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19. Kapitel

Afra saß in einer Ecke der Wohnstube; ihre Gedanken weilten nicht bei dem Erschlagenen, sondern bei dem Flüchtling. Um ihretwillen hatte Ambros die schreckliche Tat begangen, ihre Ehre hatte er verteidigt und gerächt. Wie unglücklich mußte er sein, und zwar durch sie! Sie sah ihn vor sich, wie er mit verstörter Miene aus der Stube gegangen war, und so sah sie ihn in der Wildnis umherirren, mit der schweren Bluttat auf dem Gewissen. Ihr Herz brannte, aber ihre Augen blieben trocken. Ihr Mann hatte nirgends Ruhe. Er ging zwischen der Stube und der Kammer, wo Jerg leblos auf dem Bette lag, hin und her, und sooft er in die Wohnstube kam, sah er nach der Wanduhr. Er hatte dem Knecht befohlen, das Pferd nicht zu schonen. Aber eher als in sechs Stunden konnte der Arzt nicht zur Stelle sein. Es war wohl nicht die Sorge um den Sohn allein, die ihn rastlos umtrieb. Auf seine Frau warf er nur dann und wann einen scheuen, verstohlenen Blick. Sie merkte es nicht.

Eben kam er wieder von Jerg zurück; da blieb er aufhorchend stehen und trat dann ans nächste Fenster. Jenseit des Steges, der über das abschüssige Ufer zur Mühle führte, hatten sich viele Menschen angesammelt. Der nach dem Arzt geschickte Knecht hatte im Vorüberfahren im Dorfe erzählt, daß auf der Mühle ein Unglück geschehen sei. Eben kam der Landjägerkorporal mit einem seiner Leute über den Steg. Viele drängten sich ihnen neugierig nach. Der Müller ging ihnen entgegen. Afra hörte die Stimmen und Schritte auf dem Flur, blieb aber in ihrem Winkel sitzen. Es kümmerte sie nichts mehr.

»Ja, ja, ich weiß, Ihr müßt Euern Bericht machen«, sagte der Müller mit gedämpfter, schleppender Stimme und führte den Korporal zu Jergs Kammer, die bald von Neugierigen vollgestopft war. Jerg konnte sich wahrlich keiner besonderen Beliebtheit bei den Vigilern rühmen; dennoch entflammte sein Anblick ihren Zorn gegen den Mörder. Mit lauten Verwünschungen des Täters drang man in den Müller, er solle den Hergang erzählen. Der Alte aber schwieg und wandte kein Auge von dem Korporal, der zunächst den Befund des Erschlagenen festzustellen versuchte. Sein Begleiter hatte Mühe, ihm dazu den nötigen Raum zu schaffen. Man spürte keinen Atem, und das Herz stand still; jedoch waren die Glieder noch nicht von der Totenstarre ergriffen.

»Der wird schwerlich noch einen hänseln«, murmelte der Korporal, indem er sich von Jerg zu dem Müller wandte und diesen aufforderte, den Täter anzugeben und den Hergang zu erzählen.

Es trat Totenstille ein. Der Alte seufzte; zögernd nannte er Ambros. Es war wohl keiner unter den Anwesenden, der den Namen des Täters nicht schon gewußt hätte; denn der Knecht hatte in dem lauten Streit Ambros' Stimme erkannt und von ihm gesprochen. Die Bestätigung durch Arigaya versetzte die Leute in abermalige Erregung, und der Korporal mußte nachdrücklich Ruhe gebieten.

Der Müller blickte sich langsam um und sagte mit festerer Stimme, mehr zu den beiden Landjägern sprechend: »Ihr wißt ja, wie's geht, wann zwei junge Leut einen heimlichen Span aufeinander haben: da hat jedes Wort doppelte Schneid, und gleich gibt's ein Raufen. Ich hab sie nit auseinanderhalten können. Es war ein unglücklicher Schlag, den der Ambros mit dem Schemel geführt hat. Aber der Jerg hatt ein Messer zu fassen gekriegt«

Der Korporal war damit nicht zufrieden. Er wollte wissen, worüber beide in Streit geraten waren.

Der Müller zögerte mit der Antwort.

Da rief einer von den Anwesenden: »Laßt doch den alten Mann in Frieden! Es weiß ja jedes Kind, daß es von wegen dem Klosterhof gewesen ist, den der Jerg da hat erheiraten wolln. Wann mir einer mein Erb hinterrücks wegschnappen wollt – ich verstünd auch keinen Spaß.«

Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich, und der Müller sagte erleichtert, während ihm eine feine Röte in das hagere Gesicht stieg:

»Ja, das war dem Ambros sein Groll.«

Der Korporal zwirbelte an seinem Schnurrbart, blickte bald den Müller, bald den Verwundeten an und sann darüber nach, was er noch fragen solle. Es fiel ihm nichts ein, und so beschloß er, dem Herrn Landrichter Bericht zu erstatten. Er entfernte sich mit seinem Untergebenen, und ein Teil der Leute folgte seinem Beispiel. Andere blieben noch zurück und wollten das traurige Ereignis mit dem Alten durchsprechen. Er aber dankte ihnen für ihre nachbarliche Teilnahme und bat sie, ihn allein zu lassen. Da gingen auch sie.

Es war Nacht geworden, als sich der Alte von dem Schemel am Fußende des Bettes erhob und wieder in die Wohnstube trat. Hier brannte ein Licht auf dem Tisch, der sich noch in demselben Zustand befand, wie Afra ihn zum Abendessen gedeckt hatte. Das Licht mußte lange nicht geputzt worden sein, denn es hatte eine lange Schnuppe, die mit glühendem Kopf aus der trüben Flamme ragte. Afra saß neben der Uhr, an deren Gehäuse sie den Kopf gelehnt hatte. Ihr Mann gewahrte sie erst, als er das Licht ergriff, um nach der Zeit zu sehen. Ihre Augen waren mit einer unheimlichen Starrheit auf ihn gerichtet.

»Vor drei Stunden kann er nit dasein«, seufzte er, das Licht wegstellend, und ließ sich auf der Ofenbank nieder. Da traf sein Blick das Messer, das Jerg entfallen war. Das Licht spiegelte sich in der Klinge. »Ach, das ist ein großes Unglück für uns alle!« murmelte er und schob das Messer mit dem Fuß unter die Ofenbank.

Afra schwieg, doch ihre großen schwarzen Augen blieben immer noch auf ihn gerichtet. Er bemerkte es nicht, denn er sah zu Boden. Ganz zusammengesunken saß er da. Er war in den letzten Stunden sehr, sehr alt geworden. Sie bemerkte es wohl, und dennoch regte sich in ihr kein Mitleid mit ihm.

