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Fünftes Kapitel.

Das junge Paar hatte den ersten Ehestandstag in göttlicher Sorglosigkeit verschwärmt. Strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, verzuckerte Bäume, die Welt war ihnen schöner, als das Paradies der Bibel. Leberecht, ein ganz neuer Mensch, unbändig wie ein Knabe, und Christine so würdig und ehrbar, als ob sie gestern nicht die grüne, sondern die silberne Hochzeit gefeiert habe. Sie sagte nicht mehr »liebster Schatz«, sondern »liebster Mann«, und darin lag ein hübsches Pöstchen Stolz und zugleich Demut versteckt.

Fast nahm sie's übel auf, daß die Mutter schon frühmorgens anpochte, gerade als der »liebste Mann« sich aus nächster Nähe ansah, wie seine Gattin die hohe goldbraune Flechtenkrone auf ihrem Scheitel ordnete. Aber die Mutter erschien mit der vermummten Kaffeekanne und dem täglichen Brote dazu.

»Ich dachte mir's wohl, daß mein Stinchen darauf vergessen und Sie armen Mann Hunger und Durst leiden lassen würde ohne mich,« meinte sie und herzte und bewillkommnete ihr glückliches Kind, als läge ein Weltteil zwischen Küsterhaus und Pastorei und ein Jahrhundert zwischen gestern abend und heute früh.

»Nun trinkt doch! Setzen Sie sich her, lieber Sohn; ziert euch um meinethalben nicht,« ermahnte sie. »Gleich geh' ich wieder, Kind, und dann schick' ich dir Beta zum Helfen, damit ihr bald hinüberkommen und dem Vater die Hand küssen könnt. Er tut ganz gefährlich vor lauter Ungeduld.«

»Erst müßt' ich doch unser Essen bedenken, beste Mutter,« meinte Christine sorgenvoll, aber die Mutter schlug entrüstet die Hände zusammen.

»Am ersten Tage nach der Hochzeit selber kochen, als wärest du eine Häuslingsfrau? Das fehlte mir noch! Unsre Gäste seid ihr. Oder willst du schon ganz flügge sein und nichts mehr vom alten Neste wissen?« fragte sie, und der kleine Scherz klang so ernsthaft, daß Christine sich verteidigte, wie es der schlimmsten unter König Lears bösen Töchtern eher angestanden hätte, als ihr.

Es tat not, daß Leberecht sein Regiment gleich mit dem Frühesten antrat und erklärte, der Besuch beim Vater solle sofort gemacht werden. Morgen sei Sonntag, und er müsse seine Predigt schreiben.

So geschah es denn, und während Vater und Sohn noch eine Amtsfrage beredeten, flog Christine in ihren Giebel zurück, um mit Beta zu räumen und zu ordnen aus Leibeskräften, damit ihr eigener, himmlisch guter und kluger Domine das tadelloseste Arbeitsplätzchen unter der Sonne für seine Predigt finde.

Dann ging der schöne Tag rosig und heiter zur Ruhe, und die beiden, die ihn genossen hatten, gleich den Lilien auf dem Felde, sonder Sorge und Plage, saßen beim Schein ihrer zweiten Wachskerze an Leberechts Schreibtisch beisammen, genau so, wie Christine stch's gestern abend heimlich ausgemalt hatte, nur mit dem Unterschiede, daß sie selber weder lesen, noch nähen, noch spinnen mochte. Müßig lagen ihre Hände im Schoß übereinander, und sie schmiegte sich so fest und nahe, wie es irgend anging nach den Gesetzen des Raumes, in ihres Gatten umschlingenden Arm.

Sie atmete kaum und redete kein Wort vor lauter Ehrfurcht und Begeisterung; denn er las ihr seine vollendete Predigt vor, halblaut und ohne Kanzelpathos, so, als rede er zu ihr allein jene schwungvollen Worte, die das Licht priesen. »Das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.« Die Liebe hatte er als dieses Licht erkannt, sie, die doch nicht ausstirbt, allem Unglück und Druck, und aller Schuld auf Erden zum Trotz, sie, die der Tränensaat Freudenernte verheißen hat, und die denen allen offenbar wird, welche an sie glauben.

