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Dreizehntes Kapitel.

»Da warf ich von mir ab, was fleischlich zagte.«

Die ganze Insel weiß überpolstert, der Schnee in der Bucht hochgetürmt und unberührt, als ob seit Ewigkeiten kein Fuß von Mensch oder Tier dies verwunschene Eiland betreten habe. Droben vom Giebelfenster des Küsterhauses schimmerte Licht herab: Christine war also daheim und hoffentlich allein.

Raschen Schrittes durchwatete Leberecht den arg aufgeweichten Pfad, am Brunnen vorbei zum Küsterhause. Die Tür fand er, wider Gewohnheit, schon verschlossen. Sein liebster Schatz fürchtete sich wohl gar in der Einsamkeit? Volle vierzehn Tage war er fern geblieben, außerstande, die geringste Nachricht nach Sankt Jürgen senden zu können, des bösen Wetters halber. Ihm freilich waren, inmitten der fieberischen Aufregung des Wurster Landes, diese vierzehn Tage dahingeflogen wie wenige Stunden; wie aber mochte sie Christine verbracht haben in der Weltabgeschiedenheit der verlorenen Insel und der schweigsamen vier Wände des kleinen Heims im Giebel?

Er pochte mit seiner Stockkrücke gegen die Haustür. In der Diele hörte er die Küstersleute ängstlich miteinander parlamentieren: »Nä, nä, dat's 'n Spöök, oder de Franschen!«

»Goah du, Trientjen!«

»Nä, du bliwwst bi mi! dat gruugt mi! Och! och! wat schöl' wi dhon?«

»So öffnet doch! Ich bin's: – Domine.«

Die Küsterin kreischte drinnen auf; dann war der Riegel zurückgeschoben.

»Gommes! Domine, woarafftigen Gott, use Domine!«

Der Küster leuchtete ihm mit dem berußten »Schienfatt«, der Laterne für Notweg und Sterbefall, wie das Volk sie nannte, ins Gesicht. »Wi dachden – wi dachden, He wär' d'r nich mehr in'n Lanne, Domine –«

Die Küsterin rannte, in kurzem Rock und Nachtjacke mit Schinkenärmeln, so wie sie aus der Bettkoje kam, zu Christine, und Leberecht folgte ihr auf dem Fuße. Nun lief sie wieder an ihm vorbei, treppab, die hölzernen Klönken klapperten von Stufe zu Stufe. In der Stubentür stand Christine, leichenblaß, die Augen zu unnatürlicher Größe geöffnet. Sie streckte die Finger steif vor sich hin und glitt dann lautlos an ihrem Manne nieder. Kaum, daß er die ohnmächtige Gestalt in seinen Armen auffangen und vor jähem Fallen behüten konnte. Ein eisiges Grauen überlief ihn, – war er denn ein Totgeglaubter, dessen Heimkehr wirkte wie eine Geistererscheinung?

Er trug Christine zum Bett und legte sie auf die Decke nieder. Er netzte ihr die Stirn mit Wasser, rieb ihre kalten, schlaffen Hände, und rief sie, in seiner Herzensangst, mit den törichtsten, süßesten Namen, als sie da vor ihm lag, still, weiß, die Augen wie gebrochen. Unglaublich zart und schmal geworden erschien ihm ihr liebes, frisches Gesicht.

»Wach' auf! Christine – Einzige – trautes Kind, o wach' doch auf!«

Sie regte sich noch immer nicht, und plötzlich durchfuhr es ihn: »Hab' Erbarmen, Gott, laß sie nicht wieder erwachen zu dem, was sie leiden muß!«

Da aber schlug sie endlich unter seinen heißen Küssen die Augen auf, richtete sich empor, strich sich verwirrt die schweren Haare aus den Schläfen, und sank in die Kissen zurück. So starrte sie, noch unfähig zu denken und zu reden, mit matten Augen ihren Gatten an. Er beugte sich zu ihr nieder, schob seinen Arm unter ihren Schultern durch und zog sie so zu sich empor.

»Christine, mein geliebter Engel, hier bin ich ja bei dir, sieh mir doch in die Augen; berühre mich, nimm meine Hand, Herzenslieb. Sage mir nur ein einziges, kleines Wort!«

Sie legte ihre kalte Hand in die seinige, wendete ihm schwerfällig ihr blasses Antlitz zu und barg es zwischen den drei Kragen seines Mantels. Er hatte sich noch nicht die Zeit genommen, seine Reisekleidung abzulegen. An seine Brust geschmiegt, einen Arm ohne Nerv und Willen um seinen Hals geschlungen, schluchzte und flüsterte sie krampfhaft.

»Was ist es, Liebling? Sprich, sage mir deine Not, Christine,« bat er und nahm sie noch fester, noch inniger in seinen starken und warmen Schutz; »versuche, dich zu fassen, laß mich nicht in dieser Angst um dich!«

Schauer auf Schauer schüttelte ihren Körper, sie seufzte und schluchzte und rang nach Worten.

