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Vierzehntes Kapitel.

Nun also saß er wieder auf der Insula perdita im Moore und wartete. Er hatte sich dies Harren anders gedacht, als es in Wirklichkeit war. Er hatte gemeint, daß ihn das Losreißen von ihr, die er so heiß und zärtlich liebte, sein Herzblut bis zum letzten Tropfen kosten müsse, daß er schließlich, auf das Mahnwort der Bundesbrüder hin, als ein psychisch gebrochener Mann zum Kampfe ziehen würde, wenn auch äußerlich mit der Tapferkeit des Löwen ausgerüstet.

Statt dessen fühlte er sein Inneres von glühender Ungeduld verzehrt. Warum riefen sie ihn nicht? Hatten sie sich anders besonnen? Verzichteten sie auf ihn, diese fanatischen und doch so kühl erwägenden Bauernseelen hinter der See? Seine Mannesehre litt darunter und bäumte sich auf wider die Frist. Fertig gepackt und verschnürt hing sein Felleisen am vordersten Haken des Schrankverschlages; Scharpie und Wundpflaster darin und über dem Felleisen die Feldflasche mit dem Reste des Nordhäuser Korns und die gute, handliche Pistole noch vom seligen Vater her. Er dachte und sann kaum etwas andres mehr als die kriegerische Zukunft. Die Zeit, die Christine bei den kleinen Haushaltgeschäften verbrachte, benutzte er, um seine Papiere zu ordnen und zu sichten und für alle Fälle mit Notizen und Anweisungen zu versehen. Er sorgte dafür, daß seine kleinen Ersparnisse in der Stadt auf Christinens Namen übertragen wurden, und schrieb die Adressen seiner wenigen Verwandten in Halberstadt und Aschersleben für sie nieder mit warmen und herzlichen Begleitworten dabei, damit sie noch außer ihren Eltern treue Freunde wisse, auf die sie in jeder Notlage zählen könne, die sein Gedächtnis in ihr immer frisch erhalten würden, weil sie seines Blutes waren. Alle diese Maßregeln verbarg er in begreiflicher Scheu vor Christinens Augen. Hundertmal am Lage sagte er sich selbst, daß sein Tun im Grunde übertriebene Vorsicht sei. So sterbensbereit er auch als guter Christ lebte; den Gedanken, daß er während dieses Feldzuges in der Seemarsch sein Leben verlieren könne, schob er weit von sich. Aus den Siegen der Wurster Bauernschaft sollte es ihn vorwärts tragen zu größeren Heldentaten. Nie wieder auszuziehen gedachte er den Soldatenrock. Wenn nur erst einmal Bresche geschossen war!

Die Tage zwischen dem achten und vierzehnten März verstrichen, ohne irgendwelche Nachrichten aus dem Getriebe der Politik zu bringen, soweit dasselbe die vaterländischen Bewegungen im Staate Preußen anging. Die Schiffahrt nach Sankt Jürgen war wieder offen und sicher, und die Zeitungen stellten sich mit der erwünschten Regelmäßigkeit ein. Ein elendes Blatt, dieses » Journal du département des bouches du Weser!« Mit wahrhaft genialem Raffinement verkürzte und verspätete die französische Redaktion die Nachrichten nach ihrer Willkür, oder gab ihnen einen Doppelsinn, daß man sie hin und her wenden konnte, wie jenen neumodischen, schillernden » Taffetas de Gènes,« von dem man nie mit Bestimmtheit anzugeben vermochte, ob die Grundfarbe grün oder rosa sei. Die Spalten waren überfüllt mit Hofnachrichten, Fürstenzwist, Betrachtungen über das päpstliche Konkordat und Gesetzesklauseln spartanischen Charakters, nicht zu vergessen die gewissenhafte Notierung jedes montierten und equipierten Kavalleristen, deren man aus allen Kantonen des gallischen Weltreiches dem »allgeliebten und bejubelten Imperator« zur Verfügung stellte. Das Blatt vom siebten März brachte in ein und derselben Spalte die Nachricht, daß zu Hamburg vor dem Altonaertore sechs Unruhestifter erschossen worden seien, und aus Kassel die Erzählung vom Streif- und Plünderungszuge des Wolfenbütteler Lieutenants Kupfermann mit seinem kecken Husarenpikett. Unter der Hamburger Kunde stand die banale Bemerkung: »Diese schleunige und strenge Justiz kann den Unruhestiftern zur Lehre dienen, daß man das Eigentum und die persönliche Sicherheit nicht ungestraft angreifen darf.« Der Kasseler Artikel sagte zum Schluß: »Der Deserteur Kupfermann hat die Feigheit, die sich von einem Verräter erwarten läßt, an den Tag gelegt, indem er sich in einem Kornboden, worinnen er sich versteckte, von einem einzelnen Gendarmen verhaften ließ.«

