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3. Kapitel

Frau Larseit ruhte in einem mit Bettkissen ausgepolsterten Armstuhl, und Stasi saß mit einer Handarbeit in der Nähe eines der beiden Fensterchen. Die einst so rüstige Frau war bleich und abgezehrt; in den durchsichtig mageren Händen hielt sie einen Rosenkranz, und ihre unheimlich großen Augen waren auf ein schlichtes Kruzifix an der getäfelten Wand neben der Kammertür gerichtet. Es bestand ein schneidender Gegensatz zwischen Mutter und Tochter. Hier das junge, aufblühende Leben, das eine rote Nelke, die sich Stasi hinter das Ohr gesteckt hatte, gleichsam symbolisierte – und dort der bleiche Tod! Seine Mahnungen vernahm die Witwe in dem Ticken der alten Wanduhr, in dem Bohren des Holzwurms, und schmerzlich zuckte es um ihre Lippen, während ihre Augen auf dem Kreuz ruhten. Kein Wunder war nach dem Bittgang ihrer Tochter an ihr geschehen; vielmehr fühlte sie sich kränker als zuvor. Sie war stets eine fromme Frau gewesen, und seit ihr Bruder David bei ihr Schutz vor dem Leben gesucht, gegen das er sich rat- und hilflos wie ein Kind fühlte, war sie es noch mehr geworden. Das Beten verstand er aus dem Grunde, und sie beteten viel, sehr viel miteinander.

Der Gedanke an den Tod war für sie voll Bitternis. Nicht das Sterben als solches war ihr schrecklich – denn es brachte ihr Erlösung von ihren Leiden – sondern es bekümmerte sie schwer, daß sie ihr unerfahrenes Kind in der Welt allein zurücklassen sollte. Außer David besaß Stasi keinen Verwandten, und der Ohm bedurfte vielmehr selbst einer kräftigen Führung, als daß er ein junges Mädchen zu leiten imstande gewesen wäre. Hatte er doch nicht einmal den schrecklichen Ambros von seiner Nichte fernzuhalten gewußt! Stasi hatte es der Mutter noch am Abend selbst erzählt, erregt durch die Fülle der neuen Eindrücke, die sie auf der Bittfahrt gesammelt hatte. Frau Larseit hätte fast lieber gesehen, wenn der freche Soldat ihre Tochter geküßt, als daß Ambros sie beschützt hätte. Nein, sie wußte dem jungen Falkner hierfür keinen Dank. Die Beziehungen, in denen ihr Mann einst zu dessen Mutter gestanden, waren ihr unbekannt. Kaspar Larseit hatte das Geheimnis seiner ersten und einzigen Herzensneigung mit ins Grab genommen. Der durchaus praktische Sinn seiner Frau hätte für eine solche Romantik auch kein Verständnis gehabt. Es war eine Vernunftheirat gewesen, und beide Teile waren im ganzen gut dabei gefahren. Leider war Stasis Vater zu früh gestorben, als daß er viel hätte vor sich bringen können. Immerhin hatte er seiner Familie den kleinen Hof schuldenfrei hinterlassen.

Jene alten Geschichten beeinflußten Frau Larseits Urteil über Ambros also nicht. Aber gab es irgendeine Teufelei, bei der der Bursche nicht als Rädelsführer genannt worden wäre? Sie hatte ihrer Tochter gegenüber wegen seines Heimgeleits weiter keine Bemerkungen gemacht, um so schärfer aber hatte sie ihren Bruder unter vier Augen ins Gebet genommen. Eine sanftmütige Frau war sie nie gewesen, und durch die Krankheit war sie darüber hinaus sehr reizbar geworden. David hatte zerknirscht wie ein armer Sünder vor ihr gestanden; denn sie hatte ja wie immer, so auch diesmal, recht gegen ihn, tausendmal recht Er war so beschränkt und unbeholfen – was hätte er tun sollen? Und was würde er in Zukunft tun können? Dieser ratlose Mensch, der, wie eine Uhr, nur ging, wenn er aufgezogen war, und der von seiner Schwester jeden Morgen zu seinem Tagewerk aufgezogen werden mußte, sollte in Zukunft Stasis Beschützer sein? Ach, wenn die Klöster nicht aufgehoben wären, dann hätte Frau Larseit wohl gewußt, wo sie ihr unschuldiges Kind nach ihrem Tode vor allen Fallstricken der bösen Welt würde bewahren können!

Die Aufregung, die ihr diese Gedanken und Erwägungen verursachten, zog ihr einen heftigen Hustenanfall zu, und Stasi sprang in die Küche, um einen Kräutertee, der in der warmen Herdasche stand, zu holen. Es war derselbe Trank, von dem sie Ambros auf dem Rückweg von St. Lorenzen erzählt hatte.

Frau Larseit lag, noch erschöpft von dem Anfall, in ihren Kissen, als derjenige, der ihr die lindernden Kräuter empfohlen hatte, in das Stübchen trat. Gleich seinem Bruder war er von stattlicher Größe, aber er war hager wie ein Stock und schmal in der Brust, und sein Gesicht sah bleich und leidend aus. Er trug hohe Stiefel und einen langen Primizrock Primizrock – der schwarze Rock, den der neugeweihte katholische Priester anläßlich seiner ersten selbstgelesenen Messe, der Primiz, zum Zeichen seiner Würde trägt. von dunkelblauem Tuch; denn er hatte seine theologischen Studien beendet und war nun zum Kuratprovisor für St. Martin im Gadertal bestimmt worden. Vor etwa vierzehn Tagen war er von Innsbruck nach Hause zurückgekehrt, um sich erst körperlich ein wenig zu erholen, bevor er in seine Stellung eintrat. Eine große weiße Blechkapsel mit vielen Beulen hing ihm an einem Riemen über die Schulter. Herr Hannes war schon in seiner Kindheit ein eifriger Botaniker gewesen, und stets hatte man ihn, wenn er in den großen Sommerferien zu Hause gewesen – wo sich außer Lisei niemand um ihn kümmerte – mit seiner Botanisierbüchse in den Bergen umherstreifen sehen. Das war ein Tun und Treiben, dessen Zweck die guten Vigiler nicht begriffen, und daher nannten sie ihn spöttisch das Kräuterweibl. Die von Vater und Mutter zurückgewiesene Liebe hatte sich zu den Pflanzen geflüchtet. Sie waren die in eine ideale Welt reichenden Wurzeln seines Herzens, das aus dem kargen Boden, in dem es mit seinen Erdwurzeln haftete, nicht die erforderliche Nahrung zu ziehen vermochte.