»Ich dachte – o Gott! – ich dachte, du wärest fort in den Krieg, du kämest nicht wieder! Ich habe dich für tot betrauert, all diese langen, langen Tage,« kam es in abgebrochenen Lauten von des armen Kindes Lippen.

Nun erst gewahrte er mit Schrecken, daß sie ihr schwarzes Abendmahlskleid trug anstatt des gewohnten von rötlicher Malvenfarbe.

»Christine, meine geliebteste Frau, und das konntest du mir zutrauen? Daß ich von dir, aus der Welt ginge, ohne Abschied?«

Langsam richtete sie den Kopf in die Höhe und sah in seine Augen, die voller Tränen standen.

»Du gehst wieder, ich weiß es; dies ist der Abschied.«

Er vermochte nicht zu antworten, sie aber setzte sich vollends auf, umschlang ihn und lehnte ihre tränennasse Wange gegen die seinige.

»Sage mir die Wahrheit, Leberecht. Die Ungewißheit hat mich fast von Sinnen gebracht; ich meinte, daß ich daran sterben müßte. Was es sei, ich will es tapfer zu ertragen suchen, wie ich dir's versprach, nur sage mir die volle Wahrheit.«

»Ja, Christine, ich gehe mit in den Krieg, ich kann nicht anders, wenn ich mich selbst nicht verlieren will,« entgegnete er mit klangloser Stimme. »Suche es dir klar zu machen, sage dir, daß Tausende von Frauen, ärmere, schwächere als du, das gleiche Opfer bringen müssen.«

»Ja, ja! hilf mir, mein Gott, hilf mir!« Sie drängte sich mit verzweifelter Liebeskraft gegen den Gatten, ihre Herzen pochten wild, eins an des andern Brust, und dann preßte sie ihre Lippen auf die seinen, so fest, so lange, als sollte dieser Kuß für sie die Tapferkeit emporlocken aus der Seelentiefe des Geliebten, den sie lassen mußte.

»Komm,« sagte er endlich, im Bestreben, Ruhe und Fassung zu zeigen, und ihr davon mitzuteilen, »versuche aufzustehen, Kind; versuch's mir zuliebe. Sieh, ich halte dich, es geht besser, als du dir denkst. So ist's gut: laß mich dein Haar glattstreichen, und nimm ein wenig frisches Wasser für deine Augen. Nun seh ich meinen geliebten Schatz und sein klares Gesicht wieder. Mut, Mut, Christine!«

Mit festem Willen raffte sie sich zusammen und tat nach seinen Wünschen. Sie bezwang ihre Tränen, daß ihr die Stirn von der Anstrengung schmerzte; aber es glückte doch. Während er, hier und da eine unheimlich gleichgültige Frage tuend und über den hohen Schnee, die Gefahren des Weges durch Moor und Heide sprechend, Mantel, Kappe und Stock verwahrte und das Felleisen auspackte, rief sie sich alle jene Gespräche mit ihm ins Gedächtnis zurück, in denen er ihr schon in Brautzeittagen – nein, von Anbeginn ihres Kennens und Liebens, – frei und ehrlich gestanden hatte, daß er sich nicht werde halten lassen, wenn das Vaterland einmal alle seine Männer gegen den Erbfeind fordere und brauche.

»Du hast gewußt, daß er sich dir nur leihen konnte,« sprach sie zu sich selbst in ihren Gedanken; »du hast ihm bitter unrecht getan, als du meintest, er habe sich heimlich von dir hinweggeschlichen, wie ein Heuchler, der sich schuldig fühlt. Suche seinen Drang nach dem Edelsten auf Erden zu verstehen und lösche sein Feuer nicht mit deinen selbstischen Tränen. Hoffe auf Gottes gnädige Führung, trage das Unabänderliche und trage es würdig.«

An ihren eigenen Gedanken richtete sie sich mächtig auf. Ja, wie in solchen Zeiten schwerster Prüfung und unablässigen Seelenkampfes die Gefühle oft unvermittelt ineinander überfließen, so ward sie plötzlich von einer wunderbaren Freudigkeit, einem inbrünstigen Danke dafür ergriffen, daß des Himmels Gnade ihr diesen heißgeliebtesten aller Sterblichen auf eine kurze Spanne Zeit wiederschenkte. So stark erregte sie dieses Gefühl, daß sie sich mit einemmal ihres schwarzen Kleides schämte, in dem sie ihren Gatten wie einen Toten betrauert hatte. Er lebte! Seine ungeahnte Heimkehr sollte ihrem Herzen ein gutes Vorzeichen seiner glücklichen Rückkunft vom Felde der Ehre bedeuten.

Leise schlüpfte sie, hinter der Bettgardine, in ihr malvenrotes Kleid, und als Leberecht, fertig mit Räumen, sich nach ihr umwendete, lief sie auf ihn zu, umfaßte seinen Kopf und lächelte ihn mit feuchtglänzenden Augen an: »Verzeih' mir meine Schwäche, ich will deiner wert sein; ich bitte dich, teile mit mir, solang' ich dich noch habe, was du darfst und kannst. Und zu allererst – was ist's mit Volkmar?«

»Gib mir einen Bissen Abendbrot, wenn du hast,« sagte er ausweichend, um Zeit zu gewinnen. Sie trug auf, was sie fand, und beobachtete ihn verstohlen, während er Brot schnitt und über das Messer hinweg unbewegten Blickes in die dämmerige Tiefe des kleinen Gemaches schaute.

