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Drittes Kapitel.

Das Karriol rollte vors Tor und hielt an. Der Bauer stieg rücklings am Rade ab und gab Reemt die Zügel; ihm nach sprang behend ein kleiner, stämmiger Gesell in blauer Pikesche mit großem umgelegten Hemdkragen, der den Hals freiließ, ein flatterndes Tuch lose darunter geknüpft. Die Füße steckten in kurzen Stulpen; ein Peitschchen schaute über einen der Schäfte hinaus, das Gesicht war sehr dunkel und pockennarbig, von sarmatischem Gepräge. Kleine, lebhafte Augen, hohe Backenknochen und wellenloses, rundverschnittenes Schwarzhaar von großer Fülle.

Er stürzte förmlich aufs Tor zu und focht mit beiden Händen in der Luft: »Wo ist er? wo ist er?«

»Munnsken! Munns' Torbeekens!« rief der Bauer mit seiner hellen Stimme in die Diele hinein, »hä! ficks rutkoamen, hier ist Besöök!«

»Haha! he loppt as 'n Tüt!« sagte Reemt, und wahrlich, kein Regenpfeifer hätte geschwinder zur Stelle sein können, als der blonde Pastorensohn.

Die Seelenfreunde lagen sich mit ausgiebiger Zärtlichkeit am Busen: »Mein Tuisko!«

»Mein Siegmar!«

»Aller Groll ist vergessen, ich kann ja doch ohne dich keine Stunde glücklich leben!«

»Du Edler, du Bester! O, wie dank' ich dir!«

Die jungen Extatiker brachten es in ihrer gegenseitigen Anbetung bis zu blanken Tränen der Wonne.

Der Bauer stand belustigt daneben, rieb sich die Hände und zwinkerte zu seinem Knechte hinüber.

»Hä! nu kannst du lachen, Munnsken,« sagte er und klopfte Volkmar auf die Schulter, »nu hebb' ick't droapen, wat? Marsch, bi't Füer; dien Junker is rein verklömt! Wo geiht't de Fro?« wendete er sich an die Magd und ging ins Hausinnere, während die Freunde einander gar nicht aus den Armen lassen mochten.

»Er hat recht; komm' wirklich zuerst einmal ans Feuer,« mahnte Volkmar endlich, denn Eberhards Wangen und Hände starrten noch wie Eis, infolge des schneidenden Nordost während der Fahrt.

»Ans Feuer? Ich? In meiner Brust ist ein Vulkan!« protestierte Eberhard und begab sich dennoch unwillkürlich in die verlockende Nähe des Herdes, den Freund in fester Umschlingung mit sich ziehend. »O, wenn du wüßtest, was ich dir bringe, weshalb ich hier bin! Sieh, ich konnt' es nicht allein tragen, zu Fuß wollt' ich zu dir eilen; denn da sei Gott vor, daß ich jetzt noch einen Pfennig für meine Bequemlichkeit ausgäbe! Da treff' ich nun deinen Bauern im Mulsumer Krug, wo ich nach Weg und Steg frage. Ein Wort gibt das andre, er heißt mich aufsteigen, und so hast du mich nun. Dein Gastfreund ist auch der meine geworden; und einen göttlichen Recken hab' ich kennen gelernt und uns ihn gewonnen – Bauer Biehl – –«

»Laß das alles! Sind neue Nachrichten aus Rußland da?« hemmte Volkmar den Redefluß. Tuisko war wortknapper, als sein schwärmender Siegmar. Der riß den Blondkopf an seine Schulter und hob die freie Hand gen Himmel.

»Tuisko! Glühende Tropfen könnt' ich weinen und sollte die ganze Welt weinen über das Ungeheuere! Jetzt schlägt endlich die Rachestunde für den wütenden Tamerlan! Bald wird er in seinem Blute verröcheln: Atropos zückt schon die Schere –«

»Besiegt? Geschlagen? Tot?« Volkmar wich zurück und preßte die gefalteten Hände gegen das Herz. Sein Antlitz hatte etwas vom leuchtenden des Cherubs.

