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Drittes Kapitel.

Als er in den Dielenraum der Pastorei trat, schlug von der Küche her ein Wortwechsel an sein Ohr. Die, welche drinnen miteinander redeten, hatten sein Kommen überhört. Lebhaft erklang die ungeduldige Frauenstimme, die heute in der Frühe Christine von Leberechts Seite hinweggerufen hatte, gleich nach seiner Landung an der Insel. Die Stimme sprach französisch mit stark rheinländischem Akzent. Wahrscheinlich sollte die kleine rotohrige Magd, die am Herde hantierte, nicht verstehen, um was sich der Streit zwischen Mutter und Tochter drehte.

– – »Dein Vater und ich, wir sind in Ehren alt geworden, wir wissen besser als du, Stinchen, was geschehen wäre, wenn Lacroix oder Desbordes oder einer von der Mairie solche Hetzreden gehört hätte!«

»Liebste Mutter, Sie sehen Gespenster,« antwortete Christine besänftigend. »Ich habe wohl aufgeachtet und keinen Grund zur Sorge gefunden.«

»Aber seine Auffassung wird so oder so herumgetragen, und wer leidet darunter? Wir!« warf die Pastorin ein.

»Ich will gern leiden, nachdem meinem Herzen so wohl geworden ist! O Gott, Mutter, Sauerteig in dies schale, gleichgültige Brot! Erquickt hat mich's; der Lobgesang ist mir nicht schwer geworden nach seinen Worten.«

»Christine, Christine! Soll das ein Vorwurf gegen deinen Vater sein?«

»Da sei Gott vor! – Wäre Vater nicht krank, so weiß ich ganz gewiß –«

In diesem Augenblicke griff Leberecht nachdrücklich auf die Klinke, um sich bemerkbar zu machen.

Die Pastorin – Leberecht erkannte zu seiner Verwunderung die unruhige Kirchgängerin, die vor dem Segen fortgegangen war – versteckte sich und ihre Blaudruckschürze erschrocken hinter dem vorspringenden Küchenschranke. Christine trocknete eilfertig ihre Hände und empfing den Gast. »Wie unaufmerksam wir sind,« rief sie aus, »wir haben Ihr Kommen gänzlich überhört.«

»Ich habe mich einen Augenblick an Ihren schönen, alten Schränken erfreut,« entgegnete er, und sie sah ihn darauf mit fragenden Augen an.

»Ja – ich hörte einige Sätze Ihres Gespräches, Demoiselle,« erwiderte er, denn er verstand den Blick, den sie ihm gab, »lassen Sie sich's nicht grämen – ich bin's gewohnt, unvorsichtig zu heißen und angefochten zu werden, und es ist mir lieb, gleich zu wissen, wie ich mich hier verhalten muß.«

»Wir sind Patrioten wie Sie, aber Vater ist schwach und voll Sorge, und Mutter eine ängstliche Natur geworden durch viel schwere Erfahrungen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Predigt.« Sie sprach gedämpften Tones und öffnete ihm dann die Stubentür, um selbst in die Küche zurückzukehren und für das Anrichten der Suppe zu sorgen.

Domine Torbeeken saß schon am Eßtisch, als sein Gast zu ihm eintrat. Die gichtischen Füße in eine Wolldecke gewickelt, blickte er, sich im Stuhle vorbeugend, dem Kommenden aus großen, verblaßten Augen in einem gefurchten Leidensgesichte entgegen. Trotzdem war Christinens Mädchenantlitz wie abgeschrieben vom väterlichen, bis auf den Mund, der bei der Tochter lieblichere Linien und eine ausnehmend schön geschweifte Oberlippe zeigte.

»Willkommen, lieber Amtsbruder, willkommen,« sagte Domine Torbeeken mit schwacher Stimme. »Ich habe Sie ungeduldig erwartet; mir armem Krüppel ist das tatenlose Festsitzen ein schweres Kreuz. Sorgen, geistige Nöte hängen dran, und doch muß es getragen werden wie alles andre!« – Er behielt Leberechts Hand in der seinigen und musterte ihn von Kopf zu Fuß. »Ja, ja! – ich kann mir's lebhaft denken, nun ich Sie sehe,« sprach er vor sich hin. »Rasche Jugend – mit dem Kopfe durch die Wand, und wenn's den harten Schädel selber gälte! – Laß die Suppe noch eine Minute draußen, liebes Stinchen,« wendete er sich zu seiner Tochter, die mit der dampfenden Terrine in der Tür erschien. »Hilf mir in die Studierstube, Kind. Ich möchte unserm Gaste hier lieber vor dem Essen sagen, was ich ihm auszusprechen habe.«

