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Fünftes Kapitel.

Der Winter setzte früh und hart ein. Schon die zwanziger Tage des Oktober hatten Frost und schneidenden Nordost gebracht. In aller Hast beendeten die Sankt Jürgener ihre Herbstarbeit, säuberten die Gewässer von Krautwerk und Gras mittels der Sense an langer Stange, fischten mit den Zugnetzen und salzten und versteckten den Fang, um ihn nicht in die Hände der französischen Feinschmecker von Mairie und Präfektur liefern zu müssen. Die spärliche Feuerung ward unter Dach gebracht, das letzte Vieh eingetrieben und das dumpfige Heu des nassen Sommers geborgen, soviel die fremde Habgier den Armen in den Moordörfern davon übrig ließ.

Arend hatte seinen Torfstich verkauft. Das Wasser stieg ihm an den Hals, und in seinem struppigen Kopfe wälzte er nach wie vor Vernichtungspläne gegen die ›franschen Hunde‹ hin und her. Unter seinen stoischen und ruheliebenden Dorfgenossen gelang es ihm noch nicht, Teilnehmer zu werben. Der Feuerquell, den Leberechts Worte Sonntags auf der Kanzel flüssig machten, erstarrte im Laufe der Woche wieder zu kaltem Erz. Solange sie nicht buchstäblich Aug' in Auge mit dem sicheren Hungertode und dem Erfrieren standen, ertrugen sie das Unglaubliche. Sie hockten im stinkenden Pfeifenqualm um ihre schwelenden Torfmullfeuer, aßen schmierigen Speck und gefrorene Steckrüben und arbeiteten schweigsam vor sich hin, wo es etwas zu tun gab.

» C'est une populace de phoques,« pflegte der Präfekt Comte d'Arberg zu sagen, aber seine Beamten besannen sich doch auf so manchen Blick aus den Augen dieses kühlen ›Völkchens von Seehunden‹, der ihnen keine sehr behagliche Empfindung zurückgelassen hatte.

Anfang November stand der überschwemmte Landstrich weit und breit unter Treibeis. Über Nacht fiel der Schnee in Wolken, und morgens sah man die Schollen, weiß gepolstert, auf sturmbewegten Fluten schaukeln, die jetzt in Wahrheit einem wilden Meere glichen. Ringsum der sonderbar knirschende und malmende Ton der Eismassen, die sich fortwährend im Treiben gegeneinander rieben und sich um das Inselchen Sankt Jürgen zu einem Walle trüber Glastrümmer stauten. Nun war die gefürchtete Zeit des ›Notweges‹ gekommen, und ganz und gar ward aus dem friedlichen Sandhügel mit dem ragenden Turme die Insula perdita des alten Latiners.

Keine Verbindung mehr mit Bremen, ja kaum mehr mit den Dörfern des Kirchspiels. Keine französischen Quälereien – die Erbarmerin Natur legte ihr Veto ein – aber auch keine Nachrichten vom Kriegstheater. Der sonntägliche Gottesdienst setzte aus: wie sollte die kleine Flotte mit den treuen Kirchgängern zwischen den verderblichen Schollen hindurch zur Kirche gelangen? Im engen Studierstübchen der Pastorei sammelte der alte Domine seinen bescheidenen Hausstand um den Krankensessel und predigte aus der Tiefe seines ergebenen Herzens heraus, als ob er zur ganzen Gemeinde redete. »Empöret euch nicht wider die Obrigkeit nach dem Gesetz« – das war das Alpha und Omega seiner Ermahnungen, »der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln« die Quintessenz seiner Betrachtungen. Die Pastorin brachte es trotzdem nicht fertig, den gelassenen Mariensinn gegen ihre Martha-Unruhe einzutauschen, und Christine, wenn sie sich mit ihrem Hoffen und Sehnen vor verschlossener Pforte fand, wünschte sich das schwarze Schaf der Familie, den verbannten Bruder Volkmar und seine ungebärdigen Liebkosungen an ihre Seite zurück.

An den christlichen Übungen in der Pastorei nahm Leberecht passiven Teil, um nicht anzustoßen hier, wo zwei Paare gebildeter Menschen einzig aufeinander gestellt waren. Seine Auffassung von Politik und Religion in ihrer Wechselwirkung wich von der des alten Herrn in allen Stücken ab, aber sie stand noch gar zu vereinzelt im Lande. Deshalb gewann er's des Friedens halber über sich, in diesem kleinen Familienkreise mit dessen Gliedern die Hände zu falten und die Stirn zu neigen. Ohne Christinens Nähe hätte er's nicht vermocht, allein in ihren Augen las er Frieden, obgleich sie ihn in stetem Zwiespalt mit dem eigenen Begehren erhielten. Er wollte und durfte dem starken Zuge zu ihr nicht nachgeben, solange er in der Knechtschaft seines schwankenden Willens lag. Zum Freien mußte er frei sein.