»Was? tot! nein, nein! Dann stünd' ich nicht hier, dann trüg' ich längst die Waffen, um den Rest der welschen Otternbrut mit Stumpf und Stiel auszumerzen. So weit ist's noch immer nicht, aber wenigstens aufs Haupt ist er geschlagen worden; das muß die Wahrheit sein, wenn auch die feilen Kreaturen Lügen um das Schaudervolle spinnen. Hier hab' ich das Journal. Merk' auf: mein Vetter Trebbin hat mir's von Hamburg geschickt, heute früh per Estafette. In seinem Hutfutter hat der Kerl das Blatt hereingebracht. Morgen erst soll es in die Departementsjournale kommen –«

»Gib! gib! laß sehen!«

»Nein, ich will's euch lesen, dir und dem Bauern und Biehl, denen hab' ich's zugesagt. Wer sonst noch unter den Hofleuten echt und teutsch gesinnt ist, mag mit dabei sein. Auf den Vortrag hab' ich schon unterwegens studiert.«

»Laß mich's erst einmal allein lesen, ich bitte dich.«

»Hier? in dieser nüchternen Umgebung? Das Weltbewegende? Nimmermehr!«

»Schafftied! Rinkoamen to'n Eten!« rief Antje dazwischen, und das Gespräch fand für jetzt seinen Abschluß.

Der Bäuerin halber aß die »Herrschaft« heute in der Stube und nicht, wie gewöhnlich, vor den verschlossenen Kojen in der Howand. Das Gesinde tafelte in der Knechtskammer, und die Kinder des Hauses saßen zwischen Vater und Mutter zu Tisch.

Eberhard Woyta berührte die festen Mehlklöße und den Rauchspeck kaum. Er behandelte die Bäuerin, eine noch junge Frau aus dem benachbarten Hadlerlande, mit ritterlicher Höflichkeit, aber seine abwesenden Gedanken kreisten in erhabenen Bahnen. Das Blitzen seiner Augen, die hohe Färbung seiner Wangen redeten davon. Der große, kräftige Mund, über den der keimende Schnurrbart schon seinen schwarzen Flaum legte, öffnete und schloß sich manchmal rasch, ohne Worte. Unzeremoniell sprang er vom Schemel auf, als die Mehlklöße ihre dritte Runde begannen, winkte Volkmar, und als derselbe seinen vollen Teller nicht sofort im Stich ließ, eilte er allein hinaus.

Auf dem ehrwürdigen Tische inmitten der Howand bereitete er sich einen förmlichen Aufbau für seine Vorlesung. Das Tongefäß, aus irgendeinem der zahlreichen Hünengräber des nahen Heidestrichs zutage gefördert, bemerkte er sofort in einer Ecke, wo es zur Aufnahme des täglichen Hühnerfutters diente. Er schüttete die Körner behutsam in ein Häufchen und stellte die improvisierte Aschenurne, mit seinem eigenen schwarzen Halstuche malerisch überhangen, auf den Tisch. Dann führte er Reemt, der sich in der Diele beschäftigte, vor sein Werk: »Hätt' ich nun nur einen Totenschädel und Waffen!« sagte er zu ihm.

»Na 'n Bülzenbett is das uppstünns man zu weit, Muschü; da sollte am Ende woll noch 'n Doodkopp zu kriegen sein,« meinte der Knecht. »Mit'n Scheetdings un'n engelschet Meßt kann ich Ihm für Seine Kummedi beistehn.«

Damit holte er das blasonierte Dolchmesser und die Pistole, die ihm sein verstorbener Vater damals vom Schmuggelgute mit nach Vierhaus gegeben hatte, aus seinem Verschlage und fügte hinzu: »Ick will Em dat schenken, Muschü; ick kann d'r doch nicks mit dhon. To'n Hauen un Scheten is mi dat to mooi.«

Eberhard überhörte das Anerbieten, so beschäftigt war er damit, die Waffen vor der Urne zu kreuzen, und zu beiden Seiten ein paar weiße Kerzenstümpfe aus den Zweigen des Christbaums zu kleben.

Indem kam Tönjes Biehl zur Tür herein, ein Riese von Gestalt, Stolz und Unerschrockenheit in den Zügen.

