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6. Kapitel

Ambros war voll Grimm gegen sich und die ganze Welt. Es war ihm unfaßbar, daß er aus freien Stücken um Verzeihung gebeten hatte und abgewiesen worden war – abgewiesen von der Witwe Larseit, nachdem er ihrer Tochter als Sühne sogar Herz und Hand angetragen hatte. Aber er war nicht der Mann, der sich in solcher Weise behandeln ließ. Es kam ihm nicht in den Sinn, Stasi aufzugeben. Allein, es wollte ihm nicht gelingen, mit ihr zusammenzukommen. Umsonst wartete er abends am Gartenzaun auf sie. Er brach eine von ihren Rosen und legte sie auf das Bänkchen unter dem Geißblatt, zum Zeichen, daß er dagewesen. Die Rose war am nächsten Abend verschwunden, doch Stasi fand sich nicht ein, nicht jetzt noch später. Er suchte David bei der Feldarbeit auf, um Stasi durch ihn in den Garten zu bestellen. David war ja Zeuge des Auftritts am Krankenbett gewesen und mußte einsehen, daß das Benehmen seiner Schwester keinen Verstand habe. Ob der Alte es einsah oder nicht – gewiß war, daß er eine viel zu große Furcht vor seiner Schwester hegte, um die Botschaft zu übernehmen, und das heftige und hochfahrende Wesen des Burschen war am wenigsten dazu geeignet, ihm Mut zu machen. Er schlug hinter Ambros ein Kreuz; denn so hart war ihm noch nie zugesetzt worden, und er stellte sich vor, wie seine Schwester ihn loben würde, wenn sie um die Mannhaftigkeit wüßte, mit der er dem Versucher widerstanden. Jedenfalls hatte sich Ambros als ein schlechter Versucher erwiesen; denn der Teufel ist schlau und versucht nichts durch Gewalt zu erreichen. Wenigstens behaupten das die Frommen, die es wissen müssen, da sie sich am meisten mit ihm zu schaffen machen. Doch für den Glauben gibt es keine inneren Widersprüche, und David setzte sich in den Schatten einer Eberesche und begann mit großer Genugtuung sein Vesperbrot zu verzehren. Nach einiger Zeit aber seufzte er und betrachtete kopfschüttelnd das Stück Brot, das er in der Hand hielt. Ach, was war das doch für ein wunderliches Ding, das die Leute Liebe nannten! Seine Nichte hatte sich doch früher nie um die jungen Burschen gekümmert, und jetzt war es auf einmal, als ob es außer diesem Ambros für sie nichts auf der Welt gäbe! Weshalb war das nur so? Trotz allen Kopfschüttelns und Seufzens vermochte er es nicht zu ergründen, und er nahm sich vor, einmal mit Hannes darüber zu reden.

An Hannes dachte auch Ambros, nachdem er David verlassen hatte, und er stampfte ärgerlich mit dem Fuß, als er zu Hause erfuhr, daß der Bruder von seiner Wanderung ins Gadertal noch nicht zurückgekommen sei. War es denn nicht auch zum Haarausraufen, daß sich Hannes umhertrieb, wenn er seiner so nötig bedurfte? Hannes sollte sein Botengänger zu Stasi sein, und Ambros meinte, die Kranke müßte sich zufriedengeben, wenn jener ihr vorstellte, daß die Geschichte mit dem Grabkreuz nichts auf sich gehabt habe.

Er hielt den Grabfrevel in der Tat damit für abgetan, daß er ein neues, größeres und schöneres Kreuz, als es das alte gewesen, für Kaspar Larseit bestellt hatte, und machte daher große Augen, als eines Morgens einer der drei Landjäger, die nebst einem Korporal ihr Standquartier in St. Vigil hatten, auf dem Klosterhof erschien und ihn zu Gericht beschied, wo er sich wegen des Grabfrevels vor Herrn Zengerl verantworten sollte.

»Was, wegen der dummen Geschieht soll ich noch gar aufs Amt kommen?« rief er. »Ich hab ja alles richtig gemacht«

»Ja, was weiß ich?« meinte der Landjäger. »Also, was willst du noch?« fragte Ambros.

»Ja, du sollst aber Samstag aufs Amt kommen«, beharrte jener.

»Ich hab dort nix zu schaffen«, entgegnete Ambros. »Ich lass' dem Herrn Landrichter sagen, daß die Sach abgetan ist. Weiter hab ich mit ihm nix zu reden.«

»Was geht's mich an?« meinte der Landjäger nach kurzem Nachdenken. »Ich hab dich bestellt. Aber weißt, mit dem Gericht ist nit gut Kirschen essen.«

Ambros zuckte verächtlich die Achseln, und der Landjäger hängte sein Gewehr, auf dessen Lauf er sich während des Gespräches mit beiden Händen gestützt hatte, wieder über die Schulter und ging mit den Worten davon: »Na, grüß dich Gott! Aber du solltest doch lieber kommen. Die Leut sind fuchswild über die Geschicht.«

Das waren sie wirklich, und Herr Moltenbecher hielt am nächsten Sonntag auf der Kanzel eine gewaltige Strafrede wider die Gottlosigkeit der Jugend, wobei er das Gebaren der Bayern im Lande deutlich genug als die Quelle dieses gottlosen Geistes bezeichnete.

