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Zehntes Kapitel.

Grau und trübe dämmerte der erste Adventssonntag herauf. Noch war Leberecht mit dem Küster nicht von Wührden zurückgekehrt. Um die Kirchzeit zog die Küsterin den Glockenstrang und läutete, schärfer und kürzer als gewöhnlich; denn sie war eine dürre, frostige Kreatur und verließ ungern ihren Herdschemel und ihre grobe Netzstrickerei.

Nur vereinzelte Kähne arbeiteten sich durch das unsichere Fahrwasser zur Insel hin. Der Wind schwieg. Lautlos und stetig rieselte der feine, regengemischte Schnee aus den Wolken erdenwärts, und die Luft war so dick und schwer, daß jedes Geräusch im Kreise unter einer Dämpfung lag.

Die Kirchgänger kamen von Moorhausen und Niederende herüber; kalte, wortkarge Menschen. Einer unter ihnen ward geflissentlich von all den übrigen gemieden, Bauer Bolling aus dem alten Meierhofe vorn in Niederende. Er trug seinen schwarzen Gottestischrock; auch seine Frau, eine schöne, lebhafte Person, war schwarzgekleidet, und die breiten Haubenspitzen fielen ihr, tief wie ein Schleier, über die zu Boden geschlagenen Augen. Gleich einer Gefallenen ging sie abseits von ihren Genossinnen, und ihres Bauern hochmütiges Gesicht war gelb und faltig, als leide er an der Leber.

Die Küsterin wies die Ankommenden in die Pastorei: Domine Torbeeken halte heute den Gottesdienst.

»Dat's mi bewußt,« sagte Bauer Bolling, schritt als erster über die Schwelle, und die übrigen folgten zischelnd. Auch als sich in der durchwärmten Wohnstube die kleine Gemeinde um Domine Torbeekens Lehnstuhl scharte, schoben sich die Leute eine ganze Weile umeinander herum, ehe es Ruhe ward. Niemand wollte neben dem gemiedenen Ehepaare stehen, und der alte Herr blickte aus seinen milden Augen fragend von einem zum andern. Endlich trat Stille ein: Christine spielte auf dem Fortepiano den Choral zum Anfang.

Indes ihre Stimme vermochte nicht, sich zur gewohnten Klarheit und Fülle emporzuschwingen. Sie sah verwacht aus, und die Sorge ließ sie nicht los.

Torbeeken sprach nur ganz kurz nach Verlesung des Evangeliums von Christi Einzug nach Jerusalem. Christinens Gedanken waren bei des Geliebten Predigt, droben im Schubfach seines Arbeitstisches:

»Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist aufzustehen vom Schlaf, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir es glaubten.

»Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbeigekommen; so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts –«

Hätte sie diese machtvolle Predigt doch holen und laut lesen dürfen! Den Worten des Vaters lauschte sie nur mit halbem Ohre.

Als der Gottesdienst beendet war, trat Bauer Bolling zu Torbeeken, drehte den Hut zwischen den Händen und verlangte mit bedrückter Stimme Beichte und Abendmahl für sich und sein Weib.

In dieser Zeit einem solchen Wunsche Weigerung entgegenzustellen, wäre dem alten Geistlichen als eine große Sünde erschienen. Und der Mann, der bat, sah aus, als bedürfe er dringend einer tröstenden Wegzehrung.

Christine ging auf ihres Vaters Geheiß sofort in die kleine Sakristei hinüber, nahm die heiligen Geräte aus dem Wandschränkchen, füllte vom Malvasier in das hohe Zinnkännchen und legte Hostien auf den Teller. Das ordnete sie in des Vaters Studierstube mit Kelch und brennendem Lichte auf dem Tische, stellte das alte Kruzifix aus der großelterlichen Erbschaft dazu und winkte die übrigen Teilnehmer des Gottesdienstes heran. Die aber hatten sich flüsternd in den Hintergrund des Wohnzimmers zurückgezogen; denn Bauer Bolling verlangte das Abendmahl für sich und seine Frau allein. Jedermann außer ihnen beiden solle hinausgehen. Mamsell Stinchen auch. Sie brauchten keine Musik zu dem, was sie vorhätten.

