufgestoßen, und Ambros erschien, barhäuptig und von Nässe triefend. Das schwarze Haar klebte regenschwer an seinem bleichen Gesicht.

»Was glotzt ihr mich an, als ob ich selber ein Geist wär?« rief er mit rauher Stimme. »Da bin ich! – Mit dem Sebi seinem Großvater hab ich nit reden können. Der hat bei dem Hundewetter nit vor die Grabtür kommen wolln.«

Diese Worte brachen den Bann, der auf den Burschen lag. Sie atmeten auf, und einige schrien: »Hurra!«

»Ja, bist denn wirklich auf dem Friedhof gewesen?« fragte Jerg lauernd.

Statt einer Antwort hob Ambros einen Gegenstand von der Schulter und hielt ihn mit beiden Händen den Burschen hin. Sie fuhren betroffen zurück: Es war ein kleines Grabkreuz, das am Fußende abgebrochen war.

»Ambros, Ambros, das geht über den Spaß!« äußerte der Wirt bedenklich.

»Den Teixel war's bei dem Wetter ein Spaß!« runzelte Ambros die Stirn. »Ich wußt ja, daß ihr mir nit glauben würdet. Einen Schnaps, Wirt! Da schaut nach, wer mir den Schein ausgestellt hat!«

Er warf das Kreuz mitten unter die Flaschen und Gläser auf den Tisch, und während die anderen die zum Teil schon verloschene Inschrift auf dem Holz zu entziffern versuchten, stürzte er den Branntwein hinunter, den Mutschleitner ihm eingeschenkt hatte.

Jerg warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und sagte gedehnt: »Der Name schreibt sich Kaspar Larseit.«

Ambros zuckte zusammen, sagte aber nichts. Dann atmete er tief auf, nahm das Kreuz und gab es dem Sternwirt mit der Bitte, es einstweilen zu verwahren.

Mutschleitner ermahnte die Anwesenden, über den Vorgang zu schweigen, und sie versprachen es.

Ambros hatte sich unterdessen sein Schießzeug umgehängt, und mit einem kurzen »Gute Nacht, allesamt!« verließ er die Stube.

»Ich komm mit!« rief ihm Jerg nach. Aber Ambros wartete nicht. Nun rüsteten sich auch die übrigen zum Heimweg und geleiteten einander. Nur das Gamsmanndl drückte sich vor der Tür still davon.

Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen; noch aber blitzte es über den Bergen und murrte von ferne. Kein Stern stand am Himmel.


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