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Siebentes Kapitel.

»Du kannst nich nach oben. Er hat zugeslossen – er sitzt bei seine Predigt zu schreiben.«

»Dat lüggst du, Köster!«

»Das lüg' ich nich! Trientjen! Trientjen, wo bist du denn? Hat Domine sich nich eingeslossen?«

»Je woll, das hat 'r auch, un' du bleibst d'r weg, Gerd Arend.«

»Loat mi dör, Köstersche! Wullt du mir dörloaten, verdammt' Wief? Ick will un' ick mutt bi Domine!«

»Nä, du wanstürigen Kärl, nä!«

»Will ji Orre p'reer'n?«

»Nä!«

»Hör doch, Trientjen, was will 'r denn eigentlich bei Domine?«

»Dat gelld di nicks an, Köster! Lettst du mi dör, Köstersche?«

»Ick segge di: nä! Du bliwwst d'r weg!«

»Den Düvel! Denn schall ju doch gliks! – Dat will' wi doch sehn!«

Stampfen und Wehren unten in der Diele. Leberecht, der hinter verschlossener Tür an seiner Predigt für den morgenden, ersten Adventssonntag arbeitete, horchte auf, schob sein großbeschriebenes Blatt und die Bibel zurück und legte den Bleistift beiseite.

Immer heftiger wurde die Keifstimme der Küsterin, und des tauben Küsters ausdruckslos lautes Reden mischte sich drein.

Nun polterten zwei miteinander treppauf, schurrend und schwer. Das wurmstichige Dockengeländer knackte unter der Wucht der Püffe, mit denen ein Mann den anderen an seinem Vorhaben zu hindern strebte. Jetzt klopfte eine rauhe Faust gegen die Tür der Giebelstube. Als Leberecht den Schlüssel umdrehte und öffnete, stieß Arend den Küster an der Brust zurück, daß der alte Mann ins Taumeln kam, drängte sich zu Leberecht ins Gemach und schloß hinter sich die Tür.

Leberecht ward von Schrecken ergriffen bei des Bauern Anblick. Das Gesicht ungewaschen und unrasiert seit Tagen, die Wangen hohl und die Augen unstet; Kleidung und Haar tropfend und dunstend.

»Domine, Er muß mitkommen – gleich – das Schiff liegt unten.«

»Jetzt? In diesem Augenblicke? Hat es nicht noch eine halbe Stunde Zeit?«

Der Bauer schüttelte heftig den Kopf und nestelte krampfhaft an seinem Kamisol herum: »Wenn das nich gleich sein kann, Domine – –«

Leberecht griff schon hinter sich in den Verschlag nach seinem Mantel. »Beruhigt Euch, Arend, ich komme mit Euch. Was ist geschehen?«

»Domine, sie sind uns auf'n Hacken. Sie wollen Haussuchung halten, durch Blockland un' Jürdensland un' sie wollen die Dissentörs betreiben, die sich stellen müssen un' haben das nich getan. Um Gottes willen bitt' ich Ihn, Domine.«

»Ja, Arend, ja. Laßt mich nur erst in Ordnung den Mantel umhängen und meine Predigt verwahren. Und sagt mir: wie soll ich Euch helfen? Was kann ich für Euren Jungen tun?«

» Dat's Kinnerspeel – dat finn't sick.«

»Habt Ihr denn etwa Grund, die Haussuchung zu fürchten?«

Der Mann lachte hart auf. » Ick? Ick 'n Bangbüx? Nä – nä! Loat s' ankoamen, de Jagdhunn'. Das scheert mich nich, bloß Reemt un' Mutter scheer'n mich. Die Frau liegt auf Sterben. Ja, das tut sie, Domine, un' das elendige Wurm auch. Das is fünf Wochen zu früh gekommen – all das Unglück, Domine, un' die Angst, weil die verdammten Franschen uns an Gut und Blut wollen un' unsern Reemt auf d'r Liste haben. Der muß loskommen – ja, das muß'r! In Trupe sind sie schon, un' denn nach Lilienthal, un' denn hin bei uns. Erbarm' Er sich, Domine, daß der lüttje Wurm die Nottaufe kriegt, un' daß sie den Jungen losgeben müssen. Er kann das machen, Domine. Mit dem Bein, das hilft ja nicks, das is wieder heil. Die Frau kann doch auch nich ganz ohne 'n Christenmenschen zu Sterben kommen.«

Leberecht verschloß seine Bücherschieblade, wendete sich bei des Mannes letzten Worten um und legte ihm erst die Hand auf den Arm: »Arend, besinnt Euch, laßt die Zeit so schwer sein, wie sie will. Seid Ihr kein Christenmensch?«

»Ick? Nä! All lange nich mehr!« Der Bauer deckte seine schmutzige Hand über die finsteren Augen, senkte den Kopf und zog die Schultern hoch. So stand er, ein Bild elender Trostlosigkeit, und wehrte stumm mit der freien Hand ab, als er des Geistlichen Nähertreten fühlte.