Darüber wollte er morgen, am dritten Weihnachtstage, reden, und Christine warf sich in seine Arme und dankte ihm bewegt; denn sie wußte und fühlte, daß es ihre Liebe war, die er als sein Gottesgeschenk und seine Himmelsgnade pries.

Darauf ward die Predigt beiseite ins Schubfach gelegt bis morgen, und sie freuten sich nochmals über ihren Lichtschirm mit den hehren Zeitjungfrauen und schelmischen Amoretten. Und richtig, nun waren sie wieder bei ihrem ewig neuen und reizenden Fragespiel angelangt:

»Liebst du mich? Wie liebst du mich?«

Da scharrte ein schwerer Fuß draußen behutsam auf der Binsenmatte vor der Tür, eine Hand tastete im Finstern nach der Klinke und klopfte mit leisem Finger. Ohne das »Herein« abzuwarten, trat der lange Reemt zu den Glücklichen ins Stübchen.

»Reemt!«

»Wahrhaftig – Reemt Arend! Seh' ich denn recht? Und so spät! Junge, woher kommst du?«

»Van Dingen up Schöfels. Ick wull' Domine gralleeren, un' Ähr ok, Mummsell Stinchen. Dat's van avends mooi Wäer. Ich heww Em wat to bringen, Domine, un' Kumpelmenten van Muschü Volkmar un' van sien Ävenmaat.«

Die beiden fanden der Überraschung kein Ende. Gerade dieser Besuch vor allen andern, der ihnen in Stille und Predigtlesen hineinschneite, kam ihnen ganz unvermutet.

»Wo übernachtest du denn heute, mein alter Reemt?«

»O, unnen in 'r Däle goah ick to Koje, Köstersche hett mi doar 'n Strau in'n Kohstall hensmeeten.«

»Hast du eine Besorgung hier bei uns auf der Insel?«

»Nä, ick bin blot wegen Em koamen, Domine.«

»Und wie geht dir's in deiner Stelle? Wie lange bleibst du in Sankt Jürgen?«

»'t geiht mi good bi mienen Buur. Morrn'n mot'k wedder affschöfeln.«

»Um meinetwegen wärst du gekommen? Wie ist das? Was hast du mir zu bringen?«

»Dat schall He glieks besehn, Domine. Irst wull' ick Em wat besonners befroagen. Mummsell Stinchen geiht dat aberst nicks an. Känt wi nich 'n Ogenblick in'r Dähle goahn, Domine?«

»Gewiß, Reemt. Haben wir denn gar nichts Genießbares für unsern Gast im Haushalt, Christine?«

Christine war schon mit dem Wachsstock nebenan im Bodenkämmerchen, ihrem bescheidenen Vorratsraume. Unter Lachen kam sie mit einer Tüte Backpflaumen und einem halben Edamer Käse wieder zum Vorschein. Weiter gab's nicht das Geringste zum Gleichessen: nur noch Mehl und Linsen und eine Kruke Hammelfett für Kohl und Steckrüben. Sehr vollständig war die Speisekammer leider nicht: das machte sich erst, wenn das Bremer Botenweibchen am Montag wieder kam. Zum Glück für die ratlose Hausfrau von achtzehn Jahren fanden sich Betas Brotschnitte noch in der Blechtromme. Wunderbarer Zufall.