An der Pflicht, die er sich neu und streng gestaltete, hoffte er sich wieder aus seiner inneren Bedrängnis ans Licht zu arbeiten.

Solange noch die geringste Möglichkeit dazu vorhanden war, wagte er sich, sein Leben tapfer aufs Spiel setzend, zu seinen Pfarrkindern jenseits der Deiche am Horizonte. Der Küster besaß das festeste Schiff auf Meilen in der Runde, ein spitzschnabeliges Ding mit eisenbeschlagenem Boden nach Art der alten Norwegerkähne, und darin führte er seinen jungen Domine ohne Murren durch Sturm und Drang. Leberecht empfand dieses Wagnis jedesmal als eine Stärkung, die ihm ein Stück der verlorenen, inneren Sicherheit zurückschenkte. Die scharfe Kälte, die ihn bis ins Mark durchschüttelte, betäubte seine Seelenpein, der Wind, der sein Haupt umbrauste, wirbelte manchen Verzweiflungsgedanken hinweg, und wenn er dann in die düsteren Katen und Strohdachhäuser der Moorbauern trat, streckten sich ihm von rechts und links begehrende Hände entgegen.

Welche Not überall! Immer gieriger sogen die Feinde das besitzlose Land aus. Mit Steuern und anderen Lasten preßten sie es täglich ärger in den Schraubstock. Und dazu die Stimmung der Bevölkerung! Bitterem Wasser gleich strömte sie auf den jungen Seelsorger ein. Gotteslästerlichen Reden mußte er mit Drohung gegenübertreten, dem »Warum?« der Qual eine Trostesantwort finden, das stumpfsinnige Hinbrüten der Eltern entwichener Konskribierten in Tatenenergie zu verwandeln suchen, oder vom Seinen geben, um damit die grausamen Folgen des Gesetzesfrevels ein wenig zu lindern.

Er selbst verarmte. Sein geringes Kapital schmolz in ein Nichts zusammen; daheim, im wurmstichigen Bretterverschlage seines Giebelstübchens hing nur noch der Talar am Haken neben dem Kragenmantel. Alles, was er außerdem von Oberkleidern besaß, trug er auf dem Leibe, Sonntags und Alltags. Sogar vom weißen Flauschrock aus der Studienzeit hatte er sich getrennt. Arends elende Frau zog ihn, so wie er da war, über ihr lumpiges Blaudruckkleid, weil das Sumpffieber sie gepackt hielt seit Wochen.

Arend war als Unruhstifter bekannt. Sobald die Franzosen das Geringste zu holen oder zu ahnden hatten, pochten sie sicherlich zuerst an seine Tür und durchschnoberten seine kalte und kahle Hausdiele mit dem nutzlosen, lebendigen Kuhgerippe und dem wüsten Durcheinander von schimmelnden Runkelrüben und moderigen Tabaksblättern im Winkel. Ungefegt die ›Dönns‹, wie sie ihre Stube nannten, leer die Küche. Über dem erbärmlichen Feuer saß matt und untätig das arme Weib, klaglos wie ein stummes Tier, aber immer zu Tränen geneigt. Die jüngeren Kinder liefen wild umher und bettelten sich satt, wo sie konnten, Reemt, der erwachsene Sohn, hatte sich, um von der Konskription loszukommen, von Schäfer Wiards, droben in der Sürheide, einen fressenden Beinschaden anhexen lassen. Eine dürre Erbse lag in der Wunde und hielt sie offen. Das hinderte an der Arbeit, und so drückte sich der ungeschlachte Bengel den lieben, langen Tag müßig im Hause herum, rieb seinen krummen Buckel an der schmutzigen Wand und höhnte: »Arbeiten? för wat denn? Se hewt us jo doch up'n Strich, de Hollunken!«

Und wenn das uniformierte Schergenkorps wieder einmal mit dem Degenknauf an die verrammelte Haustür schlug: » Ouvrez, la coterie!« da riß Reemt Arend ihnen Dönns und Schlafkojen und leere Fächer auf und lachte giftig: »Ick will jug ›uwern‹! sökt ji man, ji Gaudeefs!«

Der Branntwein, und Gott weiß was sonst noch, lag sicher im Keller unter dem Ziegelpflaster, und die Ratzen sprangen jeden an, der sich da drunten etwas zu tun machen wollte.