»Is Er p'raat, Domine?« fragte er darauf und schob beide Hände mit trotzigem Ruck in die Hosentaschen.

Ohne ein weiteres Wort schlug Leberecht seinen Mantelkragen in die Höhe, setzte die Schirmkappe mit dem festen Kinnriemen auf und ließ die kleine Bibel in die Seitentasche des Rockes gleiten.

»Nun bin ich bereit. Kommt, Arend.«

Unten in der Diele winkte er dem Ehepaare Schweigen zu, ließ dem Torfbauern einen Kalmusschnaps und eine Schnitte Brot geben, und bestand gebieterisch darauf, daß er beides genoß. Der Mensch verschluckte sich daran, so sehr würgte ihn Speise und Trank, so fieberisch war seine Hast, Sankt Jürgen wieder hinter sich zu lassen. Im Laufschritt rannte er Leberecht voraus zum Landungsplatz in der schilfbestandenen Bucht, wo der Schneesturm im dürren Röhricht wühlte und sauste und der Eisgang das starke Boot, einer Nußschale gleich, hin- und herwarf.

»Hat Er sein Buch? Wo alles zum Taufen und Trauen d'rin steht, Domine?«

»Ja, Arend.«

»Un' den Totenschein?«

»Gewiß! Alles hab' ich hier in der Tasche. Nun nur vorwärts –«

»Hat Er denn auch Formelaren zu allen Scheinen mit eingesteckt?«

»Die trag' ich immer in meiner Brieftasche bei mir. Vorwärts nun, wir haben beide keine Zeit zu verlieren.«

»Das Holz hab' ich gleich von Vierhaus mitgenommen,« bemerkte Arend heiseren Tones, als Leberecht um ein Haar über den weißbeschneiten Kindersarg gestolpert wäre, der quer vor der Sitzbank im Boote stand.

»Arend, das ist ein Frevel vor Gott. Euer Kindchen lebt noch.«

»Un' wenn das Kind durchkommt, denn leg' ich die Frau hinein,« sagte der Mann dumpf und stieß seinen Staken wütend gegen eine große Scholle, die ihm ins Fahrwasser segelte: »Ut'n Wegg', segg ick! Die Frau is nur noch 'n Handvoll Knochen,« fuhr er fort, »für die is das kleine Holz auch groß genug – un' auch für alle beide zusammen. Zwei Dodkisten kann ich nich bezahlen; nich mal die eine. Verdienst hab' ich nich, un' sie nehmen uns ja Stück auf Stück weg, von wegen den Oktreu, oder wie das Dings heißt.«

Sie sprachen nicht mehr. Das Unwetter umwehte sie mit großen Schneeflocken und kaltem Schlagregen. Grau und bleischwer drückte das Himmelsgewölbe auf die erregte Wasserfläche mit dem rastlos treibenden Eise, das bald da, bald dort das Schiff bedrohte. Wie in ein dunkles Tuch geschlagen, dehnte sich der Horizont mit seinen verdämmernden Umrissen von Dach und Baum im bösen Nebel. In den Lüften sang der Wind sein schauriges Lied. Kräftig parierte und zermalmte die eiserne Bewehrung des Kiels das andringende und sich stauende Eis. Da und dort rannte das Boot auf und ward eingeengt, zurückgeworfen; seine Seiten ächzten und splitterten und wurden brennend heiß durch die starke Reibung mit den harten, rauhen Massen. Immer grauer ward der Himmel, fein und stetig rieselte der Schnee – kein zweites Schiff zu sehen in weiter Runde, nur im fernen Südosten, nach der Lilienthaler Gegend zu, hob sich ein Punkt wie ein Segelchen von der Luftgrenze empor.

Die Männer arbeiteten scharf; Leberecht führte sein zweites Ruder geschickt, wenn auch Blasen in seinen Händen aufsprangen, die solch ein körperliches Ringen nicht gewohnt waren.

