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Neuntes Kapitel.

Er kehrte zu ganz unerwartet früher Stunde wieder heim und stürmte wie ein Wirbelwind in die gemütliche Eßstube der Pastorei zu seinen drei Lieben, nachdem er Christine droben im Giebel des Küsterhauses nicht gefunden hatte.

»Da bin ich zurück, da habt ihr mich! Das ist eine Tat! Eine Fülle der Neuigkeiten! Halb von Sinnen komm' ich!« Er hob Christine mit seinen starken Armen vom Boden empor, als wäre sie nur ein papiernes Püppchen, und küßte sie feurig. » Du hast recht gehabt, Herzlieb: gesegnet, tausendmal gesegnet sei der ›Marschall Kork‹, der wackere preußische General! Kommt doch, daß ich's euch zeige, eins nach dem andern, und dann sagt mir, daß es ein wahres Wort von der Kanzel gewesen ist: ›Die Nacht ist vergangen!‹«

Sie scharten sich begierig um ihn her an des Vaters Lehnstuhl, und nun holte er sein Zeitungspaket hervor, zerrte die Umschnürung davon ab und breitete Blatt für Blatt auf dem Fenstertischchen aus. Zuerst die große Tat an der Spitze der Zeitung vom neunzehnten Januar: (– »und wir haben einen vollen Monat in unserm alten Sauerteige dahingelebt, ohne eine Ahnung davon!«) – die Konvention zwischen York und dem Russengeneral Diebitsch, am dreißigsten Dezember in der Poscheruner Mühle unweit Tauroggen.

»Losgesagt von der fränkischen Waffengenossenschaft das preußische Hilfskorps – ohne Königsbefehl. Der eine eiserne Mann nimmt die riesenhafte Verantwortung auf seine Schultern, heißt seine Soldaten ruhig und völlig neutral bleiben und gelobt selbst dann noch volle zwei Monate lang keinen Schwertstreich gegen seine neuen Bundesbrüder zu tun, wenn einer der beiden Monarchen die Anerkennung des Bündnisvertrages verweigern sollte. Lest, was er hier an den französischen Marschall, Herzog von Tarent, schreibt: ›Wie auch das Urteil seyn mag, welches die Welt über mein Benehmen fällen wird: ich bin darüber wenig besorgt. Die Pflicht gegen meine Truppen und die reifste Überlegung diktieren es mir, und die reinsten Beweggründe, wie auch der Anschein immer seyn mag, leiten mich.‹ Das nenn« ich eine deutsche Mannestat!«

»Und nun? was nun weiter?«

»Nun hat der preußische König,« berichtete Leberecht, »den verhaßten Machthabern gegenüber den lebhaftesten Unwillen ob dieser gottgesegneten Verräterei an den Tag legen und die Verhaftung des General York befehlen müssen. Er hat ihn auch, zum besseren Scheine, seines Postens entheben lassen, und den General Kleist an seine Stelle gesetzt, aber so gewiß wie die edelste und reinste deutsche Frau dieses Königs Gattin und Leidensgefährtin gewesen ist bis an ihren Tod, so gewiß schlägt sein Herz doch voll Dank für den kühnen Bahnbrecher, und er wird's ihm lohnen – er – unser ganzes Volk! Verhaftet ist Kork nicht worden, und seine kräftige Hand wird auch in der scheinbaren Ungnade und Tatenlosigkeit nicht vom Schwertgriff ablassen. Und jetzt lest hier das fränkische Entsetzen über das preußische Wagstück; lest, wie der Kaiser Hunderttausende in all seinen Provinzen auszuheben befiehlt: alte Jahrgänge und verfrühte. Das ganze Elend der Massenkonskription beschwört er wieder über uns herauf. Aber es wird, es kann nicht dazu kommen; denn hier hab' ich das Beste: eine preußische Zeitung vom dritten Februar. Offen, mit begeisterten Worten, wird die Blüte der Männer zur Wehr und Abwehr gegen Frankreich einberufen, York hat unter den Militärpflichtigen der Provinz Preußen ruhig für seine Sache weitergeworben, und König Friedrich Wilhelm ist in Breslau, um freier handeln und seine Getreuen erwarten zu können, während in Berlin die französischen Generäle und Schranzen ab und zu reisen, wie die Narren in der Posse!«