»Bester Vater, das Ei in der Suppe rinnt zusammen, wenn ich sie noch einmal zu Feuer bringe, und dann leiden Sie den Schaden an Ihrer Gesundheit davon,« warf Christine ein und setzte ihre Last auf den einfach gedeckten Tisch. »Schelten Sie mich nicht, Väterchen; Sie sind ohnedies ein wenig im Fieber, wie mir's deucht, und das Sprechen vor Tisch greift Sie an. Lassen Sie uns während des Essens Ihnen zuhören dürfen, liebster Vater, wir sind ja lauter gute Freunde miteinander. So – da kommt auch Mutter. Es ist angerichtet.«

Sie ging der Mutter entgegen, rückte ihr die große Blondenhaube zurecht, umfaßte die rundliche Gestalt im Pelerinenkleide und stellte den neuen Tischgenossen vor. Frau Amaliens Matronengesicht mochte in seiner Jugend anmutig gewesen sein, jetzt blickte es klein und unbedeutend aus seiner Umrahmung hervor, gezeichnet mit den vielen flachen Fältchen und Furchen, in denen das stete Ängstigen um die nichtigen Dinge des Alltagslebens, der stete Kampf gegen Mückenstachel und Regentropfen sich eingenistet hatten. Und zu diesem Gesichte paßte die hohe, ein wenig singende Stimme der Pastorin genau.

Sie reichte Leberecht ihre verarbeitete Hand und musterte ihn mit zurückhaltender Miene, bis es ihr auffiel, daß er einem englischen Kupfer zu Goldsmiths Vicar of Wakefield zum Verwechseln gleiche. Da brach ihr Interesse an dieser Ähnlichkeit das schwache Eis ihrer Zurückhaltung. Dann fuhr sie mit dem Zipfel ihrer hausmütterlichen Schürze verstohlen über des Gastes Stuhllehne, die spiegelnd sauber war, setzte sich und neigte den Kopf zum Tischgebete.

Domine Torbeeken winkte Leberecht mit den Augen, und er verrichtete die kurze Andacht. Unbeschadet aller Zweifelsgefühle begann er mit diesem Augenblicke sich als ein Glied des engen Familienkreises zu empfinden, dessen bescheidenes Mahl er einsegnen durfte. Auch die freundliche Gottessonne segnete es von draußen, und die Nelkenstöcke im Fenster spendeten ihren Duft dazu. Die Magd betrat das Zimmer nicht; Christine wartete auf, und ihre zärtliche Sorgfalt für die Eltern, ihre Achtsamkeit für die Wünsche und Bedürfnisse des Gastes vermehrten das Behagen dieser Essensstunde.

Zu Anfang sprach Leberecht fast allein. Torbeeken ließ sich genau über die kirchlichen und politischen Bewegungen in der Stadt berichten, und Leberecht trug seinen Stoff mit der ihm eigenen prägnanten Schärfe vor, die zur Kritik herausforderte. Christine hörte aufmerksam zu und ging mit ihrer Reisschüssel auf den Zehen um den Tisch; kein Wort mochte sie verlieren, und ein paarmal flog ihr Blick, Beifall suchend, zum Vater hinüber.

Der alte Herr war seit acht Tagen ohne Nachricht aus der großen Welt. Die Zeitungen gelangten spärlich und unregelmäßig in diesen entlegenen Erdenwinkel; das Tedeum für den elften Oktober war den Geistlichen des Kantons kurzerhand durch dienstliches Rundschreiben anbefohlen worden.

»Sie erfreuen sich in Wahrheit einer ganz hervorragenden und überzeugenden Rednergabe, lieber Amtsbruder,« bemerkte der Hausherr, als Leberecht seinen kirchenpolitischen Bericht geschlossen hatte. »Es wird Ihnen nicht fehlen, daß Sie Eindruck auf unsre Bauern machen, mehr Eindruck als ich, der ich niemals ein Demosthenes gewesen bin. Dennoch erlauben Sie mir altem Praktikus einen guten Rat: sparen Sie weise mit Ihrem Feuer. Unsre Bauern sind Ihnen noch fremd. Glauben Sie mir: es steckt hierzulande weit mehr Zündstoff im Moorwasser und hinter den trägen Mienen, als Sie denken, und solange wir die Macht nicht haben, tun wir gut, nicht wider den Stachel zu löcken.«

»Den Zündstoff hab« ich schon verspürt,« fiel Leberecht ein. »Heute früh bin ich von der Stadt mit einem rabiaten Menschen hierher nach Sankt Jürgen gesegelt. Wenn's nach ihm gegangen wäre, so hätt' ich meine Predigt sofort in die gewaltsamsten Taten umsetzen müssen!« –

»Das kann doch kein andrer als Arend gewesen sein,« rief die Pastorin, und Leberecht und Christine bestätigten ihre Voraussetzung.