Der Entenfang zwischen den Bracken tauchte auf und verschwand; nun drehte Arend das Boot und gewahrte das winzige Segelpünktchen am Horizonte. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen zu treten bei dieser unvermuteten Entdeckung.

»Gott's 'n Dunner! De Franschen!«

Wie ein Toller zwang er sein Schiff zwischen all den Hindernissen durch, zähneknirschend, wilde Flüche hervorstoßend regierte er sein Stangenruder. Die Pelzkappe flog ihm vom Kopfe ins Wasser, der Ärmel riß ihm aus dem Wamse, das Blut trat ihm unter die Nägel.

Endlich – endlich! Da hatten sie die Dächer von Vierhaus zur Rechten, und hier, seitab, war des Korbmachers Kate. Frau Redlefs, die ein paar Schifferfäuste an den Armen und einen tüchtigen, grauen Stoppelbart ums Kinn hatte, stand schon in der Tür, die Röcke über dem Kopfe, und trabte beim Nahen des Bootes auf klappenden Klönken herzu, um das Fahrzeug ans Ufer zu zerren, wie einen papiernen Kahn.

»Dat's loat wurr'n,« sagte sie, »is dat de Preester?«

Arend nickte und wandte sich zu Leberecht. »Domine, jetzt krieg' Er sein Buch zum Koppleer'n t'recht, fix! fix!« drängte er.

Leberecht, frierend und durchnäßt bis auf die Haut und gerade dabei, sich die Schneemassen aus Mantel und Mütze zu klopfen, überhörte die Worte des Bauern, die halblaut hervorgestoßen wurden. Er begriff nicht, weshalb in Vierhaus Halt gemacht werden wußte, wo es sich um eine Nottaufe in Wührden handelte. Allein – ihm war's recht, einen Augenblick in der Wärme zu stehen, wenn sein Begleiter Zeit hatte.

Der schob den Geistlichen förmlich vor sich her in die Kate. Dort saßen drei Gestalten um das niederbrennende Feuer: der Korbmacher, ein stiller, gedrückter Sechziger, das halbwüchsige Mädchen in der verwaschenen Jacke und dem kurzen Lakenrocke, und der lange Reemt, der sich nach Kräften bemühte, ein freches Kehr'-dich-nicht-dran-Gesicht zu machen. Es gelang ihm nicht. Ein Ausdruck, von Angst und Scham gemischt, kam in seine Augen, als der Prediger seinen ernsten und eindringlichen Blick von einem zum anderen schickte: »Was soll ich hier, Arend?«

»Kopeleer'n – kann He van Doag nich hüren?« ließ Arend den Frager an, zog das Mädchen, das sich kichernd sträubte, herbei, stieß seinen Sohn vorwärts und preßte ihnen die unwilligen Hände ineinander. So mußten sie vor den Geistlichen hintreten.

»Jetz' paß upp, Domine!« Arend trieb Leberecht, den das allmähliche Begreifen dieses Ansinnens geradezu versteinerte, gegen die Wand in die Enge und drückte ihm die Schultern mit roher Gewalt rückwärts: »Hör' Er nippe zu. Mein Reemt kommt nich anders von den Soldaten los, als wenn'r getraut is, un' missen kann ich'n nich zu Haus. Wer soll für die Wichter sorgen, wenn Mutter tot is? Ich? Ich? Mich setzen sie doch in' Turm, wenn ich ihnen nich rein aus'n Dunst geh'. Domine, schlag' Er sein Buch auf. Marsch vorwärts. Jung', faß' Gesche Redlefs an.«

»Niemals!« Leberecht war totenblaß geworden und er hob abweisend die Hand. »Gottes Sakrament ist keine Eulenspiegelei –«

»Wat? Ulenspegelee?! De Not, de bittre Not!« Der Torfbauer fuhr mit der Linken in die Tasche, da wo sein Klappmesser steckte, mit der Rechten preßte er Leberecht von neuem gegen die Mauer. »Woahr' di, Preester! doh! as ick di bidd'!«

»Reemt Arens kann Gesche von meinswegen nehmen,« mischte sich Frau Redlefs starke Stimme ein. »Er soll ihr freien un' denn kann sie sich'n Dienst in der Stadt suchen, bis daß die zwei alt genug sind, daß sie in Ordnung zusammengehen dürfen.«

»Moder – ick bidd' di – ick segge di –« fiel der Korbmacher ein, aber sie schrie ihn an:

»Nicks hest du hier to seggen un' to bidden! Von dein'swegen hätten sie uns schon lange das Dach über'n Kopf weggenommen –«