Sie griffen nach den Händen, die so wundervolle, tröstliche Nachrichten gebracht hatten; sie küßten ihn und umarmten einander und lachten, und vergossen Tränen des Dankes für die Erlösung, obwohl zwischen ihr und der Gegenwart noch endlose Meilen beschwerlichen, blutgetränkten Weges liegen würden, wie sie sich erschauernd sagen mußten.

Dennoch riß Leberechts vollströmender Enthusiasmus die beiden ruhigen Alten und die junge Frau gänzlich mit sich fort. Die kriechenden, von käuflichen Bedientenseelen verfaßten Ergebenheitsadressen deutscher Städte, deren Anerbietungen von so und so viel »montierten und equipierten Reutern für des erhabensten und allgeliebtesten Kaisers große Armee«, waren ihnen zu Spott und Verachtung und nicht mehr zu Qual und Schmerz. All' dieses feile Gewürm! Der mächtige deutsche Sankt Michael sollte es mit dem Erzdrachen Abbadon gleichermaßen vernichten!

Leberechts Augen glühten wie feurige Kohlen, als er das aussprach. Er wendete sich vom Tische fort und stand am Fenster allein, während die übrigen noch lebhaft redeten. Seine männliche Gestalt streckte sich unwillkürlich straffer und straffer, er drückte die flache Hand hoch über sich gegen die Fensterscheibe, als hätte sie sich zum Schwur bei den flimmernden Gestirnen da draußen aufgehoben, und er meinte, die drei am Eßtisch müßten das verräterische, wilde Hämmern seines Herzens unter dem schwarzen Rocke hören.

Welch stolze Luftschlösser baut solche Begeisterung. In den Himmel ragten sie schon hinein, und Leberecht, der Bauherr, verschmähte Speis' und Trank über seinem Planen und Türmen. Am liebsten hätte er die ganze Nacht unter Gottes Sternhimmel verschwärmt, wie damals die sechzehnjährigen Klopstockanbeter auf dem Wurster Deiche, immer am Ufer hin und her irrend, oder über das silberne, weite Eis hinweg in stille, duftige Fernen schwebend. Allein die schlichte Wirklichkeit berührte ihn sacht, in Gestalt der warmen Hand auf seinem Arme, und mahnte mit leisem Drucke: »es ist Ruhezeit.«

»Und jetzt predige ich auch im Teufelsmoor; gleich morgen schreib' ich deshalb an Harm Finke,« sagte er, im Treppaufgehen, zu Christine.

Wie gesagt, so getan; der Küster selbst besorgte den Brief und kehrte mit der Nachricht zurück, daß Domine Claudius am Vierundzwanzigsten erwartet werde. Bauer Finke wollte ihn selbst holen. Aber es kam anders, als geplant wurde.

Im Laufe des Einundzwanzigsten brachte die lahme Botengängerin endlich wieder Nachricht aus Dorum. Zwei umfangreiche Briefe sogar, einen von »Meßterohm«, dem Herrn Oberlehrer, an Domine Torbeeken; »zu eigenen Händen«, den andern von »Muschü Volkmar« an Domine Claudius: »Vertraulich«. Wieder mit sympathetischer Tinte geschrieben.

»Ein langes Schriftstück; großgemalte Buchstaben, orthographische Schnitzer in Menge, holperige Sätze, und doch ein Prachtbrief.« So sagte Leberecht beim Lesen, und ließ Christine, als die Hälfte seines Ich, mit einsehen, ohne sich eines Vertrauensbruches schuldig zu fühlen.