»Ja, der – da sind Sie an unsern Schlimmsten geraten, an ein wandelndes Pulverfaß,« sagte Torbeeken. »Den hätten die Franzosen Anno dreiundneunzig in Paris haben sollen, dann wäre der Teufel Marat nicht durch ein zartes Weib gestorben! Das hätte Gerd Arend ihr abgenommen. – Ich bin ihm nicht gewogen; meinem Volkmar, der nur um wenig Jahre jünger ist als sein Reemt, hat er seinerzeit schlimme Ideen in den unverständigen Jungenskopf gesetzt – gefährliche Ideen für einen Fünfzehnjährigen, der sich einbildet, daß unsres Klopstocks ›Hermann der Befreier‹ in ihm stecke.«

»Mein armer, lieber Junge – wie fehlt er mir!« seufzte die Mutter, und der Vater sagte:

»Weshalb arm, Malchen? Er ist in guten Händen, und du hast ihn mehr als einmal wiedersehen dürfen. Danke du Gott, daß ihm der Sparren ausgetrieben wird, ehe es zu spät dazu ist. Ich habe meinen Sohn unter die ruhigen Wurster Leute nach Dorum in die Rektorschule geschickt,« erklärte er Leberecht. »Da ist er mir weit vom Schuß und kann nicht zur Stadt, wie er will. Bis jetzt hab' ich keine neue Unannehmlichkeit von ihm erlebt. Da droben in der Marsch hält ihnen der Seewind die Köpfe kühl.«

– – »Die Wurster sind untergärig, die puffen zu Höchten, wenn niemand dran denkt –« Arends Ausspruch fiel Leberecht ein, aber er behielt ihn für sich. Wozu den kranken Mann ohne Not beunruhigen.

»Und nun noch eins und mir heute das Wichtigste, mein junger Freund,« sagte Torbeeken, das Thema wechselnd und seinen halbgeleerten Teller matt beiseite schiebend. »Sehen Sie – wir sind hier miteinander an unsre verlorene Insel gebannt und müssen treu zusammen halten wie Schiffbrüchige auf dem Riff. Wirken wir nicht im gleichen Sinne, so läuft unser Friede Gefahr. – Die Meinigen haben mir den Inhalt Ihrer heutigen Predigt selbstredend mitgeteilt. Nehmen Sie es Ihrem betagten Amtsbruder nicht übel, wenn er Ihnen unumwunden sagt, daß Sie äußerst unvorsichtig gepredigt haben. Das war's auch, was ich Ihnen gern schon vor dem Essen ausgesprochen hätte; mein fürsorgliches Kind dort hat mich daran gehindert. – Ich wiederhole Ihnen, mein Lieber, wozu wider den Stachel löcken, solange wir die Macht im Lande nicht haben? Bonaparte hat seine Herrschaft bei uns so entsetzlich klug und despotisch organisiert und die leitenden Fäden so straff und gleichmäßig über alle Teile seines Reiches hingespannt, daß ich es in Wahrheit blinden Wahnsinn nennen müßte, wollten Sie unsre Moorbauern aufwiegeln und ins sichere Verderben reißen. Was sind wir? Eine bloße Handvoll gegen die Legionen dieses genialen Cäsars, der Triumph an Triumph reiht, wie die Zeitungen melden.«

»Die Zeitungen? Geifer und Lüge!« versetzte Leberecht heftig, und die verräterische Blutwelle stieg ihm wieder in die Stirn empor. ›Auch hier die Furcht mit der Bewunderung gepaart,‹ dachte er, ›kein gesunder Haß gegen das Hassenswerte, der fähig wäre, große Taten auszulösen.‹ – »Ich kann und will meine Überzeugung niemals verleugnen, so wenig wie Sie die Ihrige,« fuhr er laut fort. »Vergebung, wenn ich Ihnen damit unbescheiden erscheine. Ich bin kein unreifer Knabe, wie Ihr Sohn es war, und Menschenfurcht kenne ich nicht. Gut und Leben setze ich freudig für das ein, was mein Mannesmut mir ins Herz gelegt hat. – Und von diesen meinen Krongütern, meinem Teuersten und Besten nächst Gott, muß ich als Mensch und Christ denen mitteilen, die von mir Seelsorge zu fordern haben. Steht ihnen mein Bestes nicht an – nun wohl, so setze ich meinen Stab weiter, und legen die Machthaber mich in Eisen dafür, daß ich mich erdreiste, mein Vaterland zu lieben, so wie sie ihr eigenes hochhalten dürfen – ungestraft – dann trage ich meine Kette und trage sie nicht umsonst. Denn jedes ehrliche Wort hat Keimkraft empfangen, und – bei Gott! ehrlich sind meine Worte!«