Auf diesen Wanderungen war Hannes schon vor Jahren mit Stasi bekannt und vertraut geworden. Er hatte sie eines Tages beim Pilzesuchen getroffen und daran gleich eine botanische Lektion geknüpft; denn es lag etwas Lehrhaftes in seinem Wesen, das die Zeit immer mehr entwickelt statt abgeschwächt hatte. Stasi war damals noch ein Kind gewesen, ein liebliches Kind, das aus seinen sanften Augen halb verwundert, halb träumerisch in die Welt geblickt. Über dem theoretischen und praktischen Unterricht in der Pilzkunde war es spät geworden, und Hannes hatte Stasi nach Hause begleitet, um sie bei der Mutter, deren Schelte sie fürchtete, zu entschuldigen. Frau Larseit hatte denn auch Gnade für Recht ergehen lassen und das Herrle mit einem Glas Milch traktiert. Seitdem war er in allen Sommerferien als Schüler wie auch als Student ein häufiger Gast auf dem kleinen Ansitz gewesen, und der Empfang, der ihm jetzt von Mutter und Tochter zuteil wurde, bewies, daß er beiden willkommen war. Die Augen der Mutter grüßten ihn mit einem plötzlich helleren Schimmer, während Stasi ihm vertraulich zulächelte und ihm flink einen Stuhl bereitstellte.

Er hatte Stasi einen Strauß Edelweiß mitgebracht. Stasi liebte die Blumen, und er kam selten, ohne ihr etwas Hübsches oder Seltenes von seinen Streifzügen durch Flur und Wald mitzubringen. Sie dankte ihm hocherfreut.

Hannes setzte sich zu der Kranken; ein heiteres Licht lag auf seinem hageren Gesicht, das dem seiner Schwester sehr ähnelte. Beide hatten dieselben graublauen Augen. Wie immer, so lieh er auch jetzt den Klagen der Kranken ein geduldiges Ohr, während er eine hörnerne Schnupftabaksdose zwischen seinen langen, dünnen Fingern drehte. Seine Augen ruhten auf der zierlichen Gestalt Stasis, die, am Tisch stehend, ihre Blumen in einem Glas ordnete und sich dann wieder zu ihrer Handarbeit setzte. Der Kuratprovisor nickte zuweilen zu dem ausführlichen Krankenbericht der Mutter, warf auch dann und wann ein tröstendes Wort ein, immer aber kehrten seine Augen, über denen die Stirn zwei leuchtende Buckel bildete, zu seiner kleinen Freundin zurück. Ihr hübsches, weißes Profil hob sich deutlich von dem hellen Hintergrunde des Fensters ab, an dem sie saß, und Glanzlichter streiften ihr reiches, dunkelbraunes Haar. Von Zeit zu Zeit sah auch sie zu Hannes hinüber und lächelte freundlich, namentlich wenn er etwas sagte.

»Ach«, seufzte Frau Larsejt, »was hab ich denn so schwer gesündigt, daß mir der Heiland ein so schweres Kreuz aufgeladen hat?«

Der junge Geistliche nahm eine Prise und sagte, während er die heruntergefallenen Körnchen von seinem Rock stäubte: »Sünder sind wir alle. Ich hab Euch aber schon die Ursach Eures Leidens erklärt. Ihr habt Euch in stark erhitztem Zustand der scharfen Zugluft im Stadel Stadel – Scheune ausgesetzt.«

Die Kranke schüttelte ungläubig den Kopf. Die Erklärung war ihr zu einfach und natürlich, um sie gelten zu lassen. Frau Larseit hatte so viel über ihren Zustand nachgegrübelt, mit ihrem Bruder gebetet und über die Sünden der Welt gestöhnt, daß sie zu der Überzeugung gelangt war, die wahre Ursache liege in ihrer besonderen Sündhaftigkeit. Wie wohl wäre ihr gewesen, wenn Hannes sie bei dieser ihrer Sündhaftigkeit herzhaft gepackt und gerüttelt und geschüttelt hätte! Aber Hannes war kein frommer Eiferer, wenn er auch noch frisch von der geistlichen Politur glänzte, die er in dem Seminar erhalten hatte, und von seiner jungen Würde noch etwas eingenommen war.

»Frau Larseit«, entgegnete er auf deren Protest mit einer gewissen Salbung, indem er ihren Arm mit zwei Fingern berührte, »statt Euch einer besondern Sündhaftigkeit anzuklagen, solltet Ihr Euer Leiden mit Geduld tragen.«

Die Kranke beugte sich näher zu ihm und flüsterte: »Aber was wird aus meinem Kind, wenn mich mein Heiland zu sich ruft? Sie ist noch so jung, und die Zeiten sind gar so gottlos.«

Hannes erschrak vor dieser Frage. Er strich sich mit der Hand über die Stirn und ließ sie eine Weile über den Augen ruhen.

Stasi sah nach der Wanduhr und verließ die Stube. Es war an der Zeit, für das Abendessen zu sorgen.

»Ach, Herr Hannes, daß keiner mehr ins Kloster gehn darf!« nahm die Mutter wieder das Wort. »Sonst könnt ich ruhig sterben!«

»Die Stasi ins Kloster?« rief er, und seine bleichen Wangen röteten sich lebhaft. »Das junge, blühende Madi ins Kloster? Das verhüt Gott! – Aber«, fuhr er, seine Erregung bezwingend, fort, »Eure letzte Stund steht wohl noch eine gute Weil aus, und ich will dran denken. Es wird sich wohl Rat schaffen lassen.« Er nahm eine ungewöhnlich große Prise und setzte dann hinzu: »Ich will der Stasi gern zur Seit stehn, als ob sie meine leibliche Schwester wär.«

»Ich wollt, Sie wärn ihr wirklicher Bruder!« versetzte die Mutter. »Dann könnten Sie das Kind mit sich auf Ihre Pfarr nach St. Martin nehmen, und sie würd Ihnen die Wirtschaft führen.«

Er atmete tief auf, und um seine schmalen Lippen spielte wieder, wie bei seiner Begrüßung Stasis, ein Lächeln. Stasi, die er wie eine jüngere Schwester liebhatte, seine Wirtin! Das war ein freundlicher Gedanke. Und während er ihm nachhing, verfolgte die Kranke den ihrigen. Sie dachte an Ambros und daran, wie verschieden doch die Brüder seien. Und sie überlegte, ob sie Hannes nicht bitten solle, um Stasis willen ein Auge auf seinen Bruder zu haben. Aber sie unterließ es, weil der Aufenthalt des jungen Geistlichen in dem Vigiltal nur noch von kurzer Dauer sein sollte, und klagte lediglich darüber, daß auf David gar kein Verlaß sei. Er sei selbst wie ein Kind und habe keinerlei Menschenkenntnis.