»Wann der Ambros nur deinem Rat gefolgt ist und hat sich fortgemacht«, begann er nach einer Weile und hob die Augen zu ihr auf. »Die Landjäger warn da. Aber dein Nam ist in dem Handel nit genannt worden, soll's auch nit werden.«

Sie zuckte zusammen. Daran hatte sie noch nicht gedacht, daß der Schimpf, den Jerg ihr angetan, und damit ihre Liebe zu Ambros in die Öffentlichkeit gezerrt werden könnte. Sie wurde noch blasser.

Er bemerkte ihre Erregung und suchte sie mit der Versicherung zu beruhigen, daß von ihm niemand etwas Näheres über den Streit erfahren werde. »Schon von wegen der Predigt des Hannes droben«, fügte er hinzu.

»Oh, du bist so gut!« stammelte Afra und fuhr, zu ihm tretend, fort: »Der Jerg hat in seiner Giftigkeit mehr gered't, als er vor Gott verantworten kann. Glaub's mir doch ja! Du sollst alles wissen.«

Er wollte ihr wehren; denn was konnte sie ihm sagen, das er nicht schon erraten hatte? Zu ihrem Geständnis nickte er traurig mit dem Kopf und sagte leise: »Es hat freilich so kommen müssen. Armes Weib!«

Da kamen ihr die Tränen. Sie warf sich neben ihm auf die Ofenbank und schluchzte an seiner Schulter.

Er ließ sie eine Zeitlang ungestört weinen; dann sagte er mit einem Seufzer: »Ich hab's gut mit dir gemeint, als ich dich zu meiner Frau macht, aber der Mensch soll nit klüger sein wolln als unser Herrgott. Gleich gehört zu gleich. Du bist immer gut zu mir gewesen und hast mich in Ehrn gehalten. Das werd ich dir nimmer vergessen.«

Sie schlang den Arm um seinen Hals und weinte nur noch heftiger. »Ja, ja, es ist nit anders: in der Jugend fordert das Herz sein Recht«, fuhr er nach einer Weile fort und machte sich sanft aus Afras Arm frei. »Es ist das Mühlrad des Lebens, und die Lieb treibt's um.«

Er riet ihr, sich niederzulegen, bis der Doktor käme. Aber sie wollte nicht. Wie hätte sie Schlaf finden können? Als sie gewahrte, daß er wieder nach Jerg sehen wollte, hieß sie ihn das Licht mitnehmen. Seit sie ihm ihre Liebe zu Ambros gestanden hatte, fürchtete sie sich nicht mehr vor der Dunkelheit. Der Mond schien in die Stube herein, und sie dachte wieder an Ambros, mit dem sie in den Kampf um die Freiheit Tirols hatte ziehen wollen und der nun das Vaterland meiden mußte.

Auch ihr Mann dachte an ihn, während er am Bette seines Sohnes saß, und seine hagere Gestalt krümmte sich mehr und mehr zusammen. Er merkte nicht, wie das Licht schwelend erlosch, die Morgendämmerung in die Stube kroch und ihr fahles Gesicht heller und heller wurde. Es mochte um die dritte Stunde sein, als er durch das Rauschen des Baches, der unter dem Fenster der Kammer vorüberfloß, Räderknirschen vernahm. Langsam richtete er sich auf und strich mit der Hand über das Gesicht. Es sollte ihm niemand anmerken, was er gedacht hatte!

Afra hatte unterdessen bereits den Doktor an der Haustür empfangen, und er hörte ihn rufen: »Beim heiligen Hippokrates, wann er tot ist, hättet Ihr mich nit aus dem Bett zu jagen brauchen!«

Die Natur hatte ihn mit einem Paar kräftiger Lungen ausgestattet, und Grobheit gehörte damals und noch lange danach zum ärztlichen Handwerk. Zu einem höflichen Arzt hätte niemand Vertrauen gehabt, und am wenigsten der Landmann. Doktor Ostler besaß diese Tugend in großem Maße, wie bereits Vefa verspürt hatte, als er im Auftrage des Kreishauptmanns von Hofstetten erschienen war, um den Gesundheitszustand des Pfarrers Moltenbecher zu untersuchen. Er stand am Anfang der Vierziger, war von gedrungenem Körperbau und hatte ein Gesicht, das der gute Tiroler Wein und der häufige Aufenthalt in der freien Luft braunrot gefärbt hatten. Seine Krankenbesuche auf dem Lande machte er gewöhnlich zu Pferde, und im stundenweiten Umkreis von Bruneck kannte man den frommen Doktorschimmel und seinen Herrn in dem flaschengrünen Reitrock mit den blanken Messingknöpfen und den großen Seitentaschen. Dazu trug er gelbe Lederhosen und Stulpenstiefel mit schweren Anschnallsporen. Eine am Sattelknopf hängende Ledertasche enthielt sein »Handwerkszeug«. Jetzt trug er die Tasche am Riemen in der Hand, und über den Rock hatte er für die Nachtfahrt einen Mantel geworfen.

»Also das ist das Unglückswurm?« rief er, an Jergs Bett tretend. »Donnerwetter, sieht der aus! Jetzt schafft warmes Wasser. Daran habt Ihr natürlich nit gedacht, daß man das braucht, um ihm das Blut abzuwaschen. Wie solltet Ihr auch!«

Afra eilte nach der Küche, und Doktor Ostler fühlte Jerg den Puls, legte das Ohr aufs Herz und betastete mit gespreizten Fingern den Kopf. Dann begann er, ohne sieh um den Müller zu kümmern, Scheren, Messer, Heftpflaster, Sonden, Scharpie und dergleichen aus seiner Tasche auszupacken und setzte sich, nachdem er alles auf dem Tisch ausgebreitet, auf den Schemel, am Bette, stemmte, den Oberkörper vorbeugend, beide Hände auf die Knie und sagte: »Schemelbeine? Was?«

»Ach, freilich«, seufzte der Müller. »Aber ich bitt Euch: Ist er tot?«

»Noch nit; aber was nit ist, kann noch werden«, lautete die wenig tröstliche Antwort »Und jetzt hätten wir, bis das Wasser warm ist, Zeit, auf die Nachtfahrt ein Schnäpschen zu nehmen. Aber das sag ich Euch, mit Euerm Giftzeug, dem Enzian, bleibt mir vom Leib!«

Der Müller holte die gewünschte Herzstärkung und versicherte, ein Stengelgläschen füllend, daß es gutes Kirschwasser sei.

»Glaubt Ihr wirklich, daß er sterben muß?« fragte der Alte mit ängstlicher Spannung.

»Heiliger Galen!« Galen – Claudius Galenus (131 – etwa 200), nächst Hippokrates der berühmteste Arzt des Altertums und zugleich der fruchtbarste Schriftsteller auf dem Gebiet der Heilkunde. schnob der Doktor, nachdem er das Gläschen geleert hatte. »Sterben müssen wir alle einmal; ob an Schemelbeinen oder einer andern gesegneten Krankheit, darauf kommt's doch nit an.«

»Es ist mein einziges Kind«, sagte Arigaya leise.