»Wie groß klingt die Jugendbegeisterung – und wie fruchtlos bleibt sie gewöhnlich –« entgegnete Torbeeken, und ein leiser Spott spielte um seinen schmalen Mund. »Haben Sie den Spruch vergessen: ›Die da Wind säen, werden Sturm ernten‹?«

»Mag es stürmen! – Sturm fegt die Luft rein! – Besser ein Empörer heißen und auf dem Schafott enden, als unter seidenen Decken und im stillen Verräter am Menschenrecht sein!«

Leberechts Augen blickten dunkel; er erhob sich im Affekte und stemmte die Hände auf den Tisch. »Wissen Sie denn noch nicht, daß die Sieger in öde Gassen eingezogen sind? Daß Moskau brennt? Daß nach zuverlässigen Briefen aus Warschau die Panik an allen Ecken und Enden der großen Armee lauern soll?«

»Ewiger Vater! – Und das sagen Sie uns jetzt erst?« rief Torbeeken und schlug die Hände zusammen. »Nichts wissen wir davon! Ist die Zeitung wieder ausgeblieben, Amalie? Sieh nach, Kind, sieh gleich nach! – Moskau in Brand – die ungeheure Stadt – ist das verbürgt, ist das gewiß? – Und so und so viel Tausend unsrer Söhne dabei – unsre beste Kraft in Rußland! Wie soll's nun werden mit unserm unglücklichen Lande? Versündigen Sie sich nicht daran mit nutzlosen Hetzpredigten, Claudius, ich bitte Sie inständigst darum! Der Kaiser wird seine geringsten Mißerfolge mit der Strenge eines Drakon an uns Schuldlosen ahnden, seine Geheimpolizei verdoppeln – und Ihre persönliche Auffassung – –«

»Um des Himmels willen, Ferdinand, laß die leidige Politik beiseite, Lieber!« bat die Pastorin erschrocken. »Die Zeitung ist nicht gekommen, und ich wünschte, sie käme überhaupt nicht mehr! Du hast den Tod davon und ich die Angst. Geh, Stinchen, überzeuge dich noch einmal, ob Beta nicht hinter der Tür steht und horcht. Ihr ist nicht mehr über den Weg zu trauen, seit sie ein Auge auf den Receveur hat. Das hab' ich neulich erst wieder gemerkt, als er uns die beiden Hühner abforderte.«

»Gutes Mütterchen, beruhigen Sie sich nur: Beta versteht ja kein Wort Hochdeutsch, und der Receveur kommt vor dem neuen Jahr nicht wieder,« versicherte Christine. Ihre Wangen waren heiß und rot, und sie kämpfte mit Tränen, so hatte die Unterhaltung der Männer sie erschüttert. Dennoch ging sie gehorsam hinaus. Die Mutter rief ihr nach, die Reste des Mittagsessens selbst beiseite zu stellen, und so schickte sie die Magd ans Spülfaß, wirtschaftete eine Weile in der karg versorgten Speisekammer und schloß beim Fortgehen die Küchentür hinter sich.

Ihr ruhiges Naturell gewann rasch wieder die Oberhand angesichts der notwendigen Lebensprosa. Freundlich und klaräugig wie sonst kehrte sie zu den Ihrigen zurück und schenkte aus der dickbauchigen Bunzlauer Kanne den heißen Trank aus geröstetem Roggen ein, der auf dem Lande die Stelle des unerschwinglich gewordenen Kaffees zu vertreten pflegte.

»Nun, meine beiden Liebsten, sollen Sie in Ruh und Frieden Ihr Schälchen Koffee trinken und Ihren Schlaf halten,« sagte sie und rückte den Eltern die Kissen im Sorgenstuhl und in der Ecke des Roßhaarsofas zurecht. »Nein, – Herr Pastor nimmt's nicht ungut, das seh' ich ihm an. Gewiß hat er selbst Vater und Mutter zu Haus.«

»Einst, vor langen Jahren, bin ich auch einmal so glücklich gewesen, wie Sie, Demoiselle Christine,« erwiderte er wehmütig, »seitdem stehe ich allein in der Welt. Geschwister hab' ich nie besessen.«

»O Sie Armer! Wie bin ich doch unzart gewesen! Seien Sie mir darum nicht böse!« Teilnehmend und verlegen blickte sie in sein ernstes Gesicht. »Wir wollen es Ihnen recht gut bei uns machen, weil Ihnen so viel fehlt. Nicht wahr, Vater? nicht wahr, Mutter? Und nun müssen Sie beim Koffee mit mir fürlieb nehmen, während die Eltern schlafen. Kommen Sie, wir dürfen in Vaters Studierstube sitzen.«