Nie hatte Frau Larseit so viel Besuch in ihrer kleinen Stube gesehen wie in diesen Tagen. Nachbarinnen und Bekannte gaben einander die Türklinke in die Hand, um die Kranke wegen der Grabschändung zu bedauern – was natürlich nicht geschehen konnte, ohne die volle Schale des Abscheus über den Frevler auszugießen. Zu hören, wie derjenige, der uns gekränkt hat, von anderen mit sittlicher Entrüstung schlechtgemacht wird, ist für die gewöhnliche Menschenkreatur ein wirksamer Trost, und Frau Larseit genoß ihn in vollen Zügen und gewann zugleich die Überzeugung, daß Ambros noch viel schlechter sei und sie viel schwerer beleidigt habe, als sie sich bisher vorgestellt hatte.

Die arme Stasi mußte alles mit anhören und dazu schweigen. Ambros' allgemeine Verurteilung machte ihren unerfahrenen Kopf irre, jedoch nicht ihr Herz. Mochte das Üble, das ihm von seinen Richterinnen nachgesagt wurde, auch einen Kern von Wahrheit enthalten – hinsichtlich des Grabfrevels taten sie ihm unrecht. Davon war Stasi überzeugt, und während sie sich der schrecklichen Donnerschläge und lohenden Blitze in jener Nacht erinnerte, fühlte sie sich zur Bewunderung seines Mutes getrieben. Ein anderer als Ambros hätte schwerlich das Herz zu einem solchen Wagestücklein gehabt. Und in all ihrem Herzeleid und ihrer Verzagtheit erfüllte es sie mit einem süßen Stolz, von dem mutigsten Buben der ganzen Talschaft geliebt zu werden. Nein, an seiner Liebe zu ihr konnte sie nicht zweifeln, und während die guten Nachbarinnen ihn schmähten, Gott dankend, daß ihre Söhne nicht wie er seien, verteidigte Stasi ihn eifrig bei sich selbst. Aber ach! Sie durfte ja Ambros nicht lieben! Die Mutter hatte es verboten.

Frau Larseit fühlte, daß ihre Tage gezählt seien, und die Vorstellung, daß Stasi die Beute jenes gottlosen Menschen werden könnte, bettete sie auf Dornen. Stasi hatte ihr versprechen müssen, Ambros keine Zusammenkunft mehr zu gewähren, und die Arme wagte nicht, ungehorsam zu sein. Auch behielt die Mutter sie scharf im Auge und gestattete ihr am nächsten Sonntag nicht, selbst in Begleitung Davids nicht, zur Kirche zu gehen.

Stasi erblickte aber kein Unrecht darin, die Rose, die Ambros auf die Bank gelegt hatte und die sie am nächsten Morgen fand, nicht dort welken zu lassen, sondern in ihr Gebetbuch zu legen. Wie süß es ihr entgegenduftete, wenn sie vor dem Schlafengehen das Buch öffnete. Sein Bild tauchte dann vor ihr auf und wob sich in ihre Träume.

Im Laufe des Montags kehrte Hannes zurück; seine Blechkapsel war mit botanischen Schätzen und Versteinerungen, an denen namentlich das Grödnertal so reich ist, vollgestopft. Er selbst schien noch hagerer geworden. Niemand jedoch bemerkte es, selbst Lisei nicht. Auf dem Klosterhof herrschte Bestürzung und Aufregung. Ambros war am Morgen verhaftet worden. Da er sich am Sonnabend nicht dem Gericht gestellt hatte, war er von zwei Landjägern abgeholt worden. Wie ein Rasender hatte er sich zur Wehr gesetzt, und die Landjäger hatten schließlich von der blanken Waffe Gebrauch machen müssen. Blut war geflossen; Ambros war durch einen Säbelhieb über den Kopf zu Boden gestreckt worden. Blutend, mit zerfetzten Kleidern und gebundenen Händen hatten ihn die Jäger fortgeschleppt.

So berichtete Lisei bekümmert dem Bruder. Der Klosterbauer, der zugegen war, stapfte in der Stube auf und ab; sein Gesicht war braunrot vor Zorn, und er focht mit den geballten Fäusten in der Luft. Er war eben von St. Vigil zurückgekehrt, wohin er gegangen war, um die sofortige Freilassung seines Sohnes zu verlangen. Aber er hatte Ambros nicht einmal sehen dürfen, denn der Landrichter war der Ansicht gewesen, daß es für den wilden Burschen besser wäre, wenn man ihn erst ruhiger werden ließe. Mit seinen Verletzungen hätte es nichts auf sich. Auch nach des Vaters Meinung war der Grabfrevel durch die Ersetzung des Kreuzes getilgt; und hatte es schon seinen Stolz verletzt, daß man seinen Sohn, den Erben des Klosterhofes, wie einen gemeinen Verbrecher zu behandeln wagte, so hatte ihn Herrn Zengerls Weigerung, Ambros freizulassen, vollends erbittert. Vergebens hatte der Landrichter ihm begreiflich zu machen versucht, daß sich Ambros durch seine Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit eines neuen Vergehens schuldig gemacht habe. Hannes, der ihn nun durch dasselbe Argument zu beschwichtigen versuchte, hatte keinen besseren Erfolg. »Wer ist denn dieser Mensch, dieser Larseit, daß die Kreuzgeschicht nit abgetan sein soll? Ich sag, sie ist abgetan, ich, der Klosterbauer, sag's!« So schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Hannes ging auf seine Stube. War es aber sonst, sobald er von einer botanischen Exkursion heimkam, sein erstes Geschäft, die mitgebrachten Pflanzen zu betrachten, zu sortieren und zu pressen, so blieb die Trommel heute ungeöffnet. Seine Gedanken waren bei Stasi. Wie mußte ihr Herz darunter leiden, Ambros im Gefängnis zu wissen! Dann begann sich in ihm der Unwillen zu regen, daß Ambros ihr dieses Leid nicht erspart habe. Auch in diesem Falle hatte der Bruder nur auf sich allein Rücksicht genommen, war er wie immer nur dem Antrieb des Augenblicks gefolgt. Es konnte nicht wahre Liebe sein, was er für Stasi empfand, und die an Wahnsinn grenzende Wildheit, mit der er sich nach Liseis Schilderung gegen seine Verhaftung gewehrt hatte, brachte Hannes zu der Oberzeugung, daß sich Stasis Lebensglück in üblen Händen befände. Er ging mit lebhaften Schritten hin und her; dann strich er sich mit der Hand über Stirn und Augen. Nein, es war keine Aufwallung der Selbstsucht, von der er gegen Ambros erfüllt war, sondern nur lauteres Mitgefühl mit seiner Jugendfreundin. Er hatte ja auf seiner Wanderung mit seinem Herzen abgeschlossen, und die Kräuter und Blumen auf den Bergen wußten um die blutigen Schweißtropfen, mit denen er seine Liebe niedergerungen hatte. Aber auch wenn er entsagt hatte, brauchte ihn Stasis Wohl und Wehe nicht gleichgültig oder gar kalt zu lassen! Auf die Bitte Liseis, die dem Gefangenen Essen und andere Kleider geschickt hatte, entschloß er sich am nächsten Morgen zu einem Gang nach dem Gerichtshaus.