»Ach ja«, wiederholte sie, »wann Sie, Herr Hannes, meiner Stasi ihr Bruder wärn!«

Stasi hatte mittlerweile in der Küche Feuer angezündet und den Kessel darüber gehängt. Nun trat sie aus dem Hause, um aus dem Gärtchen Schnittlauch zu holen. Die frische, erquickende Luft einsaugend, blieb sie einige Sekunden auf der Türschwelle stehen und ließ die Augen über das Tal schweifen, über das sich die Ruhe des nahenden Abends breitete. Der kleine Ansitz der Familie Larseit hing an der Sonnenseite eines der Berge über St. Vigil, dessen Schindeldächer sich gegen den Bannwald hin und auf der anderen Seite an dem Bachufer zusammendrängten. Einige Häuser, darunter die Schneidemühle Arigayas und das Wirtshaus »Zum Stern«, lagen jenseits des Baches am Fuß des Höhenzuges, über dessen Einsattelung, das Jöchl genannt, ein Pfad in das Gadertal führte. Wald krönte die Höhe des Jöchls, und davor lag ein einsamer Hof, aus dessen Schlot blauer Rauch kerzengerade in die stille Luft stieg. Zwischen den beiden Hüttengruppen des Dorfes erhob sich auf weitem, grünem Plan die Kirche mit dem Friedhof, und ringsum verstreut lagen das Gerichtsgebäude, das Schulhaus, die Pfarre und vor der Bruscia, Bruscia – Brusca; gestrüppreiches Walddickicht. aus der die Dolomiten mit ihren weichen, blauen Schatten aufragten, die Oberförsterei. Der Hang brach nur wenige Meter vor Stasi ziemlich steil nach St. Vigil ab, und deshalb lief eine dichte Schutzhecke aus Schlehdorn den schmalen Weg entlang, der von Osten her nach dem Ansitz führte.

David kam, eine Karre mit frischem Grasfutter vor sich herschiebend, den Heckenweg entlang. Das ungeschmierte Rad quiekte und pfiff. »Jetzt wird die Bleß auch bald kommen«, rief er seiner Nichte zu, als er vor dem Stall haltmachte. Die Bleß war die Larseitsche Kuh, die mit ihren anderen Artgenossen, die von den Vigilern wegen des täglichen Milchbedarfs nicht auf die Alp geschickt wurden, tagsüber im Bannwald weidete. Stasi nickte dem Ohm ein Ja zu und ging nach dem Gärtchen. Es war ein reizendes Stückchen Erde – dank dem Ohm, der es in seinen Mußestunden sorgsam pflegte; denn er war ein Blumenfreund. Das Prachtstück des Gärtchens bildete ein Rosenbaum, der so alt war wie Stasi. Ihr Vater hatte ihn an ihrem Tauftage gepflanzt. Er war mit Knospen und Blüten geradezu überschüttet, und deren Wohlgeruch, vermischt mit dem der Nelken, des Lavendels und der Reseda, erfüllte die Luft. Stasi drückte ihr hübsches Gesicht in die Rosen. Wie süß betäubend das duftete! Sie schnitt den Lauch ab und ging dann langsam zu einem Bänklein, das unter Geisblattranken an der Hausmauer stand. Ein paar Minuten hatte sie wohl noch Zeit, bis das Wasser über dem Feuer kochte. Sie setzte sich nieder, legte die Hände in den Schoß und atmete in langen Zügen die balsamische Luft ein. Läutete es unten in St. Vigil nicht das Ave Maria? Stasi wurde sich dessen nicht deutlich bewußt. Es klang wie eine sanfte Musik aus weiter, weiter Ferne.

Plötzlich taten sich ihre halbgeschlossenen Augen weit auf. Was war das? Brauchte sie nur an Ambros zu denken, um ihn leibhaftig vor sich zu sehen? Ja, sie hatte an ihn gedacht; aber sie wurde sich dessen erst bewußt, als sie ihn jenseits des Zaunes stehen sah und leise ihren Namen rufen hörte. Es überkam sie fast ein Grauen, und sie saß wie gelähmt.

»So komm doch her!« bat er, und sie erhob sich mechanisch und trat näher zu ihm hin, während sie die Augen wie verzaubert auf den hübschen Burschen gerichtet hielt.

»Gestern hast dich ohne Abschied von mir aus dem Staub gemacht, so kannst mir jetzt wohl die Hand geben«, sagte er und streckte ihr die seine über das Staket hin.

Zögernd reichte sie ihm die Hand. Sie wußte nicht, wie ihr geschah. »Warum bist denn so zag, kleines Madl?« fragte er, ihre Hand festhaltend.

»Ich bitt dich, geh weg!« flüsterte sie beklommen.

»Ich tu dir ja nix zuleid«, beschwichtigte er sie, fügte aber gleich mit einem Aufblitzen seiner Augen hinzu: »Oder hat dir die Müllerin etwa einen Floh ins Ohr gesetzt?«

»Ach nein, sie hat auf dem ganzen Weg kein Wörtlein zu mir gered't«, versicherte Stasi. »Aber ich bitt dich, geh weg!« Und sie versuchte, ihre Hand frei zu machen.

Aber er hielt sie fest. »Ja, warum soll ich denn von meinem Glück fortgehn? Es sieht uns ja keiner«, rief er und blickte ihr mit feuriger Zärtlichkeit in die Augen.

Sie wollte sich dem Banne entziehen und sah zur Seite. Aber es nützte nichts: Sie mußte, ob sie wollte oder nicht, die Augen wieder auf ihn richten. Das Blut stieg ihr in die Wangen.

»Stasi!« flüsterte er.

»Ach, laß mich doch!« flehte sie in größter Verwirrung. »Ich muß die Bleß melken.«

Er hatte Mitleid mit ihr, und die Bleß kam auch eben an der Hecke entlang bedächtig nach Hause spaziert. Als sie aber die fremde Gestalt an dem Staket gewahrte, blieb sie stehen und muhte.

»Wann du mir eine von den schönen Rosen da schenkst, will ich gehn«, sagte Ambros und deutete auf den Rosenbaum.

Stasi blickte unentschlossen von ihm auf den Strauch.

»Ich bitt dich gar schön, du liebes Dirndl«, schmeichelte der Bursche. Da pflückte Stasi eine von den Rosen und reichte sie ihm über den Zaun.

»Jetzt dank ich dir auch tausendmal!« rief er, an der Blume riechend. »Und morgen komm ich wieder, aber später, wann's dunkel ist«

»Ach nein, nein!« wehrte sie erschrocken ab.

Er aber scherzte: »Ach ja, ja, du mein herzliebster Schatz!«

Er schwenkte die Rose zu ihr hin – so recht mit Teufelsaugen, würde David gesagt haben – und verschwand in der Richtung nach dem Klosterhof, woher er gekommen war.