»Volkmar ist mit seinem Freunde zu den preußischen Freischärlern gegangen,« sagte sie endlich und legte ihre Hand um Leberechts, die noch immer das Messer hielt. »Ich weiß es; scheue dich nicht, es mir zu gestehen.«

»Ja, Christine, sie sind fort miteinander, und wenn der König von Preußen viel solcher wie sie unter seinen Fahnen versammeln darf, dann, mein' ich, steht es gut um unsre deutsche Sache. Volkmar zurückhalten wollen, wäre Unmöglichkeit gewesen. Es gibt Triebe, an deren gewaltsamer Unterdrückung der Mensch einfach zugrunde geht. So auch dieser. Du und ich, wir verstehen unsern goldnen Jungen, und sehen den Keim des Mannes in ihm. Sein Freund, der Eberhard Woyta, ist prächtig, eine edelmännische Natur im besten Sinne. Reemt Arend gibt der kleinen Schar (denn es haben sich den beiden noch einige andre angeschlossen) das Schutzgeleit, bis er sie sichern Freundeshänden überliefern kann, drüben in Holstein.«

»Dies trifft mich vorbereitet,« antwortete Christine. »Es konnte ja gar nicht anders mit ihm kommen. Gott behüte ihn uns!«

»Wie aber werden es die Eltern tragen?«

»Mutter wird sich das Haar weiß grämen – armes, gutes Mutterchen! Vater ahnt es alles, wie ich es vorgeahnt habe. Die Möglichkeit ist tagtäglich in unsern Gedanken und Gesprächen gewesen. Volkmars Brief an dich hat ihm Sorge und Verdruß bereitet und ihn gerührt und erfreut, alles miteinander, und dann sagte er: ›Gebe der gute Gott, daß dein Mann ihn noch in Dorum findet; vielleicht gelingt es ihm doch, ihn zurückzuhalten.‹ Aber glauben konnten wir beide nicht daran, und als auch du fernbliebst, da – o, nichts mehr von jenen Qualtagen!«

»Christine, ich habe unserm Bruder sogar fortgeholfen mit meinem letzten Goldstücke. Du glaubst nicht, wie anders als hier es jenseits des Hammedeiches aussieht; wie es gärt und sich regt. Solches Feuer aus irgendwelcher irdischen Rücksicht dämpfen zu wollen, würd' ich Sünde nennen. Ja, Kind, meine Heimfahrt zu dir ist auf Schulden gemacht worden, aber, gottlob, ich kann sie mit Zinsen abtragen. Mein Herz erhoben haben mir die herrlichen Jungen, kurz nachdem mir die fränkische Niedertracht in Blut und Galle getreten war. Ja, es muß ein Ende haben, und es wird! Ich wollte –«

»Wann gehst du von mir?« fragte sie in seinen unterbrochenen Satz hinein. Trotz des festesten Willens schwankte ihre Stimme, und ihre Wangen erblaßten von neuem, ihre Fingerspitzen erkalteten.

»Es kann sein morgen, es kann sein erst in zwei oder drei Wochen. Sobald mein Ruf kommt.«

»Und zu welchem Teile der deutschen Armee wirst du stoßen?«

»Das ist das Einzige, was ich dir verschweigen muß, Christine.«

»So will ich nicht weiter in dich dringen. Sage mir nur eins: wie bringt das verarmte Land die Mittel zum Kriegführen auf? Es muß doch Unendliches bedacht werden: Löhnung, Speisung, Ausrüstung. Und dann die Verwundeten, die Zurückbleibenden.«

Er sah in ihr Gesicht und die unnatürliche Ruhe der lieblichen, jungen Züge griff ihm ans Herz. Sie nickte zu ihm hinüber: »Erkläre mir das.«

»Jeder bringt Opfer, so viel und so groß er's irgend vermag.«

»Sieh, daß ich daran gedacht habe!« Sie stand auf und holte eine ganz alte Pappschachtel hervor, ein rührendes ungeschlachtes Ding, dessen Deckel ein roh gezeichnetes und getuschtes Kinderköpfchen, traurig über ein unmotiviertes Streifchen Wiesengrün schauend, zeigte, mit der Umschrift: » Je suis abandonné!« In dieser Schachtel bewahrte sie seit Kinderzeiten ihre geringen Schmucksachen: eine Granatbrosche, eine Zitternadel mit winzigen Türkisen und Perlen auf dünnem Goldfiligran, und zwei oder drei Anhängerchen von unbedeutendem Werte. Dazu hatte sie die schönen Silberschließen ihres Gesangbuches gelegt und das haargeflochtene Buchzeichen aus ihrer Bibel, mit den goldenen Kreuzchen daran hängend. »Nimm es,« sagte sie; »du wirst wissen, wie es am besten verwendet werden kann. Es ist nur so wenig. Aber Bruder und Gatten beim Heere, – – o Lieber! Das wiegt die Kleinheit der Gabe auf. Nur meinen Trauring, den laß mich behalten, den und die Wiedersehenshoffnung, und jede Stunde wollen wir beieinander sein, bis dein Ruf kommt.«

Er schob seinen Teller beiseite, beugte sich auf die Hände seiner Frau hinab und bedeckte sie mit heißen Küssen.