»Wüßt' ich nicht, teuerster, unbekannter Schwager, daß ich's mit einem echten, teutschen Patrioten zu tuen hätte, so schrieb ich Ihnen heute kein Wort; denn ehender, daß ich meinem Stienchen einen Stoß in ihr frommes Hertz austheilen mögte, ehender biß ich mir die Zunge im Hals ab! Vor dem Vater zu schwärmen, wie ich's muß (soll ich nicht drann ersticken), verbiethet mir der kindliche Respekt. Durch Reemt Arend indeßen weis ich wohl, daß Ihnen die Thaten, die man jetzt im preußischen, teutschen Lande zu thuen beginnt, auch als ein edeles Feuer zum Schmieden des germanischen Schwerdtes erscheinen müssen! Der Herr Oberlehrer wird wider mich angeben beym Vater, daß ich mich mit keiner Gewalt in die Kirche will zwingen laßen, so lang dort noch, per order du diangter, für den Schänder am teutschen Recht gebethet wird! In Ketten werden sie mich doch nicht schließen können und hinschleiffen, und von freyen Stücken thue ich es nicht: Der Jork, der ist mein Mann, beßter Schwager, der Ihrige doch auch? Der und der Lehensvetter von meinem Eberhart Woyta, der Alexander Dohna, der sich für die Landtwehr gemeldet hat, ehr, als alle andern Adeligen Junker. Wiewohl Er Seynes Königs Ungnade besorgt, läßt Er sich nicht davon abhalten. Mein Eberhart meint, es werde auch an die Knaben, von fünfzehn an, apeliert werden, und er werde auch mitziehen als Fahnenjunker. Und ich, ich muß die verdammte Bäncke weiter drücken; denn von meinem Herren Papa ist die Erlaubniß nicht zu erreichen, wie von Eberhart seynem.

»Ich bitte Sie recht sehr, beßter Schwager, daß Sie mir wieder einmahl schreiben, und mir auch mein Stienchen wieder gut machen, wegen deßen, daß ich nicht zur Kirche gehn will, und reden Sie mir recht schön beym Vater daß Wort, daß er nicht so strenge verfährt, sondern daß teutsche Herz in meiner Brust bedenckt.

»Ich leg' Ihnen ein lustiges Blättgen bey, daß man meinem Eberhart kürtzlich von Breßlau geschickt hat. Wir haben's dreyfach, Sie dürfen's dreist behalten, und keine Roth mehr es vor den Schufften zu hüthen! In Breßlau singen's die Jungens auf den Strassen, den gallischen Würgern stracks in die Ohren! Ich wollte wohl, daß ich's gedichtet hätte, aber bis dato hab ich immer nur unsern hehren Kloppstock für mein erstes Vorbild in der Poetick gehalten. Wenn Sie es dem Vater zeigen mögen? Ich wag's nicht, seyn Alter macht mich fürchten! Ich laß ihn und die liebe Mutter und mein liebes Stienchen schönstens grüßen. Zum Vater fühl' ich, wie der Jüngling in Kloppstocks Vaterlandsode:

Ungestühm fährt er auf um Mitternacht,
Glühend ist seyne Seele,
Die Flügel der Morgenröthe wehn, er eilt
Zu dem Greis und saget es nicht –

»Nein, ich kann's ihm nicht sagen! Ihnen sag' ich Alles. Sie, Sie stehn mir vor, wie Hermann aus Walhall; herrlich, groß, ewig jung! Wen mein Stienchen liebt, den denk' ich mir so.

»Er hat mir wegen dem lumpigten Kirchengehn Arest in meiner Kammer aufgebrummt. Weil ich nun faule Zeit hab, schreib ich so plauderhafft!« –

»Den goldnen Jungen muß ich kennen lernen, und unserm Vater enthalt' ich die Freude an diesem Kernbrief nicht vor!« rief Leberecht entzückt. »Komm also, mein Stienchen, und trag' ihm sein Heidentum nicht nach; gib mir einen Kuß für ihn, und höre geschwind das kecke Gereimsel, aus irgendeiner Breslauer Studentenfeder, darauf will ich mein Leben verwetten!«

»Diebitsch, du Reuße,
York hat, der Preuße,
Ein Talglicht entzündet,
Friß du's am einen End',
Weil er's am andren brennt,
Bis in der Mitten Ihr
Schön Euch verbindet!