Jede dieser anekdotisch hingeworfenen Tatsachen redete von der mächtig wachsenden Auflehnung der unterdrückten Masse, und die Steigerung des französischen Prahlens, Flunkerns und Drohens ließ für das einigermaßen geübte Leserauge die versteckte Furcht vor einem jähen Umschwung der Dinge deutlich durchblicken.

Dann am Elften der Tagesbefehl aus dem Milttärkabinett, der jegliche Ausschreitung wider die Staatsgewalt, jegliche Schmähung durch Wort, Blick und Gebärde kurzerhand mit schärfster, kriegsgerichtlicher Aburteilung bedräute, und am Zwölften, in Ermangelung des üblichen politischen Frikassees, ein wahrer Zahlentriumph. Zuerst die Angabe der Stärke ungeheurer, »vom edelsten Geiste der französischen Nation beseelter« Truppenzüge, kreuz und quer durch Bonapartes treue, germanische Provinzen, zu deren Schutz gegen etwaige, verächtliche Gärungspilze aus der Hefe des schmacklosen Gebäcks der Untertänigkeit. Die Berichte von den edlen Truppen flankierte eine pompöse Schilderung des französischen Volksbeglückungssysiems. Die enorme Territorialmacht, die geplanten, erhabenen Kunstschöpfungen aus den erpreßten Milliarden der Raub- und Tränengelder des Eroberers; und um diesen Zeugnissen glücklichster Selbstüberhebung eine anmutige Folie zu verleihen, brachten die »Miscellen« eine harmlos tändelnde ethnographische Plauderei aus dem fernliegenden Ottomanenreiche, mit allerhand süßlichpikanten Würzen vermengt.

Keine Silbe vom Naheliegenden! War denn die ganze Bauernversammlung im Padingbüttler Deichkruge ein Traum, eine Sinnestäuschung des Wahns gewesen? Alle die kühnen Anschläge, die wohlerwogenen Abmachungen ein bloßes Puppenspiel? Auf was hatte man ihm zweimal seinen feierlichen Eid abgenommen? Leberecht bedurfte großer, moralischer Kraft, um Gattin und Eltern nicht unter seiner zweifelsüchtigen Ungeduld schwer mitleiden zu lassen.

Er neigte stark dazu, Torbeekens christliche Ergebung Kälte zu nennen, die steten Tränen der Mutter Komödie, und Christinens sanftes Wesen und unmerkliches Sorgen Gleichgültigkeit. Ihre Art, sich in das Unabweisliche zu finden, erkannte er nicht nach ihrem vollen Werte. Und doch durfte man ihm kein bewußtes Unrecht daraus machen. Vom Geschick war ihm allzuwenig Zeit gegönnt worden, um sich in das schöne Studium einer echten, opferwilligen Frauenliebe zu vertiefen. Seine Ehe war kaum drei Monate alt, und dazu verkümmerten ihm die düsteren Szenen auf der Bühne des Welttheaters immer von neuem den reinen Genuß seines jungen Glückes.

Abends jedoch, wenn die Zeitung wieder nichts Greifbares gebracht hatte, wenn der Ruf aus Norden wieder nicht an ihn ergangen war, fiüchtete Leberecht unverändert nur zu Christine und klagte ihr, mit der unbewußt fordernden Selbstsucht, die auch in der vollkommensten Mannesnatur gern Wurzel schlägt, in erregten Worten die unselige Rastlosigkeit, die ihn quälte. Der Insel machte er ihre Abgeschiedenheit zum Vorwurf, dem Himmel seine holde Frühlingssonne, der knospenden Natur ihr erstes Vogelgezwitscher nach langen, bangen Wintermonden, weil das, was licht und friedlich war, jetzt seine Pein verschärfte. Auch noch ein zweites vermehrte sie: daß er Christine jede nähere Auskunft über Ort, Gestalt und Genossen seiner Pläne ängstlich verhehlen mußte. Im Fache der diplomatischen Andeutungen und Umschreibungen war sein gerader Sinn ein trauriger Stümper geblieben, der allgemeinen Lügenkultur zum Trotze, und so schwieg er ganz und krankte an seinem Charakter.