Einmal wäre die Versuchung für Reemt fast zu stark geworden, als, während solcher leidigen Buntrockvisite, sich einer der beiden ›Parlewuhs‹ neugierig über die geöffnete Falltür bückte und in das kohlschwarze Loch hinabspähte.

Bei dem Anblicke lief es Reemt siedendheiß durch alle Glieder. Schon hatte er seinen gesunden Fuß erhoben und die knochige Faust zusammengeknotet, um den Gebückten in die Tiefe zu stoßen und dem Zweiten mit wuchtigem Schlage das Lebenslicht auszublasen, da sah er seine Mutter quer über die Diele kommen. Schwerfälligen Schrittes schlich sie vorbei und schluchzte bitterlich hinter ihrer zerrissenen Schürze. Langsam zog Reemt den Fuß zurück, schob die Faust vorn in sein Kamisol und schlug dann, hinter den Spähern drein, die Falltür zu, daß es krachte.

Als fünf Minuten später die Franzosen, auf dem Herdrand sitzend, barsch Kaffee forderten, schüttete er ihnen eine Schaufel Torfmull hin, der ihnen in die Gesichter stäubte.

»Suupt, Kärls! Betern Koffi hebbt wie nich!« und nun sie lärmend anderes verlangten: » Eau de vie, Zucker, Rauchtabak,« da lachte er nochmals wie ein Kobold und schrie ihnen zu: »Dat ole Wif sitt glieks bi an, in Ohm Ahlers sin' Dönns, un' Szucker un' Tuwack? Fret ji de Röwen un' smök' ji de Strünken – wie sünd d'r nich mit kloar wurrn!«

Dabei holte er einen Armvoll von den faulen Runkeln und den klebrigen Blättern aus dem Winkel, warf ihnen den ganzen Segen vor die Füße, und sakrierend und drohend zogen die Franzosen von dannen.

Arend selbst war fast nie in Wührden zu finden. Er streifte im Lande herum wie ein heimatloser Strolch. Bald suchte er sich ein Gewerbe in der Stadt, wenn der Weg dorthin offen war, und trug die spärlichen Nachrichten: Zeitungsblätter und Gerüchte von Dorf zu Dorf und nach Sankt Jürgen. Bald lag er unter dem Strohdache seines Entenfanges, unweit der Ritterhuder Schleuse, und wartete viele Stunden in Nässe und Kälte, bis die scheuen Krickenten, zutraulich gemacht durch das Quackern der flügellahmen Lockenten, auf den malzbestreuten Herd zwischen die Schlagnetze fielen. Wenn jedoch der Ostwind pfiff und der Jagd nicht günstig war, weil die Hütte nach Morgen lag, dann verschwand der Unstete für ungewisse Zeit. Er ging in der Gegend von Lehe und Wremen mit seinem Freunde Jan Rickwegs auf Schmuggelfahrten. In der Sürheide hatten sie ihren Hehlerwinkel bei Schäfer Wiards. Der war ein verrufenes Subjekt und bei allem lichtscheuen Tun der Vordermann. An Arend fand er einen willigen Kumpan: ihm hatte die hoffnungslose Not seines Lebens alle Kraft zum Guten zerbrochen. Er konnte das Elend daheim in der Kate nicht mehr ansehen, ohne auf Mord und Totschlag zu sinnen, wo er ging und stand. Gab er der Frau von seinem Sündengewinn, so wies sie's zurück und weinte: »Lieber hungern als stehlen!« Sie war eine Wurster Bauerntochter aus gutem Hause und hatte ihren Mann einst gegen den elterlichen Willen genommen. »Unbedacht und Unehrlichkeit sind zweierlei« – dabei blieb sie eigensinnig. So ließ er sie gewähren und bot seinem Schicksale die Stirn mit jener frechen Gleichgültigkeit, die eine mißratene Schwester des edlen Gleichmutes in schwerer Prüfung ist.