Stasi bedeckte ihr brennendes Gesicht mit den Händen. Es war ihr, als habe sie mit der Rose ein Stück von ihrem Leben weggegeben. Das Herz war ihr so schwer von Angst und Weh, daß sie hätte weinen mögen. Und die Rosen, Nelken und Reseda dufteten so betäubend. Sie floh nach dem Hause. Den Schnittlauch vergaß sie.

Vor der Tür begegnete ihr Hannes. Er bot ihr wie gewöhnlich zum Abschied die Hand. Stasi ergriff sie in ihrer Aufregung und Verwirrung mit ihren beiden Händen an Daumen und Kleinfinger und wollte sie küssen, wie sie es als Kind bei dem Herrn Pfarrer zu tun gewohnt war. Hannes aber entzog sie ihr hastig und entfernte sich mit großen Schritten. Nach einer Weile blieb er stehen und sah zurück. Stasi war verschwunden, und sich selber scheltend, ging er langsam weiter.

Was war ihm nur eingefallen, sich so schroff gegen Stasi zu benehmen? Weshalb hatte ihm der versuchte Handkuß einen Stich ins Herz gegeben? Er war jetzt immerhin ein geistlicher Herr und hatte auch nichts dabei gefunden, daß sie ihn nicht mehr einfach bei seinem Vornamen, sondern Herr Hannes nannte. Selbst seine Geschwister und der Vater nannten ihn so; das war einmal so Brauch. Das Wörtchen Herr erhob ihn über den Stand, aus dem er hervorgegangen war, und er fühlte sich als junger Priester. Dennoch … Ja, was denn? Warum schlug sein Herz heute nicht so gleichmäßig wie sonst, wenn er bei Stasi und ihrer Mutter gewesen war? Hatte er Stasi nicht immer wie eine Schwester liebgehabt, wie Lisei? Nein, nicht wie Lisei! Denn diese war ihm zugleich Mutter gewesen. Er blickte um sich, als ob er den Pfad verloren habe. Der aber lag deutlich vor ihm, so schmal er war: den Hang hinunter zur Landstraße, die von St. Vigil her einen weiten Bogen um das tiefe, steinige Bett beschrieb, das die vom Spitzhörndl kommenden Wasser in den Vigilbach leitete. Kurz vor der Brücke über den Spitzhörndlbach, der im Frühjahr und Herbst zuweilen gewaltig toste, berührte der Pfad die Heerstraße.

»Mein Jesus, was ist das?« murmelte Hannes beklommen und zog den Hut, in dem sein Kopf bis zu den Ohren stak, noch tiefer ins Gesicht. Dann wurde es ihm plötzlich zu heiß, und er riß den Hut vom Kopfe. Tief atmend blieb er stehen, und seine Augen richteten sich auf die kleine Kirche von Hof, die auf einem Bergvorsprung über dem Klosterhof thronte und bereits von den Abendschatten verschleiert wurde. Es waren Torheiten und Einbildungen, denen er sich hingab. Die Unterredung mit der Kranken über Stasis Zukunft hatte ihn aufgeregt, nichts weiter, und er setzte seinen Hut wieder auf. Wenn sich seine Gefühle für Stasi von denen für Lisei unterschieden, wenn sie zutraulicher und herzlicher waren, als er eingestehen wollte, so hatte das seinen Grund darin, daß sie ohne Beimischung, nicht wie seine Empfindungen für Lisei, sondern rein brüderlicher Natur waren. Wirklich, er hatte Stasi herzlich lieb und wollte ihr, wie er es ihrer Mutter versprochen, ein treuer Bruder, ein geistlicher Freund und Führer in dieser bösen Welt sein. Es war eine schöne Mission, die er an dem Mädchen zu erfüllen hatte, und die Augen des jungen Priesters leuchteten. Dann dachte er an seine Predigt. Herr Moltenbecher hatte ihn aufgefordert, am nächsten Sonntag für ihn zu predigen, damit die Leute in St. Vigil erführen, daß er seine Sache ordentlich verstehe. Und nun überlegte sich Hannes seine Predigt, wobei er sich Stasi als sein Auditorium dachte.

Auch die Augen seines Bruders leuchteten – vor Übermut, als er zur selben Zeit im Wirtshaus »Zum Stern« seinem Freunde Jerg gegenübersaß. Sein rechter Arm ruhte mit der leicht geschlossenen Hand lässig auf der Tischplatte, den Daumen der linken hatte er in den Achselausschnitt des Brustlatzes gehängt, und der Hut, aus der Stirn zurückgeschoben, hing ihm fast im Nacken. Im Hutband stak die Rose Stasis, und Jerg schelte spöttisch danach.

»Beschau sie dir nur recht!« stichelte Ambros. »Gefallt dir das Blüml? Nachher laß uns darum raufen. Komm!«

»Wann's noch von Gold wär!« versetzte Jerg achselzuckend. »Solche Rosen gibt's genug auf der Welt. Wer weiß, wo du die da gestohlen hast!'

»Ja, wer weiß?« Ambros drehte die Enden seines Schnurrbarts in die Höhe. »Du stiehlst keine Rosen von wegen der Dornen.«

»Wozu sollt ich mir auch die Finger zerstechen?« fragte der andere. »Es gibt Gitschen genug, die mir Rosen schenken. Gelt, wann ich die Stasi um ein Rösl bitten tu, schenkt sie mir gleich ein schöneres wie deins. Ich bin gestern gut Freund mit ihr geworden.«

»Himmel, Hagelwetter, du lügst!« brauste Ambros auf, und der junge Müller, der lediglich hatte herausbekommen wollen, wessen Geschenk die Rose war, lachte aus vollem Halse. Ärgerlich, daß er dessen List nicht gleich gemerkt hatte, stürzte Ambros sein Glas Wein hinunter.