Christine ging auf ihn ein mit rührender Geduld, ohne auszunutzen, was ihre hellsehende Liebe erriet und ahnte. Sie gab ihm das Beste und Innigste aus dem reichen Schatze ihrer Zärtlichkeit und lächelte Mut in seine Seele, ob auch die ihre insgeheim bitter weinte. Hielt er sie dann in seinen Armen oder ließ sein Antlitz an ihrer Brust ruhen, um an dem starken Schlagen ihres Herzens die Größe ihrer Liebe zu ermessen, so blickte sie oft über das Haupt des Gatten hinweg ins Weite und schloß die Augen vor dem Bilde des klagenden Kinderköpfchens: » Je suis abandonné!« – Übermenschliches kostete es sie, ihr Geheimnis vor ihm zu bewahren, der, im natürlichen Lauf der Dinge, das erste und heiligste Recht daran gehabt hätte. Und doch bewahrte sie's und verbarg die alte Schmuckschachtel drüben in der Pastorei, im Wandschrank ihres unbewohnten Mädchenstübchens, um sich der Versuchung zu entziehen, die verblaßte Deckelmalerei anzuschauen und sich schwarzen Gedanken hinzugeben.

Die Welt ward schöner mit jedem Lag. Zwar noch kein grünes Blatt, aber ein weicher, goldbräunlicher Hauch über Baum und Gesträuch, Krokus und Seidelbast im Pastorengarten, und an den Hecken hin der kräftige Geruch, den die wärmer werdenden Sonnenstrahlen dem modernden zusammengeharkten Laube entlockte, das den feineren Knollengewächsen und niedrigen Bourbonrosen zur Winterdecke diente. Zwischen den Grabhügeln des Kirchhofes hüpften gelbe Ammern und muntere Finken, der Star lockte und schnarrte in den Baumwipfeln, und draußen über dem blanken Wasser und an den sumpfigen Ufern der Hamme ertönte der langgezogene Schrei des Entenvolkes. Klar hoben sich die Deiche und Dächer vom köstlichen Himmelsblau ab, und klar erschallte vom altersgrauen Inselkirchturm der Glockenruf, der den Frommen im Jürgenslande das Nahen des Sonntags ansagte. Sie wußten alle, daß Domine Claudius, über dessen lange Abwesenheit die wunderlichsten Gerüchte gekreist hatten, wieder aufgetaucht war, und schon aus Neugier gedachte keiner aus der Moorkolonie, von Oberende bis Niederende, den morgenden Gottesdienst zu versäumen. Auch Harm Finke hatte durch die Seinen im Jürgensland von den geheimnisvollen Fahrten des Zurückgekehrten vernommen und ließ sein Boot für die Sankt Jürgener Kirchzeit rüsten. Er wollte doch selbst noch einmal wegen der versprochenen Predigt anklopfen.

Eine volle Woche vergangen. – Schon Sonnabend. Leberechts Fieberungestüm hatte seinen höchsten Grad erreicht. Er stand am Fenster und nagte die Lippen über seinen Texten zum Sonntage Invocavit. Die Epistel an die Korinther von der »angenehmen Zeit« und »dem Lage des Heils« dünkte ihm eine Unmöglichkeit in Anbetracht seines gequälten Gemütes. Das Evangelium von Christi Versuchung durch den Teufel? Wie ließ sich das auf die Gegenwart und ihre hehren, gewaltigen Ziele auslegen? Noch vor vier oder fünf Monaten hätte er dennoch eine würdige und ergreifende Auslegung gefunden; jetzt aber erschien ihm die fernere Übung seines verschmähten Berufes als strafbare Blasphemie, ihm, der sein heiliges Buch den Wogen und Winden zum Spiel gegeben hatte. Und doch – sein Stolz, seine Rednergabe wollten es nicht zugeben, daß er sich mit schalen Worten von seiner Gemeinde löste. Unter die edle Saat, aus der Tiefe seines priesterlichen Gewissens ans Licht geholt und ausgestreut, durfte er keinen tauben Sandhafer mischen, der die Ernte entwertete. Er grübelte angestrengt lange Zeit, verhüllte die Fenster, weil der Sonnenschein ihn störte, öffnete die Stubentür, weil der Duft von Christinens blühenden Pfleglingen ihm die Gedanken lähmte – alles vergebens. Endlich legte er Bibel und Schreibgerät fort und beschloß, wie schon mehrmals in letzter Zeit, der augenblicklichen Eingebung auf der Höhe seiner Kanzel zu vertrauen. So beschränkte er sich auf die Anzeichnung des Liedes im Gesangbuche und wartete ungeduldig auf Christine, die ihren täglichen Morgenbesuch bei den Eltern abstattete und ungewöhnlich lange fortblieb.