So natürlich und herzlich, als kenne sie den neuen Freund seit Kindertagen, sagte sie das alles, und ihn berührte ein gleiches Gefühl des Daheimseins in ihrer Nähe. Es war ihm, als habe er das winzige, durchräucherte Stübchen schon hundertmal betreten, des Vaters schlichtes Heiligtum mit dem hellen Schreibtisch im Fenster und dem Stehpult daneben; mit der braunen Sitzbank unter dem Pfeifenständer am glimmenden Ofen und dem Poussinschen Bibelbilde gegenüber. Die gescheuerten Dielen sandbestreut; an den Wänden hin, in langen Reihen, die Klassiker der alten Griechen und Römer und das theologische Rüstzeug des vorigen Jahrhunderts. Die Fenstergardinen aus dunkelgrünem Boi dämpften das goldene Licht des Nachmittags.

Die beiden jungen Menschenkinder saßen ein Weilchen vertraulich nebeneinander auf der Ofenbank, nippten das heiße Roggengetränk und plauderten harmlos, umhüllt von der Wärme und Ruhe des kleinen Gemaches. Ja, Leberecht ließ sich sogar von Christinens hellem, halbleisem Lachen anstecken, das seinen zutreffenden Schilderungen der städtischen Alamode-Gesellschaft und ihrer französischen Narretei galt.

»Es ist nur gut, daß wir hier nichts davon wissen,« meinte sie und lachte nachträglich noch einmal herzhaft. »Eigentlich ist's doch schmähliches Unrecht, daß mich so etwas Unwürdiges belustigt, aber am schönen Sonntag will ich's mich nicht ärgern lassen. Um alles Ärger oder Gram, niemals ein bißchen Freude am Sonnenstrahl, wenn er uns just ins Gesicht scheint, dabei kommt meiner Tage nichts heraus als Undank gegen Gott und schwarze Galle gegen die Mitmenschen. Ja, was schwatze ich? Wir beide sind auch nichts Besseres als die anderen Grillenfänger. Sehen Sie doch hinaus wie die Sonne lacht; was sitz' ich da hinterm Ofen, wie ein Duckmäuser? Ich muß in den Garten und suchen, ob es noch irgendwo eine Zentifolie gibt.«

Sie sprang von Leberechts Seite auf, griff nach ihrem Schal gleich hinter der Tür im Flur, und er legte ihn ihr um die Schultern. Gemütlich wickelte sie ihre hübschen Arme hinein, und schickte sich zum Hinausgehen an.

»Soll ich denn zum Stubenhocken verurteilt sein und hinterm Ofen über die strenge Lehre nachdenken, die Sie mir soeben erteilt haben, Demoiselle Christine?« fragte er scherzend, aber er sah sich bei der Frage schon nach seinem Hute um.

Sie reichte ihm das Gesuchte. »Ich Ihnen eine Lehre erteilen nach all dem Erhabenen, was Sie mich heute in der Kirche und bei Tisch gelehrt haben? Ich Ihnen? Daß Gott verhüte, wie dürfte ich dummes Ding jemals wagen, mir so etwas zu erlauben? – Hab' ich Ihnen eigentlich schon so recht gedankt?« Ehrerbietig schaute sie zu ihm auf und bot ihm die Hand. »Nein,« fuhr sie fort, »mir ist vorhin nur unversehens über die Zunge gesprungen, was mir gerade durch die Gedanken lief. Weltklug wie Ihre Alamode-Demoisellen bin ich nicht, und ich hoffe, Sie verlangen's auch nicht von jedem Mädchen, das Ihnen begegnet. Sonst möcht' ich doch lieber auf halbem Wege vor Ihnen Kehrt machen!«

Anstatt der Entgegnung küßte er ihr die Hand und legte ihren Arm in den seinen.

»Ich habe mir wirklich eine Lehre genommen,« versicherte er sie. »Lassen Sie sich Ihre Worte und Ihre glückliche Lebensanschauung nicht gereuen.«

»Für was sollt' ich auch unglücklich sein,« sagte sie einfach. »Ich habe die besten Eltern und unser liebes Haus. Die schlimmen Zeiten müssen wir Frauen geduldig tragen und dem treu bleiben, was unser ist.« –

So traten sie, als die besten Kameraden, in den Garten hinaus, der kühl und verwuchert war, und dessen kleine Beete buchsbaumumgebene Kreise und Schnörkel bildeten, voll von violetten Astern und vielfarbigen Levkojen.

Kein Staubatom eines fremden Elementes schien sich zwischen diese beiden zu drängen, die Seite an Seite, von niemandem gesehen und beobachtet, in dieser sonnigen Einsamkeit über die vergrasten Gartensteige schritten, sich des schönen Herbsttages freuten und von den Büschen längs der Hecke die letzten süßduftenden Zentifolien brachen.