»Will wi Rebbeljohn spälen, Junker?« fragte er, angesichts der überschwenglichen Veranstaltung des Schlesiers, zwischen Spott und Ernst.

Da Eberhard das Wort Rebellion sogleich mit Begeisterung aufgriff, schaute der Hausmann von seiner kernigen Höhe auf den sechzehnjährigen Vaterlandsverteidiger herab und schmunzelte. »Goddsblicks! 'n körten Jann büst du, aberst 'n Tüßker büst du nich!« Und Eberhard, dem es bekannt war, daß man im Lande die fränkisch gesinnten Speichellecker »Täuscher« hieß, schlug schallend in des Bauern breite Rechte: »Wenn ihr Rebellion macht, laßt mich eure Fahne tragen!« rief er.

Nun war alles bereit. Die kleine Versammlung scharte sich, von ungewohnter Ehrfurcht ergriffen, um »den Altar des trauernden Vaterlandes, mit der Aschenurne von Hunderttausenden und den heiligen Waffen der Befreiung.« So erklärte Eberhard seinen lichtumgebenen Aufbau.

Marten wollte eine Bemerkung darüber machen, daß Mutters gute Tischplatte von den Wachstropfen beschmutzt werde, aber Tönjes Biehl verbot ihm den Mund. Wie ein auferstandener Hüne aus der Sieverner »Heidenstadt« ragte er über alle empor und hatte die Arme fest ineinander geschlagen, die kühnen Augen starr auf die langsam tickende Hausuhr geheftet, als wolle er sie zwingen, daß sie die Zeit rascher vorwärts schreiten mache. Reemt und Volkmar lehnten, Schulter an Schulter, im Hintergrunde; die wenigen Zuhörer außer ihnen saßen im Halbkreis, und Bauer Sibbern ging selbst von einem zum andern und schenkte die Branntweingläser wieder voll.

»Den Manen Hermanns des Cheruskers!« sagte Eberhard feierlich, trank und bezwang den Brand in seiner Kehle. Die Knechte blickten einander verdutzt an ob des rätselhaften Trinkspruchs. Zu lachen wagte keiner von ihnen: der Junker machte ja ein Gesicht, als müßte er zum Begräbnis. Schweigend taten sie Bescheid, bis auf den Grund ihrer Gläser, in der dumpfen Erkenntnis, daß es sich um etwas Erhabenes handle, und dann herrschte lautlose Ruhe.

Eberhard trat an den Tisch, holte sein Zeitungsblatt hervor, faltete es auseinander und las mit lauter, leidenschaftlicher Stimme:

 

»Neunundzwanzigstes Bulletin der großen Armee.

Molodetschno am 3. Dezember 1812.

Bis zum 6. November war das Wetter fürtrefflich, und die Bewegung der Armee geschah mit dem größten Erfolg. Am 7. trat die Kälte ein; von diesem Augenblick an verloren wir jede Nacht mehrere hundert Pferde, welche im Biwak fielen. Als wir zu Smolensk ankamen, hatten wir schon sehr viele Kavallerie- und Artilleriepferde verloren.

Die russische Armee von Wolhynien stand unserm rechten Flügel gegenüber. Dieser verließ die Operationslinie von Minsk und nahm die Linie von Warschau zu seinem Haupt-Operationspunkt. Der Kaiser erfuhr diese Veränderung am 9. zu Smolensk und mutmaßte, was der Feind tun würde. Wie hart es ihm auch scheinen mochte, sich in einer so schrecklichen Jahreszeit in Bewegung zu setzen, so erheischte dies doch die neue Lage der Dinge.