Doktor Ostler blickte ihn scharf an, strich sich mit beiden Händen über das kurze blonde Haar rings um den Kopf und murrte: »Wer hangen soll, ersauft nit!«

Afra brachte eine Schale mit warmem Wasser, der Doktor schlug seine Rockärmel in die Höhe und begann seine Operationen. Der Müller und seine Frau, die einander bei der Hand gefaßt hatten, schauten ihm in der peinlichsten Spannung zu, kaum daß sie zu atmen wagten. Jerg gab kein Lebenszeichen von sich. Der Doktor murmelte einmal: »Heiliger Äskulap, das ist ja ein Prachtschädelbruch!« Und diese Entdeckung schien ihm Freude zu machen. Er öffnete den Mund nicht wieder, als bis er die Wunde gereinigt – das Haar ringsum hatte er wegrasiert –, Scharpie Scharpie – früher gebräuchliches Verbandzeug, bestehend aus Fäden, die man durch Zerzupfen von Leinwandstreifen gewann. hineingetan und mit Heftpflaster überklebt hatte. Afra mußte eine Kompresse in das kalte Wasser des Baches tauchen, und er schärfte ihr ein, den Umschlag mindestens alle zehn Minuten zu erneuern. Die Wunde auf der Stirn hatte er mit stählernen Nadeln zusammengeheftet

»Für heut wärn wir fertig«, sagte er dann und begann seine Instrumente sorgfältig zu reinigen. »Nehmt ihn ordentlich in acht und befolgt genau die Vorschriften, die ich Euch noch geben werd. Einem solchen Bauernschädel kann man schon was zutraun; aber wie der Schädel, so war auch die Faust, die den Schlag geführt hat. Es steht schlecht mit ihm, verdammt schlecht. Ich geb keinen Pfifferling für sein Leben.«

»Gottes Wille gescheh!« seufzte der Müller mit einem kummervollen Blick, während Afra mit gesenktem Kopf aus der Stube ging.

»Daran werden wir wohl nix ändern«, brummte Doktor Ostler. Er wusch sich in Jergs Waschgeschirr die Hände und sagte, nachdem er seine Instrumente in die Tasche gepackt hatte, rauh: »Donnerwetter, laßt die Nas nit hängen, Mann! Gelingt's uns, den Burschen wieder zum Bewußtsein zu bringen, stelln wir ihn auch wohl wieder auf die Beine.«

Arigaya sah ihn mit einem langen Blick an; dann sagte er: »Ihr müßt noch warten, bis das Pferd ordentlich gefressen und sich verruht hat; nachher fahr ich Euch selber zurück. Kommt in unsre Stub; meine Frau wird derweilen wohl für einen Kaffee gesorgt haben.«

»Laßt dem Gaul nur Zeit«, äußerte der Doktor, ihm folgend. »Ich muß doch noch eine Weile zuschaun, wie's der Patient treibt. Sie haben zuweilen ganz merkwürdige Einfälle.«

Afra hatte in der Tat für einen Kaffee gesorgt und brachte ihn bald. Mißtrauisch kostete ihn der Doktor, worauf er das heiße Getränk mit Behagen schlürfte. Afra nötigte auch ihren Mann zum Trinken. Dann verließ sie die Männer, um Jerg einen frischen Umschlag zu machen. Mit einem finsteren Ausdruck in dem schönen Gesicht stand sie vor seinem Bett. Er trug die Schuld, daß sie alle unglücklich waren! Ihn hatte nur die gerechte Strafe für seine boshafte Zunge getroffen. Voll Bitterkeit gegen ihn dachte sie an ihre Zukunft. Es war eine trostlose Perspektive, die sich vor ihr eröffnete.

Doktor Ostler zündete sich nach dem Frühstück seine kurze Reisepfeife an und machte einen Spaziergang ins Dorf. Er blieb auffallend lange weg. In Jergs Zustand war inzwischen keine Veränderung eingetreten. Um acht Uhr fand sich der Schullehrer auf dem Klosterhof ein. Er hatte in den letzten Tagen viele Briefe für den Klosterbauern schreiben müssen: Mahnbriefe an säumige Schuldner und Kündigungen kleiner Hypotheken. Die Arbeit war noch nicht beendigt. Seine Schule hatte während der ganzen schönen Jahreszeit Ferien.

Auf dem Klosterhof wußte man noch nichts von den traurigen Ereignissen des gestrigen Abends, und Ruthler schwieg darüber. Es durfte ja auf dem Klosterhof nicht von Ambros gesprochen werden, und er fürchtete, seine Beschäftigung zu verlieren, wenn er es täte. Er war zu alt geworden, um sich, wie früher in den langen Ferien, bei den Bauern als Knecht zu verdingen, und daher war er froh, durch seine Schreibereien wenigstens eine Kleinigkeit verdienen zu können. Bei sich aber gedachte er heute des Tages – es war lange, lange her –, an dem er in heller Verzweiflung auf den Hof gekommen war, um sich über Ambros zu beklagen. Keiner war unter seinen Schülern so unbändig gewesen wie der Klosterbrosi, und er hatte ihn nimmer züchtigen dürfen. Aber da war er gut angekommen bei dem Klosterbauern. »Ich dank meinem Schöpfer, daß mein Sohn kein Duckmäuser ist!« – so ungefähr hatte ihm der Vater damals geantwortet. Nein, der Ambros war kein Duckmäuser geworden!

Wenn Ruthler nicht reden wollte, so tat es Vefa, die mit hochrotem Gesicht in die Stube gestürzt kam und dabei Lisei, die sie zurückhalten wollte, weil der Vater beschäftigt sei, mit sich zerrte. Sie war in der Sägemühle gewesen; doch hatte Afra ihrer Neugierde keine Geduld entgegengebracht, hatte sie auch Jerg nicht sehen lassen und ihr mit herben Worten die Wege gewiesen. Und nun stellte sich gar Lisei ihr entgegen! Die Unglücksbotschaft schoß ihr wie ein Wasserfall von den Lippen. Was der Klosterbauer Wichtiges zu tun hätte, schrie sie, daß er nicht hören könne, daß der Ambros den Jerg ermordet habe. Jerg sei tot, Ambros sei entflohen; die Landjäger, die ihn hätten verhaften sollen, hätten das leere Nachsehen gehabt. »Und vor Schreck darüber ist die Stasi zu früh in die Wochen gekommen«, krächzte sie weiter. »Und das Kind ist tot gewesen, und jetzt liegt sie selbst im Sterben. Und ihr wißt von nix. Und da sitzt doch der Schulmeister, der's euch hätt erzähln können!«

Lisei fielen vor Entsetzen die Arme schlaff am Leib herunter. Dem Klosterbauern schwollen die Adern auf der Stirn und an den Schläfen dick an; blauschwarz standen sie in dem braunen Gesicht, und seine Augen flimmerten unter den überhängenden Brauen.