Jerg Arigaya, der aus Erfahrung wissen mochte, daß man seinen Scherz mit Ambros nicht zu weit treiben durfte, sagte ablenkend, indem er sich das braune Haar aus der niederen Stirn strich: »Du bist ein Glückspilz! Mir läuft das Wasser den Bach hinunter statt aufs Rad. Es ist zum Tollwerden! Meinem Vater seine Frau schneid't mir das Wasser ab. Ich soll sparn, sagt der Alte.«

»Ja, wie denn?« fragte Ambros naiv. Eine solche Zumutung hatte sein Vater an ihn noch nie gestellt. Der Klosterbauer wußte das Geld wohl zu schätzen, vielleicht mehr als der alte Arigaya, aber seinem Ambros ließ er es daran nicht fehlen, denn der sollte zeigen, daß er der Erbe des Klosterhofes sei. Es war auch eine Freude, zu sehen, wie sorglos Ambros mit den Zwanzigern und den Bankozetteln seines Vaters umging. Dafür war dann der Jubel groß, wenn er in die Schenke oder auf den Tanzboden kam. Er brachte erst den richtigen Schwung in das Vergnügen; die Kehlen wurden durstiger, und die Musikanten fühlten neue Kräfte in ihren Lungen und Fingern. Und erst dann, wenn es zum Raufen kam! War der Ambros nicht dabei, fehlte die rechte Schneid. Mit den Menschen ging er übrigens ebenso sorglos um wie mit dem Gelde. Wie hätte es auch anders sein sollen, da er daheim von Kindheit auf daran gewöhnt worden war, sich als den Mittelpunkt der Welt zu sehen, und da es ihm bei seinem Geld auch nicht an Schmeichlern und Schmarotzern gebrach. Wem nicht gefiel, was er sagte oder tat, der mochte ihm aus dem Wege gehen oder ihn zur Rechenschaft ziehen; dann focht er es aus, und zwar mit Freuden.

Diese letzte Eigenschaft machte seine Freundschaft für Jerg sehr wertvoll. Denn dieser hatte gewöhnlich keinen Löffel bei sich, wenn es dazu kam, die Suppe, die sie sich beide gemeinschaftlich oder auch er allein eingebrockt hatten, auszuessen. Ambros war immer leicht zu bewegen, die ganze Verantwortung zu übernehmen, und Jerg schaute dann mit Seelenruhe zu, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Er war ein lustiger Bursche und deshalb überall gern gesehen; aber er verbarg unter seiner Lustigkeit ein gut Teil von Schlauheit. – Die Ermahnungen des Vaters zur Sparsamkeit schienen seine gute Laune verdorben zu haben, und er murrte auf die Frage seines Freundes:

»Ich soll seine Dummheit ausbaden, daß er noch einmal gefreit hat. Zum Henker!«

»Dich hat wohl der Sonntag gestern blank gemacht?« fragte Ambros »Wenn du Geld brauchst, sag's nur.«

»Der Alte hat schon noch rausrücken müssen«, antwortete Jerg. »Aber ich mag das dumme Gered dabei nit leiden. Ich soll sparn, damit mein Alter mit seiner jungen Frau um so lustiger leben kann, damit er sie putzen und ihrer Sippe den Bettelranzen vollstopfen kann. Nit zwei Hemden hat sie gehabt, wie sie auf die Mühl gekommen ist; aber jetzt schau sie einer an!«

Ambros klopfte mit der leer gewordenen Flasche auf den Tisch, um die Zeche zu bezahlen. Es berührte ihn unangenehm, daß Jerg seiner Stiefmutter sogar ihre Kleider nachrechnete.

»Ich bin mündig und brauch keinen Vormund mehr«, verfolgte Jerg seinen Ärger weiter, wobei er wild in seinen Haaren wühlte. »Mein Alter brauchte eher einen als ich. So kann's nit weitergehen. Was meinst, wann ich heiraten tät, Ambros?«

Dieser lachte hell auf.

»Freilich«, meinte Jerg, indem er nachdenklich sein spitzes Kinn umfaßte, dabei aber lauernd auf Ambros schielte, »es müßt eine Reiche sein. Ich mag nit länger bei dem Alten um jeden Kreuzer betteln. Ja, eine Reiche muß's sein.«

In diesem Augenblick kam Moideli, die Kellnerin des »Sterns«, in die Stube und trat zu den beiden Burschen an den Tisch. Ambros legte seinen Arm um ihren schlanken Leib und scherzte mit ihr. Sie ging lustig auf seinen Ton ein, wußte sich ihm aber geschickt zu entziehen, als er sie küssen wollte. Jerg kaute unterdessen an seinen Nägeln.

»Jetzt, was meinst denn zu meinem Plan?« nahm er das vorige Thema wieder auf, als er mit Ambros den Bach abwärts ging.

»Versuch's«, antwortete Ambros zerstreut.

»Hat sich was mit dem Versuchen!« rief Jerg. »Ja, wann man bei dem Versuch nit gleich fürs Leben festsäß …«

»Anders wird's wohl nit ausgehn, wann du eine Schürz voll Geld willst«, versetzte Ambros gleichgültig. Lebhafter aber setzte er hinzu: »Ich tät mich dreimal besinnen, eh ich zum Pfarrer ging.«

»Ja, du!« murmelte Jerg.

Sie waren an die Sägemühle gekommen, die nur in geringer Entfernung vom »Stern« lag. Ein großer Wolfshund kam ihnen entgegengelaufen und sprang schmeichelnd an Ambros hoch. Das geschah mit solchem Ungestüm, daß ein anderer als Ambros wohl das Gleichgewicht verloren hätte. Er aber stand fest, klopfte dem Tier den Kopf und reizte es zu noch gewaltigeren Sprüngen. Jerg wünschte eine gute Nacht, wandte sich aber noch einmal um und rief Ambros nach: »Grüß deine Schwester von mir!«

Ambros antwortete nicht. Er spielte mit dem Hund, der ihm das Geleit gab, indem er in großen Sätzen vor ihm hersprang und dann wieder zu ihm zurückkehrte und liebkosend an ihm emporstrebte, bis er den Brückensteg bei Monthan erreicht hatte.

»Jetzt gehst nach Haus, Lupattino«, sagte Ambros. Der Hund sah ihn an und blieb schweifwedelnd stehen. Als Ambros die Brücke über den Bach passiert hatte, bellte Lupattino dumpf auf und jagte dann nach der Mühle zurück.

Den Gruß, den Jerg ihm aufgetragen, ließ Ambros unbestellt, obgleich er die Schwester mit ihrem Verlobten zu Hause unter dem Vordach sitzend fand. Mit einem kühlen Wort ging er an dem Paar vorüber, und Lisei folgte ihm mit einem Seufzer ins Haus, um ihm das aufgehobene Abendessen zu geben. Ambros kehrte sich nicht an die Hausordnung, und der Klosterbauer sah es ihm nach, wenn er bei den Mahlzeiten fehlte. Das Verhältnis zwischen den beiden künftigen Schwägern war nicht sehr gut Die Verschiedenheit des Alters und mehr noch die der Charaktere war zu groß zwischen ihnen. Wolf Lechner war zu ernst und gesetzt, als daß er das wilde Treiben des jüngeren Ambros hätte billigen können. Er besaß viel Gutmütigkeit und ließ sich deshalb persönlich wohl manche Rücksichtslosigkeit und Überheblichkeit von dem Bruder seiner Braut gefallen; aber er duldete sie nicht gegen Lisei. Auf Ambros' Seite trug es nicht wenig dazu bei, ihn dem Schmied abgeneigt zu machen, daß dieser ein Bayer war. Lisei war zu verständig, um nicht zu erkennen, daß Wolf Lechner gegen den Bruder nicht nur im Recht war, sondern es auch gut mit ihm meinte. Um so mehr schmerzte es sie, daß Ambros dem Mann, der ihrem Herzen so teuer war, solche Abneigung entgegenbrachte. Denn sie liebte Ambros trotz all seiner Schwächen und Fehler, liebte ihn, obgleich ihm schon in der Wiege im reichsten Maße zugefallen war, wonach sie stets hatte hungern müssen: die Liebe des Vaters.