Am 13. ging er von Smolensk ab und übernachtete am 16. zu Krasnoï. Die Kälte, die am 7. eingetreten war, nahm plötzlich zu, und am 14. bis 16. stand das Thermometer auf 16-18 Grad unter dem Gefrierpunkt. Die Wege waren mit Glatteis bedeckt; die Kavallerie-, Artillerie- und Zugpferde starben alle Nächte, nicht bei Hunderten, sondern bei Tausenden, zumal die deutschen und französischen. Mehr als 30 000 Pferde kamen in wenig Tagen um.«

»Godori! Buur, waar dien mooie Pärde!« rief Wierich, der Großknecht, dazwischen und schlug mit der Faust auf den Tisch. Er murmelte noch eine ganze Weile insgeheim vor sich hin, als Eberhard längst weiter las:

»Unsre Kavallerie war ganz zu Fuß, unsre Artillerie und Transporte waren ohne Gespann. Man mußte eine ziemliche Anzahl unsrer Kanonen, Munition und Mundvorräte zurücklassen und zerstören. Diese Armee, welche am 6. so schön war, war seit dem 14. sehr verändert, beinahe ohne Kavallerie, ohne Artillerie und ohne Transportmittel. Diese Schwierigkeit, verbunden mit einer übermäßigen Kälte, welche plötzlich eingetreten war, machte unsre Lage schlimm. Diejenigen Menschen, welche die Natur nicht stark genug geformt hat, um über allen Wechsel des Schicksals und des Glückes erhaben zu sein, schienen erschüttert, verloren ihren Frohsinn, ihre gute Laune; diejenigen, welche sie über alles erhaben geschaffen hat, bewahrten ihren Frohsinn und ihre gewöhnlichen Manieren und erblickten einen neuen Ruhm in den Schwierigkeiten, welche überwunden werden mußten.«

 

»Stopp inns, Jung!« warf Wierich abermals ein. »Sünd den Minskenschinner denn goar keen Saldoten versturwen bi de gräsige Köhlte?«

»Ofwachten un' stillkes wäsen, Deenst!« sagte der Bauer, sah ihn mit großen Augen an, und der Knecht schwieg mürrisch bis zum Schluß.

 

»Der Feind, der auf dem Wege die Spuren dieses drückenden Ungemachs bemerkte, welches die französische Armee betraf, suchte es zu benutzen. Er umgab alle Kolonnen mit seinen Kosacken. Diese verächtliche Kavallerie, welche bloß lärmt und nicht fähig ist, in eine Compagnie Voltigeurs einzudringen, machte sich durch die Umstände furchtbar.

Am 19. ging die Armee bei Orza über den Dnieper, der Feind am 23. über die Beresina, am 24. warf ihn der Herzog von Reggio auf das rechte Ufer zurück. Nur durch Verbrennung der 300 Toisen langen Brücke fand er seine Rettung und nahm alle Übergänge über die Beresina ein. Dieser Fluß ist 40 Toisen breit; er trieb vieles Grundeis, aber seine Ufer sind mit 300 Toisen langen Morästen bedeckt, welches Hindernis schwer zu überwinden ist.

Am 26. begab sich der Kaiser beim Anbruch des Tages nach dem Dorfe Studzienca und ließ, ungeachtet eine feindliche Armee ihn daran zu hindern suchte, und in deren Gegenwart sogleich zwei Brücken über den Fluß werfen. Der Herzog von Reggio ging kämpfend hinüber, griff den Feind an und trieb ihn zwei Stunden vor sich her. Der Feind zog sich nach dem Brückenkopf von Borisow zurück.

Am 26. und 27. setzte die Armee den Übergang fort.

Eine Brigade der Division Partonnaux, die gegen Abend von Borisow abmarschtert war, verirrte sich, marschierte drei Meilen in falscher Richtung, geriet, von Kälte erstarrt, irrtümlich an die russischen Wachtfeuer und ward aufgehoben und vernichtet. Dieser grausame Mißgriff zog uns einen Verlust von 2000 Mann und 300 Pferden zu.

Am 28. morgens war unsre ganze Armee über den Fluß gegangen und die vereinigten russischen Heere von Wolhynien und der Dwina verabredeten einen Angriff. Das Treffen ward lebhaft; der Feind wollte unsre rechte Flanke überflügeln, allein unsre Weichsel-Kürassiere brachen nach und nach in sechs feindliche Infanterie-Carrées und brachten die feindliche, zu Hilfe kommende Kavallerie in Unordnung.