Diebitsch, du Reuße,
Hilf dem Geschmeiße
Den Garaus zu machen!
Korsischer Kronenglanz,
Gallischer Mummenschanz,
Jetzt sollt Ihr Zwey nicht mehr
Gleißen und lachen!

Diebitsch, du Reuße,
York schreit, der Preuße,
Nimmermehr: »Werda, Feind?«
Trinkt dir in Poschernu
Brüderlich Wodki zu –
Schande dir, so du's nicht
Ehrlich gemeint!«

»Wir müssen ihn beim Vater ernstlich in Schutz nehmen,« fuhr Leberecht fort, nachdem er seiner Frau das Gedicht vorgetragen hatte. »Der vornehmste Kern steckt in all der Wortflegelei und der Sentimentalität. Und, bei Gott! ich fühl's dem jungen Geiste nach, daß er kein Falsch in sich bergen mag. Wenn ich bedenke, was mich all diese Zeit das Kanzelgebet für des Kaisers Majestät gekostet hat! Jedesmal einen Dolchstich mitten ins Herz!«

Während sie noch hin und her sprachen und überlegten, ob es richtiger sei, dem Vater Volkmars Brief ganz oder im Auszug mitzuteilen, trat die Mutter zu ihnen ins Stübchen, mit verstörten Mienen, des Lehrers Sündenregister über den hartköpfigen Schlingel unter der Mantille tragend.

»Einzigsten Kinder, ihr müßt helfen, und euch uns zuliebe, auf ein paar Tage trennen,« sagte sie kläglich, während Leberecht kopfschüttelnd den schulmeisterlichen Quartbogen durchstudierte. »Mein Stinchen ist gut und zieht derweile wieder in ihr Jungfernstübchen zu uns; und Sie, bester Sohn, reisen in Torbeekens Auftrag, mit der Mallepost oder eigenem Geschirr, nach Dorum und setzen den Querkopf zurecht. Ach, dies Kreuz mit dem lieben, bösen Jungen!«

»Seien Sie nicht betrübt, Mutterchen,« tröstete Leberecht, »in dem Jungen steckt mehr und Besseres als ein eigensinniger Querkopf. Lassen Sie mich's bedenken. Morgen haben wir Montag; am Dienstag würd' ich da sein und am Donnerstag oder Freitag zurück. Dann müßt' ich die Predigt im Teufelsmoor um eine Woche hinausschieben. Unlieb ist mir's: ein Mann, ein Wort. Aber die Notsache in der eigenen Familie steht voran. Ich will also gleich das Schreiben an Harm Finke aufsetzen und befördern lassen; Christine mag mir mein Felleisen rüsten, und Sie, beste Mutter, sagen dem Vater einstweilen, daß er sich der Unruhe begibt. Ich spreche abends vor und hole mir meine Instruktionen.«

Sehr, sehr sorgenvoll empfing der alte Herr seinen dienstwilligen Schwiegersohn.

»Daß ich bei dir keine Fehlbitte tun würde, das wußt' ich,« sagte er und heftete einen langen, ängstlichen Blick in den Leberechts. »Was mich quält, ist nur der eine Gedanke: ob es weise ist, einen Hochflieger zum andern auszusenden?«

»Hochflieger verschmähen wenigstens niedrige Bahnen; bei ihnen heißt's: ›durch Bitternis zu den Sternen empor,‹« entgegnete Leberecht, »ich meine, dies Bewußtsein sollte Sie in etwas beruhigen. Mein Mannes- und Sohneswort darauf, daß ich kein unedles Vornehmen, keine unwürdige Handlung bejahen und befördern werde; aber ich bitte Sie auch zum voraus, etwaige erschwerende Umstände in Rechnung zu ziehen, lieber Vater. Dem Lehrer will ich zum Guten reden, und find' ich keinen besseren Ausweg, so bring' ich den unartigen Burschen mit hierher und versuch' es selber mit dem Erziehungsexperiment, bis man ihn aufs Bremer Gymnasium tun kann. Wär' Ihnen das genehm?«