Herr Zengerl gewährte seinen Wunsch, Ambros sprechen zu dürfen, bereitwillig. Der Landrichter war ein Mann von einigen vierzig Jahren, und seine derbknochige Gestalt und die etwas groben Züge des breitstirnigen Kopfes deuteten auf seine Abstammung aus bäuerlichem Geschlecht. Sein Anzug war zwar städtisch, doch nur nach den unsicheren und antiquierten Vorstellungen, die sich der Vigiler Dorfschneider von einer solchen Tracht machte und mit ungeschickter Schere und grober Nadel nachzubilden versuchte. Strickähnlich umschlang das Halstuch den verknitterten Kragen des Hemdes aus derbem Hausgespinst, und das dicke, lange nicht verschnittene Haar, in dem er nach seinen Gedanken zu wühlen pflegte, haßte den Zwang der Kultur, gegen den sich der ganze Mann sträubte, oder richtiger: er hatte aufgehört, der Natur, die allmählich zurückeroberte, was ihr die Kultur einst streitig gemacht hatte, Widerstand zu leisten. Der Einfluß der bäuerlichen Atmosphäre, in die ihn sein Beruf zurückversetzt hatte, nagte bedenklich an den feineren Formen, die er sich auf Schulen und Universitäten erworben hatte. Sein Wesen war offen und derb, eher phlegmatisch als lebhaft, und seine Sprache nachlässig wie sein Anzug.

Hannes fand ihn in das Lesen einer Zeitung vertieft. Es war die »Augsburger Allgemeine«, die damals schon europäischen Ruf genoß, aber unter der strengen Zensur, die die französische Polizei in den Staaten der deutschen Bundesgenossen Napoleons ausübte, von Tag zu Tag in ihrem politischen Teil dürftiger wurde und durch reichlichen Weihrauch, den sie dem Imperator streute, den Verdacht vaterländischer Gesinnung von sich abzuwehren versuchte. Das Glacis von Braunau war noch rot von Palms Blut, Palms Blut – Der Buchhändler Johann Philipp Palm war als der Verfasser und Verbreiter der Schrift »Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung« auf Napoleons Befehl am 26. August 1806 in Braunau standrechtlich erschossen worden. und es gelüstete keinen, durch sein Martyrium ein weiteres Zeugnis von Deutschlands tiefer Erniedrigung abzulegen. – Herr Zengerl hielt die Zeitung gemeinschaftlich mit dem Pfarrer, dem Steuereinnehmer und dem Oberförster Planta, und Mutschleitner ließ sie durch einen Boten wöchentlich einmal von der Post in Bruneck abholen, durch welche Dienstleistung er das Recht erwarb, sie zuletzt im Herrenstübl seines Wirtshauses auszulegen. Außer dem Schullehrer und dem Korporal des Landjägerpostens sah aber kaum jemand die Blätter ein – aus dem einfachen Grunde, weil die herrischen Bauern mit wenigen Ausnahmen deutscher Schrift und deutschen Druckes nicht kundig waren, wenn auch der Verkehr mit dem Pustertal die Kenntnis der deutschen Sprache für sie notwendig machte.

»Sie wolln den Trotzkopf zur Räson bringen?« sagte der Landrichter zu Hannes. »Ich fürcht, es wird dazu härterer Zangen bedürfen, als uns beiden zu Gebot stehn. Ich hab mich erst eben müd mit ihm gered't. Da das Grab Larseits in keiner böswilligen Absicht von ihm beschädigt worden ist, würde er mit einer kleinen Straf davongekommen sein; nun werd ich ihn wohl ein vier Wochen hierbehalten müssen wegen seiner tätlichen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit. Indessen hab ich ihm gesagt, daß er gleich nach Haus gehn könnt, wann er mir durch Handschlag versprechen wollt, sich nach Beendigung der Ernte freiwillig zur Verbüßung seiner Straf wieder zu stelln. Ich weiß ja, wie knapp überall die Arbeitskräft sind. Die Leut müssen ja statt der Sichel den Kuhfuß Kuhfuß – Soldatenausdruck für das alte Infanteriegewehr, der schon Ende des 16. Jahrhunderts vorkommt und auf den Büchsenmacher Georg Kuhfuß (gest. um 1600 in Nürnberg) zurückgeleitet wird, der das Radschloß verbesserte. in die Hand nehmen. – Aber er war ebensowenig wie gestern der Alte zu der Einsicht zu bringen, daß er sich gegen das Gesetz vergangen hat. Ihm sei Gewalt geschehn, und dagegen hätt er das Recht, sich zu wehrn. Dabei blieb er. Verwunderlich ist's kaum – sind doch unsre Zuständ wahrlich nit dazu angetan, das Rechtsbewußtsein im Volk zu klären und zu befestigen. Wann das Schwert die Welt regiert und die Gewalt mit Ländern und Völkern Schacher treibt, wie soll da die Achtung vor Gesetz und Recht gedeihn?«

»Und vor Gott und seiner heiligen Kirch«, schaltete der Kurat ein.