Für die beiden Sankt Jürgener Geistlichen, die sich der Seinigen und ihres Elends nach Kräften annahmen, war und blieb er zu jedem Dienste bereit und ließ sich Nacht und Nebel nicht verdrießen, wenn es einen Botengang für den alten Domine oder die Erlangung einer Kriegskunde für den jungen galt. »Treu wie ein Hund, böse wie ein Wolf,« sagte Leberecht von ihm zu Torbeeken. »Man lernt durch Arend erkennen, daß Hund und Wolf nur ein Tier sind.«

Im letzten Drittel des November kam das Treibeis endlich zum Stehen, und klare, wundervolle Frosttage lösten Sturmwind und Schneefall ab. Soweit das Auge reichte, eine glatte, blanke Eisfläche; der Horizont lag im bläulichen Sonnenduft, Bäume und Dächer waren weiß überzuckert. Die gezwungene Einsamkeit war zu Ende; das Leben zeigte ein weniger starres Gesicht. Während der Tage des Notweges mit den ebbenden Vorräten in Küche und Keller und den nimmermüden Naturlauten des Winters hatte es über der Gemeinde zwischen Wumme- und Hammefluß gelegen wie dumpfe Angst vor dem Weltuntergang. Alle Jahre wiederholte sich das, aber in diesem lastete der Druck so schwer, wie nie. Jetzt regte sich der bescheidene Verkehr aufs neue. Aus Stadt und Umgegend kam Kunde. Die alte Boten-Magrete, die allwöchentlich mit der Leher Malle-Post bis Scharmbeck fuhr und dann, ihre Trage auf dem Rücken, durch das Land zwischen Linteln und Frankenburg humpelte, brachte ein kurzes Schriftstück von »Muschöh Volkmar aus Dorum an Mamsell Stinchen«, und der bremische Botenschlitten lieferte Kram- und Ellenwaren, Bücherpakete und Briefe ab, die drei Wochen lang des beständigen Wetters geharrt hatten.

Zwar zeigte manches Briefsiegel verstümmelte Prägung und zweierlei Lack, mancher Umschlag einen verklebten Einschnitt über dem Originalverschluß. Unberufene Finger hatten zweifellos damit hantiert. Allein das waren die Korrespondierenden ja längst gewohnt. Freunde und Familienglieder pflegten schon seit Jahr und Tag alle wichtigen Mitteilungen in Gestalt vereinbarter, harmloser Sätze und Worte auszutauschen – die Jugend bediente sich mit Vorliebe irgendeiner sympathetischen Tinte. Leberechts Büchersendung zeigte gleichfalls bedenkliche Lücken. Drei aus der Zahl hatte die gestrenge Zensur zurückbehalten, denn die Rechnung wies, neben den rotangekreuzten Titeln, das übliche: » Confisqué« auf, und die Zeitungen, die bis zum siebzehnten liefen, machten ein düsteres Gesicht.

Einzelheiten voll erschreckender Tragik trotz aller fränkischen Großmäuligkeit. Immer noch die Verheerungen des Moskauer Brandes, dazu die Beschreibung der Höllenmaschinen und des ergrimmten Drohbriefes, die man in Rostopschins zerstörtem Landhause gefunden hatte. Daran reihte sich eine Notiz aus Berlin über die gefälschten Schlachtenberichte und den traurigen Körperzustand der eingelieferten russischen Kriegsgefangenen. Ein Datum weiter die kurze, schneidige Proklamation des General York vom preußischen Hilfskorps der großen Armee: ein merkwürdig herrischer und ungeduldiger Ton darin, der Leberechts Herz einen raschen Schlag der Freude tun ließ. War's nicht eines Götz von Berlichingen eiserne Hand, die dort in Mitau Strafe androhte? Las man nicht zwischen den knappen Zeilen den Wunsch, jenem aufgezwungenen Machthaber in die Zügel zu fallen und das Roß des deutschen Mutes in neue Bahn zu lenken, es anzufeuern aus eigener Kraft? Im nämlichen Blatte die Meldung aus Paris, daß man die drei Ex-Generale, die des allmächtigen Kaisers Todesnachricht freventlich verbreitet hatten, mit neun Komplizen zugleich, auf der Ebene von Grenelle erschossen habe. Tags darauf die Hinrichtung und Einkerkerung von sechsundzwanzig Brandstiftern zu Moskau und allerlei banales Geschwätz über den herrlichen Gesundheitszustand der glorreichen Armee, die das sorgloseste und glücklichste Dasein in russischen Pelzen und russischem Sonnenglanz führe. Wärmere Witterung als in Paris: man staune! Gott machte den Norden zum Süden für seinen Brudergott Napoleon! Ein bißchen Schnee, ein paar Kosacken? Kleinigkeit! Spaß! Und dann ganz unvermittelt, in der letzten Zeitung des Pakets, das fünfundzwanzigste Bulletin mit seinem Kommentar, der eine Aneinanderreihung schicksalsschwerer Fragen und Voraussetzungen war.