Am 29. blieben wir auf dem Schlachtfelde. Wir hatten zwischen zwei Wegen die Wahl, zwischen dem auf Minsk und dem auf Wilna. Ersterer geht mitten durch einen Wald und durch unbebaute Moräste, letzterer indessen durch sehr gute Gegenden. Die Armee, ohne Kavallerie, schwach an Munition, schrecklich ermüdet durch fünfzig Tagemärsche, ihre Kranken und Verwundeten von so vielen Treffen mit sich führend, hat das dringendste Bedürfnis, ihre Magazine zu erreichen. Alle verwundeten Offiziere und Soldaten, und alles, was hinderlich ist, Bagage etc. ist nach Wilna transportiert.

Wenn wir sagen, daß die Armee nötig hat, ihre Disziplin und ihr Material wieder herzustellen, sich zu erholen, ihre Kavallerie und Artillerie zu remontieren, so ist dies das Resultat von dem, was wir berichtet haben. Ruhe ist das vornehmste Bedürfnis. Die Generale, Offiziere und Soldaten haben schwer an Kälte und Mangel gelitten. Viele haben ihre Bagage durch den Verlust der Pferde eingebüßt, andre durch die im Hinterhalt liegenden Kosacken. Die Kosacken haben eine Menge einzelner Personen und verwundeter Offiziere, welche ohne Vorsicht die Nachhut bildeten, gefangen genommen.

Bei allen diesen merkwürdigen Ereignissen marschierte der Kaiser immer in der Mitte seiner Garde. Se. Majestät war mit dem guten Geist der Garden zufrieden; sie waren immer bereit sich hinzubegeben, wohin die Umstände es erfodert hätten, allein diese waren immer so, daß ihre bloße Gegenwart hinreichte.

Unsre Kavallerie war so demontiert, daß man die Offiziere, die noch Pferde hatten, vereinigen konnte, um daraus vier Compagnien, jede von 150 Mann, zu bilden. Die Generäle versahen dabei den Dienst der Kapitäns, und die Obristen den des Unteroffiziers. Diese geheiligte Eskadron verlor den Kaiser bei allen seinen Bewegungen nicht aus dem Gesichte.


Die Gesundheit des Kaisers war nie besser.«


 

Eberhard ließ das Blatt sinken. Seine Stimme hatte gegen den Schluß der Vorlesung so geschwankt und versagt, daß er seine Aufgabe kaum zu beenden imstande war. Keines Wortes mehr mächtig, blickte er im Kreise umher. Volkmar verbarg die Augen; zwischen seinen gespreizten Fingern leuchtete das feine Knabengesicht geisterbleich. Seine Brust arbeitete, die Winkel des energischen Mundes flogen bebend auf und ab. Die Knechte zischelten und schoben sich zur Diele hinaus, um in der entlegenen Knechtskammer ihren Gefühlen ungezwungener Luft machen zu können. Nur Reemt blieb mit gesenktem Kopfe neben Volkmar stehen.

»Dat is de Schanne wert!« unterbrach Sibbern das drückende Schweigen. »Biehl, wat seggst du darto?«

»Nicks segg' ick! Aberst dhon will ick wat, so wahr as de Dod nich ofstarwen dheit!« entgegnete Biehl mit rauher Stimme und goß sein Bierglas voll starken Kornschnapses hinunter, als wär's eitel Brunnenwasser.

»Wat denn? Wat kannst du dabi dhon, Naber?«

»Dat will'k mi irst noch beslapen. Reden deent nich, wegsnakken lett sick de Düvel nich, aberst –!« Er schüttelte die Faust über seinem Kopfe und ging mit großen Schritten seiner Wege. Im Hoftor drehte er sich noch einmal um und rief zurück: »Naber! Jung's! Alle Mann upp Deck, wenn't losgeiht! Kann ik mi upp jo verlaten?«

»Dat kannst du, Naber!«

»Sowahr mir Gott hilft!«

»Wir sind teutsche Jünglinge!«

»Upp di ok, Reemt Arend?«

»Upp mi toerst, Buur!«

»Na denn hold't ju p'raat. Ick will fleuten, un denn schölt ji den Düvel das Danzen lehr'n. Go' Nach', Kinners!«

»Go' Nach', Buur!«

»Holt di haart, Naber!«

Die beiden aufgeregten Knaben mochten noch nicht an »Gute Nacht« denken. In ihren dünnen Röckchen und mit den freien Kehlen stürmten sie in Wind und Kälte hinaus; zuerst Tönjes Biehl nach und dann weiter bis zum Deich, wo die Luft salzig daherfuhr und das schwarze Watt sich ebbend zu Füßen der Böschung dehnte; wo der Mond goldrot aus fernen Gewässern aufstieg und der Himmel in Sternen flimmerte. Und nur die Sterne der weihnachtlichen Zeit hörten, was die jungen Geister ihren Göttern und Helden zuschwuren.