Da hörte er sie unten über die Diele laufen – er kannte ihren Schritt unter Hunderten heraus – und nun flog sie ihm an den Hals, die Wangen rosig, die Augen strahlend, ganz die glückliche Christine der schönen Brautzeit.

»Nachricht von unserm einzigen Jungen, Geliebtester! Von Volkmar! Vor einer Viertelstunde ist sie gekommen. Ich konnt' es gar nicht abwarten, daß Vater und Mutter damit fertig wurden! Da lies. Freu' dich mit mir!«

Leberecht riß ihr den Brief aus der Hand, derselbe war, durch Güte des Herrn von Trebbin, sicher befördert und abgeliefert worden. Er überflog das hastige Gekritzel, dessen begeisterten Ton ungezählte Ausrufungszeichen und Riesenschwünge an den Wortendungen noch zu verstärken schienen. Alles war herrlich, wundervoll. Was Strapazen! Was gelegentliches Darben und prickelndes Stroh und dünne Röcke! Der Frühling kam, die Freiheit winkte. Diese Vaterlandslieder, die gedichtet, diese Schwüre, die getauscht, diese Seelenbündnisse, die geschlossen wurden unter der kleinen Schar! Im Preußischen waren sie schon längst. Stargard in Pommern hieß die Stadt, wo dieser Brief geschrieben wurde. »Ich hab' ein göttliches Quartier bei einer adeligen Wittfrau, und ihre drei Mädgen zerküßen mich eins um's andre, als wär' ich ein Päppelkind! Um fünf in der Früh geht's weiter auf die Stadt Landsberg im Brandenburgischen zu, und dann auf Frankfurth an der Oder, und dann kommen wir gleich ins Schlesische!! Der Konrad Trebbin, der Bruder vom Hamburger, drillt uns schon alle Abend und früh zu Rekruten, daß wir rechten Staat vor Snr. Mayestät machen sollen! – Wenn Ihr mir noch böse seyd, liebste Eltern, so hilft es nun doch nichts mehr, ich werd' Euch wohl wieder gut machen! Nur, daß Reemt krank am Fieber in Glücksstadt hat liegen bleiben müßen, das grämt mich, sehet zu, daß Ihr von ihm Nachricht kriegt, und schreibt mir's nach Breslau, zu Händen deß Barons von Woyta, Standesherrn.«

Leberecht faltete den Brief zusammen, wie's gerade kam, glührot schoß ihm das Feuer in die Stirn.

»Und ich sitze noch müßig!« rief er laut, schloß die Tür und ging heftig im Stübchen auf und ab, faustballend, als müsse er die vier einkerkernden Wände auseinander treiben. Plötzlich blieb er stehen, zog seine Frau, aus deren Zügen das flüchtige Glück längst wieder hinweggewischt war, ungestüm in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

»Christine! Morgen steh' ich zum letztenmal auf der Kanzel, Übermorgen will ich fort. Wenn du mich liebst, so halte mich nicht länger. Es muß sein – es muß sein, oder mein Verstand geht zu Scherben!«

»Ich liebe dich – ich will dich nicht halten –«

»Geliebte, sage mir mehr, als dies kurze, kalte Wort!«

Sie blickte ihm mit dem Ausdrucke äußerster Hilflosigkeit in die Augen. »O Gott! Was soll ich dir sagen? Daß mein Herz zerrissen ist? Du weißt es! Ich brauche all meine Ruhe, all meinen Mut. Sei barmherzig, öffne die Schleusen nicht, laß mein Leid zwischen seinen Dämmen!«


So überfüllt, wie am Sonntage Invocavit achtzehnhundertunddreizehn, entsannen sich die ältesten Leute nicht, die Sankt Jürgener Inselkirche jemals gesehen zu haben. In den Gängen, am Orgeltreppchen und bis zum Ausgang hin drängten sich die Bauern, die Tür hatte nicht geschlossen werden können. Die Frühlingsluft wehte herein, die Vögel zwitscherten, und die spielenden Kinder sangen Abzählreime zwischen den Gräbern.