Reemt ließ sich bedienen wie ein Pascha. Bedächtig verzehrte er große Scheiben von Edamer Käse: die Pflaumen waren ihm zu süß. Desto besser mundete ihm das Gläschen Nordhäuser Korns, den Domine noch aus Junggesellentagen hatte und unten im Schrank bewahrte. Anscheinend meilenweit fort von Sankt Jürgen mit seinen Gedanken, beantwortete der Knecht einsilbig Christinens lebhafte Kreuz- und Querfragen nach Volkmar und seinem »Ävenmaat«, dem schlesischen Junker. Wie schön vom Bauern, daß er ihren lieben Herzensbruder zum Fest mit nach Dingen genommen hatte. Recht, recht sehr müsse Reemt seinem Herrn von ihr danken und natürlich auch von den Eltern. Ob er Volkmar nicht einen kleinen Zweig von der Brautmyrte und die Pflaumen mitnehmen wolle? Der liebe Junge nasche so gern ein bißchen. »Darf ich's tun, liebster Mann?«

Leberecht lachte. »Die Eßwaren sind deine Sache, liebste Frau,« sagte er und zog selbst ein blühendes Myrtenzweigelchen aus dem Brautsträuße, der im Wasserglase bei den Christrosen wieder frisch geworden war.

»O, nun haben wir das Brot anzubieten vergessen!« rief Christine, während Reemt die schwesterlichen Gaben miteinander möglichst fest in sein baumwollenes Schnupftuch knüpfte, das er zum Staate in der Tasche trug. Als sie ihm darauf das Brot hinlegte und ihm erzählte, wie sie's mit dem Mariengroschen neben Betas Hochzeitsgeschenk gefunden habe, schob er es zurück und stand auf. Nein! das Glück wolle er ihnen nicht gleich am ersten Abend aus dem Hause wegessen! Das solle die junge Pastorsche sich gut aufheben. Heutzutage könne man jedes Krümchen davon gebrauchen.

»Ick bün kloar, Domine. Minen Dank, Pastorsche.«

»Dann könnten wir ja hinuntergehen, wenn du darauf bestehst, Reemt.«

»Dat dho'k, Domine.«

»Gut also. Auf Wiedersehn, Christine.«

»Nimm den Wachsstock mit, Lieber. Es ist sicher stockfinster in der Diele.«

»Nä, is nich vannöden. De Troankrüsel brennt.«

»Sei verständig; geh' zur Ruh, Kind. Es ist sehr spät. Ich bin gleich wieder bei dir.«

»Nä, so ficks ward dat woll nich geschehn, Domine. He mutt ierst noch den Bullentien lesen. Wegen denn Bullentien bün'k doch to Em van Dingen na Sßan Jürdens schöfelt. Go' Nacht, Pastorsche.«

»Mensch! was für ein Bulletin?« hörte Christine ihren Mann noch in der Stubentür fragen. Dann gingen die beiden leise treppab. Die alten Stufen knackten trotzdem gewaltig.

»Ein Pastor ist wie ein Arzt: zu jeder Stunde und für jedermann muß er hilfsbereit sein,« dachte Christine, während sie sich gehorsam entkleidete. »Es ist der schönste Beruf auf Erden, tapfer wie ein Held, gut wie Christi Bruder.« Sie nahm ihr Porstsches Gesangbuch vom kleinen Regal und schlug aufs Geratewohl einen Vers auf, wie es ihre alte Gewohnheit war. Sie liebte es, nach junger Mädchen Art ein Orakel darin zu sehen:

»Gürte dein Schwert an die Seit'
Als ein Held, und für sie streit',
Und zerschmettre deine Feind'
Soviel hier auf Erden seynd.
Auf die Hälse tritt du ihn'n.
Leg' sie dir zum Schemel hin.
Und brich ihren stolzen Sinn.«

Ein seltsamer Vers für ihren Glücksstand. Hastig blätterte sie um und las da weiter, wo im nächsten Liede ihr Finger lag:

»Sind wir's nicht wert, so sieh doch an
Die, so kein Unrecht je getan:
Die kleinen Kindelein –
Sollen sie denn in der Wiege noch
Mittragen dieses schwere Joch?«

»Nein! Wozu schaff' ich mir so schreckliche Gedanken? Ich warte lieber, bis Leberecht heraufkommt. Diese Verse will ich vergessen.«

Allein die Evastochter konnte es nicht lassen, sie noch ein paarmal überzulesen, während sie ihr schönes Haar für die Nacht in einen festen Zopf flocht. Und nun prägten sich ihr diese düsteren Weissagungen wider Willen für alle Zeit ein.