Als die zwei gegangen waren, hatte sich Reemt der Zeitung bemächtigt, die noch auf dem Tische neben Eberhards Aschenurne lag. Er schlich hinter seinem Herrn her, der sich anschickte, um der Frau willen, in der Knechtskammer Ruhe zwischen den streitenden Parteien zu stiften.

»Buur, ick heww 'n Bidd an Em. Will He mi twee Daage Verlöff gewen?«

»Kärl! büst du gekk? Wer schall de Pärde waaren?«

»O, dat deit mi Wierich woll to Gefalle orr Addiks.«

»Wohento wullt du denn upp Verlöff, Kärl?«

»Na Sßan Jürdens, Herr. Ick wull usen jungen Domine den Bullenthien bringen. Ick bin em dat schüllig.«

»Worüm denn, du naar'schen Fent?«

»O, nicks nich, Buur. Blot dat Domine mi bistoahn hett, as ick in'n deepen Schliek sät. Dat moch' ick em nu gedenken.«

Der Bauer bedachte sich eine Weile und ging dann auf die Knechtskammer zu, während Reemt, ruhig abwartend, an die Futterkiste trat, um seinen Pfleglingen vor Nacht aufzuschütten.

»Maandag früh büst du d'r wedder!« rief ihm der Bauer über die Schulter zu und verschwand in der Knechtskammer.

»Mienen Dank, Buur!«

Er versorgte seine Pferde aufs beste, ordnete alles Notwendige mit Wierich, der rotköpfig und verplustert aus der Knechtskammer kam, mit Antje im Gefolge, und dann rüstete er sich.

Die warme Friesjacke bis unters Kinn zugeknöpft, die Ohrenklappen der Pelzmütze niedergelassen und die langen »Schöfels« zum Schlittschuhlauf über dem Arme hängend, so machte er sich stehenden Fußes auf den Weg. Eberhards Zeitung verwahrte er zwischen Brust und Hemd.

Er hatte Marten eine Botschaft an die Schulkameraden zurückgelassen, namentlich an den Junker, der ihm gewaltigen Respekt einflößte, und dem er zu sagen bat, daß Domine Claudius das Zeitungsblatt mit sicherer Gelegenheit wieder an seinen Eigentümer senden solle, sobald er's gelesen.

»Laß nur gut sein, morgen stehts in allen Departementsblättern, sie haben mir's in der Druckerei verraten,« beschwichtigte Eberhard, als Volkmar sich unzufrieden über Reemts eigenmächtiges Verfügen aussprach. Sie lagen mitsammen in einer der engen Howandskojen unter einem Gebirge zentnerschwerer, rotgeblümter Federbetten.

»Ich beneide Reemt! Ich wollte, daß ich er wäre! Heute ist meines Stinchens Hochzeitstag,« bemerkte Volkmar verzagten Tones. »Es ist mir doch gar zu bitter –« er stockte und nahm einen Bettzipfel zwischen die Zähne, um so das aufsteigende Schluchzen zu ersticken.

»Tuisko! du flennst? Um solch eine Babiole?«

»Mein Stinchen ist keine Babiole! Du wolltest, daß du solch eine Schwester hättest.«

»Ich habe fünf und alle fünf teutsche Mädchen,« sagte Eberhard Woyta stolz.