Zum erstenmal von den Kranken der großen Armee die Rede im Bulletin des zwanzigsten Oktobers. »Der Kaiser hat Moskau verlassen, das Heer ist auf drei Wochen mit Zwieback versehen und steht marschbereit. Der Kreml ist französischerseits unterminiert worden.« Weshalb? Mußte der gewaltige Kaiser den verzweifelten Fanatiker Rostopschin noch überbieten? – »Kosackenpulks beunruhigen die Kavallerie. In den Anfangstagen des November werden Fröste eintreten. Alles zeigt an, daß man an die Winterquartiere denken muß. Besonders die Kavallerie bedarf derselben.«

Das erste, unverhüllte Zugeständnis der Schwäche. Sorgliche Fragen, wohin die ungeheure Heeresmasse sich nun wenden, wo sie Schutz und Pflege während des grausamen, russischen Winters finden werde? Alle die Kinder des Südens, Provençalen, Italiener, wie werden sie die Strapazen überdauern? Hier hatten die bangen Frager ihre Antwort: »Sagen, daß der Kaiser Moskau verlassen habe, heißt nur, daß dieser Vater seiner Soldaten sich allenthalben hinbegibt, wo große Operationen seine Gegenwart erfordern. Seine Blicke haben den Sieg geboten, sie werden noch ferner über die Sicherheit der siegreichen Armee wachen.«

» Fanfarons!«

Leberecht fand für die welschen Prahlhänse nur den welschen Ausdruck im Zorn. Er saß in seinem Gemache, nicht achtend, daß der kleine Kanonenofen längst kalt und seine eigene Hand starr geworden war, so sehr erregte und entrüstete ihn seine Lektüre. Er warf die Blätter, eins nach dem andern, unter den Tisch und behielt nur das letzte vor sich liegend. Das brachte zum Schluß noch die Präfekturbekanntmachung: daß zehn der ländlichen Maires, die sich gegen den »segensreichen Octroi« aufgelehnt, hierdurch mittelst öffentlichen Tadels gebrandmarkt seien. Die Unglücklichen: Steuern eintreiben von Hungerleidenden? Leberecht sah den Jammer und die Armut vor sich, die ihn auf seinen letzten Berufsgängen aus hohlen Augen angeschaut hatten. Zum Steinerbarmen war's doch, aber diese Steine regten sich nicht in menschlicher Brust.

Er hatte genug davon. Hinaus! die reine Winterluft atmen, in treue Augen blicken. Zu Christine wollte er hinübergehen. Ihre Eltern nickten um diese Nachtischstunde, und er war gottlob sicher, sein geliebtes Mädchen anzutreffen. Das Bewußtsein davon überkam ihn plötzlich als der größte Segen dieses Inselchens. Liebe konnte der Liebe nicht entrinnen auf so kleinem Raume. Er dachte Christine zu bitten, daß sie mit ihm komme, um den Rest des schönen, frostklaren Tages zum Eislauf zu benutzen.

Eilends holte er den Kragenmantel hervor, hängte seine Schlittschuhe über den Arm und sammelte die Zeitungen vom Boden auf, um sie für Domine Torbeeken mit in die Pastorei zu nehmen. Keinen Blick mehr gönnte er ihnen, während er sie hastig zusammenknickte.

In der Diele des Pfarrhauses führte ihm sein gutes Glück die Gesuchte schon entgegen.

Sie trat aus der Küche und trug, ungeachtet des hellen Sonnenscheins, eine brennende Talgkerze in Händen.

»Kommen Sie! Kommen Sie! Die Eltern ruhen – ich habe einen Brief von Volkmar,« flüsterte sie auf Französisch und zog ihn hastig mit sich in ihr eigenes Stübchen; sehr klein, sehr kalt war's, aber so zierlich gehalten und geschmückt mit Schilfblüten und Immortellen hinter den Lithographien an der Wand, daß ihn trotz der Kälte Poesie anwehte. Sie schloß die Fenstergardinen zur Vorsicht und zog aus der Tasche den Brief, dessen unbeschriebene Bogenhälfte sie abtrennte und sorgsam über dem Lichte hin und her zog, während Leberecht auf ihr Geheiß die groß gekritzelten Zeilen der anderen Hälfte durchflog: Schuljungenwitze, tölpische Zärtlichkeitsbeteuerungen, ehrerbietige Grüße an die lieben Eltern und die Versicherung: daß er sich einer »fürtrefflichen Gesundheit« erfreue. Als Nachschrift die Notiz: »Lasse dich, liebes Stienchen, die Kürtze meines Briefes nicht allzuschwer verdrüßen; man soll einen Brief von zwey Seiten beleuchten, ehr daß man ihn aus der Hand legt.«