Darauf stellte sie, anstatt des Schirms, ein Buch um die brennende Kerze, so daß sich sanfte Helldämmerung verbreitete, legte sich mit gefalteten Händen auf ihr Kissen hinter den frischgewaschenen Bettgardinen und wartete. Anfangs, wie ein unmündiges Geschöpf, das ganz genau weiß: die schützende Macht muß zur rechten Zeit kommen und es in warme Hut nehmen. Dann aber, als das dumpfe Stimmengemurmel unter ihr verstummte und Leberecht noch immer nicht kam, begann ihr Herz laut zu klopfen, und aufsteigendes Weinen drückte ihr die Kehle zusammen. Sie kämpfte mit allem Willen gegen die Aufregung und hub an, die mächtigen lila Fliederbuketts an den Vorhängen zu zählen, die sie umgaben. Immer größer und ängstlicher wurden ihre Augen; immer heißer glühte ihr Gesicht.

Sehnsucht und Furcht – o, über das arge Geschwisterpaar in ihrer Seele!

Die Arends aus Wührden waren ihr von Kindesbeinen an eine unheimliche Gesellschaft gewesen. Gerd hatte wahrlich den Beelzebub in sich getragen; Reemt, der jetzt so ruhig erschien, hatte einst Volkmar verführt und verursacht, daß sie sich von ihrem Bruder trennen wußte. Wer konnte wissen, was des Torfbauern Sohn, dem sie eben noch Gastfreundschaft gewährt, jetzt unter seiner kühlen Hülle und sichtlichen Zerstreutheit barg, welche Anschläge vielleicht gar gegen ihren arglos vertrauenden Gatten? Sie weinte alles Ernstes. Bangende Liebe malt sich ja stets das Schlimmste aus.

Die beiden waren noch immer unten in der Diele beim schwachen Lichte des blechernen Dochtlämpchens zusammen. Aus der dunklen Bettkoje, im tiefsten Hintergrunde des Raumes, kam das gleichmäßige, zweistimmige Schnarchen der schlafenden Küstersleute. Leberecht und sein später Gast blieben völlig ungestört hier vorn, dicht am Hauseingang, im lauen Dunstkreise der schnaufenden Kuh.

Zuerst mußte Reemts geheime Frage erledigt werden.

»Is dat so, Domine, dat Gesche Redlefs un ick nich mehr tosaan kopeleert sünd? De Redlefsche hett mi dat seggt.«

»Ja, es ist wahr, mein Junge. Ich würde dir's geschrieben haben, wenn du Schrift lesen könntest. Durch dritten Mund schien mir's zu unsicher. So wollt' ich warten, bis ich mit meiner Frau einmal zu euch ins Land Wursten hinübergefahren wäre, gegen Frühling, um den kleinen Schwager kennen zu lernen. Dann hätte ich dich in Dingen besucht und dir's mitgeteilt.«

»Kann He mi dat nich 'n beeten näger verklaaren, Domine?«

»Gewiß, und in wenig Worten, mein Junge. Sieh, du und ich, wir haben damals nach unsrer Not und unserm Gewissen das getan, was wir für das einzig Rechte erkannten. Dann verbrannte der Trauschein, den ich dir und Gesche ausgestellt hatte, und an meinem Schwiegervater und Vorgesetzten im Amt war's, die Eintragung ins Sankt Jürgener Kirchenbuch zu machen. Er aber weigerte sich, weil er unsre Handlungsweise nicht mit der Strenge des Kirchengesetzes vereinigen konnte. Verstehst du mich?«

Reemt nickte und starrte dem Sprechenden unverwandt auf die Lippen, um ja kein Wort zu verlieren.