Herr Zengerl griff mit zwei Fingern in sein lockeres Halstuch und zerrte daran, als ob es ihm zu eng wäre. Dann rief er den Bürodiener, der Hannes zu seinem Bruder führen sollte, und dem jungen Geistlichen die Hand reichend, sagte er: »Kaiser Karl V. konnt nit zwei Uhren gleichgehend machen – wem sollt es mit den Geistern gelingen? Und wo ist denn die Garantie, daß die Kirchenuhren die Zeit richtig angeben?«

Das Gefängnis war nur über zwei Stiegen zu erreichen, und der Bürodiener, dessen Dienst sich Gericht und Steueramt teilten und der nun auch noch den Posten des Kerkermeisters versehen mußte, blieb auf jeder fünften Stufe stehen, um Atem zu schöpfen; denn er war engbrüstig und konnte trotzdem das Reden nicht lassen. »Es war grauslich, wie er anfangs getobt hat«, erzählte er von Ambros. »Wissen's, so wie der Bär, der vor etlichen Jahren auf der Alp von Fodara Vedla in den leeren Schweinstall sich verirrt gehabt hat. Der Senn hat ihn drinnen brummen hörn und hinter ihm zugeriegelt Es war eine verwunderliche Geschicht«

Hannes, der mit seinen Gedanken noch bei den stark nach Josephinismus Josephinismus – s. Anm. 12 – Joseph II. schmeckenden Äußerungen des Landrichters verweilte, bemerkte, daß ihm die Geschichte bekannt sei, und der Kerkermeister versicherte, daß der ehrwürdige Herr sie freilich kennen müsse. Und darum erzählte er sie zu Ende: wie Meister Braun den ganzen Bau umgeschmissen habe, wie er davongetrabt, zwei Tage später aber von Sampogna, dem Gamsmanndl, geschossen worden sei. »Ja, es war eine merkwürdige Geschicht!« schloß er.

Sein Atem war zu Ende, und er mußte still sein und sich verschnaufen.

»Und das Essen, was ihm vom Klosterhof geschickt worden ist, das hat er nit angerührt. So schönes Essen!« fing er im Weitersteigen wieder an. »Aber so sind sie: der eine so, der andre so. Als vor ein vier Jahren etwan der Prusadatsch aus Zwischenwasser hier gesessen hat, von wegen daß er gedroht hatt, seinen Vater totzuschlagen – es war in Erbschaftssachen, die immer die schlimmsten sind, und der Alte hat sich geforchten und ihn selbst angegeben – der hat den ganzen Tag gesungen und gepfiffen. Das ist mein letzter Gefangner gewesen.«

Sie waren vor einer starken, mit mächtigem Schloß versehenen Tür angekommen, und der asthmatische Zerberus zog einen großen Schüssel aus seiner Joppe. Mit Mühe drehte er ihn im Schloß herum, was ein unangenehmes Kreischen verursachte. Dem Schließer tat es aber offenbar wohl, denn es war der Heroldsruf seiner gegenwärtigen Würde, und er grinste. Ein scharfer, würziger Geruch drang Hannes entgegen, als sich die Tür knarrend öffnete. Er kam von dem Majoran, dem Lavendel und dem Pfefferkraut, den Kamillen und Zwiebeln, die die Frau Landrichter in der Zelle aufbewahrt hatte, bis diese für ihren augenblicklichen Bewohner hatte geräumt werden müssen. Die Zelle war hell und luftig. Sie lag in der nordwestlichen Ecke der ehemaligen Sommerresidenz der Klosterfrauen und bot nach beiden Himmelsgegenden die weiteste Aussicht im ganzen Hause. Die Schönheit dieser Aussicht aber wurde durch die Gitter vor den beiden Fenstern etwas beeinträchtigt, und Ambros konnte seinem künftigen Schwager jetzt aus eigener Erfahrung das Zeugnis ausstellen, daß er ein tüchtiger Schmied sei. Wolf Lechner hatte die Gitter erneuern müssen, als das Quartier für Prusadatsch bestellt worden war; und daß er kein brüchiges oder blättriges Eisen dazu verwendet – davon hatte sich Ambros bereits durch kräftiges Rütteln an den Stäben überzeugt. Die Ausstattung des luftigen Stübchens war ein wenig einfach. Sie bestand nur aus einem Schemel, einem Tisch und einer Bettstelle – alles aus weißem, kernigem Tannenholz, wie es ringsum auf den Bergen wuchs – und in der Bettstatt lag ein Strohsack mit einer wollenen Decke.

Ambros hockte auf dem Schemel und kaute an den Nägeln seiner rechten Hand. Den linken Arm, mit dem er einen Säbelhieb hatte abwehren wollen, trug er in einer Binde. Der Hieb über den Kopf war glücklicherweise flach gefallen. Er hatte seinen Rücken der Tür zugekehrt und rührte sich nicht, als sie aufging. Denn er wollte zeigen, daß ihn alles, was während seiner Gefangenschaft mit ihm und um ihn geschähe, völlig gleichgültig lasse. Als er aber bei dem Gruß des Eintretenden die Stimme seines Bruders erkannte, schnellte er auf und streckte Hannes mit unverkennbarer Freude die gesunde Rechte entgegen.