»Ich lege es vertrauensvoll in deine Hände,« gab Torbeeken zurück, »wer weiß, ob es nicht so das Geratenste sein wird. Dämpfe einer die unüberlegte Jugend, wo das Feuer so stark unter dem Kessel brennt!«

»Nur verraten Sie Christine den Plan von Volkmars möglicher Hierherkunft noch nicht,« bat Leberecht. »Vorfreude, die hernach in nichts zerrinnt, ist allzu jämmerlich. Meinen Brief von dem Jungen laß ich Ihnen da; und wenn Sie dem Schlingel auch zuerst beim Lesen zürnen, der helle, klare Ton seiner Deutschgefühle wird schließlich den Unwillen schweigen machen und darüber hinausklingen. Und Sie, gutes Mutterchen, nehmen mir meinen Schatz in Ihre Obhut.«

Christine gab ihrem Manne, der nun innerhalb einer Woche zum zweitenmal auf Reisen ging, in der sonnigen Frühe des Montagmorgens ein kurzes Stück das Geleit. Nur bis dahin, wo die glatte Eisfläche hinreichend mit Schnee bedeckt und der Pfad ganz sicher war.

»Kein Schlittschuhlaufen mehr, wenn ich nicht bei dir sein kann,« sagte er und hieß sie umkehren, dicht vor Vierhaus, wo die ersten Wasserbracken und das zerfetzte Rohrdach des Entenfanges in Sicht kamen. Dort erst schnallte er sich den Stahl unter die Sohlen und eilte von dannen in wiegendem Laufe. Sie stand auf dem hartkörnigen Schnee und starrte ihm nach, wie er dahinflog, groß und schlank, das Haupt stolz getragen und ein wenig zurückgeworfen, als wollte der Mund die freie Gottesluft in durstigen Zügen eintrinken. Einmal hielt er an, blickte sich um und schwenkte die Kappe; dann ging's vorwärts; der Kragenmantel flatterte, das Felleisen schlug ihm lustig gegen die Hüfte. Wie ein fahrender Schüler war er so von weitem anzusehen.

Kleiner und kleiner ward er, und sie stand noch immer, an die nämliche Stelle gebannt, mit einem rätselhaften Gefühle von Angst und Weh im Herzen und in den gespannten Zügen, und verfolgte ihn, mit äußerster Anstrengung ihrer Augen, bis er, ein bloßes Pünktchen noch, hinter dem Ritterhuder Vordeiche verschwand.

Als sie sich dann zum Rückweg wendete, schrak sie heftig zusammen; ein streifender Douanier, das Gewehr über der Schulter hängend, kam ihr entgegen und blieb vor ihr stehen. Wohlgefällig betrachtete er die schöne, junge Gestalt in der knappen Kaszawaika, das blaue Flortüchelchen um die goldbraunen Haare geknüpft, und schnarrte sie mit einer galanten Redensart an. Sie war sonst keine von den Furchtsamen, als er aber die lange Hand ausstreckte und ihr schäkernd unters Kinn griff, schrie sie hell auf und schlug nach ihm. Er hatte augenscheinlich nur einen kleinen Zeitvertreib im Sinne gehabt; denn er lachte verdutzt und folgte ihr nicht weiter, als sie mit zitternden Knien und brennenden Wangen in den Schutz der Insel zurückjagte. Eine lange Weile schluchzte und weinte sie oben in ihrer friedlichen Einsamkeit und rief Leberechts Namen, bis sie sich endlich soweit gefaßt hatte, um, ihr Bündelchen in der Hand, zu den Eltern überzusiedeln.