»Nun gut: er erklärte also deine Ehe mit Gesche für null und nichtig, zumal, da die Mairie nichts damit zu schaffen gehabt hat. Durch Meßter erfuhren es dann die Korbmachersleute. Außerdem war die Tat unsrer Notwehr zu deiner Befreiung von der Konskription überflüssig geworden.«

»Hä, dat verstoah'k nich, Domine.«

»Du wirst es gleich verstehen, wenn ich dir sage, daß ich dich bei der Behörde ohne Trauschein von der Konskription losmachen konnte, auf Grund dessen, daß du, als einzig Überlebender, für deine kleinen Geschwister zu sorgen hast«.

Reemt kratzte sich heftig in den Haaren: »Dunner! Dunner! Dat harr'k weten mößt. Denn harr'k doch keenen Größken för Snapps verdübelt! De Buur hett mien beten Geld in Verwaar' – kann ick Em dat nich för de Wichter schicken, Domine?«

»Nein, spare dir's noch. Solange sie im Waisenhause bleiben können, sind sie versorgt. Und nun meine ich, daß du die Kappe ziehen und Gott für seine gnädige Führung dankbar sein solltest.«

»Dat will ick ok, Domine, wiß un w'rafftig will ick dat!« Er riß die Pelzkappe vom Kopf und zerknüllte sie gewaltsam zwischen den ineinander gepreßten Fingern. »W'rafftigen Gott! Jetz is't beßt, wenn elke Manskärl för sick besteiht. Hier is ok de Bullentien, Domine.«

Ein Stich fuhr durch des Geistlichen Herz. Diese große Wahrheit gab ihm ein Bauernjunge als verhängnisvolles Geschenk am Tage nach seiner Hochzeit.

»Wenn de Mann för sick bestecht, kümmt d'r ok keen Mallör van. Keen' Fro un Kinner, wenn he in'n Krieg geiht. Un dat dho'k. Ick goah mit gegen denn Düvelshund van'n Minschenschinner! Les' He doch denn Bullentien, Domine!«

Er stocherte den Docht des Lämpchens zu besserem Brennen hinauf und setzte sich, die Hände ums Knie, auf seine Streu im leeren Stande gleich neben dem, in welchem die einzige Kuh schnaufte. Allmählich begann er, todmüde nach seinem langen Marsche, zu nicken und an Leib und Gliedern zu erschlaffen. Die Augen fielen ihm zu; er sank rücklings aufs Stroh nieder, drehte sich mechanisch gegen die Wand, und alsbald vermischte sich sein starkes, ruhiges Schlafarmen mit dem dröhnenden Geschnarch des Ehepaares aus der unsichtbaren Bettkoje.

Leberechts Ohr nahm keinen dieser Naturlaute in sich auf. Wie ein Betäubter lehnte er mit seiner ganzen Gestalt gegen den Holzpfeiler neben Reemts Lagerstatt und las das neunundzwanzigste Bulletin. Je weiter er damit kam, desto feuriger schwammen und schwankten die Buchstaben vor seinen Augen.

Da war es, daß Christine, von der ewig währenden Totenstille dort unten in die heftigste Angst versetzt, mit gleichen Füßen aus dem Bette sprang, leichtbekleidet, wie sie war, zur Tür stürzte und sie weit aufstieß. Ohne Besinnen wäre sie bis zur Diele treppab gelaufen, aber in diesem Augenblick stand Leberecht schon vor ihr.

Sie prallte zurück. So hatte sie das geliebte Gesicht noch nie erblickt, selbst in jener schweren Leidensstunde vor der Orgel nicht. Fahl wie Asche war's, die Lippen weiß, die Augen fanatisch und verstört. Die Zeitung hielt er in der Rechten, die Linke streckte er vor sich hin, so fest geballt, daß ihm die Nägel im Fleische standen.

Sie schrie ihm entgegen – der furchtbare Schreck übermannte sie gänzlich.