»Sie sind doch nicht wie mein Stinchen; die gäb' ich um deine fünf nicht her.«

Eberhard versetzte ihm einen ärgerlichen Rippenpuff, schleuderte die oberste Federdecke zur Koje hinaus und schmollte. Allerdings mußte er wider Willen dem Freunde recht geben, wenn er in Dorum über Volkmars Arbeitsplatz Christinens lieblichen Schattenriß mit den Abbildern seiner fünf teutschen Mädchen verglich. Sie waren allesamt reife und streitbare Walküren und hatten den Bruder geknechtet, wo sie konnten.

»Siegmar, hör' doch! bist du mir böse?« fragte Volkmar, nachdem er notdürftig Herr seines Kummers geworden.

»Nein, falls du mir gelobst, kein Waschlappe zu sein, wenn es mit Gottes Hilfe bald gegen den wütigen Tamerlan zu Felde geht.«

»Zweifelst du an meinem Mannesmute, so sind wir auf ewig geschieden!« entgegnete Volkmar tief entrüstet, hob sich auf den Ellbogen und stieß nun seinerseits den Kameraden derb in den Rücken. »Was hat der wütige Tamerlan mit meines Stinchens Hochzeitstag zu tun? Das sag' mir! Darum verdien' ich den Waschlappen noch längst nicht, weil mich's grämt, daß ich nicht dabei bin.«

»Wir sollen auch in den kleinsten Stücken Männer sein, und ich denke, mein Tuisko ist keine feige Memme, die länger als fünf Minuten wegen eines so überflüssigen Festes flennt, wie es eine Hochzeit heutzutage ist!«

»Weil du's bei deinen fünf Schwestern für überflüssig achtest, braucht's mit meinem Stinchen doch nicht dasselbe zu sein,« beharrte der zähe Volkmar. Eberhard, der Held, begann ernstlich ungeduldig gegen den wehevollen Bundesbruder zu werden.

»So geht es nicht länger fort, Tuisko, du wirst wahrlich den Manen des Cheruskers untreu,« sagte er streng. »Komm, finde dich wieder: laß uns das Abendgebet mit unserm Klopstock tun.«

Das durfte man Volkmar nicht zweimal sagen. Arm durch Arm geschlungen, deklamierten sie mit erhobenen Stimmen und hehrer Begeisterung, trotz der wuchtigen Federbetten und dumpfen Luft, die Weissagungsode des Barden Jungdeutschlands:

»An der Eiche Sprößling gelehnt, von hellen
Düften umhüllt, stand die Telyn, schnell
Erscholl sie von selbst, doch ich ließ
Unerweckt sie mir erschallen.

Da entströmt' ihr rascher Verdruß, da zürnte
Wirbelnd ihr Ton! Eilend ging ich, und nahm
Die drohende, daß sie dereinst
Zum Vergelt nicht mehr verstummte.

Aus des Rosses Auge, des Hufs Erhebung,
Stampfen des Hufs, Schnauben, Wiehern und Sprung,
Weissagten die Barden; auch mir
Ist der Blick hell in die Zukunft.

Ob's auf immer laste! Dein Joch, o Deutschland,
Sinket dereinst – – –«

»Ssakerloot! Ji Slüngels van Jungß! stopp mit joe Babbelee! Morr'n is ook nog'n Daag!« unterbrach Wierichs Zorngeschrei aus der Nebenkoje den Bardengesang, und seine harten Handknöchel donnerten dazu rücksichtslos gegen die trennende Holzwand.

Die beiden Himmelsstürmer verkrochen sich mucksmäuschenstill in die Abgründe ihrer Federbetten, aber nur für ein paar Sekunden; dann balgten sie sich ausgelassen und lachten, einer an des andern Busen, so toll, daß der ruhebedürftige Großknecht urplötzlich als barbeiniges Gespenst vor ihrer Kojenöffnung aufstieg!

»Fräh' in'n Lanne! oder 't giwwt Ribbensmär!«

Damit schloß er ihnen einfach den Schieber vor der Nase, befestigte ihn mit der Krampe von außen, und die beiden Heldenjünglinge mußten vom Himmel bis zur Erde flehen, daß er ihnen nur wieder Luft und Licht gönnte. Nun hatte der Übermut sich ausgetobt, sie schliefen im Handumdrehen ein.

Erst im Traume bedräute sie wieder alles, was sie vor wenig Stunden so mächtig ergriffen und empört hatte.


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