Einer nach dem andern verließ auf den Zehenspitzen die Stube. Domine sah doch gar zu hinfällig aus. Es dauerte die Leute, daß er da für die Bollingsgesellschaft noch allein reden und herumhantieren sollte.

Christine hieß sie in die Küche treten und verteilte ihnen den Rest Ingwerbier und die wenigen Scheiben verwendt' Brot vom gestrigen schönen Abend. Die Bauern ließen sich die ungewohnte, leckere Kost gern gefallen und schmatzten und schlürften gemächlich, ohne überflüssige Worte zu verlieren. Lange wagte das Mädchen nicht nach dem Wührdener Brande zu fragen aus Furcht, etwas Schreckliches zu vernehmen, und als sie schließlich fragte, fand sie ihre bangen Vermutungen durch die Antwort bestätigt.

Kurz und lückenhaft war der Bericht. Hier ein erbitterter Satz, da eine lakonische Bestätigung, dort ein Einwurf, der nur erraten ließ, und doch, was alles schloß er in sich!

»Dje, Mamsell, die Franschen haben das Feuer bei Arend angelegt.«

»Oder er selber –«

»Hä, Gesche! wo kannst du dat woll seggen? Glöw Se ähr dat nich to, Mummsell Torbeekens!«

»Nä, Mummsell, ich weiß das ganz genau.«

»Du büst'r goar nich bi wesen!«

» Ich aberst. Die Franschen haben gleich hinter Vierhaus ihre Kummeroaden getroffen, un' die sind von Scharmbeck un' Osterholz gekommen, da haben sie auch fisentiert.«

»Nä – glöw Se ähr dat jo un' jo nich, Mummsell Torbeekens, de sünd in't Nedderenn wesen.«

»Dje, Mamsell Stinchen, in Niederende, das is auch wahr; Gesche weiß d'r nicks nich von. In Niederende, da hat einer an die Franschen verraten, daß bei Arend in Wührden allerhand Stock un' Eisen zu finden sein soll.«

»Das sollen die Böllings wohl wissen, wer das verraten hat.«

»Dje, un' da sind sie wieder um nach Wührden gefahren, zwei Schiff voll Fransche, un' vor'n Wind – höllschen fix –«

»Un' haben alles unten im Keller gefunden.«

»Arend, den haben sie gleich mit Stricken zusammengebunden un' ins Schiff, un' weg damit.«

»Dje, un' das Haus in Brand, un' die Frau tot, un' das Kind tot, Mummsell Stinchen.«

»Die Kujone, die können das nich düll genug machen.«

»Die andern Arends-Wichter? Dje, zwei davon will Bollings zu eigen annehmen. Das muß woll 'n Bewandtnis damit haben. Wat seggst du, Marten?«

»Hä, ich meinte man, daß Bollings das höllschen hild gehabt hat mit den Gott'stischgehn, daß'r Domine Torbeekens noch inkummendiert, ganz allein, als ob'r König wär'.«

»Dje, was kann Bollings nich warten, bis Domine Claudius wieder bei Weg is.«

»Ist er denn noch in Wührden?« fragte Christine.

Der Berichterstatter zuckte die Achseln und genoß seinen Schluck Ingwerbier tropfenweise.

»Davon is uns nicks bekannt, Mummsell Torbeekens. Sie haben drei Mann von uns nach Wührden geschickt zum Löschen, aber die haben sie gar nich landen lassen. Den einen hat so'n Schandoare zu fassen gekriegt un' hat'n mit'n blanken Säbel 'n paar übergezogen, daß ihm heute noch der Kopf brummt –«

»Wir können uns jetzt nich weiter damit betun.«

»Man bloß das wollen wir, daß Bollings von seine Stelle wegzieht. Er kann je meinswegen nach Amerika gehn.«

»Da sind dje lauter solche –«

»Wir wollen keine Angebers bei uns im Ort haben.«

Fünf Minuten später trat das Ehepaar nach empfangenem Abendmahl aus der Stubentür. Der Bauer blickte gerade vor sich hin und hielt den Hut in der herabhängenden Hand; die Bäuerin hatte das Gesicht mit der Schürze bedeckt und weinte zum Steinerbarmen.