Aus Ritterhude war der junge Lehrer herüber gekommen, um an Christinens Statt die Orgel zu spielen; denn sie fühlte sich leidend seit ein paar Tagen. Ihrem Manne hatte sie nur gesagt, daß sie seine letzte Predigt gern ganz und ungestört in sich aufnehmen wolle, und er war's zufrieden gewesen, da sich der Ersatz an der Orgel ohne Mühe fand.

Noch einmal rüttelten Leberechts Worte von der Kanzel herab an den Herzen seiner Gemeinde. Ein erschütterndes Glaubensbekenntnis, ein gewaltiges Stück deutschen Leidens und deutschen Hoffens legte er in dieser seiner letzten Predigt nieder, und er gründete sie auf den Trostspruch des Psalmisten, der dem Sonntage Invocavit seinen Namen gegeben hat:

»Er rufet mich an, so will ich ihn erhören, ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn heransreißen und zu Ehren machen.«

Es war ihm, als predige er nur für zwei Menschen in dieser Kirche: für seine Gattin, die unbeweglich, den Schmerzenszug um die Lippen, in ihrem Stuhle zurückgelehnt saß, und für den silberhaarigen Alten, der aus dem Teufelsmoor herübergekommen war und den aufmerksamen Blick nicht von der Kanzel verwandte, bei jedem Kernworte vor sich hinnickend. Sehr scharf, verblaßt und faltig das Patriarchengesicht und doch von einem Leuchten des Mutes verklärt.

Immer wärmer, immer beredter strömte die Begeisterung des Predigenden, bis sein Auge sich einmal zufällig zum Ausgange hin verirrte, der von Himmelsblau und Sonnenduft erfüllt war. Da stand mitten unter der Wölbung die jugendfrische, stattliche Gestalt seines Boten aus der Seemarsch. Ehrerbietig, die Kappe in der Hand, hielt er sich von der Gemeinde isoliert, seine gedrungene Figur in knappem Tuchwamse und hohen Stiefeln hatte etwas Herrisches im Gegensätze zu den lässig getragenen der Moorbauern; sein Profil mit der kurzen Nase und dem hochfahrenden Munde, über der Stirn das weißblonde, schlichte Haar, schnitt sich scharf aus dem Lichte heraus. So stand er und gab dem Manne auf der Kanzel ein deutliches Zeichen mit den Augen: »Komm! Die Zeit ist da!«

Leberecht stockte mitten im Satze: sein Herz stand still. »Jetzt! – Endlich!« Die Füße schienen unter ihm hinwegzuschwinden, der ganze Rest seiner Predigt zerstob. Er sah nichts mehr, als sein Geschick und seinen Mahner, dort unter dem niederen Bogen der Kirchtür, und hörte nichts mehr, als das helle Vogelgezwitscher draußen in der Freiheit, die mit Myriaden goldener Sonnenstäubchen hereinflutete.

Die Glieder der Gemeinde, die hart vor der Kanzel saßen, bemerkten mit Befremden, wie ihr Seelsorger sich in der Rede verwirrte und sein Gesicht in einem Atem flammendrot und totenblaß ward. Harm Finke blickte sich um; er gewahrte den unbekannten Zuhörer, der nicht über die Schwelle des Gotteshauses trat und doch alles andre eher sein konnte, als ein französischer Spion. In seinem alten Hirne dämmerte der Zusammenhang: er gedachte einer Stunde, vor wenig Tagen erst, die ihm Schmerz und Stolz zugleich gegeben hatte, und als sein Auge dem der blassen Frau im Predigerstuhl begegnete, wußte er alles.

»Is dat de junge Pastoorsche?« fragte er seinen Nachbarn leise, und als der bejahend nickte, erhob der Alte sich und ging behutsam auf den Zehenspitzen zum Predigerstuhl hinüber, sich an den Pfeilern entlang drückend. Christinens Hand lag auf der Kante des Türchens zum Stuhl, ein Beben bewegte die Fingerspitzen unaufhörlich, und aus den Augen des mädchenhaften Gesichtes rann eine Träne über die andre hin. Der alte Bauer stand eine kurze Weile außerhalb des Stuhles neben ihr, auf seinem derben Stock gestützt, plötzlich fühlte sie seine runzelige Hand über ihren zitternden Fingern. Dann klinkte er das Türchen auf, setzte sich an ihre Seite, begann ihr ins Ohr zu flüstern und drückte ihre Hand immer fester in der seinigen. Und sie flüsterte zurück und beugte sich ganz zusammen, weinend zum Herzbrechen. Er hatte seinen Sohn hergegeben; zu den schwarzen Jägern wollte der um jeden Preis, sie mußte Bruder und Gatten lassen und war noch so jung.