»Wissen Sie, was die Nachschrift heißt?« fragte Christine. »Die bedeutet unser Zeichen miteinander, und wenn man das weiße Papier übers Licht hält, tritt die geheime Schrift hervor. Sehen Sie, wie's zutage kommt? Ich zittere vor Angst, was er mir wieder zu sagen hat, und ich kann mich bald nicht mehr ruhig halten vor den Eltern, wenn ich's keiner Seele anvertrauen soll. Darf ich's mit Ihnen wagen?«

»Gewiß und von Herzen,« versicherte er, und sie beugten sich zu gleicher Zeit über das engbeschriebene Blatt in Leberechts Hand.

»Wir Marschleute, liebstes Stienchen, wissen mehr, als es bei euch nach deiner letzten Post den Anschein hat. Ich habe nehmlich einen neuen Bettkammeraden bekommen, einen schlesischen Juncker von unweit der Stadt Breßlau. Eberhart von Woyta heißt er. Den haben seyne gestrengen Herren Eltern auch hierher auf Schuhlen getahn, wie mich die unserigen, nur daß man ihm nicht die Lust auf den Revulutionär, sondern auf den Seemann außtreiben will. Similia Similibus, liebes Stienchen, laß es dir vom Vater verteutschen, aber sag' nicht, von wem du's hast. Nun, Eberharten ist zwar die Lust darauf vergangen, aber der Grund weswegen steckt nicht im Similibus. Er steckt im Weltenlaufe und in dem, was wir teutsche Jünglinge dazu tuhen mögten. Gott! liebstes Stienchen! Was ist daß eine Zeit, was sind daß für Nachrichten aus Rußland! Es wird dem fränkischen Tamerlan schon heimgezahlt werden! Denke, daß er den heiligen Kremmel hat in die Luft sprengen lassen, und die Pest kommt ihm vom Asoffschen Meere nach, und die Soldaten fallen dahinn wie Fliegengeschmeiß. Russische Kriegsgefangene, die über Breßlau nach der Festung Neiße transportiert werden, haben es an Eberhartens Vater erzehlt und ihm gesagt, daß sie den Franzosen soviel Pestbeulen aufs Collet wünschen, wie sie Lügen in die moniteurs schreiben. Denke, daß der Kaiser in Pohlen 25 000 Conscribirte, von den 17jährigen an, hat auslosen lassen, weil's in der Armee ans Sterben geht, und daß auch in unserm Departement zum neuen Jahre daßselbe vorgenommen werden soll. Daß aber sag' ich dir und schwör' dir's mit heiligem Eid: wenn sie uns ausheben wollen, so gehn wir vor die Lappen und machen, mit anderen zusammen, eine teutsche Kohorte gegen ihre Legionen, kost' es, was es wolle. Viele hier im Land sprechen wie wir, daß magst du dreist glauben.

Gestern Nacht im Bett haben wir Beyde die Klopstockischen Oden vorgehohlt, haben ›Hermann aus Wallhalla‹ gelesen und sind einander mit Thränen an die Brust gesunken, über daß, was Hermann spricht:

›Enkel, Krieg! ich beschwör' euch bey
Siegmars Schwert und bey meinem,
Aber cheruskischer Krieg!‹

Ist daß nicht erhaben und groß, Stienchen? Willst du unsere Teutona seyn, Stienchen? Verraht' uns dem Vater nicht, tuhest du es, so ist es mein letzter Tag. – Daß doch bald recht viele mit dem Barden riefen wie wir:

›Ja, wenn er für Freyheit kämpft,
Oder wider ein Ungeheuer,
Daß mordet, mit der Kett' umklirrt, so ist der Held
Edler Mann, verdient Unsterblichkeit!‹

Ja! Tod dem Ungeheuer! Halt mir dein Wort, Stienchen, wenn du nicht meinen letzten Tag willst. In die Hände soll uns der wüthige Tamerlan nicht kriegen. Weißt du, daß ich seit letzten Ostern einen halben Schuh gewachsen bin?

Bange dich beyleibe nicht, liebstes Stienchen. Mögtest du etwa eine Docke als Bruder haben? Lieber doch einen Tuisko! Also geduldige dich auf daß, was davon wird.«

Christine erblaßte während dem Lesen dieser Epistel, deren Entzifferung Leberecht nicht leicht geworden war: sie hatte ihm öfters einhelfen müssen. Sie faltete den Brief zusammen, blies das Licht aus und schob die Gardinen zurück, so daß der helle Tag wieder hereinschauen konnte. Ihre Hände zitterten wie Espenlaub, indem sie den Brief hin und her wendete.