Des Menschen Herz ist ein schwer zu ergründendes Ding. Lisei war die Leidensgefährtin und Vertraute ihrer Mutter gewesen, und dennoch hatte deren Erbitterung gegen den Klosterbauern in ihrer jungen Brust nicht Wurzel gefaßt, dennoch hatte sie die Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und Härte, die sie selbst in erheblichem Maße vom Vater erfahren, keineswegs mit Neid auf Ambros erfüllt. Ja, sie hatte unter seinen Mißhandlungen schwerer gelitten als die Mutter, denn sie liebte ihn und hatte diese Empfindung sorgsam verbergen müssen, um die Mutter nicht noch unglücklicher zu machen. Warum liebte sie den Vater? Die Stimme der Natur ist so trügerisch, daß auf sie kein Verlaß ist. Vielleicht erkannte Lisei, in der durch das Unglück früh eine ungewöhnliche Beobachtungsgabe geweckt worden war, trotz der Liebe, die sie für ihre Mutter fühlte, deren große Charakterschwäche. Soweit ihre Erinnerungen zurückreichten, boten sie ihr kein Bild des Selbstvertrauens von der Mutter, die bereits innerlich gebrochen gewesen. Sie kannte sie nur in leidenschaftlichen Aufwallungen, denen jedesmal um so größere Mutlosigkeit und Verzagtheit zu folgen pflegte, und Lisei war es, die ihr dann Trost und Mut hatte zusprechen müssen. Gegen die Inkonsequenz und Schwäche der Mutter mochte ihr die ewig gleiche Rücksichtslosigkeit und Härte des Vaters als Charakterstärke erschienen sein, und männliche Kraft ist immer sicher, von dem weiblichen Geschlecht bewundert zu werden.

Vielleicht muß noch etwas anderes zur Erklärung herangezogen werden: Lisei hatte sich nicht verhehlen können – das Gerechtigkeitsgefühl ist bei Kindern bekanntlich stärker als die Liebe – daß das Verhalten der Mutter gegen den Vater nicht vorwurfsfrei gewesen war, daß ihn die Mutter oft gereizt und ihm Gleiches mit Gleichem vergolten hatte. So lag die Annahme nahe, daß das Benehmen der Mutter seine Fehler geschärft und zugespitzt hatte und daß er anders gewesen wäre, wenn die Mutter ihn geliebt hätte. Hier mischte sich für Lisei das Mitleid ein, und es trieb sie, dem Vater zu ersetzen, was ihm die Mutter nicht gewährt hatte.

Um das Verhältnis der Eltern zueinander richtig beurteilen zu können, fehlte Lisei übrigens das wichtigste Moment. Durch welche Bekenntnisse auch die Mutter ihr Herz gegen die Tochter entlastet hatte, wenn Lisei, namentlich bei ihrem letzten Krankenlager, während der Dämmerstunde an ihrem Bett gesessen – von dem Wankelmut ihres Herzens gegen Kaspar Larseit hatte sie nicht sprechen mögen, und der Name des so schwer Gekränkten war nie über ihre Lippen gekommen. Sie hatte ihr Kind, das einzige Wesen, das mit Liebe an ihr hing und das all die Leidensjahre hindurch ihr einziger Trost gewesen war, nicht zur Richterin über sich aufrufen wollen. Hatte sie eine Schuld auf sich geladen, so hatte sie sie durch ihre unglückliche Ehe wahrlich hart genug gebüßt. Nur das hatte sie Lisei gestanden, daß sie sich durch den Reichtum des Klosterbauern habe verleiten lassen, diesen gegen ihre Neigung zu heiraten. Eines Tages, nicht lange vor ihrem Tode, hatte ihr Lisei aus einer Lade ein Schächtelchen holen müssen. Es enthielt die ersten Geschenke, die ihr der Klosterbauer gemacht und die sie seit ihrer Verheiratung nie wieder getragen hatte. Lisei sollte sie als Warnung aufbewahren, ihr Herz nicht durch Schmuck und Reichtum verführen zu lassen. Lisei hatte bei dieser Ermahnung nur gefühlt, daß sie alle Schätze der Welt mit Freuden für ein wenig Liebe des Vaters hingegeben hätte.

Ein wenig Liebe! Als ob der Klosterbauer das geringste Verständnis für sie gehabt hätte! Er hatte nicht die leiseste Ahnung davon, daß Lisei auf sein Vatergefühl irgendwelche Ansprüche erhob. Die schüchternen Annäherungsversuche des Kindes hatte er entweder gar nicht bemerkt oder rauh zurückgewiesen, und wie er in der Unermüdlichkeit, mit der sich Lisei der Wirtschaft annahm und für seine persönlichen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten sorgte, noch heute nichts als ihre Schuldigkeit sah, so war ihm ihre unerschöpfliche Geduld, mit der sie sich von Kindesbeinen an der Wartung ihrer Brüder unterzogen, nur die Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht gegen Ambros gewesen. Sie wäre übel gefahren, wenn sie es darin irgendwie versehen hätte – mußten sie und Hannes doch sowieso schon als Sündenböcke für Ambros dienen.

Vielleicht hatte sich in Liseis Kinderherz die Hoffnung geregt, durch ihre Liebe zu Ambros den Weg zum Herzen des Vaters zu finden. Gewiß ist, daß sie ihn um seiner Bevorzugung willen nicht beneidete, sondern fortfuhr, ihn von Herzen liebzuhaben, und daß sie es sich nach dem Tode der Mutter angelegen sein ließ, ihn zum Guten zu lenken. Welchen Erfolg aber konnten ihre Bemühungen haben, da der Vater ihn in jeder Weise verzog und da jeder, der bei dem Klosterbauern etwas durchsetzen oder sich bei ihm beliebt machen wollte, dem Buben schmeichelte? Lisei schmeichelte dem Bruder nie, aber all ihre Bitten und Vorstellungen, die sie ihm wegen seiner Torheiten und Tollheiten machte, wurden durch den Vater, der sein Wohlgefallen an ihnen gar nicht verbarg, gelähmt und vereitelt.