»Sie sieht Ihre beiden wohl wieder, Pastoorsche, Sie fängt erst an mit leben,« sagte des alten Bauern verschleierte Stimme, »aber ich? Zweiundsiebzig, und vier Kinder hab' ich schon ins Holz gelegt.«

Leberecht sah und hörte nichts von dieser Zwiesprache. Er stand dem Sonnenlichte zugewendet und redete, und ein mühsam verhaltenes Jauchzen klang durch seine Stimme:

»Brüder! Ohne Unterlaß habe ich Gott angerufen in unsrer Not, bis er meinem Flehen sein Ohr neigte. Da wies er mir einen Pfad aus dem Elend und eine leuchtende Spur. Da wies er auf den Drachen und seine Brut, und seine Stimme war gleich den Stimmen der Posaunen am jüngsten Tage: ›Schlage den Drachen; tritt seine Brut unter deine Füße, werde aus dem Knechte zum Herren durch die Kraft deines Armes und deines Glaubens. Ich will dich herausreißen und zu Ehren machen.‹ Brüder! Ich folge der rufenden Stimme. Von dieser Kanzel steigt ich herab und ziehe den Harnisch an und gürte mich mit dem Schwerte. Nicht mehr mit dem des Geistes, nein, mit dem, das ich ergreifen kann und schwingen in diesen meinen leiblichen Händen. Brüder! Gott gebe, daß viele unter euch mitziehen wider den Erbfeind. Ist es nicht heute und nicht morgen, so will ich darum nicht an euch verzagen, sondern hoffen, daß mein Beispiel in euch doch Frucht bringen möge. Viele Arme, große Kraft; starker Wille, große Tat. Seid Männer und seid Deutsche! Lebt wohl, Gott mit euch und mit mir, Gott für unser Vaterland!«

Sie umstanden die Kirche in flüsternden Gruppen, aus ihrer Ruhe geschreckt, neugierig, bestürzt. Sie fragten Bauer Finke aus, der eben »Mummsell Stinchen« heimgebracht hatte, wie sie Domines Frau noch aus alter Gewohnheit nannten. Aber Harm Finke hatte Eile, in sein Dorf zurückzukehren und konnte keine Auskunft geben. Seinen Gruß an Domine wollte die Frau von ihm vermelden. Domine selbst war mit dem fremden, jungen Bauern in die Sakristei gegangen und hatte hinter sich abgeriegelt. Schließlich wurde den Sankt Jürgenern das Warten zu lange; sie schlenderten zu ihren Kähnen in die Bucht, und ein Schiff nach dem andern stieß ab.

Die Letzten sahen eben noch, wie Domine und der fremde Bauer zusammen zur Pastorei hinübergingen. Der Küster folgte ihnen mit den Abendmahlsgeräten; die Sonne blitzte auf dem Zinn des Kelches und auf dem Rande des verdeckten Hostientellers. Jetzt kam auch Stinchen vom Küsterhause her und schloß sich den dreien an, schlohweiß war ihr Gesicht, und sie schlich, als gehe sie hinter dem Sarge. Sie schritt auch allein: der fremde Bauer hatte seine Hand auf Domines Schulter gelegt. Nun aber drehte dieser sich um, blieb stehen und zog seine Frau dicht an seine Seite.

Da verschwanden sie alle durch die Pforte des Pastorengartens. Der Insasse des letzten Schiffes in der Bucht zog sein schwarzes Segel auf, stiftete Frieden zwischen seinen drei Poltergeistchen in Pudelmützen und Großvaterröcken, und dahin glitt der Kahn in den frohen Sonnenschein hinaus; der spielende Frühlingswind summte leise gegen das Segelleinen.