Leberecht trug auch eine volle Rosenknospe im Knopfloch seines priesterlichen Rockes, und ihrer holden Wunderkraft war der kalte und schwere Mühlstein gewichen, der zuvor auf seiner Seele gelastet hatte.

Diese heitere Gegenwart verdrängte auf eine kurze Spanne Zeit die Schreckbilder des Krieges, die Gespenster seiner eigenen unsicheren Lebensstellung. Unsicher, weil er sich außerstande fühlte, auf höheren Befehl zu reden oder zu schweigen, je nachdem, und weil er seinen Taten und Gedanken gegenüber Alleinherrscher bleiben wollte.

Sein ernster, kraftvoller Charakter war unwiderstehlich gefangen genommen von Christinens natürlicher Frische, die doch in keinem Zuge der anmutigsten Mädchenhaftigkeit ermangelte. Wie wohltuend ihre Zufriedenheit, ihr unschuldiges Erfassen und Genießen des Augenblicks, das dennoch kein leichtfertiges Vergessen dieser opfervollen Prüfungszeit war, sondern seine Wurzeln in die Hoffnung auf Gottes Vatergüte senkte. Wieviel mußte solch ein Gemüt – einfältig im schönen Sinne der Schrift – dem Manne sein und geben können, zu dem es einst sprechen würde:

»Ich will dir folgen durch Wälder und Meer,
Eisen und Kerker und feindliches Heer –«


Außergewöhnliche Zeiten schaffen auch im kleinen Rahmen des Alltagslebens außergewöhnliche Verhältnisse. Sie verschärfen das Empfinden, steigern die Sehnsucht nach einem starken Bindemittel zwischen verwandten Seelen und das lechzende Verlangen nach einer Arznei, die imstande ist, über Ermattung und Elend hinwegzuhelfen, gleich einem tiefen Trunke hundertjährigen Rebenblutes.

Leberecht dürstete nach dieser Labung. Wohl hatte er sie noch nicht mit vollem Bewußtsein vom Schicksal erbeten, jetzt aber, da er ihre ersten feurigen Tropfen auf seinen Lippen spürte, durchbebte ihn die Erkenntnis seines Schmachtens und seiner Arznei zu gleicher Zeit. Über das Wann und Wie dieser Erkenntnis legte er sich keine Rechenschaft ab. Am liebsten hätte er sich gegen seine Begleiterin freimütig ausgesprochen und sie gebeten: »Mache mich ruhig und glücklich, wie du es bist.« Allein er besann sich zu rechter Zeit darauf, daß er kein Dämon aus dem Schäferspiel war, sondern ein ernster Mann, der seine Gefühle prüfen und läutern muß.

Christine wandelte unbefangen an seiner Seite. Ihren Arm hatte sie schon nach wenig Schritten wieder aus dem seinigen gezogen, nicht mit besonderer Absicht, sondern weil sie's fror und weil sie die bequeme Gewohnheit hatte, sich in ihren alten Kreppschal einzuwickeln, wie eine Schmetterlingspuppe. Auf ihre Weise war sie entzückt von Leberechts Gesellschaft. Sein Äußeres blendete sie nicht; für den Kern in der Schale begeisterte sie sich. Sein glühender Patriotismus hatte sie hingerissen und ihren Mut, dem väterlichen Pessimismus und der mütterlichen Verzagtheit gegenüber, mächtig erhoben. Sie sagte sich's mit Stolz, daß sie niemals undeutsch empfunden habe, daß sie vor diesem Manne mit den prophetisch leuchtenden Augen dastehen durfte, ohne schamrot zu werden. Dann aber war der Prophet ihr, durch das wehmütige Bekenntnis seiner verwaisten Heimatlosigkeit, menschlich nahe gerückt. Ihrer Begeisterung hatte sich das warme, weibliche Mitgefühl zugesellt. Erst im Garten ward es ihr klar, daß er nicht nur ein sehr kluges, sondern auch ein sehr anziehendes Gesicht habe. Wundervoll dachte sie sich's, einen älteren Bruder zu besitzen, der ihm gliche, mit dem sie, ganz ohne Zwang und Rückhalt, alles teilen könne, was die glatte Oberfläche ihres einsamen, achtzehnjährigen Lebens je zu Wellen und Wellchen aufgekräuselt hatte.

Ein Bruder? – Zweifel beschlichen sie. Unter ihrem breitrandigen Sommerhute hervor schaute sie verstohlen auf Leberecht. Er öffnete die Gartenpforte, ließ sie ins Freie vorangehen, und da draußen vergingen ihr die Grübeleien im Nu. Die Welt dehnte sich so weit und licht im Kreise, und auf dem Wasser tanzten fröhliche Goldfünkchen.