»Darf ich ihn denn für mich behalten? Müßt' ich ihn nicht meinem Vater geben?« fragte sie und sah Leberecht hilfesuchend an. »Raten Sie mir als mein Freund – ich weiß mir ja keinen Rat in der Angst um unsern Jungen!«

Er nahm den Brief an sich und streichelte beruhigend über ihre bebenden Hände. »Geben Sie her, lassen Sie mich dies Blatt bewahren und in Ruhe bedenken, wie man den Inhalt auffassen muß, liebste Christine. Ich will Ihnen, wenn's Ihnen angenehm ist, die Erwiderung in die Feder sagen. Ihr Wort dürfen Sie dem Bruder in keinem Falle brechen. Setz' ich mich an seine Stelle, so würde mich eine solche Handlungsweise von meiner Schwester auch zum Äußersten treiben. Kommen Sie jetzt, bestes Kind; lassen Sie uns ein halbes Stündchen miteinander Schlittschuh laufen. Das Eis trägt und die frische Luft verzehrt Ihren Schrecken am ehesten.«

Um ihretwillen drängte er heute die eigenen Sorgen, die heftige Aufregung zurück, in die ihn sein Zeitungspaket versetzt hatte. Schweigend knöpfte sie sich in ihre Kaszawaika und band den Kreppschal um ihr schönes Haar. Gleich darauf flogen sie, eins neben dem andern, über die schimmernde Eisfläche dahin, außer ihnen kein menschliches Wesen in weiter Runde. Die ganze Landschaft glänzte in diamantener Pracht. Das dürre Schilf am Inselrand, die alten Weidenbäume, die Dornhecken des Pastorengartens, alles märchenhaft im Schmuck des Rauhfrostes. Dennoch lag schon wieder die Ahnung milden Wetters in der Luft, und ein hohler Wind kam in großen Stößen aus Westen.

Leberecht umschloß des Mädchens weiche Hand fest mit seiner warmen. Rasch strömte ihm das Blut durch die Adern: der Brief des Knaben beschäftigte und begeisterte seine Seele, rührte sein Herz. Wohl gab er Christine recht, daß zwischen dem Odenlesen und der Cheruskertat noch ein weiter, blutiger Weg liege, aber er machte ihr's auch eindringlich klar, wie sie stolz sein müsse auf den Knaben, der einen solchen Mann verheiße. Sie sah gläubig zu ihm auf: »Ach ja – lassen Sie uns alles teilen, was ihn angeht,« bat sie und da der Wind ihr bei der Biegung auf den Entenfang zu gewaltig entgegenfuhr, warf Leberecht die Hälfte seines Mantels um ihre Schultern, zog ihren Arm näher an sich und gelobte ihr, selbst nach Dorum zu reisen um ihretwillen, sobald ein wahrer Grund zu Befürchtungen sich auftue.

Sie beruhigte sich nur allzu leicht, weil ihr Herz voll Liebe für den war, der sie selbst und ihre bangen Sorgen in seinen starken Schutz genommen hatte. Welches echte Weib sähe nicht im Geliebten die Allmacht auf Erden? Das ist die traurigste und seligste Illusion hienieden – je nachdem.

Als sie heimgelangt waren, blieb Leberecht zum erstenmal unaufgefordert, bis spät über das Abendbrot hinweg bei den Freunden in des Vaters gemütlicher Studierstube. Der alte Herr rauchte einmal über das andre seine weiße Tonpfeife leer, so lebhaft ging das Gespräch von Mund zu Mund. Die neuen Zeitungen gaben reichen Stoff, und Leberecht hielt mühsam an sich, damit seine Flammen nicht über Domine Torbeekens dürre Stecken herfallen und ihnen böse mitspielen mochten. Volkmars harmloses Briefblatt ward vom Vater scharf getadelt, seiner schlechten Schrift und Satzfügung wegen, die Mutter klagte, daß er ihr kein Sterbenswort vom Zustande seiner Wäsche und Kleider berichtet habe; Christine saß zurückgelehnt im Schatten des Ofens und ließ kein Auge von Leberecht. Der schritt im kleinen Zimmer auf und ab und hatte seine Linke über der Brust zwischen zwei Rockknöpfe geschoben. Christine glaubte die feste Hand im Geiste schirmend auf des Bruders geheimer Botschaft ruhen zu sehen.