Von ihrem Abenteuer verriet sie ihnen nichts; sie schämte sich nachträglich ihrer Feigheit. Aber eine unangenehme Folge hatte es doch. Der Douanier erschien mit zwei Gendarmen im Gefolge nachmittags auf der Insel, und dort hielten sie, unter dem nichtigsten Vorwande, scharfe Haussuchung in Küsterwohnung und Pastorei. Sogar die Kirche ließen sie sich aufschließen und stöberten den verjährten Staub unter Altar und Gestühl auf. Was sie suchten und vermuteten, ob Deserteure, ob Schmuggelwaren, das verrieten sie nicht; offenbar lag dem Ganzen bloße Schikane zugrunde. Sie begnügten sich damit, Schrecken unter den harmlosen und hilflosen Leuten zu verbreiten, jenen bösartigen Insekten gleich, die im Tode noch ihren Stachel in der Wunde lassen.

Christine erschien den Eltern ganz verschüchtert und verändert. Ihr Franzosenhaß äußerte sich urplötzlich in krankhafter Heftigkeit und übertriebenen Furchtgefühlen. Sie war durch kein Zureden zu bewegen, allein das Haus zu verlassen, und die bloße Nennung von Leberechts Namen trieb ihr Tränen in die Augen. In ihr verödetes Giebelparadies stieg sie jeden Morgen, um dort zu ordnen, aber immer wußte sie's so zu machen, daß die Mutter sie begleitete. Und während die emsige Hand der flinken, alten Hausfrau mit Besen und Staubtuch arbeitete, saß Christine auf dem Söller im Sonnenschein und hatte das Gesicht in den Händen: »Mein Daheim, mein liebes Daheim ohne ihn!« flüsterte sie mehrmals, weder ihren Satz zu Ende bringend, noch auch die dunkle Furcht, die in ihr nagte, erklärend. Der Mutter Vernunftpredigten prallten an ihr ab: »Eine Trennung von vier oder fünf Tagen, Stinchen, ist denn das erhört? Was wolltest du angeben, wenn dein Mann Soldat wäre und einberufen würde? Danken mußt du auf den Knien für dein sicheres Los!«

Dann sprang Christine vom Söller auf und hob und rückte die Möbel und stieß, wie von Lufthunger gepackt, die Flügel des Fensters auseinander, ohne der Blumen zu gedenken.

»Ja, ja! Sie haben recht!« rief sie und wand der Mutter das Reinigungsgerät aus den Händen, »geben Sie her, lassen Sie mich's tun! Ich will nicht mehr weinen.«

Aber sie weinte immer von neuem, sobald der leiseste Anstoß die Tränen ins Rollen brachte.

Die beiden Alten schoben es auf die Trennung, so ganz im Beginn des Eheglückes; auf den gewaltigen Eindruck der jüngsten Zeitereignisse und die allgemeine Gemütsabspannung. Sie hegten und pflegten ihr Kind mit zärtlichster Sorgfalt. Den besten Trost jedoch, den Gatten, vermochten sie ihr nicht vor Ablauf der gewiesenen Frist zurückzuschaffen.

»Ein paar kurze Tage;« – wiederholte die Mutter, »und es ist doch für deinen einzigen Bruder!«

Zum erstenmal, seit sie sich entsinnen konnte, antwortete Christine ihr heftig: »Lassen Sie's sein, für wen es mag, wär' ich nur mitgereist! Säß' ich nur nicht allein, ohne ihn!«

Der Vater hatte sich in den letzten Wochen, während seine Emeritierung schwebte, auf die Abfassung einer weitläufigen Kirchenchronik, von Olims Zeiten her, geworfen und suchte die Tochter beim Nachschlagen und Kommentieren zu beschäftigen. Sie aber verwirrte sich über der Arbeit. Einmal, als er sie milden Tones ermahnte und ermunterte, nicht so grundlos verzagt zu sein, umklammerte sie ihm unversehens mit ihren Armen den Hals, anstatt der Antwort.

»Vater, Vater,« brachte sie endlich hervor, »helfen Sie mir! Sie sind beide in den Krieg gegen die Franzosen, mit den Preußen! Glauben Sie mir's; ich fühl' es, – ich weiß es!«

Sie vergaßen ihre Chronik und drängten sich stumm und bebend aneinander.


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