»Den Segen un' den Schein, Domine! Weiter hat das nichts zu bedeuten!« drängte Arend immer heftiger und versuchte mit Gewalt, die Bibel aus der Rocktasche des Geistlichen zu zerren, während dieser sich wehrte wie gegen einen Straßenräuber. Sie rangen hitzig um das heilige Buch – ein paar seiner Blätter blieben in der Hand des Bauern, zerknittert, zerfetzt und beschmutzt. Plötzlich trat er zurück, ein düsteres Rot stieg in sein entstelltes Gesicht; er strich mit zitternden Fingern die Bibelblätter glatt und bot sie dem Geistlichen hin, dessen Antlitz den Ausdruck leidenschaftlichen inneren Kampfes trug. All seine Worte, all seine Zurückweisungen verhallten vor tauben Ohren.

»Die Not! Die bittere Not!« Das war der Refrain, wieder und wieder. Die aufgehobenen flehenden Hände, die Leberecht überallhin durch den kalten und traurigöden Hausraum verfolgten, wurden zu Folterwerkzeugen vor seinen Augen. Der Wüterich hatte sich in den Bittenden verkehrt.

»Es muß sich ein andrer Ausweg finden lassen, als dieser!« Leberecht zwang die flehenden Hände nieder und ergriff sie dann mit dem festen Drucke des Mitgefühls. »Meint Ihr, daß Euer Elend mir nicht das Herz zerreißt? Könnte mein Blut Euch helfen, nehmen solltet Ihr's –«

»Nä! nä, nich Blut, nich Geld, nich Reden: nur das eine hilft uns heraus. Domine, will Er die zwei nich zusammengeben, so sollen sie zu Schäfer Wiards auskneifen. Der tut das ohne Gewalt un' ohne Buch, un' alle Scheine hat'r, un wenn Er Wiards angibt, so hext der Ihm den schnellen Tod ins Geblüt. Domine, will Er oder will Er nich?«

»Ich kann nicht! Meine Pflicht, mein Gewissen –«

»Denn verzehrt Er seinen Priesterlohn wie'n Schojer, wie'n Dieb! Denn hat Er auf seiner Kanzel gelogen!« schrie der Bauer in neu ausbrechendem Zorne. »Er soll Not kehren, un' is wie'n Stein so hartherzig!« Er brach ab, ballte die Fäuste gegen die Wand und legte seinen wüsten Kopf dazwischen.

Reemt sah auf seinen Vater hin und trat dann schnell an Leberecht heran. Was in des Burschen Seele vorging, das war schwer zu erraten. Er sprach gelassen und bedacht, seine Stimme dämpfend: »Domine, wenn Er uns den Dienst tut und uns kopeleert, so tut Er keine Sünde, sondern eine Rettung. Ohne Seinen Dienst sterben un' verderben wir. Zu Wiards geh' ich nich wieder: ich will 'n rechtlichen Schein un' 'ne rechtliche Hilfe. Wenn Er mir Gesche Redlefs mit Gott'swort an die Hand traut, denn so hol' ich mir die Deern in Ordnung als meine Frau zu Haus, sowie daß ich d'r Brot für habe. Das will ich Ihm auf die Bibel zuschwören, Domine, wenn 'r mir nur hilft, daß sie mich nich nach Rußland schleppen von Mutter un' von den Wichtern weg. Was soll damit werden, Domine? Ich hab' mir das überlegt: gegen Bonebart will ich wohl in den Krieg geh'n, aber d'rfür? Nä! eher versauf' ich mich im Brackwasser!« – – –

Sein Amtseid, die Heiligkeit des Sakramentes, unverrückbar standen sie vor seiner Seele. Aber ihnen gegenüber dehnte sich die schauerliche, russische Steppe. Durch ihre endlosen Schneegefilde zogen gespenstische Scharen hohläugiger Soldaten, und hinter denen drein zog der Würgengel, die schwarze Pest. Keine Phrase, keine Lüge scheuchte ihn hinweg. An Männer und Jünglinge legte er die fleischlose Hand: jammernde Witwen und Waisen, schluchzende Kinderlose folgten seinen Tritten, eines lächelnden Despoten unschuldige Opfer.

Stumm blickte er dem Sohne des Gesetzesverächters in die Augen. Weder klug noch mutig waren sie, aber ehrlich und zuverlässig. Wo lag der rechte Weg? In der Weigerung der rettenden Tat, weil sie nicht mit den kirchlichen Rechtsbegriffen zusammenstimmte? oder im Verneinen der gewiesenen Formel, weil es ein Leben zu schonen, eine unsterbliche Seele zu gewinnen galt? Sah Gott nur die Tat vor seinem Richterstuhle an und nicht auch ihren Ursprung?