Alle die übrigen zogen sich, wie vor zwei Aussätzigen, bis ins Innerste der Küche zurück. Nur einer von ihnen, der noch kein Wort geredet und auch nicht mit gegessen und getrunken hatte, trat dem Paare in den Weg und spie aus vor dem Manne.

»Du infoamten Swinegel!« sagte er laut und setzte herausfordernd die Faust auf die Hüfte. Aber der Bauer erwiderte kein Wort. Er zerrte seine Frau hinter sich drein und verließ mit ihr die Pastorei.

Bald darauf sah Christine das Schiff der beiden abstoßen. Einsam, von großen Ruderstößen getrieben, schwamm es dahin. Rasch und dicht nebeneinander gereiht folgten ihm die andern Boote: gut dressierte Jagdhunde hinter dem Fuchse drein.

Christine ging vom Küchenfenster in des Vaters Studierstube zurück. Er lag auf seinem steiflehnigen Sofa, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Das Tischchen mit den Abendmahlsgeräten hatte die Pastorin seitab gestellt und mit einem Tuche verdeckt. Der Duft des alten Weines mischte sich mit dem kränklichen Geruche des Kamillentees, zu dessen Genuß die Pastorin umsonst versucht hatte, den Gatten zu überreden.

»Stinchen,« sagte sie kläglich und zog das blasse Gesicht der eintretenden Tochter zu sich nieder, »es ist wirklich zu arg! Was soll ich mit euch beiden tun? Einer noch jämmerlicher als der andre! Was grämt ihr euch denn fruchtlos um das, was ihr nicht ändern könnt? Ist das christlich? Ich wollte, dein Bräutigam wäre wieder da und redete dir gut zu, daß du mir die Liebe tätest und tränkest. Heutzutage soll man die nützliche Gottesgabe nicht leichtsinnig fortschütten, und Kamillentee ist für alle Leiden gut. Sieh, nun weinst du schon wieder! Sei ein folgsames Kind, Stinchen, und trinke.«

Christine verbiß ihre aufquellenden Tränen, küßte der Mutter die Hand und trank schweigend die Tasse leer. Während die Mutter sich an den Nähtisch setzte und, des Sonntags ungeachtet, Volkmars Wäsche auszubessern begann, ordnete die Tochter nebenan in der Studierstube geräuschlos umher. Sie trug das Abendmahlsgerät wieder in die Sakristei hinüber, verschloß es und ging von der Kirche zur kleinen Bucht hinunter, um auszuspähen, ob sich noch immer das heimkehrende Boot nicht zeige. Vergebens. Durch das Flockenstäuben sah sie die verödete Wasserfläche sich dehnen bis gegen den farblosen Horizont hin.

Durchfröstelt begab sie sich nach einer halben Stunde zum Vater zurück. Die Verbindungstür nach der Eßstube hinein war geschlossen, und er lag still gegen die Sofalehne gewendet, wie vorher.

Christine setzte sich neben ihn und bemächtigte sich einer seiner gefalteten Hände. Er drückte die ihre, zum Zeichen, daß er nicht schlafe, und als sie mit gebrochener Stimme bat: »Vater, sprechen Sie doch ein Wort zu mir,« da kehrte er ihr das Gesicht zu, richtete sich mühsam auf und schloß sie in die Arme.