»Ich danke dir! Ich danke meinem Gott wieder und wieder für dich, du Teure, du unaussprechlich Geliebte. Ach, Kind, wenn der Abschiedsschmerz auch noch so bitter sein mag, in mir überwächst ihn das selige Glück, daß ein solches Herz mein Eigentum ist für Zeit und Ewigkeit.«

Er kniete zu ihren Füßen nieder, legte sein Haupt in ihren Schoß, und sie strich mit ihrer weichen Hand glättend über die widerspenstigen Massen seines Haares.

»Was ich dir bin, das ward ich erst durch dich,« sagte sie leise mit tiefem Gefühl. »Ich war nichts als ein kleiner, alltäglicher Charakter. Zu wenig hatt' ich ins böse Weltgetriebe hineingeschaut; zu wenig darunter gelitten, dank der treuen Fürsorge von Vater und Mutter. Dann kamst du, und du hast mich allmählich einen steilen Hügel hinangeführt. Da sah ich, je höher ich an deiner lieben Hand stieg, in immer weiteren Kreisen um mich her; da hab' ich erkannt, daß die Wiege nicht die Welt ist und die winzige Inselscholle nicht das große Vaterland. Und an meiner unsäglichen Trauer um dich in diesen beiden öden Wochen hab' ich noch eins gelernt, Geliebter: daß du mein Lebensbrot, mein Segensquell bist. O, wie macht das Entbehren Hunger und Durst so scharf! Nun still' ich mir beides wieder bei dir, und du mußt mir Vorrat geben; – auf lange Zeit vielleicht, wer weiß es? Du wirst mich nicht darbend zurücklassen, wenn du gehst.«

Stumm trank er ihre Worte in sich hinein. Last um Last fiel von seiner Seele ab. Nicht nur körperlich kniete er zu ihren Füßen, auch sein Geist neigte sich vor ihr. Sie war die Größere im Opferbringen. Ihn trug die Begeisterung auf mächtigen Flammenfittichen zur Sonnenhöhe empor; sie blieb in der Erdennot drunten. Aber ihr stilles Heldentum schickte sich an, der grauen Asche ihres Glückes zu entsteigen, schön, leuchtend, verklärt gleich dem Vogel Phönix des Märchens. Und als er ihr abermals danken wollte, schloß sie ihm die Lippen.

»Nein, nein, so nicht. Das Danken ist alles an mir, Leberecht. Sieh, nur dir danke ich's, daß ich verstehe, was mein Bruder wagt und tut, und daß ich ihn deswegen heilig spreche: dir werd' ich's auch früh oder spät zu danken haben, wenn ich dich mutig ziehen lassen kann.«

Sie drückte ihr Gesicht einen Augenblick lang in seine Hand, dann machte sie sich von ihm los, erhob sich und räumte, tränenblind, das Zimmer auf, ohne sich im geringsten bewußt zu sein, wohin sie das Gerät trug und stellte.

Mitten in dieser Arbeit fiel sie ihrem Gatten um den Hals und lachte schluchzend unter stürzenden Tränen: »Leberecht! o Leberecht! Gott ist gut, du bist noch bei mir!«


»Willst du lieber zuerst zu den Eltern hinübergehen und sie vorbereiten?« sagte Leberecht in der Frühe des folgenden Tages zu Christine. »Mir kommt, ohne Übertreibung, das Zittern der Angst, wenn ich daran zurückdenke, wie du gestern abend dort in der Türe standest und mir für tot in die Arme fielst.«

Christine wurde rot. »Deshalb sorg' du dich nicht. Vater ist immer bei seiner Hoffnung geblieben, du würdest wiederkommen. Nur ich, ich war feige und kleinlaut. Nein, mach' dich selbst auf den Weg. Lieber: sage es den Eltern gelassen und setze Fassung voraus. Vater wird dir's nicht schwer machen, glaube mir's, und bei unserm Mutterchen tut ein warmes Wort Wunder. Und beruhige du Vater um meinetwegen: du siehst, daß ich mein Los tragen und dir den Abschied nicht schwer machen will.«

Wie Christine vorhergesagt, so kam es. Die Diele der Pastorei war leer; in der verschlossenen Küche hörte Leberecht seine Schwiegermutter und Beta mit einer fremden, schnarrenden Männerstimme hin und wieder reden. Er begab sich ohne weiteres in des Vaters Studierstube. Dort saß der alte Herr am Schreibtisch, in seine schweinsledernen Folianten für die große Chronikarbeit vergraben. Die Märzsonne, die draußen fröhlich lachend Schnee und Eis mit Verderben bedrohte, schien hell zum Fenster herein, und der Dompfaff im Weidenkäfig, Volkmars Eigentum, probierte schüchtern sein Stimmchen an den ersten fünf Takten der Lieblingsmelodie seines Besitzers: »Schöne Minka, ich muß scheiden –«

Das Dorumer Dachkämmerchen, der blonde Knabe, sein unerschrockener Blick und sein begeistertes, warmes Wesen, alles trat bei diesen zarten Tönen, die wirklich aus weiter Ferne zu kommen schienen, wieder frisch vor Leberechts Seele und erleichterte ihm seine Aufgabe.