Er stand inmitten des freudlosen Raumes, die Hände vor seinem Angesichte gefaltet, und flehte ohne Worte und ohne Unterlaß um einen Strahl der Erleuchtung.

Als er sein Antlitz erhob, weil es um ihn her totenstill geworden war, stand Reemt vor ihm, das Mädchen an der Hand. Hinter ihnen die drei Alten. Die Männer hatten ihre Kappen gezogen, die Frau blickte zu Boden, und so warteten sie miteinander.

»In Gottes Namen denn –« sagte Leberecht und schlug die Bibel auf. Als müsse er sich vor seinem eigenen Gewissen gerechter hinstellen, wählte er den klarsten und klassischsten Einsegnungstext der christlichen Ehe: »Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.« Da keine Ringe vorhanden waren, zog die Frau ihren silbernen Reifen für Reemt von der großen Hand, und Redlefs streifte den seinen für die Tochter vom dünnen Finger.

Als der kurze Akt seinen Schluß gefunden hatte, setzte sich Leberecht mit dem Rücken gegen die Anwesenden ans blinde Fenster und schickte sich an, den Trauschein und die Eintragung fürs Kirchenbuch zu schreiben, allein weder Tinte noch Feder fand sich, und den Stift hatte er in der Verwirrung des Aufbruchs von Sankt Jürgen vergessen. Die Frau wußte sich zu helfen: sie kratzte Herdruß und Wasser in einer irdenen Scherbe zusammen, Gesche lief an ihren längst verstaubten Schulsack und holte einen gespaltenen Gänsekiel heraus. Den schnitt Leberecht notdürftig – das mechanische Tun war seinen halbbetäubten Sinnen eine Wohltat – und so schrieb er und setzte seinen Namen mit unsicherer Hand unter das Dokument.


Sobald sein letzter Federstrich getan, nahmen Vater und Sohn den Geistlichen in die Mitte wie ihren Gefangenen und verließen mit ihm die Kate. Der Bursche drängte heim nach Wührden, Arend steckte den Trauschein zu sich in Hast, ohne Dank. Nicht einmal die Tageszeit bot er denen zum Abschied, die jener Trauakt mit ihm verbunden hatte. Sein Auge schweifte suchend über die graue Wasserfläche hin: das Franzosenschiff lag sicher schon an einem der Wührdener Höfe! Nur nicht an seinem – was sollte dann davon kommen? Er sah sie in seinen Runkeln wühlen und seinem sterbenden Weibe und den Kindern mit den geschmuggelten Waffen den Gnadenstoß geben! »Ve'damm« mi vörwaards!« trieb er Reemt an.

Gesche Redlefs lief ihnen nach bis zur Landungsstelle. Sie faßte des langen Burschen herabhängende Finger: »Reemt! bliew nu doch hier! Wennehr kümmst du wedder, Reemt?«

Er drehte das Gesicht von ihr ab und wand seine Hand aus der ihrigen, eine Antwort gab er ihr nicht. »Hole di wacker, Deern –« weiter sprach er nichts. Als er gewahrte, daß Leberechts Füße ihn nur mühsam zu tragen schienen, griff er ihn um die Schultern und half ihm so ins Boot.

»Dat will ick Em ewig gedenken, Domine!« sagte er.

Leberecht saß auf seinem alten Platze, vor sich den kleinen Sarg mit dem Bahrtuche von Schnee auf dem schrägen Deckel. Er ließ den Wind brausen, das Eis gegen das Schiff krachen, wie sie wollten. Entsetzen bebte in seiner Brust; nicht nachzudenken wagte er über seine heutige Amtsübung. Jäh mit hineingerissen sah er sich in diesen Abgrund des Leidens und der Sünde, schwärzer als zuvor klaffte der Spalt zwischen ihm, dem strafwürdigen Apostaten, und seinem heiligen Berufe.

Am Nachmittag langten sie in Wührden an. Da schaukelte das Franzosenboot vor dem ersten Hause des Dorfes.

Arend schulterte den Sarg, setzte ihn am Treppenwinkel nieder und wies Prediger und Sohn heftig von der Diele fort. Sie sollten marschieren und nach der Frau sehen und aufpassen, ob das Kind noch Atem in sich habe: er mache den Sarg dafür zurecht: fix, fix! weg von der Diele oder – »woahrt ju!« Damit begann er mit fliegenden Händen in seinem Runkelhaufen zu wühlen.