»Mörgen in'r Fröhte, Klock säben, an't Oosterholter Diek; darr bün'k mit de Kaarjol,« sagte eine Stunde später Ehlert Wiarda zu Leberecht und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Van Dage hebb' ick noch Geschäften rn't Kuntrei. Trööst' Se sick mit mien Engelke, Pastoorske, dat helpt nu nicks! Denn so bit mörgen in'r Fröhte, Maat.«

Er sprang behende zum Küster in den Nordlandsfahrer, der ihn hinüberbringen und gleich wieder umwenden sollte, um andern Morgens zeitig für Leberecht bereit zu liegen. Der Küster, der in seiner Taubheit nur ganz nebelhaft begriff, um was es sich handeln könne, schmunzelte von einem Ohr zum andern über das königliche Fährgeld, das ihm der reiche, junge Marschbauer hinzählte.


Die Scheidestunde war da. Draußen krähte der Hahn, vom Hofe der Pastorei her, den Morgen an; die Luft wehte scharf und kühl, und im Osten lag ein orangegelbes Streifengewölk hart auf dem Wasser, das blauschwarz dagegen abstach. Im Küsterhause regte sich's schon. Die Küsterin klirrte mit dem Geschirr und klapperte auf ihren Klönken treppan in den Giebel, um den beiden, die eng umschlungen inmitten ihres kalten Zimmerchens standen, das Frühstück hereinzusetzen, das unberührt blieb. Nun ward drunten die Haustür geöffnet; sie kreischte in den Angeln. Der Küster ging, in seine dicke Friesjacke geknöpft, vornübergebeugt, mit kurzen Schritten zur Bucht hinunter, die Laterne in den Händen, deren trübroter Lichtschein vor ihm über den dunklen Fußpfad herlief.

»Leb' wohl, mein geliebtes Kind, leb' wohl, Christine!«

»Leb' wohl! leb' wohl! o Gott, wie soll ich es tragen? O Gott, mein Herz bricht!«

»Dein bleibe ich immer und ewig, zu dir hoffe ich zurückzukehren, besser, als ich jetzt von dir scheide. Gib Geduld; halte dich an die Eltern – Mutterliebe geht über alles – denke meiner.«

»Tag und Nacht, immer und immer! Hilf mir, mein Gott! Hilf mir, Leberecht! Ich kann es nicht tragen!«

»Christine, mein Lieb, du wirst es tragen lernen! Gedulde dich; es bleibt nicht so dunkel, wie es jetzt ist. Die Dämmerung weicht, der Tag kommt wieder.«

»Da drüben bricht er an, und du mußt von mir! O laß mich weinen, ich kann nicht anders! Sage mir nur, wo meine Gedanken dich suchen sollen.«

»In Gottes Schutz, bei deutschen Brüdern. Mehr darf ich dir nicht sagen, Christine.«

»Ich frage nicht, – und morgen, – morgen bist du nicht mehr bei mir!«

»Leb' wohl zum letztenmal, es muß nun sein, die Zeit drängt. Komm zu mir, näher, und sieh mich mit deinen geliebten Augen an und laß dir danken für alle Liebe. Weine nicht so sehr, Geliebte! Gott segne und behüte dich und schenke uns ein Wiedersehen in helleren Tagen! Leb' wohl, noch einmal!«

Sie umklammerte ihn mit verzweifelter Gewalt. »Nicht so rasch; mein Glück ist so kurz gewesen! Warte noch; eine Viertelstunde, eine Minute nur! Nein, nein, geh doch! Ich will dich ja nicht halten, ich will ja ganz ruhig sein, daß unsre Opfer für unser Vaterland nicht umsonst sind; daß die Kommenden es uns nie vergessen, was wir für sie getan haben – und hingegeben.«

Er erfaßte sie plötzlich an beiden Schultern und starrte sie aus schreckensdunklen Augen an.

»Die Kommenden! O Christine! Um Gott, Christine! Und ich muß dich verlassen!« Er warf sich vor ihr nieder, bedeckte seine Augen und weinte heiß und bitter.

Sie kniete neben ihm nieder, nahm ihm die Hände vom Gesicht und legte sie um ihren Hals zusammen: »Sieh, nun will ich stark sein! Ich wollte dir's verschweigen, und doch – es ist gut so, daß ich's nicht vermochte. Wir sind eins, und was ich hoffe, ist dein und mein. Und nun weißt du, Bester, daß ich leben will und kann, weil dein Leben bei mir bleibt, wie es auch kommt. Denn, was mir jetzt das Scheiden von dir zwiefach schwer macht, wird mich einst hundertfach beglücken – oder trösten, wie Gott es fügt!«

Noch einmal standen sie, am tiefen Brunnen, vorübergehend still und dachten der Zeit ihrer jungen Liebe, und daß alles anders gekommen war, wie sie es geträumt hatten. Der Horizont ward heller; das Morgenrot wuchs über das Gelb empor in lodernden Flammen, der ungestüme Nordost sprang auf und begann sein Sausen und Zerren in den Kronen der Kirchhofsweiden. In der Bucht schaukelte das Boot hin und her, denn das Wasser schlug unruhige Wellen im Winde.