»Guten Morgen, bester Vater!« rief er im Eintreten, den harmlosesten Gruß wählend, weil ihm das Herz bis hoch in die Kehle hinauf schlug; »da bin ich endlich zurück, nach Sturm und Schnee und völliger Pfadlosigkeit.«

»Und was bringst du mir? Was bringst du mir von meinem Jungen?« Die getrübten Augen zwinkerten und zuckten in raschem Wimperschlage, die Lippen des eingesunkenen Mundes bebten; es war, als erwarte der alte Mann das Niederschmettern einer erhobenen Faust auf sein Haupt.

»Mein lieber Vater, nach seinem Briefe an mich wissen Sie, auch ohne meine Antwort, was er beschlossen und ausgeführt hat. Gesehen, liebgewonnen mit dem ganzen Herzen hab' ich ihn noch; aber ich fand ihn gestiefelt und gespornt. Ihn zurückzuhalten, das vermocht' ich nicht. Er hätte, allem zum Trotz, Leib und Leben daran gesetzt, um dennoch seinen Plan auszutragen. Am Abend des dreiundzwanzigsten vorigen Monats ist er mit gleichgesinnten Kameraden hinaufgewandert nach der Elbe zu und von dort nach Holstein hinüber. In Holstein werden sie empfangen, ausgerüstet und mit andern vereint. Dann wollen sie, ein ganzer Zug frischer, tatkräftiger Jugend, zum Könige nach Breslau.«

Torbeeken stützte beide Arme auf sein Pult und legte den ergrauten Kopf in die Hände die er ineinander gerungen hatte. »Mein Benjamin, mein Einziger!« sagte er mit schwacher Stimme. »Wie Gott will, wie Gott will – –! Und auf welche Weise werden sie durch die Grenzposten ins Mecklenburgische und Preußische kommen?« fragte er nach einer Pause zwischen den deckenden Fingern hervor.

»Sie haben ihre Pläne von langer Hand ausgearbeitet und bewundernswert klug. So klug, wie es nur der feurigste Wille bei so jungen Jahren zustande bringen kann. Wie gesagt, bei Brunsbüttel schon finden sie sichere Bedeckung und Fahrgelegenheit. Die Trebbins sind vielvermögende Leute dort oben im Lande und mit Volkmars Freunde und Marschgefährten, dem jungen Baron Woyta, vervettert.«

»Wir haben, während du fort warest, das welsche Geschmeiß dreimal hier auf der Insel gehabt. Wenn die Zeitungen nicht ganz und gar aus Lüge bestehen, arbeitet sich's doch wieder lebendig aus Brand und Frost und Vernichtung hervor. Kein Heuschreckenschwarm hat ein zäheres Leben.«

»Die Holzstöße zu den Feuern wider sie werden schon in allen Feldern geschichtet. Bald gibt's Rauch und Flammen genug, um die Plage aus der Welt zu schaffen.«

»Es sind ihrer doch zu viele, mein Sohn.«

»Darum müssen wir uns dagegen setzen, Mann für Mann, Vater; unser tapferer Knabe nicht allein. Wer einen rüstigen Arm hat, um den Flamberg zu schwingen, darf ihn dem Vaterlande nicht vorenthalten. Ein erbärmlicher Feigling jeder, der zurückbleibt und kräftige Hände in den Schoß legt.«

Der alte Mann begriff in seinem dumpfen Leide noch nicht, wohin sein Schwiegersohn mit dieser letzten Äußerung zielen, auf welchen neuen Schlag er ihn vorbereiten wollte.

»Mein Benjamin, mein Benjamin!« flüsterte er immer noch einmal vor sich hin.

Leberecht legte ihm den Arm um die Schulter. »Guter, bester Vater, preisen Sie Gott, der Ihnen einen solchen Sohn geschenkt hat. Daß es Ihnen doch mit mir vergönnt gewesen wäre, Ihre Augen an seinem Anblicke zu werden und Ihr Herz an seiner Gesinnung zu erbauen.«

Der alte Mann hob den Kopf und sah den Tröster mit schwimmenden Augen an. »Nur den einen Sohn hab' ich, und seine zerfahrene Art hat mir viel schweren Kummer im Leben bereitet.«

»So wird er's jetzt gut machen und Ihres ganzen Stolzes auf ihn wert sein.«

»Und wer tritt in meine Fußstapfen? Hab' ich denn mein Amt so schlecht verwaltet, daß mein Sohn, wider alles Herkommen in der Familie, nicht Geistlicher werden will?«