»Nun sollen Sie unsre Heimat kennen lernen, ganz genau, wie in der Erdbeschreibung,« sagte sie, überlegte ein paar Sekunden lang mit allerliebster Wichtigkeitsmiene, wo das großartige Belehrungswerk am besten zu beginnen sei, und schritt darauf eifrig erklärend voran.

In die Kreuz und Quer durchstreiften sie Prinzessin Christinens Liliputreich, das nicht viel mehr als einige hundert Schuh im Umkreise maß. Die Erklärerin fand des Vergnügens an ihrer sonntäglichen Aufgabe kein Ende. Es war so neu und hübsch, einen verständnisvollen Begleiter zu haben, der kein ungeleckter, junger Bär war, wie Bruder Volkmar. Sie liebte die kleine Heimat mit einer rührenden Liebe und zeigte Leberecht all ihre Merkwürdigkeiten so gründlich, als solle er eine dickleibige Sankt Jürgener Chronik verfassen. Jede Biegung des Ufersaumes, jede Erhebung am Horizonte ward beachtet; vorsichtig suchten sie miteinander im Schilf nach dem verlassenen Nestchen des Rohrsängers, der den Sommer hindurch so lieblich gesungen hatte und zahm wie ein Stubenvogel geworden war, und dann berieten sie, ob sie des Küsters kleines Schiff losketten und zu Bauer Arends berühmtem Entenfange mit der eingegrabenen Strohhütte und den Schlagnetzen und Lockenten hinausrudern sollten.

Aber nein, sie waren ja noch längst nicht fertig mit der Insel und ihren Wundern.

Zum zweiten Male mußte Leberecht heute seine Kirche betreten; der taube Küster ward zum Aufschließen herbei geholt und kam mit angezündetem Laternchen, denn ohne Sonne war das kleine Gotteshaus sehr lichtlos. Im dämmerigen Chore entzifferte Christine, auf dem hohlgetretenen Estrich kniend, die lateinische Inschrift des uralten, bischöflichen Leichensteines, und dann führte sie den wißbegierigen Freund in den abgeschiedenen Raum, der vor dreihundert Jahren das Kapellchen der Elendesten des Inselchens, der »Sondersiechen«, gewesen war.

Sankt Jürgen hatte viel Gutes unter diesen Geächteten, den Aussätzigen getan. Nicht etwa der ritterliche, heilige Georg der Katholiken, sondern Eke Jürgen, der wilde Bauernvogt und Straßenräuber, der seinem Hengste die Hufeisen verkehrt unternagelte, um seine Verfolger zu täuschen, bis zu der Nacht, da ihn Gott selber verfolgte. Der ließ dem Vogt im Traum einen greulichen Drachen erscheinen, und der Drache hatte des Vogtes eigenes, böses Angesicht und schaute ihn damit an, wie er sich auch im Bette herumwarf. Da ging er in sich, verwandelte seinen Raub und Reichtum in fromme Werke; der Papst sprach ihn heilig, und er versenkte seine Waffen – eine ganze Rüstkammer voll – dort draußen in den tiefen Brunnen: »Wenn der Mond recht hell hineinscheint, sagt das Volk, kann man all die Mordspeere drunten deutlich liegen sehen. Sie warten, bis ein zweiter Sankt Jürgen kommt und sie heraufholt. – Den Glauben redet den Leuten hier im Jürgenslande kein Lehrer und kein Prediger aus.«

»Jetzt wäre die richtige Zeit für einen Sankt Jürgen erschienen,« sagte Leberecht einige Minuten später, als er mit Christine die Kirche verlassen hatte und an den Brunnen getreten war. Da standen sie nun einander gegenüber, die Arme bequem auf den moosigen Steinrand gelegt, und schauten unverwandt in die schwarze Tiefe hinab, aus der es feucht und kühl herauf wehte. Endlich erhob Christine ihr Gesicht, und der lebhafte Blick ihrer Augen blieb wie gebannt an Leberechts gesenktem Profil hängen. – Merkwürdig, nun sie ihn recht mit Muße betrachtete, glich er viel eher einem germanischen Heerführer mit Schwert und Lanze, als dem Helden des apostolischen Wortes, der er im wirklichen Leben war. Er hatte ganz die Statur und Haltung eines streitbaren Mannes: gerade aufgerichtet, kraftstrotzend, die Gesichtszüge groß geschnitten, die Hände nervig. – Wie gut, daß ihm in Wahrheit das blutige Kriegshandwerk himmelfern lag! Christine wünschte sich's nicht, daß er je wieder von Sankt Jürgen Abschied nehmen müßte. Sie ward rot bei diesem Gedanken, und in ihre lichten Augen kam, ihr selbst kaum noch bewußt, ein so warmer Blick, daß Leberecht, hätte er ihn erhascht, vielleicht einer großen Unvorsichtigkeit schuldig geworden wäre. Aber dafür sah er zu spät aus seinem Nachsinnen empor.