Drinnen welch trauriges Bild. Die arme Mutter lag schon fast wie eine Gestorbene in ihrem Bette, langgestreckt, das Gesicht fremd und spitz, die Augen halb geschlossen. Neben ihr ein Wachspüppchen in Lumpen gewickelt, und auf dem Stuhle ein schmutziger Napf voll Wasser.

Leberecht tauchte die Finger hinein und benetzte die kalte Stirn des Kindchens. Er meinte, es müsse unter dieser Berührung verschieden sein, aber während der kurzen Taufformel hob es noch einmal die Lider von den gläsernen Augen, zuckte mit den schwachen Händchen hin und her und das Lebensfünkchen erlosch. Die kleinen Geschwister schlichen herbei und starrten Leberecht aus ihren hübschen Blauaugen an. Als er sich zu ihnen niederbeugte und ihnen mit gedämpfter Stimme vom Tode des Brüderchens redete, begannen sie zu weinen und liefen zum Vater auf die Diele. Der jedoch jagte sie fluchend in die Dönns zurück, und sie verkrochen sich bange hinter Mutters Bett.

Leberecht setzte sich zu der Sterbenden und hielt ihre steife Hand. Eine unnatürliche Ruhe war über seine Seele gekommen: die Stille vor dem Sturm. Diese Nottaufe am Todbette einer armen, treuen Mutter, die mit zögernden Schritten dem ewigen Frieden entgegenwandelte, verwischte für den Augenblick in ihm den Eindruck der Vierhauser Zwangstrauung. Reemt tappte auf seinen zerrissenen Socken in der Stube hin und her, nahm sich des ganz verstörten Kinderkleeblattes an, machte Feuer im Öfchen und stellte sich dann stumm zu Füßen des mütterlichen Bettes, Leberecht gegenüber. Es arbeitete in seinen kräftigen Zügen, die Mundwinkel zitterten, die Augen standen in Wasser. Als ihm schließlich die Tränen hervorschossen, wischte er sie mit dem Handrücken von seinen Wangen, blickte eine Weile mit dem Ausdrucke größter Hilflosigkeit und Traurigkeit in des Geistlichen Gesicht und beteuerte noch einmal: »Ick will Em dat ewig gedenken, Domine –«

Indem kam plötzlich Arend mit dem offenen Sarge auf der Schulter herein. Er trug ihn behutsam wie eine Schatztruhe, aber fast wäre er damit an der ausgetretenen Lehmschwelle gestolpert. Der Schweiß stand ihm vor der Stirn, und die Glieder schlotterten ihm am Leibe.

»Se sünd d'r – de franschen Hunne! fix! – gau! – helpt mi doch!«

Reemt sprang zu, tödlich erschrocken. In wilder Hast stülpten sie die bruchfällige, halbgeleerte Torfkiste um; der Inhalt stäubte empor und kollerte auf dem Estrich umher, und das vermorschte Kistenholz ächzte unter der Last des kleinen, hochauf mit Stroh gefüllten Sarges. Nicht rechts nicht links sah der Bauer. Er nahm das tote Kind aus dem widerstandslosen Arme seiner Mutter, und drückte die Hand des Geistlichen, die ihm wehren wollte, mit brutaler Kraft gegen die Bettkante nieder. Dann legte er das Kleine mitsamt seinen Lumpen in den Sarg aufs Stroh, hieß eines der andern Kinder die Schürze abbinden und deckte damit die Leiche zu bis unter die zarte Brust. Über der schob er die marmornen Händchen ineinander.

»Lecht!« herrschte er die Seinigen an; der Novembertag warf kaum mehr einen Dämmerblick in das enge Gemach.

»Lecht!« wiederholte er, deutete auf den Sarg, horchte offenen Mundes nach den sakrierenden Stimmen der Franzosen, keinen Steinwurf mehr von seiner Wurt entfernt, lief hinaus, ohne die Kammer zu schließen, und stellte sich wartend in der Diele auf. Da nahm er seine Mistforke aus der Ecke und trat neben den Stand mit der abgezehrten Kuh darin.

»Nu koamt an, Hollunken!«

» Ouvrez, ouvrez! tout! tout!« – – Da waren sie!