»Ja, ja, das wird ein echter Falkner!« pflegte er zu sagen, und Lisei war von solcher Seelengüte, daß sich Ambros kein Gewissen daraus machte, daraufhin zu sündigen.

Lisei mochte jetzt sechsundzwanzig Jahre alt sein. Die Zeit war ihr in den Sorgen und Mühen um den Vater, die Brüder und die Wirtschaft dahingeflogen, so daß sie für nichts anderes Sinn gehabt hatte. Ihre Freundinnen hatten eine nach der anderen ihren eigenen Herd gegründet; für sie jedoch waren die Männer so gut wie nicht auf der Welt gewesen. Wäre sie hübsch gewesen, so hätten sie die jungen Burschen wohl gezwungen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Da sie es nicht war und zudem ein über ihre Jahre hinaus verständiges und ernstes Wesen hatte, schenkten ihr nur diejenigen einige Beachtung, die die einzige Tochter des Klosterbauern für eine gute Partie hielten. Als der Klosterbauer aber den Bewerbern mitteilte, daß Lisei nur ein sehr kleines Heiratsgut erhalten würde und überhaupt an ihre Verheiratung nicht eher zu denken wäre, als bis Ambros sich beweibt hätte, zogen sie sich zurück, und Lisei sah sie ohne Bedauern scheiden.

Wolf Lechner war mit Lisei auf der Hochzeit des Sägemüllers mit der schönen Afra bekannt geworden. Der alte Arigaya, der große Stücke auf den Schmied hielt, hatte gemeint, die Tochter des Klosterbauern wäre eine geeignete Frau für ihn, und Lechner war bei sich bald derselben Ansicht geworden. Lisei hatte anfänglich gar nicht darauf geachtet, daß der Schmied um ihre Gunst warb; denn der Gedanke an einen eigenen Hausstand lag ihr ferner als je, und sie betrachtete sich selbst bereits als eine alte Jungfer. Das sagte sie auch dem Schmied, als sie seine Absicht merkte, und sie teilte ihm ferner mit, daß sie kein Geld besitze. Dem Schmied war es aber nicht um Geld zu tun, denn er wußte bereits von dem Sägemüller, wie es um ihre Mitgift stand. Lisei wollte nicht begreifen, daß jemand sie um ihrer selbst willen zum Weibe begehren könnte und etwas Liebenswertes an ihr fände. Wolf aber kannte ihren Wert besser als sie selbst und ließ sich nicht abweisen. Nun, er war ein Mann, der einem Mädchen wohl gefallen konnte, und zu jung für Lisei war er auch nicht; er mochte wohl sechs Jahre mehr zählen als sie. Außerdem war er so kräftig gebaut, wie es ein tüchtiger Schmied sein mußte, und selbst Ambros hätte Bedenken getragen, sieh mit ihm in einen Ringkampf einzulassen. Der mächtigen Gestalt, mit einer Brust, die breit und hoch wie ein Panzer gewölbt war, entsprach der Kopf mit dem Wald von rötlichblondem Haar. Rötlich war auch der krause Vollbart, in dessen Schatten die Lippen wie eine Granatblüte glühten. Das Schönste aber waren seine Augen, die unter der breiten Stirn in blauem Feuer strahlten. Es war schwer, ihren Blick zu ertragen, wenn er in Zorn geriet. Allein, er geriet höchst selten in Zorn; denn er war friedfertigen Gemüts und dabei von männlich schlichtem Wesen und bedächtigem Verstande.

Der Klosterbauer hatte auch ihm die Bedingung gestellt, daß die Hochzeit hinausgeschoben werden müsse, bis sich Ambros verheiratet hätte. Auch darauf war Wolf, obgleich mit schwerem Herzen, eingegangen. Sah er doch, wie schlecht Liseis tätige, stets opferbereite Liebe von den Ihren belohnt wurde und wie der Vater sie nur aus Eigennutz im Hause festhielt. Seitdem waren zwei Jahre verflossen, und die Zeit hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Neigung zwischen Wolf und Lisei zu festigen. Ihre Liebe war keine gärende Leidenschaft; sondern ein ruhiger, tiefer Strom. Eines ruhte in dem anderen voll Zuversicht und Treue. Inzwischen allerdings war ein Umstand eingetreten, der es Wolf immer lebhafter wünschen ließ, seine Braut aus den häuslichen Verhältnissen zu befreien und unter sein eigenes Dach zu führen.

Als er auf seiner Wanderschaft nach St. Vigil gekommen war, hatte Tirol noch zu Österreich gehört. Was ihn dorthin verschlagen hatte, war der Wunsch gewesen, die Menschen nicht nur an den großen Heerstraßen kennenzulernen, wo die ewig rollende Lebensflut ihre Eigentümlichkeiten abschleift. Er war ein geschickter und fleißiger Arbeiter, und der Meister in St. Vigil hatte es verstanden, ihn festzuhalten. Als er sich nach dessen Tode selbst als Meister in dem Ort hatte niederlassen und das Grundstück des Verstorbenen erwerben wollen, hatte ihm die Gemeinde freilich alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg gelegt und bei der öffentlichen Versteigerung des Anwesens den Preis weit über den Taxwert hinaufgetrieben. War er doch ein Fremder! Persönlich hatte man nichts gegen ihn einzuwenden gehabt und sich, da er vorwärtskam, allmählich ganz mit ihm ausgesöhnt. Die Abtretung Tirols an Bayern, die Härte, mit der die neue Regierung in dem Lande verfuhr, hatte das gute Verhältnis aber zu stören begonnen. Man fing wieder an, sich zu erinnern, daß Lechner aus dem verhaßten Bayern stammte. Die älteren Leute zogen sich mit wenigen Ausnahmen allmählich kühl von ihm zurück, und auch die Jugend verbarg kaum ihre feindliche Gesinnung gegen ihn. Sein Wunsch, Lisei sobald wie möglich heimzuführen, mußte sich daher lebhafter als sonst in ihm regen. Denn da sie einer der ältesten und angesehensten Familien des Tales angehörte, durfte er wohl mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hoffen, durch die Verbindung mit ihr wieder festen Fuß in der öffentlichen Meinung zu fassen.

Die unfreundliche Art, mit der ihm Ambros eben bei seiner Heimkunft wieder begegnet war, lenkte seine Gedanken abermals auf diesen Punkt; und daran dachte er, während er auf Liseis Rückkehr aus dem Hause wartete.

Um ihn her herrschte Stille; nur der Nachtwind flüsterte melancholisch in den Laubkronen bei den Stadeln, und melancholisch tönte auch das Murmeln des Brunnens am Hause. Der aus dem schwarzen Föhrenkranz sich auf wölbende Höcker des Spitzhörndls zeichnete sich deutlich gegen den gestirnten Himmel ab.