Nach dem einfachen Abendbrote brachte der junge Mann seinen bejahrten Amtsbruder von der bösen Politik ab auf die Jugendzeit und die idealen Hainbundserinnerungen, über denen Klopstocks Geist geschwebt hatte. Es währte auch nicht lange, so nahm der einstige Romantiker seines vergötterten Barden Gesänge vom Bücherregal, und Leberecht mußte vorlesen. Das hatte er gewollt, und er wählte nur für Christine. Niemand bemerkte es, daß ihr, im schattigen Eckchen verborgen, Tröpfen auf Tropfen über die Wangen rollte. Tränen der sehnsüchtigen Angst um den fernen Bruder und Tränen des herzbeklemmenden Glückes beim Anblick des geliebten Freundes. Er stand hochaufgereckt, lichtumstrahlt ihr gegenüber unter der hängenden Öllampe, heiligen Ernst im Angesichte, als er im Zusammenhange las, was der Knabe Volkmar in Bruchstücken durch seinen Brief verstreut hatte. Sie verstand das Gelesene nur zur Hälfte: wer vermochte dieses Dichters dithyrambischem Aufschwunge je ganz zu folgen? Aber sie fühlte die reinen und hohen Ziele, denen sein Geist zugestrebt hatte, und erbaute sich mit den Männern daran, während die ermüdete Mutter über dem Strickzeuge langsam einnickte. Da rückte Christine ihr leise näher und gab dem feinen Frauengesichte mit den schweren Lidern eine liebevolle Stütze an ihrer Schulter. Leberecht sah es. Seine ausdrucksvollen Augen begegneten Christinens Augen. O, daß sie sein Haupt an ihrer Brust gehalten hätte, um es an sich zu pressen und tausendmal zu küssen für das, was der Geist hinter seiner Stirn, die Seele in seinen Blicken ihr gaben und waren! Sie bekämpfte, um der mütterlichen Ruhe willen, den Seufzer, der in ihr aufstieg, faltete die Hände im Schoße und schmiegte sich so eng an die Wand, als müsse sie mit ihr verwachsen.


»Es ist schon zu spät oder noch zu früh für unsres Klopstocks prophetische Gesänge,« sagte Torbeeken, als er den Band an seinen Platz zurückstellte. »Was da schwarz auf weiß in der Zeitung zu lesen ist, klingt entmutigender denn je.«

»Ich seh' es anders an. Die Zuversicht des Korsen sinkt, die Retraite beginnt!« rief Leberecht. »Lassen Sie die Sonne von Austerlitz nur erst einmal den Horizont streifen; dann geht sie unter, wie ein Nichts so schnell, und nach Gottes gerechtem Willen kommt endlich die Nacht für den Vermessenen und seine Götzendiener!«

Er sprach mit gehobener Stimme, und es überrann ihn wie kaltes Wasser, als der alte Herr ihn bei der Schulter faßte, nach dem Fenster hin spähte und warnend sagte: »Lieber! Lieber! Ich beschwöre Sie: nicht so laut reden! Die Bahn ist wieder frei nach allen Seiten um uns her, wer weiß heutzutage, wann und weshalb er beobachtet wird? Wer weiß, was ihn bedroht? Haben Sie den Boten gesprochen, lieber Claudius? Nicht? Nun denn, er meldet, daß es bei ihnen in den Dörfern von strengen Gesichtern und Uniformen nicht mehr leer wird, von Octroi, Kontributionen, Aushebung. Vor allem aber will man rebellischen Umtrieben und geschmuggelten englischen Waffen auf der Spur sein. Keine Strafe, keinen Übergriff läßt man sich verdrießen, nun der Verdacht einmal rege ist –«

»Gute Nacht – Gott beschütze uns und unsre deutschen Brüder, nah und fern,« unterbrach Leberecht die geflüsterte Satzfolge des Redenden. Seine Brauen zogen sich scharf zusammen, die Jugend war förmlich gelöscht aus seinen Zügen.

Als die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel, streckte Christine, vom Dunkel verborgen, ihm die Arme nach und flüchtete dann in ihr Stübchen. Lange saß sie dort in der Kälte, ihr Gesicht gegen die Tischplatte gedrückt, da wo Leberechts Hand mit Bruder Volkmars Brief geruht hatte.

In der Nacht sprang der Wind um, und nun heulte, nach kurzen, schönen Wintertagen, der wilde Schneesturm wieder über das Land.


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