»So hat's kommen müssen! Das hat noch gefehlt«, zischte er, und sich gegen Ruthler wendend, der den Kopf tief auf das Papier gebückt hatte, fuhr er fort: »Und Ihr sitzt da und könnt das Maul nit auftun?« Plötzlich kehrte er sich gegen seine Tochter und schrie sie an: »Da schau, wohin der Trotz gegen mich führt! Wirst ihn jetzt noch in Schutz nehmen, den Mordbuben?«

»Der Ambros ein Mörder? Ich kann ... ich kann's nit glauben!« ächzte Lisei mit bebenden Lippen.

»Der Jerg ist auch noch nit tot«, wagte der Schullehrer zu bemerken. »Ich hab heut früh den Doktor gesprochen. Ein Wunder wär's freilich, wann er davonkäm, hat er gemeint.«

»Was liegt an dem Jerg?« schrie der Klosterbauer. »Mein Nam, mein ehrlicher Nam!« Und er griff sich mit beiden Händen ins Haar.

Ruthler blickte starr auf das Tintenfaß vor ihm. Er scheute sich, dem Auge des Mannes zu begegnen, der auch jetzt nur an sich zu denken vermochte.

Lisei durchblitzte die Erinnerung an die Drohung, die ihr Bruder bei dem Begräbnis des Pfarrers gegen Jerg ausgestoßen hatte; die Kraft versagte ihr, sie sank bebend auf den nächsten Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen.

Vefa riß mit ihren Worten den Schleier von dem weg, was Lisei zu sehen sich fürchtete.

»Und wann unser ehrlicher Nam durch den Ambros in Schand geraten ist – wer anders ist schuld daran als die Lisei?« rief sie. »Weil der Ambros nit hat leiden wolln, daß der Jerg mit ihr den Klosterhof heiratet, darum sind die beiden aneinandergeraten. Der Müller, der dabeigewesen ist, hat's offen erklärt.«

»Und sie wird ihn heiraten, trotz alledem! Noch bin ich der Klosterbauer!« schrie dieser mit einem Faustschlag auf den Tisch dazwischen.

»Ja, du bist schuld, daß er auf den Tod liegt«, fuhr Vefa giftig gegen Lisei fort. »Wann du nicht so eigensinnig gewesen wärst, sondern dem Jerg gleich dein Jawort gegeben hättst, nachher hätt der Ambros eingesehn, daß es mit dem Klosterhof für ihn zu End ist, und er würd sich gegeben haben. Meinst, ich weiß nit, wie ihr alle, du, der Ambros und die Mühlerin, euch gegen den armen Jerg zusammen verschworen habt, noch zuletzt beim Begräbnis meines seligen Pfarrers? Jetzt hast du den Ambros zum Totschläger gemacht. Aber das kommt alles von deiner Mutter her. Und warum? Weil der Apfel nit weit vom Stamm fällt.«

Lisei hatte ihre Hände sinken lassen und zeigte ein ganz weißes Gesicht. »Was ich getan hab, das kann ich vor meinem Gewissen verantworten«, wandte sie sich mit vor Erregung zitternder Stimme an Vefa. »Aber du kannst's nit verantworten, daß du noch Steine nach meiner toten Mutter wirfst. Das ist schlecht von dir, oh, so schlecht! und auch der Vater sollt's von dir nit leiden. Ist's noch nit genug für dich, daß du ihr das Leben vergällt hast, wo du konntest?«

»Hör sie!« kreischte Vefa und schlug die Hände zusammen.

»Ja, hör mich!« fuhr Lisei, außer sich, fort, während sie aufstand und Vefa einen halben Schritt näher trat. »Du und ihr alle habt schweres Unrecht getan. Auch der Vater! Ihr habt sie nimmer liebgehabt; ihr habt nimmer einen Menschen auf der Welt liebgehabt als euch selbst, keinen, nit meine Mutter, nit meine Brüder, nit mich! Und jetzt ist der Sturm losgebrochen, den eure Lieblosigkeit gesät hat. Das ist das Strafgericht Gottes!«

Vefa starrte sie mit weitgeöffneten Augen an, und der Klosterbauer, der eine Miene gemacht, als hätte er Lisei bisher nicht richtig verstanden, brüllte: »Sie ist toll, rein toll!«

»Ach, du hast recht; denn ich hab mein ganzes Leben lang gehofft und gehofft, daß du mich ein wenig liebhaben würdest, und ich hätt mein Herzblut dafür hingegeben«, versetzte Lisei mit heraufquellenden Tränen. »Jetzt ist alles verloren. Heilige Jungfrau, erbarm dich unser!«

Sie verließ, um ihre Tränen zu verbergen, rasch die Stube, aus der sich der Schullehrer Ruthler schon vor ihr fortgestohlen hatte.

»Sie hat wahrhaftig den Verstand verlorn!« rief der Klosterbauer Vefa bekam einen Anfall von Lachkrampf. Statt ihr Hilfe zu leisten, schrie der Bruder sie an, ob er denn in einem Tollhause wäre.

Das ganze Leben kam heute, wohl zum erstenmal, seit Joseph Falkner als eigener Herr auf dem Klosterhof wirtschaftete, aus dem gewohnten Geleise. Auch das Ingesinde Ingesinde – zum Hof gehörende Gesinde, im Gegensatz die Tagelöhner war verstört durch die Geschehnisse am Abend vorher, von denen die Kunde nun auch zu ihm gedrungen war.

Lisei eilte zu Stasi. Trotz der großen Erregung, in der sie sich befand, behielt ihr Schritt seine gewohnte Gemessenheit. David war nicht zu Hause. Bei der Kranken in der Kammer saß ein halbwüchsiges Mädchen, das an einem riesigen Wollstrumpf strickte. Es war Mona, die jüngste Tochter der Frau Ruthler, die diese zur Pflege der Kranken heraufgeschickt hatte. Stasi warf sich trotz ihrer Schwäche unruhig in ihrem Bett hin und her. Sie erkannte Lisei nicht. Ihre Augen glänzten vom Fieber, das in ihrem Blut glühte. Ihr Anblick drückte Lisei fast das Herz ab.