»Leberecht! Leberecht! Was ist dir? O Gott, sage doch, was ist dir zugestoßen? Leberecht! sprich! sprich!«

Alle Scheu vergessend, umklammerte sie seine geballte Hand, suchte deren Finger auseinander zu zwingen und bedeckte sie mit leidenschaftlichen Küssen, als ihr's endlich gelungen war, sie zu lösen.

Er holte ein paarmal Atem, tief und kurz, und versuchte sich, angesichts der weißen, zitternden Gestalt, deren Beschützer er jetzt war, zu fassen. Er umschlang sie und trug sie mehr, als daß er sie führte, auf ihr verlassenes Lager zurück. Sie schüttelte sich vor Frost und krampfhaftem Weinen unter seinen Händen; er hüllte sie in die Decke bis unters Kinn, strich ihr mit eisigen, fliegenden Fingern über die Wangen und beugte sein Gesicht zu dem ihrigen nieder: »Mein Kind, meine geliebte Frau – laß mich allein, vergib mir, vergiß, daß ich da bin. Ich muß allein sein – heute nur – heute nur!«

Ach, sie kannte diese heisere, gebrochene Stimme nur allzugut an ihm. Aber an diesem Abende sagte ihr der erste Blick in sein Antlitz, daß sie nicht imstande sein würde, wie damals in der Kirche, seinen herzbrechenden Kummer zu lindern. Dennoch gab sie die Hoffnung und den Versuch nicht auf.

»Teile, o teile mit mir! Prüfe mich, ob ich's nicht wert bin!« bat sie schluchzend. »Wir sind eins geworden; vor Gott haben wir uns gelobt, alles gemeinsam zu tragen!«

»Das Chaos kann nur Gott teilen und zerteilen,« sagte er mit seiner rauhen, bebenden Stimme. »Flehe zu Gott, daß er es lichtet, flehe mit mir und für mich darum. Das ist die beste, die einzige Liebe, die du mir heute tun kannst. Sei geduldig, sei folgsam, Geliebte, lege dich zum Schlafen.«

Sie bezwang ihr Bitten und Fordern und vergoß ihre brennenden Tränen in lautloser Stille. Das junge Herz unter den ineinander gerungenen Händen, an deren einer der schmale Trauring glänzte, zog sich unter den heftigsten Schmerzen seines Lebens zusammen. Nach Vater und Mutter hätte sie schreien mögen vor unerträglichem Weh. Aber was konnten denn Vater und Mutter ihr sein, wenn Leberecht litt und sie nicht an sein Herz nehmen wollte? Zu regen wagte sie sich nicht; sie zitterte bei dem bloßen Gedanken, diesem Heißgeliebten ungehorsam zu erscheinen, dessen gebeugter Schatten sich zu Füßen des Bettes gegen die straffgespannte Gardine abzeichnete.

Ach! Das schreckliche »Heute«. Wohin war das himmlische »Gestern« entschwunden? Sie vernahm das unablässige Knittern der Zeitung in des Gatten bebender Hand; sie hörte, wie er sich aus dem Kruge Wasser ins Glas schenkte und trank: zwei-, dreimal hintereinander in rascher Folge. So schlich ihr eine neue Ewigkeit hin. Und nicht an seine Seite eilen, ihm nicht wenigstens ihre liebende Gegenwart zum Trost schenken zu dürfen! Sie meinte, daß sie sich nur einmal auf die Knie heben, durch den Vorhangspalt spähen, den Lesenden anrufen müsse. Allein die Macht ihrer Bewegung, ihrer Zunge, waren wie gelähmt; es hielt sie in die Kissen mit ungeheuren Gewichten gebannt. Nur Gesicht und Gehör arbeiteten mit schmerzender Angestrengtheit.