»Ist's nicht interessant zu verfolgen, wie doch stets der Charakter eines Volkes sich mit seinen Überlieferungen deckt?« sagte er und warf ein Kieselsteinchen in den Brunnen, aus dem der Ton des Falles dumpf und schwach heraufkam. »Genau wie ihr eigener Sagenbrunnen hier sind die Bauern aus Marsch und Moor. Die Kräfte in ihrem Sein und Wesen, die tapfer dreinschlagen könnten und möchten, die halten sie unter farblos kaltem Wasser versteckt – gar nicht aufzufinden, sollte man denken. Wenn sie aber einmal zutage treten, dann hauen und stechen sie drein, wie der Raubvogt Eke Jürgen: erbarmungslos – mit rohen Fäusten. – Mich friert's unter diesen Leuten!«

»Ich gehöre auch zu ihnen als Sankt Jürgener Kind,« entgegnete Christine, »indes sind wir doch nicht alle so kalt und roh im Herzen, wie Sie denken.«

»Liebste Demoiselle, das weiß ich! Was mögen Sie mich dergestalt in Verlegenheit bringen?« Leberecht ging zu Christine hinüber, und während sie ihm voll Schelmerei ins Gesicht sah, wunderte sie sich insgeheim ob der eindringlich ernsten Miene, mit der er zuerst in ihre Augen und dann hinab in die unermessene Tiefe des Brunnens spähte, als suche er hier und dort verborgene Schätze. So standen sie einige Zeit stumm und nachdenklich beisammen, bis die nächtliche Finsternis da drunten als ein feuerfarbenes Meer vor ihren Augen wogte.

Indem kam Beta mit dem Kruge aus der Pastorei zum Brunnen, um Wasser zu holen. Der Zauber war gebrochen; die beiden richteten sich so jäh empor, als wenn die Nahende sie auf großer Sünde ertappt hätte. Des Mädchens zweiten Blick voll scheuer Zärtlichkeit fing Leberecht diesmal auf, und ein Gefühl dankbaren Glückes erfüllte sein Herz. Kein Wort sprach Christine; sie seufzte und lächelte nur, wie aus Träumen heraus.

»Die Frau hat schon zwanzigmal nach Mamsell Stinchen gefragt und Domine nach dem jungen Domine,« berichtete die kleine Magd, während sie den Eimer an die Kette hängte und ihn mittels des kreischenden Rades zum Füllen hinunter wand.

»O weh! o weh! lassen Sie uns nur geschwind heimlaufen!« rief Christine. »Ich weiß, daß Vater noch auf Sie zur amtlichen Besprechung zählt,« fügte sie erläuternd bei, und ihre flinken Füße in den ausgeschnittenen Kreuzbandschuhen hielten Schritt mit Leberechts Eile. »Aber über den Kirchhof gehen wir rasch noch. Ich muß Ihnen das Grab von Philemon und Baucis aus unserm Torfmoore zeigen. Vor bald hundert Jahren sind sie an ein und demselben Tage gestorben: uralt –: neunzig oder mehr, glaube ich. Dann haben Sie auch meine letzte Rarität kennen gelernt.«

Am äußersten Ende des Kirchhofes fanden sie das eingesunkene Grab, ganz in Efeu eingesponnen. Wind und Wetter hatten die zerbröckelnde Holztafel schräg gedrückt; die zwei flammenden Herzen jedoch, mit dem dreieckigen, strahlenumgebenen Gottesauge darüber und der alten, plattdeutschen Inschrift darunter, waren noch klar zu erkennen.

»De Lief is dod,
De Seel by God,
Hir ligged twee Been
Und west dog een –

Dod, marke di:
Dat bliwt darby –
Wi will tosam
In Himmel gahn.«

»Das ist auch wieder grob und trotzig gesagt,« bemerkte Christine und strich nachdenklich mit leiser Hand über die starren Efeublätter hin.

»Ja,« erwiderte Leberecht, »aber lassen Sie es immerhin grob und trotzig klingen; es liegt doch das Edelste und Zarteste darin, was diese arge Welt zwei Menschenherzen geben kann, die sich in ihr verbunden haben: Liebestreue über das Grab hinaus.«

Sie blickten einander ernst in die Augen und lasen, jedes still für sich, den Spruch auf der sinkenden Holztafel noch einmal. Dann nahmen sie, vom gleichen Gefühle getrieben, die Rosen des Pfarrgartens, die sie an der Brust getragen hatten, und fügten sie zu einem einzigen Strauße zusammen. Den legten sie zwischen die dunklen Ranken des Efeugewuchers, auf das alte Grab im Sonnenschein.


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