Der Bauer redete keine Silbe. Kalt und frech blickend schlurrte er, immer seine Mistgabel schulternd, vor dem halben Dutzend säbelrasselnder Buntröcke her. Als sie ihn barsch bedeuteten: » mettez ça de côté!« sah er sie giftig an:

»Nä! dat dho'k nich, dat's min Arbeitstüg –« und schlurrte weiter.

Keller und Boden durchsuchten sie zuerst und fanden nichts. Arend verbiß sein höhnisches Lächeln, als sie in den Runkeln und Tabaksblättern stocherten und Kuhraufe, Mistgrube und Küchenschrank aufs Korn nahmen. Sogar die Asche des Herdes ließen sie nicht in Frieden erkalten, sondern rührten ihren untersten Grund mit ihren Säbeln auf, bis sie das Husten ankam. Dann Arends Schlafstelle in der Koje, Reemts Schütte Stroh nahe der Haustür; nirgends das Geringste. Und nun die Dönns. Da wurde das kalte Bauerngesicht so fahl, wie der graue Schneehimmel draußen über dem Wasser.

Reemt hatte Torfstaub und Brocken in die dunkelste Ecke gekehrt, und jetzt stand er mit seinen Geschwistern um den Sarg, den Leberecht eben eingesegnet hatte. Das Flämmchen der blechernen Stehlampe hinter dem Kopfende beschien flackernd das weiße Gesichtchen des toten Kindes, und die kranke Frau in ihren dünnen Kissen röchelte schwer.

Die Franzosen traten einer nach dem andern verstummend von der Schwelle zurück. Leise zogen sie die Säbel heran, daß sie nicht klirren konnten, blieben, die Hand am Tschako, stehen und gingen auf den Fußspitzen wieder hinaus, ohne der kleinen Leiche den Rücken zu kehren. Feinde waren sie, grausam in dem, was ihnen Pflichterfüllung hieß, allein auch Menschen waren sie und zwei unter ihnen Familienväter.

Sie verließen, ohne ihren Fund getan zu haben, das Haus. Arend stand, noch immer die dräuende Mistgabel im Arm, hinter seinem dickschopfigen Weidenbaume, der voll krächzender Nebelkrähen saß, und spähte den Schergen nach, bis ihr Schiff glücklich weiter schwamm, auf Vierhaus zu. In ihrer augenblicklichen Verblüffung, angesichts der schlichten Totenfeier, hatten sie Reemts Militärangelegenheit für heute nicht berührt. Das kam nun nächstes Mal. Allein es war doch eine kurze Galgenfrist.

Nun fort mit den Waffen in den Keller. Mit dämonischer Sicherheit hatte der Bauer sein Spiel ausgegeben und gewonnen, wenigstens den ersten Stich.

Er kehrte elastischen Schrittes in die Kammer zurück, den Kopf hoch, die Hände in den Taschen. Die größte Gefahr, die ihn persönlich am Leib und Leben bedrohte, ließ ab von ihm. Er kommandierte Reemt zum ferneren Aufpassen vor die Haustür und die verschüchterten Kinder auf die Diele. Milch hatte er nicht, Brot fand er nicht: sie sollten die Mäuler halten oder Reemt fragen. Nur den Geistlichen, der am Bette sitzend die erkaltenden Hände der Frau zwischen seinen hielt, konnte er mit keiner Manier loswerden. Fortschicken durfte er ihn nicht – er hatte ihn sich ja selber von Sankt Jürgen herüber geholt, mit Mühe und Not, weg vom Predigtschreiben.

Es mußte auch so gehen, und das, was er vorhatte, beschäftigte ihn zu dieser Stunde weit mehr, als der Gedanke an die Zerstörung seines Heims durch den Tod.

Er trat an den Sarg, hob das Kind, mit dem Stroh zugleich, in einen Arm heraus und zerrte mit der andern Hand den Rappersack ans Licht, in dem die Waffen versteckt lagen. Das Lämpchen blies er aus und kehrte Leberecht den Rücken, nachdem sein unruhiger Blick scheu über die Sterbende hingeglitten war.

Bebte ihm die Hand? Das Stroh und die starre, kleine Leiche hielt er krampfhaft unter dem Arme, der Sack entglitt ihm und schlug rasselnd am Estrich auf. Die Frau im Bette stieß ein schwaches Stöhnen aus, der Geistliche sprang vom Schemel in die Höhe und heftete seinen Blick voll Grauen auf die blasonierte Degenklinge, die sich im Fall durch den losen Rapper gebohrt hatte. Dann reckte er die Hände gen Himmel und preßte sie gewaltsam gegen seine Schläfen.