»Der Herr Bruder!« rief er. »Endlich! Da setzen Sie sich her!« Er faßte ihn bei der Schulter und drückte ihn auf den Schemel, während der engbrüstige Gefängniswärter von außen wieder die Musik des verrosteten Schlosses spielen ließ.

Die Freude, die Ambros über den Besuch des Bruders zeigte, war etwas zu Seltenes, als daß Hannes nicht von ihr bewegt worden wäre, und mit Wärme fragte er: »Und wie geht's dir, Brosi? Was macht dein Arm?«

»Es ist nit der Mühe wert, davon zu reden«, versetzte Ambros, der vor Hannes stehengeblieben war. »Die Frau Zengerl hat mir die Geschicht nachgesehn und den Ritz verbunden. Sie ist halt ein gutes Fraule, und eine Musik kann sie Ihnen machen! Da ist der Mutschleitner mit seiner Zither nix gegen. Gestern abend, wie ich auf meinem Bett gelegen hab und die Fenster haben offengestanden, da hat sie unten in ihrer Stub das Klavier geschlagen. Ja, das ist eine Musik gewesen!«

Hannes pflichtete ihm bei, denn auch er hatte die Frau Landrichter einige Male, da er an schönen Sommerabenden zufällig an dem Hause vorübergegangen war, spielen hören und hatte mit Wohlgefallen gelauscht, obgleich er nur wenig musikalisch war.

»Und was machen sie zu Haus?« fragte Ambros. »Ich hab gesehn, daß sie heut morgen an der Monthaner Feldmark das Korn zu schneiden angefangen haben. Und ich muß hier sitzen!«

»Sie vermissen dich auf dem Klosterhof auch alle schmerzlich bei der Arbeit«, sagte Hannes und bot dem Bruder seine Dose an. »Aber wir erleichtern uns eine unangenehme Lag wahrlich nit durch Ungeduld.« »Wo soll ich denn die Geduld hernehmen, zum Teixel?« rief der Bruder und stopfte den Tabak rasch in die Nase. »Soll ich sie mir etwa aus den Fingern saugen? Denn weiter hab ich ja nix zu tun.« Mißmutig setzte er sich Hannes gegenüber auf die Tischkante.

»Und doch gibt es so manches zu denken, wozu du jetzt Muße hast«, meinte Hannes. »In der Freiheit bist du schwerlich dazu gekommen, dir klarzumachen, wie sehr du gegen göttliche und weltliche Gesetze gefehlt hast«

»Oho!« rief Ambros und sprang vom Tisch. »Ich soll gefehlt haben? Hab ich dem Larseit nit ein funkelnagelneues Kreuz machen lassen, wie es kein andrer auf seinem Grab hat? Mir ist Unrecht geschehn, schreiendes Unrecht! Aber Gewalt ist kein Recht, und wann ich ein Messer bei mir gehabt hätt, bei Gott, ich würd die Lümmel von Landjägern schon abgeführt haben und säß jetzt nit hier!«

»Ambros, Ambros, was für schreckliche Reden und Wünsche!« mahnte Hannes erschrocken. »Ich sollt meinen, daß du schon Unheil genug angestiftet hast!«

»Es wünscht halt jeder, was ihm paßt«, versetzte Ambros finster.

»Ja, du wünschst nur, was dir selber paßt, und überlegst bei deinen Handlungen nie, ob sie andern schweres Herzeleid verursachen oder nit!« rief Hannes mit vorwurfsvollem Blick.

»Ach, Sie meinen die Alte?« entgegnete Ambros mit lässigem Ton. »Hab ich sie denn nit gebeten, daß sie mir die dumme Geschicht vergeben möcht? Ich könnt mich noch heut ohrfeigen, daß ich ein solcher Esel gewesen bin! Ich hab gegen die Frau Larseit getan, was ich gegen keinen andern Menschen auf der Welt getan hätt. Und sie? Mordelement!«

»Und sie?« fragte Hannes in der größten Spannung. »Und sie – sie hat dir nit verziehn?«

»Ja, wissen Sie denn nit, wie's zwischen uns ausgegangen ist?« murrte Ambros. »Freilich, Sie warn schon vorher fortgegangen. Die und mir vergeben! Die Frommen sind immer die Schlimmsten. Ganz unsinnig ist sie gewesen. Und ich sollt gleich das Genick brechen, hat sie mich verwünscht, wann ich noch einmal über ihre Stubenschwell käm. Na, davor fürcht ich mich nit! Vom Verwünschen ist noch keiner gestorben.«

Hannes' Herz klopfte bei dieser Mitteilung mit starken Schlägen. Sie hatte ihm nicht verziehen, und es war aus zwischen ihm und Stasi! In der nächsten Minute schämte er sich jedoch vor sich selber und fingerte verlegen an seiner Tabaksdose. Er wagte es nicht, Ambros anzusehen.