»Es gibt mancherlei Weise, Gott würdig zu dienen, Vater.«

»Für den Theologen nur die eine, nach Christi Verordnung in der Heiligen Schrift. Davon gibt es kein Abweichen. Wer das Schwert und den Königsrock trägt, der folgt mir nimmermehr im Talar nach. Du auch nicht, nein, auch du nicht!«

»Gott segne Sie dafür, Vater, daß Sie mir mein zweites Geständnis leichter machen. Ja, Sie ahnen recht: auch ich werde den Talar von mir werfen und mit der blanken Waffe gegen den verhaßten Feind ins Feld ziehen.«

Torbeeken warf den Oberkörper vor, reckte die Hände mit der Gebärde des tödlichen Erschreckens empor und ließ sie dann auf Leberechts Arm zusammensinken: »Also doch, also wirklich auch du? Leberecht! Leberecht! Und mein Kind? mein armes Stinchen?«

»Wir können allesamt von ihr lernen. Gott hat ihr den starken Geist verliehen, der in dieser Zeit ein unschätzbares Besitztum ist.«

»Stinchen stark? Ach, mein Sohn! – ich weiß es besser!« Er verhüllte von neuem sein Antlitz und wiegte sich hin und her.

»Vater, seien Sie getrost deswegen. Sie ist wohl schwach gewesen, aber sie hat sich so tapfer durchgerungen, daß ich mich in Wahrheit klein vor ihr gefühlt habe.«

»Sei es denn! Ich bin alt und schwach. Ich vermag nicht mehr, mich gegen das Unglück zu stemmen, zu empören, wie ihr Jungen es tut. Ich klage nicht; ich mache dir keinen Vorwurf. Wär' ich Sechsundzwanzig gleich dir, wäre mir der Soldat schon ins keimende Leben gesenkt worden wie dir, vielleicht hätt' ich mich überhaupt niemals und durch nichts ins geistliche Ornat hineinzwingen lassen, wie du. Ich war ein gewaltiger Starrkopf in deinen Jahren. Was nützt das ›Wenn‹ und ›Vielleicht‹? Es gilt, mit einer Tatsache fertig zu werden. Hilf mir dazu, und sage mir klar, was du vorhast.«

Leberecht drückte die knochige Greisenhand liebevoll in der seinen: »Dank für Ihre Worte, mein teurer Vater. Bis jetzt steht nur soviel fest, daß ich zu jeder Stunde marschbereit sein muß. Meinen Eid hab' ich geleistet. Den Plan und Zeitpunkt unsrer Operationen erfahre ich wohl erst beim Aufbruch genau. Bis dahin hab' ich mich zu Stillschweigen verpflichten müssen. Raten Sie mir nun noch, wie ich's mit meiner Lösung vom Amt halten soll. Ich gebe mich mit dieser Frage in Ihre bewährte Hand.«

»Verwalte dein Amt gewissenhaft, bis du abgerufen wirst,« sagte Torbeeken nach einigem Nachdenken, »dann laß mich für dich sorgen und handeln nach bester Kraft und bestem Gewissen. Sieh, auch ich habe mich dir schwach gezeigt, aber auch ich werde mich wiederfinden: übe Geduld mit meinen siebzig Jahren. Seit ich dich kennen und lieben gelernt habe, sage ich dir, brechenden Herzens zwar um Christinens willen, aber doch mit diesem ganzen Herzen: zieh' aus, und der Allmächtige möge euch, meine beiden Söhne, in Gnaden behüten.«

Während sie noch beisammen saßen, und, ruhiger geworden, die schweren Fragen dieser nächsten Zukunft hin und her erwogen, kam die Mutter zu ihnen herein, belastet mit einem schweren Packen Haussorge. Sie tat einen kleinen Schrei, als sie Leberechts ansichtig wurde, und begann zu kritteln und ihn anzuklagen, weshalb ihr seine Rückkehr verheimlicht worden sei, ihr, die sich genau so bitter gesorgt habe, wie die übrigen. Ach, und dazu dies Leben, diese böse, entsetzliche Zeit!

»Eben ist wieder einer von den Franzosen hier gewesen, Ferdinand, der Bougrain; mit einemmal steht er hinter mir und Beta in der Küche. Gerade wollt' ich einen Sprung zu unserm Stinchen hinübertun. Nun hat uns der Unmensch die Butter samt dem Topfe fortgenommen, und kein halbes Ei ist geblieben und nur zwei geringe Grützwürste vom ganzen Vorrat! Jetzt wird der Bougrain zuversichtlich zu Küsters und Stinchen gegangen sein.«

»Ich will hinüber!« rief Leberecht und sprang auf, aber Torbeeken hielt ihn zurück.

»Stinchen und die Küsterin werden heute so gut wie die früheren Male allein mit dem Manne fertig; bleib' noch,« sagte er und nahm die Hand seiner Frau. »Laß Butter und Eier beiseit, Malchen; komm, setze dich zu uns und höre, was Leberecht mir von Volkmar berichtet hat.«

Bei der bloßen Nennung seines Namens begannen ihre Tränen zu strömen. Sie setzte sich gehorsam, aber sie rückte mit dem Stuhle und fingerte und klirrte unruhig mit ihrem Schlüsselbunde in der Schürzentasche. Dann lauschte sie, Angst in jedem Zuge, dem, was ihr Mann mit wankender Stimme erzählte, und den kurzen, erklärenden Worten, die Leberecht hier und da einwarf. Als die beiden Männer alles gesagt hatten, zog sie ihr Tuch und schluchzte laut.