Nach einer guten Weile ließen sich schwerfällige Schritte in der Stube nebenan vernehmen, und Mona flüsterte: »Da ist der Vater David!«

Lisei rückte der Kranken noch einmal die Kissen zurecht und küßte sie leise auf die brennende Stirn. Sie schärfte dem Mädchen ein, recht still und umsichtig zu sein, und versprach ihr einen von ihren Röcken wenn sie ihre Sache ordentlich machte. Dann ging sie zu David hinein. Er war von dem Begräbnis des Kindes, das nie das Licht der Welt erblickt hatte, zurückgekommen. In ein Tuch geschlagen, hatte er die kleine Leiche auf den Kirchhof getragen, und außer ihm war nur der Totengräber zugegen gewesen. An einer Stelle, wo das vom Kirchendach tröpfelnde Regenwasser das kleine Grab treffen mußte, war sie bestattet worden. Dieses Wasser ersetzte die heilige Taufe und schützte die Seele des Kindes vor der ewigen Verdammnis, hatte David gemeint.

»Wann die Stasi stirbt, so hat der Ambros auch sie umgebracht, wie das Kind und den Jerg«, sagte er mit ungewöhnlicher Energie zu Lisei und erzählte ihr, wie Ambros am Abend vorher in die Stube gestürmt und Stasi vor Schreck über seine Bluttat ohnmächtig zu Boden gefallen sei. »Aber es hat mir gleich damals geschwant«, fuhr er fort, »damals, als er die Stasi in St. Lorenzen kennengelernt hat, daß daraus nur Unglück kommen würd.« Er erwähnte das Bild der Versuchung in seinem Kloster und versicherte, daß der Böse darauf mit ebensolchen Augen, wie Ambros sie habe, dargestellt gewesen sei.

Lisei schlug unwillkürlich ein Kreuz.

»Das hat die Stasi damals auch getan, wie ich's ihr erzählt hab«, rief David. »Aber der Satan fürchtet sich vor keinem Kreuz mehr. Sie werden ja auch allerwärts umgehaun. Und das Kind hätt auch nimmer leben können, selbst wann's zur rechten Zeit geboren wär. Die Frau Ruthler hat mich daran erinnert, daß das Brautbett von keinem Geistlichen ist eingesegnet worden.« Er setzte sieh auf die Ofenbank und ächzte kläglich.

»Aber wir dürfen die Stasi nit sterben lassen!« versuchte Lisei ihn zu beruhigen und zu ermutigen. »Wir müssen den Kopf oben behalten!«

»Ach, ach, ach!« stöhnte er und wiegte seinen Kopf. »Es hilft ja alles nix. Der Doktor hat gesagt, daß ihr Leben nur noch an einem Haar hängt.«

Wie er erzählte, war Frau Ruthler dem Doktor bei ihrem Heimweg am Morgen auf dem Kirchplatz begegnet und sofort wieder mit ihm heraufgekommen. Er hatte versprochen, durch den Müller eine Arznei aus Bruneck zu schicken.

Diese Mitteilung gewährte Lisei einigen Trost. Wenn der Doktor Ostler eine Arznei schicke, so habe er noch Hoffnung, Stasi am Leben zu erhalten, meinte sie, und um so weniger dürfe David verzagen. »Wir wolln die arme Stasi recht pflegen, Vater David!«

Es gelang ihr, dem Alten wieder Mut zu machen, und sie ließ fortan keinen Tag vorübergehen, ohne – wenn auch nur auf ein Viertelstündchen – nach Stasi zu sehen. Sie brachte immer etwas für deren Pflege mit, mal eingekochten Kirschsaft, eine Zitrone oder Zucker, mal feine Hafergrütze, frisches Weißbrot oder dergleichen.

Doktor Ostler kam jeden zweiten oder dritten Tag entweder auf seinem Schimmel oder mit dem Wagen des Müllers heraus. Meistens stellte er sich gegen Abend ein und blieb die Nacht in St. Vigil, wo er inzwischen die Bekanntschaft des Landrichters und des Oberförsters gemacht hatte; und in ihrer Gesellschaft ward dann mancher Schoppen im »Stern« geleert. Es war die Zeit, in der die Arbeit dem Landmann nicht gestattete, krank zu sein, und daher gebrach es dem Doktor nicht an Muße für Jerg und Stasi. Ihm hatte es die letztere vor allen Dingen zu danken, daß sie nicht aus Gutherzigkeit umgebracht wurde. Das Unglück, von dem sie betroffen worden war, erregte unter den Frauen von St. Vigil das größte Mitleid, und alle wollten mit Rat und Tat mit Hausmitteln und Leckerbissen helfen. Die Grobheit des Doktors aber flößte David und der kleinen Mona eine solche Furcht ein, daß sie niemanden zu Stasi ließen. Auch Lisei achtete genau darauf, daß die Vorschriften des Arztes befolgt wurden. Des Doktors Urteil über Stasi lautete stets: Abwarten!

Lisei drängte alle eigenen Sorgen zurück; dennoch verließ sie der Gedanke an jenes Wort nicht mehr, das sie ihrem Vater und Vefa zugerufen hatte: das Strafgericht Gottes! In ihrer Erregung war es ihr entschlüpft, und nun wirkte es als schreckliche Offenbarung auf sie selbst zurück. Am Krankenbette Stasis fand die Vorstellung neue Nahrung, und mit Bangen und Grausen lauschte Lisei auf die Phantasien, von denen die Ärmste gequält wurde. Bald waren es Selbstanklagen, die die Bewußtlose murmelte, bald flehte sie ihre Mutter mit herzzerreißenden Tönen um Verzeihung an. Dann wieder rief sie Ambros mit den zärtlichsten Namen oder rang mit Afra um ihr Kind das diese töten wollte, und stieß heftige Verwünschungen gegen sie aus. Zuweilen rief sie nach dem Vater um Hilfe oder drückte ihr Kind mit glückseligem Lächeln an sich, wiegte es in ihren Armen und sang zu ihm und bat die Mutter, daß sie es segne. Wieder wütete sie gegen sich selbst, verfluchte sich, daß um ihres Meineides willen ihr Knabe habe sterben müssen, und geriet in ein Rasen, daß die kräftige Lisei sie kaum im Bette festzuhalten vermochte.

Lisei wußte genug, um in den Bildern, die das Fieber verworren und verzerrt widerspiegelte, die Züge der Wahrheit zu erkennen, und zugleich sah sie aus den Wahngebilden eine neue Schuld ihres Bruders Ambros, die schrecklichste, die es für sie gab, hervorgrinsen. Aber wer war rein von Schuld? War sie selbst es? Sehnsüchtig verlangte sie nach ihrem Bruder Hannes. Er war eines Tages oben gewesen, aber sie war zu spät zu Stasi gekommen, um ihn noch anzutreffen. David versprach, sie gleich zu benachrichtigen, wenn er wiederkäme.