Dieser fuhr fort, während er sich mit dem linken Schenkel wieder auf die Tischkante setzte: »Und darum hab ich mit Schmerzen darauf gewartet, daß Sie wieder nach Haus kämen. Die Alte hält so große Stück auf Sie, und wann Sie ihr als Geistlicher vorstelln, daß ihr Zorn auf mich gar keinen Sinn und Verstand nit hat, nachher gibt sie sich wohl im Guten. Denn das soll sie sich nit einbilden, daß ich von der Stasi lassen werd. Und Selbiges solln Sie auch der Stasi von mir sagen.«

Hannes starrte ihn mit weitgeöffneten Augen an. »Das – das soll ich ausrichten?« stotterte er, und sich emporraffend, fuhr er fort:

»Ambros, Ambros, ist dir denn nix heilig? Nit einmal der Wunsch und Wille einer Sterbenden? Denn die Tag der Frau Larseit sind gezählt«

»Ja, wie reden Sie denn?« entgegnete der Bruder mit einiger Verwunderung. »Von wegen meiner mag sie so ruhig sterben, als sie kann. Es ist doch nix Unrechtes, wann ich Sie bitt, daß Sie die Alte zur Vernunft bringen? Ich hab's ihr schon dazumalen selbst gesagt, daß ich von der Stasi nit lass', und darüber ist kein Reden weiter. Will sie sich auf Ihr Vorhalten nit geben, nachher geht's auch so.«

»Das kann nit dein Ernst sein!« rief Hannes lebhaft. »Du kennst den Spruch der Heiligen Schrift: ›Der Mutter Segen bauet den Kindern Häuser …‹«

»So viel hab ich schon noch von der Kinderlehr behalten, wie das Sprüchlein etwa ausgeht«, unterbrach ihn der Bruder. »Aber ich weiß auch, daß mich nit die Verwünschungen der Frau Larseit noch die ganze Höll von der Stasi abwendig machen. Und jetzt will ich Ihnen auch ein Sprüchlein hersagen, Herr Bruder. Nämlich: Die geistlichen Herrn verstehn von der Lieb nix. Das ist so, als wann unsereins lateinisch reden wollt und hat es doch nimmer gelernt. Schaun Sie, Herr Hannes, Sie können's halt nit wissen, was es mit der Lieb für eine Sach ist. Ich hab die Stasi nit zu sehn gekriegt, seitdem damals ihre Mutter so teufelsmäßig gegen mich aufgefahren ist; aber ich weiß, daß sie mir von ganzem Herzen zugetan ist, und also wird uns auch der Papst in Rom nit auseinanderreden und -beten.«

Hannes hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen. Er sollte nicht wissen, was Liebe ist?

Ambros stand auf, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Nix für ungut, Herr Hannes, bös war's nit gemeint«

Der Bruder blickte mit einem Seufzer auf, und als er Ambros in so zuversichtlicher Haltung vor sich stehen sah, als er ihm in die schwarzen, blitzenden Augen schaute, da begriff er, daß Stasi seinen Bruder lieben mußte. Er nahm eine Prise, um sich zu sammeln; dann begann er mit etwas unsicherer Stimme: »Ich soll dir bei Frau Larseit das Wort reden. Aber wie könnt ich das mit gutem Gewissen? Ich würde es tun, wann ich Vertraun zu deinem Charakter hätt. Denk nur daran, was dich hierhergeführt hat! Keine rechtschaffene Mutter würde einem Burschen, der so leichtsinnig und wild ist wie du, das Glück ihres Kindes anvertraun. Ich wär ebenso leichtsinnig wie du, wann ich Frau Larseit bereden wollt, dir ihren größten Schatz anzuvertraun. Prüf dich erst, läutere dich! Du hast jetzt Zeit dazu.«

Ambros, der sich unterdessen auf den Rand seiner Bettstelle gesetzt hatte, verzog spöttisch das Gesicht »Freilich, wann Sie so schlecht von mir denken, dann wundert's mich nit, daß es andre auch tun. Zum Teixel, ich will mich nit besser machen, als ich bin; aber was Schlechtes kann mir keiner nachsagen, und der Stasi bin ich just recht, so wie ich bin. Jetzt hab ich Sie gebeten, daß Sie sich an mir und der Stasi als ein lieber Bruder erweisen möchten; aber Sie kehrn den Priester heraus. Gut, gut! Schöne, glatte Wort habt ihr alle auf der Zung; wann's aber drauf ankommt, sie wahr zu machen, dann sind die hochwürdigen Herrn nit zu Haus. Meinetwegen! Aber glauben Sie doch ja nit, daß Sie oder die Alte ihr Stück gegen mich durchsetzen werden! Ich brauch mich nit erst lang zu prüfen, denn ich weiß, was ich will, und ich schwör's Ihnen bei meiner Seligkeit, daß die Stasi meine Frau wird. Was sich nit biegen will, muß brechen.«

»Gewalt! Ja, die ist stets dein letztes Mittel gewesen!« rief Hannes unwillig. »Verschwör dich nit!« fuhr er bittend fort »Du kannst das Madl nit glücklich machen.«

»Nit glücklich?« lachte Ambros zornig auf, und seine folgenden Worte trieben dem Bruder alles Blut vom Herzen in den Kopf, so daß er aufstand und an das nächste Fenster trat, um die Glut seines Gesichts zu verbergen. »Freilich, auf Ihre Weise nit, nit mit Singen und Beten! Denn das ist's doch allein, was Sie unter Glück verstehn. Aber auf unsre Weise werden wir zwei schon glücklich werden, die Stasi und ich – verlassen Sie sich drauf! Dazu braucht's halt nix weiter, als daß wir uns liebhaben.«

Hannes hatte mit beiden Händen die Gitterstäbe erfaßt und seine heiße Stirn gegen das Eisen gedrückt. Es dauerte eine gute Weile, bis er sich wieder so weit gefaßt hatte, um das Wort ergreifen zu können.