Er hielt sich aufrecht im Schiffe und winkte der regungslos Dastehenden am grünen Ufer mit der Hand, so lange er die liebe Gestalt noch erkennen konnte. Dann drehte das Boot nach Niederende hinüber, und das schwarze Segel schob sich zwischen ihn und seine Aussicht. Die Insula perdita versank, und im Glühlichte der Kriegsfackel, die der neue Tag vom Osten zum Zenit emporschwang, stieg die Zukunft vor ihm auf: ein mächtiges, ungewisses Scheinen.


Christine blieb am Ufer stehen und blickte dem Schiffe nach, bis es ihr entschwand. Dann fühlte sie mit einemmal, daß ihre Füße im morastigen Wasser standen, und daß die Morgenkälte sie in Schauern durchrieselte. Alles war totenstill um sie her, nur die kleinen Wellen glucksten weich, vom Winde aufgekräuselt. Eine jähe Furcht in dieser Einsamkeit überfiel sie. Sie wollte in die Pastorei flüchten, aber sie gewann es nicht über sich, in den Garten einzutreten, der sich im Morgenlicht zum Hause hindehnte, frisch und sprossend mit seinen ersten übertauten Frühlingsblumen. An der Pforte wendete sie um und kehrte in ihr verödetes Heim zurück.

Das Stübchen war kalt, und kalt stand das Frühstück auf dem Tische; aber der Goldlack im Fenster, der seine braunen Knospen erschlossen hatte, verbreitete den süßesten Duft, und die Rosen glühten im Widerschein des Himmels.

Sie zwang sich dazu, etwas zu genießen und peinliche Ordnung zu machen, anstatt dem Schmerze nachzugeben, der ihn ihr bohrte und wühlte. Sie strich über Leberechts zurückgelassene Kleider und über die tintenfleckige Platte seines Schreibtisches und wendete die Bücher hin und her, die er gestern noch geordnet hatte. Als es nichts mehr zu tun gab, setzte sie sich auf den trauten Söllerplatz, faltete die Hände und schaute unverwandt in die duftige Landschaft hinaus, bis, nach dem schweren Tage und der schlummerlosen Nacht, eine große Müdigkeit sie überwältigte. Ihre Augen schlossen sich, und im Schlafe kam ihr, klar und ohne Stocken, das Lied aus dem Porstschen Gesangbuche zurück, das sie sich am sechsundzwanzigsten Dezember aufgeschlagen hatte, während der ersten, angstvollen Nachtwache ihres blutjungen Ehestandes:

»Laß doch einmal, nach so viel Leid,
Uns wieder scheinen unsre Freud«,
Des Friedens Angesicht;
Das mancher Mensch noch nie einmal
Geschaut in diesem Jammertal.

Sind wir's nicht wert, so sieh doch an
Die, so kein Unrecht je getan.
Die kleinen Kindelein.
Soll'n sie denn in der Wiege noch
Mittragen dieses schwere Joch?

Erbarm' dich, o barmherzig's Herz,
So vieler Seufzer, die der Schmerz
Uns aus dem Herzen zwingt.
Du bist ja Gott und nicht ein Stein,
Wie kannst du denn so harte seyn?«


»Ich will ja weiterleben!«

Sie schrak mit dem Rufe aus ihrem kurzen Schlummer empor; die Morgensonne schien ihr golden in die verweinten Augen, und sie fand sich in den Armen ihrer Mutter.


» Watt to laat, is väl to laat! Allehüht, Foß!« Ehlert Wiarda knallte in sausendem Schwunge mit der Peitsche, daß die Braunen wiehernd ansprangen, und dahin raste das leichte Karriol über den holperigen Scharmbecker Landweg, als gelte es eine Wettfahrt um hohen Preis.

»Goddsblikks! Wi will' de Fransken all dwingen, Maat! Hä, watt seggst du, Maat?«


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