Ein Frevel über den andern gehäuft! Das tote Kind und das unredliche Gut – sein Mund hatte sie zusammen eingesegnet mit den Worten der Heiligen Schrift – –!

Der Bauer drohte ihm aus fanatischen Augen und mit geballter Faust: »Woahr' di, Preester!« Er raffte den Sack vom Boden auf, Leberecht fest im Blick behaltend:

»Domine! Domine! Denk' Er an seine erste Predigt vor sieben Wochen! Er hat uns selber gesagt, wie wir das machen sollen!«

Weder Zustimmung noch Verneinung brachte Leberecht über die Lippen. Ihm war's wie einem, dessen Hirn schläft, um plötzlich zu schwerer Krankheit aufzuschrecken. Er fühlte nichts mehr als ein regelmäßiges, volles Pochen in seinen Schläfen, einen tiefen, dumpfen Schmerz in den Augenhöhlen: jenen Schmerz, den Frauen und Kinder ausweinen können.

Gleichgültig sah er zu, wie der Vater sein armes Kleinstes hastig wieder im Sarge zurechtlegte, einen Augenblick am Bette der Kranken stand, seinen Sack über der Achsel, und dann hinausging. Zur nämlichen Minute trat Bauer Ahlers' Frau, Arends Schwester, mit Reemt in die Kammer. Sie hatte sich zur Nachtwache bei ihrer Schwägerin bereit erklärt und den hungrigen Kindern ein Töpfchen Milchsuppe und einen halben Laib Roggenbrot von Haus mitgebracht.

Schweigend legte Leberecht einen Taler auf den Tisch, nahm seinen Mantel um, den die Nässe schwer niederzog, und ging, an Arend vorüber, von Reemt geleitet, zum Schiffe hinunter. Arend kam ihm nach, streckte ihm die Hand hin und sagte: »Mienen Dank, Domine.«

Leberecht hob die Rechte, aber er fand in sich keine Kraft, sie dem Bauern zu reichen. »Gott steh' Euch bei« – ein andres Wort wußte er nicht.

»De hett nicks mehr mit mi to dhon!« entgegnete der Bauer und wandte sich zu seinem Hause zurück.


Reemt fuhr den Geistlichen nach Sankt Jürgen hinüber. Der Abend brach herein, ein blasser Vollmond hatte sich durch die schweren Wolken gekämpft und das Schneegestöber vertrieben, als sie die Insel erreichten. Da trug, von der Kirche her, das Wehen des Windes feierliche Orgelklänge und klares Singen an Leberechts Ohr:

»Es ist eine Ros' entsprungen
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen:
Von Jesse kam die Art,
Und hat ein Blümlein bracht,
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht – –«

Rührend und andächtig schwebte die Weise dieses schönsten und zartesten aller Weihnachtslieder dem langsam herannahenden Schiffe entgegen. Aber sie tröstete den Mann des Gotteswortes nicht, der seine Seele zum Tode wund in sich empfand. Sie senkte keine Heilsbotschaft hinein, sondern nur die verschärfte Erkenntnis des eigenen Unwertes.

»Advent! Wie soll ich dich empfangen und wie begegn' ich dir?« flüsterte er mit versagender Stimme vor sich hin und schaute den fratzenhaft zerrissenen Wolkengebilden nach, die an der fahlgoldenen Mondscheibe vorüber getrieben wurden vom starken Winde, angstgepeinigt, finster, wie er selbst war.

»Wie soll es enden? Was hab' ich mir auf mein Gewissen geladen?« fragte er sich weiter und gab keine Antwort auf den Abschiedsruf Reemts, der durch Treibeis und Dunkel in sein heimisches Elend zurückruderte.

»Hilft uns aus allen Leiden,
Rett't uns von Sünd' und Tod –«

sang die Stimme zur Orgel, aber eine andre Stimme rauschte und raunte im dürren Uferschilf:

»Weh' deinem Tempel und weh' seinen Dienern,
Götterverstoß'nen Empörern!
Priesterlos zittre im Ozean, Eiland –«


Auf schwankenden Füßen flüchtete er vor dieser Stimme uferaufwärts in seine kleine, altersgraue Inselkirche.

Da drinnen schaute das Mondlicht durch die grünlichen Rautenscheiben des Fensterchens hinter der Orgel, und dort oben saß Christine einsam in der Kälte und spielte und sang die geliebten Weihnachtslieder ihrer Kindertage.


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