Der Klosterbauer schien ihre häufigen Entfernungen vom Hofe nicht zu bemerken, wenigstens fragte er sie nie darum. Die Hauswirtschaft litt freilich nicht unter ihren Samaritergängen; denn sie arbeitete, daheim um so angestrengter, und die Mägde setzten eine Ehre darein, ihr in dieser traurigen Zeit durch pünktliche Erfüllung ihrer Obliegenheiten förderlich zu sein. Es war eine Teilnahme durch die Tat, die sie dankbar anerkannte. Nur der Vater wußte von keiner Teilnahme, und mit keiner Silbe mehr erwähnte er die jüngsten schrecklichen Ereignisse. Alle Mußestunden, die ihm die ländlichen Arbeiten übrigließen, verbrachte er mit seinen Schuldverschreibungen und Gülten. Gilten (Gülten) – Zinsen. Inzwischen begannen die Mahnbriefe, die der Schullehrer für ihn hatte schreiben müssen, ihre Wirkung zu tun. Er unternahm manchen Gang auf das Landgericht, und dieser und jener Schuldner kam auf den Hof, um von ihm Geduld und Nachsicht zu erbitten. Aber er blieb hart, und zuweilen gab es lauten Streit. Mancher ging in zornigem Schelten davon, anderen stand die Verzweiflung deutlich im Gesicht, noch andere suchten um Liseis Vermittlung bei dem Vater nach und schilderten ihr die Not daheim und den unausbleiblichen Ruin, falls der Klosterbauer auf der weiteren Verfolgung seines Rechts bestünde. Sie zu trösten war alles, was Lisei zu tun vermochte. Es schien ihr, als sei sie vom Schicksal dazu bestimmt, alles Unglück und allen Jammer an sich zu ziehen wie der Monte Sella oder der Kreuzkofl die Wetterwolken.

Eines Nachmittags brachte ihr Mona die Botschaft, daß Hannes sie bei Stasi erwarte. Erst nach dem Abendessen konnte sie abkommen, und das hatte sich ungewöhnlich in die Länge gezogen; denn Hartwanger hatte sich eingefunden und war zu Gast geblieben. Auch mit ihm mußte der Klosterbauer Geschäftliches verhandelt haben. Als Lisei in die Stube gekommen war, um den Tisch zum Mahl zu richten, hatte sie beide über den Papieren gefunden, die sie nun schon so gut kannte, und der Glaser hatte mit einem Bleistift, dessen Spitze er mit den Lippen angefeuchtet, in seiner Brieftasche geschrieben. Während des Essens war dann der Klosterbauer aufgeräumter gewesen, als Lisei ihn seit langer Zeit gesehen hatte, der Glasermeister dagegen um so nachdenklicher.

Der Tag war gleich dem vorhergehenden sehr heiß gewesen – eine Qual für die Kranken, doch vortrefflich für die bevorstehende Ernte. Golden standen die Kornfelder im Tal und auf den unteren Berghängen. Die Ähren reichten der schlanken Lisei, die langsam und müde zwischen den Feldern dahinschritt, bis zur Schulter. Kaum vermochte sie die Bürde des eigenen und fremden Leids noch zu tragen. Die Sonne war bereits von den Bergen im Westen verdeckt; die Luft jedoch hatte sich nicht abgekühlt, und die Schwüle war erfüllt vom Gezirp der Grillen in den Feldern, Wiesen und Hecken. Aber auch dieses leise Getön hatte etwas Müdes. Leichtes Gewölk schwebte über den verglühenden Dolomiten. Auch auf der Terrasse, auf der das kleine Gehöft Stasis lag, war es nicht kühler.

In dem Gärtchen neben dem Hause begoß David gerade die Blumen, die er in diesem Jahre umsonst für Stasi gepflegt hatte; vergebens hatte der prächtige Rosenstock geblüht. Der Alte berichtete Lisei, daß der Doktor vor etwa einer Stunde dagewesen sei und wiederkommen wolle. Heute müsse sich die Krankheit entscheiden, habe er gesagt.

Lisei ging traurig ins Haus. Traurig-stumm reichten die Geschwister einander die Hand; dann ging Lisei auf den Fußspitzen zu der Kranken, und Hannes setzte sich wieder auf den Strohstuhl in der Nähe des Fensters, von dem er sich bei Liseis Eintritt erhoben, und öffnete wieder sein Brevier, in dem er vorher anscheinend gelesen hatte. Er las auch jetzt nur Worte, keinen Sinn. Der Schmerz um Stasi machte ihn wehrlos gegen die Erinnerungen, und jeder Moment seines Lebens, seit er sie kannte, ward ihm wieder gegenwärtig. Alles in der Stube war für ihn voll Sinn und Bedeutung, und dort war die Schwelle, auf die Frau Larseit ihren Fluch gelegt hatte. Ambros war nicht darüber gestolpert, aber sein Fuß hatte Stasis ganzes Lebensglück zertreten.

Lisei kehrte nach einer Weile von dem Krankenbett zurück. Stasi lag im Paroxysmus Paroxysmus – höchste, krampfhafte Steigerung eines Krankheitszustandes. des Fiebers, und zudem herrschte in der Kammer eine Bruthitze. Lisei schob sich einen Stuhl zu ihrem Bruder heran.

»Ich fürcht, sie übersteht's nit«, sagte sie niedergeschlagen.

Hannes legte sein Brevier auf das Fensterbrett und strich sich langsam über das hagere Gesicht, das einen bleichen Goldton hatte. Er blieb stumm.

»Ach, wie schrecklich ist dies alles!« begann Lisei wieder mit bebender Stimme.

»Ja, es ist viel Schreckliches geschehn, seit wir uns auf der Waldwiesen gesprochen haben«, erwiderte er leise. »Wann der Mensch wie das Tier einzig und allein dem Trieb seiner Selbstsucht folgt, dann kann Unheil nit ausbleiben. Gott läßt seiner sittlichen Weltordnung nit spotten.«

»Mir bangt, daß auch ich durch meine Selbstsucht zu dem Unglück beigetragen hab«, seufzte Lisei. »Ich muß mir immer vorstelln, daß Ambros die Tat nit begangen hätt, wann ich mich nit geweigert hätt, den Jerg zu nehmen.«

Ihre Worte fielen dem Bruder schwer auf die Seele. Wenn sie sich dessen anklagte, mußte er sich selbst einer viel größeren Schuld zeihen. Daraus, daß er gegen seine innere Überzeugung und unter Nichtachtung der bestehenden Gesetze Stasi und Ambros vermählt hatte, war ja alles Unglück erwachsen! Er sprach diesen Vorwurf, der ihn oft genug gequält hatte, jetzt offen aus.

»Ach ja, es ist wohl keiner unter uns von Schuld ganz rein«, kam es traurig über Liseis Lippen.

»Und dafür müssen wir jetzt büßen in Leid und Schmerzen«, murmelte er.