»Wie konntest du das dulden, Leberecht, du, ein Prediger und unser Schwiegersohn? Wie konntest du das Kind verführen helfen? Mein Junge ein Soldat! Mitten in der schlechten Zucht, beim Kartenspielen und Plündern und Morden! O, lieber Gott im Himmel! O, ich unglückliche Mutter!«

Sie stellten ihr umsonst vor, für welch große, heilige Sache er zu kämpfen hoffe; sie blieb in ihrem kleinen Kreise, drehte sich hilflos ringsum darin und weinte sich die Augen rot. »Ach! das winzige Preußen und die barbarischen Russen, die nichts besser sind als wilde Tiere, gegen das ungeheure, kluge Frankreich! Daran glaubt ihr? Ach, mein bester Junge! Ich hab' ihm noch nicht einmal seine neuen Hemden und Strümpfe schicken können, und gewiß hat niemand daran gedacht, ihm eine Herzstärkung in seine Feldflasche zu tun, und in was für Betten mag er nun wohl schlafen müssen, er, der immer so eigen und peinlich damit gewesen ist, von Kind auf!«

Arme, gute Mutter mit der Treue im Kleinen und der Einfalt im Großen. Es war kein Trost für sie zu finden; sie wollte für jetzt mit keinem mehr sprechen, niemanden mehr sehen – nein, selbst Stinchen nicht. Ganz allein mußte sie dies verwinden. Schluchzend ging sie in ihre Kammer und von dort in die Küche zurück, weil Beta keine Suppe auszuschäumen verstand, und der Vater sollte sein bißchen Essen ohne Tadel bekommen, zumal an einem solchen Tag des Unglücks.

»Und von meinem Vorhaben weiß sie noch nichts! Wie wird das werden?« rief Leberecht aus, als sie sich entfernt hatte.

»Sie soll es durch mich erfahren, ich kenne ihr Herz und seinen goldenen Grund doch am genauesten,« entgegnete Torbeeken. »Willst du nun zu deiner Frau hinübergehen, Lieber? Ich bedarf noch ein wenig der Ruhe. Schaut heute abend noch ein Stündchen zu uns herein; dann werden sich, will's Gott, die bangen Wogen geglättet haben. Sorge dich um uns nicht, gib ihr deine Zeit und dein Lieben, solange sie dich noch besitzen und halten darf.«

Bewegt und erhoben zugleich durch diesen Austausch mit seinem Schwiegervater, kehrte Leberecht in sein Heim zurück.

Christine saß still und fleißig am Nähtischchen. Sie hatte ihres Mannes Wäsche und Kleidung neben sich aufgestapelt und ließ Stück für Stück durch die sorgfältig prüfenden Hausfrauenhände gehen. Mit dunklen Ringen um die Augen, erschien ihr Gesicht im lichten Sonnenglanz sehr blaß; die Züge hatten sich verschärft und vergeistigt, und der Ausdruck stummer Trauer alterte sie. Dennoch überkam den Eintretenden, wie immer, ein wundersamer Friede in ihrer Nähe. Sie hatte von jeher eine feine und geschickte Hand für Blumen gehabt und auch die Geduld dazu. So war sie selbst jetzt, in ihrer ärmlichen Bescheidenheit, von Nelkenflor und Rosenduft umgeben. Der Goldlack hatte schon sammetbraune Knospen, und die Brautkranzmyrte stand schlichtgrün zwischen den fröhlich prangenden Farben ihrer blühenden Genossen im irdenen Topfscherben.

Christinens Gedanken mußten sie weit aus der Gegenwart hinweggelockt haben. Sie schrak beim Eintritt ihres Gatten heftig zusammen und errötete bis unters Haar, als er sie umfaßte und küßte und ihr lebhaft berichtete, wie herrlich der Vater diese eingreifende Schicksalswendung aufgenommen habe, und daß man die bekümmerte Mutter getrost seiner Ruhe und Ergebung anvertrauen dürfe.

Sie stichelte mechanisch weiter, während er zu ihr sprach. Nur ein paarmal hoben sich ihre langen Wimpern rasch von den Wangen, und dann blickten die blauen Augen mit eigentümlich zerstreutem und furchtsamem Ausdrucke ins Leere.

»Kind, was ist dir? Du bist sicher krank!« rief er endlich, als sich dies erschreckte Aufschauen zum drittenmal wiederholte. Sie jedoch verneinte, legte ihre Stopfarbeit einen Moment aus der Hand und lehnte sich im Stuhl zurück gegen des Gatten umschlingenden Arm.

»Ängstige dich nicht um mich, bester Mann, ich bin nicht krank; ich denke nur nach. Es kommt alles wieder ins Geleis,« entgegnete sie, und während sie das sagte, fädelte sie schon ihren frischen Faden in die Nadel.