»Er meint's nit bös«, sagte Lisei, als sie wieder auf den Vorplatz kam, und legte Wolf begütigend die Hand auf den Arm, während sie sich zu ihm setzte.

Wolf seufzte. »Ich weiß schon ganz gut, wie er's meint«, erwiderte er mit gedämpfter Stimme. »Aber es ist nit das, woran ich just eben dacht. Nach dem, was du mir von eurer gestrigen Fahrt nach St. Lorenzen erzählt hast, hat der Ambros wieder eine neue Liebelei im Feuer. Da ist nit dran zu denken, daß er bald heiratet, und wir können doch nit bis in die Ewigkeit warten. Wir sind beide nit mehr so jung, daß ein paar Jahr mehr oder weniger nix ausmachen würden.«

»Die arme Stasi!« seufzte Lisei. »Aber recht hast mit unsern Jahren, ich mein, mit den meinigen, und hab's dir ja immer vorgestellt, daß ich zu alt für dich bin.«

»Und ich sag nein! Wir könnten ganz glücklich und zufrieden sein und verlieren unsre beste Zeit um der andern willen! Solln wir uns denn erst kriegen, wann wir graue Haar haben?«

»Ich werd dich auch mit grauen Haaren liebhaben, Wolf«, versicherte Lisei mit einem Lächeln. »Aber so lang wird's ja nit dauern, und wir müssen schon Geduld haben, wo wir's nit ändern können.«

»Warum können wir's denn nit ändern?« entgegnete er mit einer Regung des Unmuts. »Jedes Ding will ein End haben. Ich hab mein Auskommen für uns beid, und du bist mündig. Ich will noch ein letztes Mal mit deinem Vater reden und ihm sagen, daß wir noch – meinetwegen bis nächste Ostern – warten wolln, aber nit länger.«

»Und wann der Vater nein sagt?« fragte Lisei beklommen. »Du weißt, er nimmt nix zurück, was er einmal gesagt hat«

»Was ich von ihm verlang, ist nix Unrechtes und Unvernünftiges. Wann er sich dawidersetzt, zeigt er, daß ihm an deinem Glück nix gelegen ist, und dann bist du's dir selbst und mir schuldig, daß du an unsere Zukunft denkst. Du bist mündig, Lisei, und wir brauchen deines Vaters Einwilligung nit, wann wir Hochzeit machen wohn.«

»Ach, Wolf, was führst im Sinn?« rief sie betroffen. »Das geht doch nit an. Jetzt, wo der Vater alt wird und meine Sorge erst recht braucht, da kann ich ihn und die ganze Wirtschaft doch nit wildfremden Leuten überlassen und fortgehen, fortgehen gar ohne seinen Willen.«

Wolf legte seinen Arm um ihre Schulter und sagte liebevoll: »Bin ich dir denn nix, daß du allein an deinen Vater denkst? Und wann er noch gut gegen dich wär oder dir auch nur ein einzig's Wörtlein gegönnt hätt, daß er mit deinem Schaffen zufrieden ist und deine Bravheit anerkennt. Aber freilich – anerkennen, was andre tun, das liegt nit in seiner Art! Es könnt ja einer daraufhin was von ihm fordern als Lohn!«

»Wie kannst nur so daherreden, Wolf?« entgegnete sie mit leisem Vorwurf. »Ich verseh wohl manches, daß er mit mir nit zufrieden sein kann. Es ist meine Schuld, Wolf!«

Er drückte sie fester an sich. »Schon gut, ich will gegen den Klosterbauer nix reden. Aber denk auch ein bißl an dich und an mich, Lisei. Mich drängt nit bloß die Ungeduld, dich endlich als Frau zu haben. Schau, Lisei, du hast keinen auf der Welt, der fest zu dir steht, als mich, und so hab ich keine Seel hier, die mich liebhat, als dich. Die Leut mögen mich nimmer leiden, weil ich ein Bayer bin. Jetzt, wohin ich schau, sind sie mir deshalb abgünstig. Bist du erst meine Frau, nachher mögen sie schief gucken, soviel sie wolln, da mach ich mir nix draus. Aber sie werden sich dann schon geben.«

»Aber das ist ja furchtbar«, seufzte sie. »Ich kann's nit verstehn, daß dir einer zuwider sein soll, dir, der du so rechtschaffen bist und mit Wissen und Willen noch keinem was zuleid getan hast. Die Leut sind wohl hitzig, aber schlecht sind sie nit. Und was kannst denn dafür, daß du ein Bayer bist? Es ist ja ganz ungescheit, daß sie dir's anrechnen. Aber würden sie nit Ursach haben, schlecht von uns beiden zu denken, wann ich gegen Vaters Willen deine Frau würd? Ach, Wolf, wann er einen Zorn auf uns hat – wie könnten wir beid dann glücklich sein? Ich könnt's nimmer.«

Er seufzte, und sie fuhr fort, indem sie seine freie Hand mit ihren beiden ergriff und ihm in die Augen sah: »Du bist doch ein so guter, geduldiger Mensch, und jetzt soll's auch bei dir heißen: ›Biegen oder brechen!‹ Kann denn eine, die keine gute Tochter ist, eine gute Frau sein? Ich bitt dich recht sehr, hab doch nur noch eine kleine Weil Geduld!«

»Leg's dir nur erst alles ordentlich zurecht, was ich gesagt hab«, entgegnete er, ihre Hand drückend. »Später reden wir dann noch weiter drüber. Ich dräng dich jetzt nit«

Sie schüttelte den Kopf, und nach einer Weile sagte sie: »Ich bin gar nit dagegen, daß du mit dem Vater sprichst und ihm alles ordentlich vorstellst. Aber ich bitt dich herzlich, brich's nit gleich mit ihm entzwei! Ich hab dich gar so lieb, Wolf, und ich ertrüg's nit, wann ihr zwei auseinanderkämt«

»Sei nur still«, tröstete er sie. »Solang du nit annimmst, was ich dir vorgeschlagen hab, solang kann's zu nix führn, mit deinem Vater zu brechen.«

Er lenkte das Gespräch auf etwas anderes. Beide waren jedoch mit dem Vorschlag, den er gemacht hatte, innerlich noch zu sehr beschäftigt, als daß die Unterhaltung nicht ins Stocken geraten wäre. Noch saßen sie eine Weile stumm nebeneinander. Dann stand Lechner auf, und Lisei gab ihm das Geleit bis an die vordere Hausecke.

»Beschlaf's dir!« lautete sein letztes Wort, wobei er ihr die Hand bot.

Und sie erwiderte mit vollem Blick: »Was ich in Treuen tun kann, darin werd ich dir immer zu Willen sein, das weißt genau, Wolf. Behüt dich Gott!«


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