»Deine Auffassung von Glück ist eine sehr oberflächliche«, begann er, indem er sich Ambros wieder zuwendete. »Du hast mir vorgeworfen, daß ich statt des Bruders den Geistlichen gegen dich herausgekehrt hätt. Du irrst! Ich hab als Bruder und Stasis Freund zu dir gesprochen. Jetzt soll der Geistliche zu dir reden. Deine Begriffe von Glück ahnen nix von der Heiligkeit des Standes, in den du mit Stasi treten möchtest. Erwartest du von deiner Ehe Segen …«

»Schon gut, Herr Kurat!« unterbrach ihn Ambros rauh, indem er sich das Haar aus der Stirn strich und aufstand. »Was Sie da sagen wolln, hat Zeit bis zum Brautexamen vor dem Herrn Pfarrer. Ich hab frei von der Leber weg gered't, und Sie wissen jetzt, wie's steht. Entweder – oder! Wann Sie lieben könnten und heiraten dürften wie unsereins, dann würden Sie verstehn, wie mir ums Herz ist. So sind's doch bloß Worte.«

»Und du bildst dir ein, Verblendeter, daß es keine höhere Liebe gibt als diejenige, die du fühlst?« rief Hannes mit starker Stimme.

Ambros zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nit. Ich weiß bloß, daß kein Gott und kein Teixel mir die Stasi streitig machen soll. Nix für ungut; aber mit einer höhern Lieb wüßt ich nix anzufangen.«

Er ging an das nächste Fenster, schaute hinaus und begann zu pfeifen. Hannes schritt auf und nieder, und Kleinmut war in seinem Herzen.

»Auf eins will ich dich doch noch aufmerksam machen«, begann er endlich. »Du glaubst deiner Sach bei Stasi so gewiß zu sein. Aber du kennst sie nit so genau wie ich. Sie ist stets eine gehorsame Tochter gewesen, und du kannst dich drauf verlassen, daß sie nimmer gegen den Willen ihrer Mutter handeln wird.«

»Das wird sich ja ausweisen«, antwortete Ambros über die Schulter, und sich ganz umdrehend, fügte er hinzu: »Sie kennen sich gut aus unter all dem Kraut und Unkraut, was da wächst auf Erden. Aber unter dem Kräutlein, was da ist Gitsche geheißen, da weiß ich halt besser Bescheid.« Er lachte. »Ich hab die Stasi nit gezwungen, daß sie mich liebhaben soll, und wann sie jetzt eine gehorsame Tochter sein kann, dann ist's ja gut. Aber ich werd's keinem glauben als ihr selbst, nit Ihnen und nit ihrer Mutter.«

Hannes seufzte. Dann pochte er an die Tür, um dem Wärter, der auf dem Gange hatte warten wollen, das Zeichen zum Öffnen zu geben. Zu Ambros sagte er: »Es wird wohl einige Zeit währn, bis wir uns wiedersehn.« Er teilte ihm mit, daß er am nächsten Sonntag bereits in sein Amt eintrete. Der Pfarrer von St. Martin war auf eine bessere Stelle berufen worden und hatte sich gern bereit gefunden, Hannes sofort seine Herde zu übergeben.

Der Gefängniswärter rasselte an der Tür mit seinen Schlüsseln.

Niedergedrückt verließ Hannes das Gefängnis. Er fühlte sich klein gegen Ambros, dessen Leidenschaft und Willensstärke ihm unwillkürlich Achtung einflößten. Darüber vergaß er die unangenehmen und harten Dinge, die er zu hören bekommen hatte. Ach, wenn er nur einen Teil von der Festigkeit besäße, mit der sein Bruder auf seinem Willen beharrte, dann wäre er nicht genötigt gewesen, sich zu jener höheren Liebe aufzuschwingen, mit der Ambros nichts anzufangen wußte! Und verlieh ihm diese höhere Liebe die aus dem Herzen quellende Tapferkeit, mit der Ambros für seine Liebe eingetreten war? War es nicht Selbsttäuschung oder gar priesterliche Scheinheiligkeit, von einer höheren Liebe zu reden, da er bei den Worten des Bruders nur zu sehr empfunden, daß er noch keineswegs auf dem Gipfel der Entsagung stand, den er bereits erklommen zu haben wähnte? Warum hatte er dem Bruder nicht zugerufen, daß auch er die Liebe kenne, daß auch er nur ein Mensch sei? War es denn unmöglich, daß der Priester den Menschen auf die Höhe der Entsagung rettete? Oder konnte man ein wahrer Priester sein, wenn man die Schmerzen des Menschentums nicht in der eigenen Brust erfahren hatte?

In solchen Gedanken war er fortgegangen, ohne des Weges, den er eingeschlagen, zu achten. Der Gesang zweier Kinderstimmen veranlaßte ihn, die Blicke von dem Geröll vor seinen Füßen zu erheben. Die Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren durch eine Hecke von ihm getrennt. Der Knabe lag auf dem Rücken im Grase; zum Schutz gegen die Sonne hatte er sich sein Hütlein aufgesetzt und darüber die Hände verschlungen. Das Mädchen hockte mit angezogenen Knien neben ihm, und vor ihr stand eine Ziege und fraß ihr die Feldblumen, die sie gepflückt hatte, aus der Hand.

Hannes gewahrte, daß er kaum fünfzig Schritt von dem Ansitz der Witwe Larseit entfernt war, und vor dem Hause stand Stasi; aber sie sah ihn nicht. Sie hatte Wäsche zum Trocknen über die Schlehdornhecke gebreitet und blickte nun, ganz in sich versunken, auf das Gerichtshaus hinunter. Sie wußte bereits um Ambros' Verhaftung und auch um den heftigen Widerstand, den er dabei geleistet hatte. Dieser neue Zuwachs ihres Herzeleids trug jedoch eher dazu bei, ihre Liebe zu stärken als zu schwächen. Der wilde Mensch – nun lag er gefangen und verwundet in jenem Hause unten, von dem sie nur den First sehen konnte, der über die Kronen zweier großer Alpenweiden im Vorhof aufragte. Die Vögel zwitscherten gewiß in den Laubkronen; sie waren frei und lustig, er aber war einsam und krank! Er hatte auf der Welt keinen mehr außer ihr, und sie durfte nicht zu ihm, ihn nicht pflegen und trösten!