»Freilich, aber Sie, herzliebster Bruder, hatten die beste Absicht, als Sie den Ambros und die Stasi zusammengaben.«

»Und geschah es etwa aus unlautern Beweggründen, daß du dich weigertest, den Willen des Vaters zu tun?« fragte er, ihre Hand ergreifend. »Ich seh nit ein, wie du das Unglück hättst verhüten können, wann du dich dem Eigennutz des Vaters aufgeopfert hättst.«

»Vielleicht wär's mir dann gelungen, den Vater mit Ambros auszusöhnen und auch mit Ihnen, liebster Herr Hannes«, versetzte die Schwester. »Vielleicht geläng's mir noch, wann Gott den Jerg am Leben erhält.«

»Lisei, Lisei!« rief Hannes betroffen. »Ich bitt dich, was geht in dir vor? Woran denkst du? Und die Treu, die du Wolf gelobt hast?« Sie ließ den Kopf sinken, und er fuhr fort, während er ihre Hand inniger umfaßte: »Kennst du mich so schlecht, daß du dir einbildest, ich könnt für meinen Teil um den Preis deines Lebensglücks auch nur im entferntesten eine Aussöhnung mit dem Vater wünschen?«

»Wie Sie neulich im Wald droben gepredigt haben, da ist mir erst ganz deutlich geworden, was alles zwischen dem Wolf und mir liegt«, sagte jetzt Lisei, den Bruder mit einem trüben Lächeln anblickend. »Der Wolf hat immer ein Herz zu uns gehabt; aber wir können ja nimmer zusammenkommen. Er ist ja ganz unschuldig an dem Leid und Übel, das seine Landsleut uns Tirolern zugefügt haben, aber all das Leid und Übel, wie Sie es dargestellt haben, liegt zwischen uns. Der Haß reißt uns auseinander. Wie ein wilder Bergstrom geht er zwischen uns durch und duldet nit Brücken noch Steg von Herz zu Herz.«

»Arme Schwester«, sagte Hannes bewegt. »Lechner ist ein ehrenhafter Mann; aber es ist leider wahr: das Elend unsres schönen Vaterlands liegt zwischen euch. Und wann du auch mutig den Strom durchwaten wolltst, du dürftest schwerlich glückliche Tag in der Fremde finden, an der Seit eines Mannes, dessen Landsleut Tirol knechten und mißhandeln.«

»Er würd das Leben für mich lassen, wann's sein müßt, und ich ließ es für ihn«, versetzte Lisei. »Auch er wird's sich längst deutlich gemacht haben, daß wir nimmer zueinander kommen können. Und ich hab jetzt oft an das denken müssen, was Sie mir einmal bei dem Bildstöckl auf dem Jöchl erzählt haben. Sie haben Ihr Kreuz so mutig auf sich genommen und getragen, und als Sie neulich so unerschrocken von dem wahren Glauben und von dem Vaterland gepredigt haben, da hab ich wohl gewußt, warum es Ihnen so tief aus dem Herzen ist herausgekommen. Ich hab an all dies immer wieder und wieder denken müssen, wann ich da drinnen am Bett der armen Stasi gesessen bin, und hab mir den Kopf zermartert, wie ich ihr helfen könnt. Ach liebster Herr Hannes, sollt ich denn die Schuld, in die der Vater und Ambros gefalln sind, nit sühnen können, wann ich mein Kreuz auf mich nähm, wie Sie's getan haben? Wann ich jetzt dem Jerg seine Hand aus freien Stücken annähm, hab ich mir vorgestellt, dann müßten sie alle ihre Erbitterung und ihren Haß aufeinander vergessen. Der Ambros ist der Unglücklichste von allen, und ich hab ihn immer in meinem Herzen getragen, als wär ich seine Mutter. Vielleicht kann ich auch der Stasi helfen, wann ihr die Heiligen das Leben lassen.«

Von seiner Untreue gegen Stasi mochte sie selbst zu Hannes nicht reden, und dieser war von ihrem Edelmut so ergriffen, daß er nicht gleich eine Antwort fand. Er griff nach seiner Tabaksdose.

Da erschien der Doktor. David, der, nach dem er die Pflanzen begossen, auf der Schwelle der Haustür gesessen und seine Betrübnis für sich allein im Gebet zu ersticken versucht hatte, folgte ihm.

»Uff, ist das schwül!« sagte der Doktor, und sein Atem erfüllte die Stube mit Weingeruch. Er gebrauchte übrigens beim Sprechen nicht die volle Kraft seiner Lungen, wie er es in der Mühle getan hatte. Seine schweren Sporen – er war zu Pferde nach St. Vigil gekommen – hatte er abgeschnallt, und ihre Räder schauten aus der Seitentasche seines Reitrocks. »Grüß Gott, Jungfer Falkner«, fuhr er fort. »Beiläufig eine Neuigkeit, Herr Pfarrer! Ich hörte eben im ›Stern‹, daß Lacedelli von der Regierung zur Nachfolge in St. Vigil ernannt ist.«

Hannes entgegnete, daß er es nicht anders erwartet habe.

»Freilich!« zuckte der Doktor die Schultern. »Quos Deus perdere vult, dementat prius.« Quos Deus perdere vult, dementat prius – (lat.) Die, die Gott verderben will, verblendet er vorher. – Es handelt sich hier um die anfechtbare Übersetzung eines griechischen Erläuterungsverses zu Sophokles' »Antigone«.

Mona, die in der Kammer gesessen und den Doktor sofort an der Stimme erkannt hatte, war in die Küche geschlüpft und brachte jetzt die angezündete Schnabellampe, die sie auf den Tisch stellte. Es herrschte bereits tiefe Dämmerung in der Stube.

»Und jetzt wolln wir nach unsrer Kranken schaun«, nahm Doktor Ostler wieder das Wort, strich sich das Haar mit beiden Händen in die Höhe und ergriff die Lampe. An der Schwelle drehte er sich noch einmal um und sagte: »Ihr braucht mir nit nachzukommen; es ist schon ohnedem heiß genug in der Kammer. Wann Ihr aber etwas tun wollt, Jungfer Lisei, dann kneift den Daumen. Oder betet um ein gehöriges Donnerwetter, damit sich die Luft abkühlt.«

Hannes schaute auf den matten, zitternden Schein, der durch die halboffene Kammertür auf die Dielen hereinfiel, und verglich damit Stasis Leben. Aber er wollte stark sein und riß sich gewaltsam von dem Gedanken los, der seine Kraft unterwühlte. War das Christentum nicht die Religion des Todes? Und er, ein Priester dieses Glaubens, wollte sich vom Schmerz übermannen lassen, weil sich eine Seele, die in der kurzen Spanne ihres Daseins so viel schweres Leid erfahren hatte zur ewigen Seligkeit aufzuschwingen im Begriff stand? Der Mensch in ihm war jedoch mächtiger als der Priester. Er ging geräuschlos vor das Haus.