»Nein, laß jetzt das Nähen; sieh mich an, sieh mir recht in die Augen. Du verbirgst mir etwas, Christine.«

»Was sollte ich dir denn verbergen, Geliebter? Der Abschiedsschmerz wäre das einzige. Möchtest du mir nicht ein wenig vorlesen? Dabei arbeitet sich's so gut.«

»Laß uns lieber miteinander plaudern. Wer weiß, wie lange wir noch so friedlich beisammen sitzen.«

»Ich kann nicht plaudern, Leberecht, verzeih' mir; – ich kann nicht!«

Er nahm die Vossische Homer-Übersetzung vom Bücherbrett, las ihr des Odysseus Heimkehr zu Penelope, der Getreuen, und sie zog ihre Nadel ohne aufzuschauen. Zuweilen hielt sie mitten im Stich ein und beschattete auf kurze Sekunden ihre Augen mit der flachen Hand, als müsse sie die Außenwelt abschließen, um ganz ungestört in ihr Inneres blicken zu können. –

»Vergib mir, Gott, wenn mein Verschweigen ein Unrecht vor dir war! Du kannst nicht wollen, daß ich, so nahe vor dem Scheiden, sein geliebtes Herz noch schwerer belaste mit dem, was in mir nur Hoffnung ist, keine Gewißheit. Gib mir Kraft, mein Gott, es allein zu tragen und die Erfüllung in deinen Willen zu befehlen.«

Sie stand, ehe sie dem vorangegangenen Gatten zu den Eltern in die Pastorei folgte, noch einen Augenblick allein neben dem alten Grabe mit der eingesunkenen Tafel im entlegensten Kirchhofswinkel. Zwischen den schwarzgrünen Efeublättern kamen die ersten Schneeglöckchen zaghaft hervor; ein ganzer Trupp gesenkter Köpfchen aneinander gedrängt. Christine pflückte ein paar und behielt sie in der Hand, während sie den weichen Kreppschal fest um Hals und Busen zusammenzog und dann, auf die Grabtafel gelehnt, gen Westen blickte in den roten Abendschimmer, der sich nur zögernd vom Horizont zu trennen schien. Die Luft wehte gelind. Über der Wasserfläche mit ihren dünnen, langsam dahin treibenden Schollen lag ein silberbläulicher Hauch; die Kirchhofsweiden trugen schon gelbe Kätzchen unter dem leichten, schmelzenden Schnee. Der Frühling kam. Und wenn es abermals auf den Winter zuging, hatte sie wohl längst Abschied von dieser lieben Insel genommen. Wo würde sie wohnen, um die Zeit, wenn Leberecht aus dem Kriege heimkehrte? Wie würde es sein? Welchen Beruf könnte er später ergreifen im Frieden? Sie sann und sann und starrte dabei unverwandt auf die fahlrote Wolkenbank tief im Westen mit dem gelbgrünen Saume, in dem der Abendstern blinzelte. Sie fand keine Lösung all' ihrer Fragen an die Zukunft. Aber vielleicht hatte sich bis dahin die geheimnisvolle Hoffnung in ein lebendes, lachendes Glück verwandelt, und dann – o, welch ein himmlisches Wiederfinden, welch undenkbare Seligkeit! Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Wonne und des Schmerzes zugleich; die grünliche Saumlinie des Horizontes schwamm vor ihren Blicken auseinander und ward dunkler. Und plötzlich stieg hinter ihr das traurige Kinderköpfchen der alten Schmuckschachtel auf; das schaute sie an und sein Mündchen zitterte kläglich: » Je suis abandonné.«

»Du bist ja nicht verlassen,« wollte sie rufen und streckte unwillkürlich die Hand nach dem fremd vertrauten Bildchen aus, da aber war es schon mit dem letzten Rot im fernen Westen zerronnen. Nur der Abendstern funkelte hell auf dem düstern Grunde der Dämmerung.

Leberecht hatte sich um ihr langes Fortbleiben gesorgt und kam ihr schon in der Diele des Hauses entgegen.

»Ich muß mein unvorsichtiges Kind schelten,« sagte er, wickelte sie aus ihrem Schal heraus, in dem sie wie eine Schmetterlingspuppe steckte, und küßte ihre kalten Wangen, die der Abendwind frisch gerötet hatte. »Wo bist du so lange gewesen?«

»Draußen,« entgegnete sie, »die Luft war so schön und tat mir so gut. Ich hab's gewagt und bin allein auf deinen Hügel gestiegen,« fügte sie leise hinzu und drückte ihm die Schneeglöckchen in die Hand. »Da, mein Liebster, nimm die erste Frühlingsverheißung und sage dir dabei, daß deine Frau sich in der großen Weite, die ihr gestern trostlos erschien, wieder zurecht gefunden hat. Wir müssen nur erst lernen, unserm Geschicke still zu halten.«

»Komm in die Stube, teile deine Gedanken mit unsrer armen Mutter,« bat Leberecht und zog die Geliebte nach sich, »sie vergeht in ihrem Jammer um deinetwillen.«


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