Der junge Geistliche war bei ihrem Anblick wie angewurzelt stehengeblieben; das Herz bebte ihm in der Brust. Die Kinder hinter der Hecke sangen von der Jungfrau Maria, die durch das Meer wanderte, da der Schiffsmann sie nur unter der Bedingung übersetzen wollte, daß sie seine Frau würde. Da fand sie im Meere einen Marmorstein; auf dem kniete sie nieder und betete für die ganze Christenheit … Hannes raffte seinen ganzen Mut zusammen und ging weiter, langsam, ganz langsam. Das Knirschen seiner Sohlen auf dem Kies weckte Stasi aus ihrer Versunkenheit

»Ach, Sie sind wieder da?« rief sie, indem sich ein heller Schein über ihr liebliches Gesicht breitete; und sie lief ihm entgegen. »Sie kommen von ihm? Ach, sagen Sie doch, wie's ihm gebt?«

Um seinetwillen also freut sie sich meiner Rückkehr! zog es fröstelnd durch sein Gemüt, und da er nicht sofort antwortete, rief sie ängstlich:

»Steht's so schlecht mit ihm, daß Sie's mir nit sagen wolln?«

»Nein, nein, es geht ihm gut«, sagte er jetzt hastig.

Ihre Brust hob sich erleichtert.

Hannes blickte zur Seite. Ach, wie liebte sie seinen Bruder!

»Und dennoch sind Sie so traurig, lieber Herr Hannes?« fragte sie mit ihrer sanften Stimme.

»Seine körperlichen Verletzungen sind ohne Bedeutung«, erwiderte er mit einem tiefen Atemzuge. »Aber wohin soll's zwischen euch führn? Gedenk doch deiner Mutter!«

Stasi ließ den Kopf sinken. »Ach, schelten Sie mich doch nit auch!« bat sie, und mit Tränen an den Wimpern zu ihm aufschauend, fügte sie hinzu: »Ich kann ja nix dafür, daß ich immer an ihn denken muß, und er ist doch so unglücklich jetzt«

»Und wann er unglücklich ist, so hat er's sich selbst zuzuschreiben!« versetzte Hannes entschlossen. »Was man verschuldet hat, das muß man büßen. Aber Ambros dünkt sich im Recht; er bereut sein Tun nit, er trotzt. Die Gesetze gelten ihm nix, nix der Wille deiner sterbenden Mutter. Auf seinen Willen allein steift er sich und auf die Gewalt. Und aus den Händen eines solchen Menschen erwartest du das Glück deines Lebens? Stasi! Stasi!«

Die Augen des Mädchens öffneten sich weiter und weiter. »Auch Sie brechen den Stab über ihn? Er ist doch Ihr leiblicher Bruder!« sagte sie mit leise zitternden Lippen. »O du armer Brosi!«

»Stasi!« stotterte er. »Ich wär nit dein aufrichtiger Freund, wann mir dein Wohl nit höher ständ als die Rücksicht selbst auf den eignen Bruder. Glaub mir, ich beurteil ihn richtig.«

Aber Stasi wandte sich schmollend von ihm ab und fing an, sich wieder mit der Wäsche zu beschäftigen, von der noch ein Teil in der Wanne lag.

Hannes ging mit gesenktem Haupt ins Haus.

Als Stasi später in die Stube kam, betete er der Kranken laut vor. Was konnte er auch weiter tun, als Frau Larseit, nachdem sie ihm die schweren Sorgen anvertraut, die ihr Ambros' Liebe zu ihrer Tochter verursachte, auf die Vorsehung zu verweisen, ohne die kein Haar vom Haupte des Menschen falle? Für die Kranke war es eine große Beruhigung, daß Ambros auf vier Wochen im Gefängnis saß, und Stasi mußte es wiederholt mit anhören, wie sie Gott dafür dankte.

Hannes wiederholte seinen Versuch nicht, als Arzt der Seele nach Eisen und Feuer zu greifen und Ambros aus dem Herzen Stasis herauszuschneiden und herauszubrennen. Wo hätte er angesichts ihrer traurigen Augen den Mut dazu hernehmen sollen? War der drohende Verlust der Mutter nicht schon Leid genug für sie? Ein Arzt muß starke Nerven haben, und Hannes war bisher nur gewöhnt, selber zu leiden, nicht aber diejenigen, die er liebte, leiden zu sehen.

Selbst Lisei ahnte nicht, was Hannes litt. Der Priester stand zwischen ihm und der Schwester und ließ kein Vertrauen zu derjenigen zu, die ihm doch von seiner Kindheit an zugleich Mutter gewesen war und der er es verdankte, daß sein Herz unter der Lieblosigkeit daheim nicht wie in der Fremde verkümmert war. Nur seine Sorge um das Verhältnis zwischen dem Bruder und Stasi ließ er sie teilen.

Wie in seiner Schülerzeit, wenn die großen Ferien zu Ende waren, so schied er auch jetzt, sein Ränzel auf dem Rücken, geräuschlos von dem Klosterhof. Wegen der Erntearbeiten konnte man auf dem Hofe weder Pferd noch Knecht entbehren. Lisei versprach, ihm seine Sachen nachzuschicken.


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