Unterdessen fühlte Doktor Ostler Stasi den Puls und zählte die Schläge, während er auf seiner dicken silbernen Taschenuhr den Sekundenzeiger verfolgte. Der Puls raste. Sanft legte er den Arm Stasis wieder auf das Deckbett, stemmte die Fäuste auf seine Schenkel und betrachtete die Kranke mit so ingrimmigen Augen, daß man hätte annehmen müssen, sie sei seine ärgste Feindin. Es war einer jener Momente, in denen der Arzt die Ohnmacht seiner Wissenschaft fühlt. »Hab dem Teufel, der ihn schon am Kragen hatt, den Jerg abgejagt«, murrte er. »Ist freilich ein Sprüchlein, das heißt: Unkraut vergeht nit. – Aber jetzt ist's Zeit, daß wir Vernunft annehmen, Frau. Donnerwetter!«

Aber Stasi schien nicht Vernunft annehmen zu wollen, und näher rauschte der Todesengel, der an Jergs Haupt vorübergestrichen war.

Jerg war nach einem heftigen Wundfieber zum Bewußtsein gekommen und besserte sich langsam. Vor einigen Tagen hatte Doktor Ostler dem Müller sagen können, er möge jetzt, wenn er Lust hätte, ein Glas Wein auf die Gesundheit seines Sohnes trinken. Und er hatte den Zusatz gemacht: »Ob's lohnt, daß ich ihn vom Galgen geschnitten hab, müßt Ihr besser wissen als ich.«

Der Vater hoffte es, hoffte, daß seinem Sohn die harte Lehre, die er erhalten, zum Besten gedeihen würde. Afra aber vernahm die Botschaft mit finster zusammengezogenen Brauen. Sie haßte Jerg und wünschte seinen Tod. Sollte der Mörder ihres Glücks genesen und sich des Lebens freuen, während Ambros als ein Geächteter umherirren mußte? Wiederum wünschte sie, daß das Bekenntnis ihrer Liebe zu Ambros ihren Mann zornig gemacht hätte: dann hätte sie ihn verlassen und Ambros gesucht und gefunden. Und sie träumte davon, wie sie an seiner Seite unstet, doch glücklich über die Erde wanderte. Daß die Blutschuld von Ambros genommen war, änderte an ihren Empfindungen gegenüber Jerg nichts.

Ihren Mann bekümmerte es tief, sie so unglücklich zu sehen, und er zürnte Ambros darob. Wäre es ein lediger Bursche gewesen, der ihre Liebe errungen hätte, so hätte sich ein gutes Ende absehen lassen. Bei seinem hohen Alter konnte es ja nicht mehr lange währen, und sein Tod würde Afra frei machen. Aber Stasis Tod zu wünschen – einer solchen Schlechtigkeit war er unfähig. Er dachte daran, Jerg nach dessen Wiederherstellung sein ganzes Anwesen zu überlassen und mit Afra irgendwo anders hinzugehen, etwa in deren Heimat. Vielleicht würde es Afra in einer anderen Umgebung leichter, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Sein Vorschlag ließ sie gleichgültig.

»Wozu?« versetzte sie. »Ich kann mir das Herz nit aus der Brust reißen.«

»Nein, das kannst du nit«, seufzte er. »Aber schau, alles könnt ich dem Ambros vergeben, nur das nit, daß er dich so unglücklich gemacht hat, er, der eine so gute Frau sein eigen nennt Das ist eine doppelte Schlechtigkeit von ihm. Und das solltest auch du dir sagen.«

Afra verteidigte Ambros nicht Sie blickte ihren. Mann mit düster brütenden Augen an, und über ihre Lippen glitt nur die Frage:, »Bin ich besser als er?«

Da öffnete sich die Stubentür und ließ Vefa ein, die sich sonntäglich sauber geputzt hatte. Sie mußte schnell gegangen sein, denn ihr Gesicht war hochrot, als hätte sie am Herdfeuer gestanden.

»Was wollt Ihr noch hier?« wandte sich der Müller unmutig gegen sie. »Ich sollt meinen, daß Ihr hier schon Unheil genug angerichtet habt.«

»Nein, wie Ihr mich anfahrt!« rief sie betroffen. »Ihr seid auch einer von denen, die das Glück zum Fenster hinauswerfen möchten, wann man's ihnen zur Tür hereinbringt«

»Nennt Ihr das ein Glück, daß mein Sohn beinah erschlagen ist und die Stasi im Sterben liegt?« fragte Arigaya bitter. »Wollt Euch wohl dessen gar noch rühmen?«

»Was hab ich mit dem Ambros zu schaffen?« protestierte sie. »Für den Jerg bring ich was, das ihn bälder gesund machen wird als alle Arznei, und die Stasi wird auch nit sterben. Die Lisei hat mir gesagt, daß das Schlimmste überstanden ist. Ich komm eben vom Klosterhof. Bei ordentlicher Pfleg wird sie schon wieder auf die Beine kommen, hat der Doktor gemeint, und Ihr braucht Euch nit um sie zu sorgen. Freilich, mit ihrem Kopf, da schaut's übel aus. Das Fieber ist weg, aber sie redet irr.«

»Jesus, Maria und Joseph!« rief der Müller erschreckt. Afra wurde bleich.

Vefa betrachtete beide fast mit Verwunderung; dann sagte sie: »Ja, sie hat den Verstand verlorn; das hat sie jetzt davon, daß sie den Ambros mit ihren Künsten an sich gelockt hat! Und jetzt möcht ich den Jerg sprechen. Ich hab was an ihn auszurichten.«

Der Müller schien sie nicht zu hören, und sie mußte ihren Wunsch wiederholen.

»Laßt ihn in Ruh!« versuchte sie der Alte abzuwehren. »Er ist noch etwas schwach, und Eure Botschaften taugen den Teixel. Heilige Mutter Gottes, die arme Stasi!«

»Ach was, von der ist jetzt nit die Red!« versetzte Vefa und machte mit der Rechten eine wegwerfende Bewegung. »Aber was meint Ihr, wann ich Euch sag, daß mich die Lisei schickt? Die hat doch wohl bei Euch einen Stein im Brett? Ja, und damit Ihr's gleich wißt – denn ich nehm einem alten Freund seine Grobheit nit übel: die Lisei sträubt sich nit mehr gegen den Jerg.«

Mit triumphierender Miene stand sie vor dem Müller, der sie nur stumm anzuschauen vermochte, während Afra eine kurze, höhnische Lache aufschlug.

Vefa warf mit einem Seitenblick auf Afra den Kopf auf und sagte zu dem Müller: »Gelt, da bleibt Euch der Mund vor Verwunderung offenstehn? Jetzt habt Ihr das Glück im Haus, und das bringt keinen um.«

Sie eilte aus der Stube, und gleich darauf hörte der Alte ihr Pochen an der Kammertür seines Sohnes.


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