Jetzt erhob sich der Schatten, reckte sich lang am Vorhange empor, ward undeutlicher und schwand hinweg. Die Wachskerze im Leuchter brannte auf den Rest; sie hatte sich tief hinter das verdunkelnde Buch verkrochen. Draußen vom Kirchturm schlug die Uhr zwei. Leberecht mußte hart am Fenster stehen und seines Körpers Last gegen die Scheiben pressen; denn das starre Laub des großen Kaktus raschelte, unter dem Drucke das Glas berührend. Alles dies vernahm Christinens geschärftes Ohr, und ihre Augen erkannten, was sie nicht sahen. Aber die fortgesetzte Anspannung von Seele und Sinnen ermattete sie. Nach und nach flossen ihre Tränen langsamer und gelinder, und so dämmerte sie endlich in den Schlummer hinüber.

Eine weitere Stunde verstrich, ehe auch Leberecht sich entschließen konnte, an Ruhe zu denken. Die Kerze war längst erloschen, und er zündete den Wachsstock an.

Bevor er sich niederlegte, saß er eine ganze Weile entkleidet neben Christine auf dem Bettrande, und das winzige Flämmchen beleuchtete ihm geheimnisvoll ihr friedlich schlafendes Gesicht, rein und klar wie das Blatt der frisch erschlossenen Rose. Eine unendliche Wohltat war ihm ihr Anblick; Tränen stummen Dankes dafür traten in seine überwachten Augen, in denen die heimlichen des ohnmächtigen Zornes kaum getrocknet waren. Mit Christine zu reden, dazu hätte ihm jetzt noch die Kraft gefehlt, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die braune Flechte mit leisem Finger zu berühren, die ihr, an der Biegung des zarten Nackens hin, und von da nach vorn über die Schulter fiel. Dann küßte er ihr, bezwungen von reuigem Mitleid, die letzten Tropfen von den blühenden Wangen fort – vorsichtig; denn wecken wollte er sie um keinen Preis. Kaum merklich zuckte ihr Mund, als der seinige darüber hinhauchte. Ihr Schlaf war tief und fest, wie er der gesunden Jugend eigen ist.

Er löschte das schwache Licht und schloß die Vorhänge rings um das Bett. Lange lag er in der schwarzen Finsternis auf dem Rücken, mit pochenden Pulsen, unbeweglich wie vorhin Christine, die erhobenen Hände unter dem Haupt verschränkt, die Augen ins Leere hinauf gerichtet. Ein stürmisches Meer von verzweifelter Trauer und entsetzter Erbitterung wogte in ihm hin und her; tausend Fragen bekämpften einander, stechend und brennend, in seinem Hirne und fanden keine Antwort. Vergangenheit und Gegenwart ertränkt in den Wogen des stürmischen Meeres; die Zukunft allein war's, deren Fragen und Fordern ihn stach und brannte. Sie begehrte mit ihrer Drommetenstimme den Mann, nichts als den Mann und den irdischen Streiter; den Priester verweigerte sie. Ihm war's, als risse ihm eine zwingende Herrscherhand den Talar von den Schultern und gürtete dafür seine starken Lenden mit dem zweischneidigen Schwerte der Vernichtung für die ermattenden Häupter der entsetzlichen, lebenszähen Hydra.

Er hatte über dem Ringen seines Innern vergessen, daß er an der Seite seines jungen Weibes ruhte, daß es ihr Atem war, der ihn warm umschmeichelte. Plötzlich stammelte sie ein paar stockende Worte im Traum, seufzte und warf sich rasch in den Kissen herum, gegen Leberecht hin. Er schrak jählings aus seinen fruchtlosen Grübeleien in die Höhe. Behutsam schob er seinen Arm unter die willenlosen Schultern der Träumenden und zog sie leise näher an sich, so daß seine Lippen ihren Scheitel streiften. Unwillkürlich hob sie bei dieser Berührung ein wenig die Hand und ließ sie dann schlaff auf des Gatten Brust niedersinken. Da blieb sie regungslos liegen, und er umschloß mit der freien Linken fest die warmen, weichen Finger auf seinem Herzen.

Inmitten seiner Qualgedanken überwältigte ihn mit einem gewaltigen Schlage das Vollbewußtsein des Besitzes als erschütternde Seligkeit. – – – – –


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