»Mein Kind, für mich alten Mann ist diese vergängliche Welt zu böse und zu stürmisch geworden,« sagte er leise. »Ich bin nur glücklich, daß ich in ihr eine junge Manneskraft an deiner Seite weiß, wenn auch –«

»Wenn auch? Was ist es, Vater? Sprechen Sie sich ganz aus, enthalten Sie mir Ihre Gedanken nicht vor.« Er schwieg, aber sie ließ ihn nicht los. »Was fürchten Sie? O, legen Sie doch keine Zweifel in mein Herz!«

»Ich fürchte nichts. Der, den du liebst, ist von guter, deutscher Art, aber ich bitte Gott wieder und wieder, daß er ihm hilft, seine Kraft nur im Geiste unsres Berufes auszunützen: mit Friedensgedanken; zum Frieden derer, die ihm im Amt anvertraut sind.«

»Wir stehen mitten im Streit, teurer Vater; lassen Sie ihn den Frieden suchen, wie er es muß, glauben Sie an ihn,« antwortete sie und preßte die väterliche Hand gegen ihr Herz. »Entzögen Sie ihm Ihr Zutrauen, so wär's mein Tod; denn was Sie ihm nehmen, das nehmen Sie mir. Ich liebe ihn, o, wie sehr lieb' ich ihn!«


Am Mittwoch, als die Schneeschmelze von Dächern und Rinnen troff und der Tropfenfall eintönig plauderte, brachte Bauer Ahlers mit seinem Knechte zu Schiff den Sarg von Wührden herüber, der die sterblichen Überreste seiner armen Schwägerin und ihres Neugeborenen enthielt. Dreimal vierundzwanzig Stunden hatten sie, trotz der französischen Drangsalierung, über der Erde gestanden, offen, wie sich's gebührte, und nun sollte der Sarg ruhig in der Kirche bleiben, vor dem Altare, bis Domine Claudius zurückkam, um ihn einzusegnen.

»Wennehr kümmt Domine t'rügg?« fragte die Küsterin, die den beiden mit ihrem triefendnassen, kranzlosen Sarge die Kirche aufschloß.

»Dat gelld Se nicks an.«

»Dat gelld mi doch wat an; de Köster is d'r bi.«

»Ick weet d'r nicks van.«

»Wo is denn Sien Swoager Arend, Buur?«

»De is doar, wo 'e säker is –«

»Un' de Wichter?«

»Dat finn't sick –«

Weiter war keine Auskunft zu erlangen, zum Verdruß der Küsterin.

»Dat's 'n leeget Lewen in Wührden,« damit verabschiedeten sich die Sargträger stehenden Fußes wieder, und die Küsterin watete durch den aufgeweichten Pfad zur Pastorei, um ihren mangelhaften Bericht abzustatten.

»Sie sollte oben in Domines Stube alle Tage ein kleines Feuer anlegen, Köstersche,« sagte Christine, deren frisches Gesicht durch Sorgen und Nachtwachen seine Rosen eingebüßt hatte. »Wenn er zurückkommt, ist sonst alles durchkältet.«

»Use Torf geiht all upp't Lest', Mummsell,« entgegnete die Küsterin, und Christine füllte ihr die Schürze voll, hinter dem Rücken der Mutter. Sie wollte in ihrer Stube kein Bröckchen mehr heizen, nur Leberecht sollte ein warmes Zimmerchen vorfinden. –

Erst am Donnerstag ward ihre Sehnsucht gestillt. Nachmittags, als sie spinnend auf dem Fenstertritt gegen Süden saß, erkannte sie den herannahenden Norwegerkahn schon in weiter Ferne. Allein er kam nicht von Wührden, sondern aus der Stadtrichtung, von Mittelbauersiel herauf. Entgegeneilen durfte sie dem Boote nicht. Die Mutter verweigerte es; das Wetter war zu grausig. Als jedoch die Dämmerung sank, ohne daß Leberecht in der Pastorei erschienen war, litt es Christine nicht länger in ihrer sehnenden Unruhe daheim. Durchs Hintertürchen lief sie im strömenden Schneeregen zum Küsterhause hinüber, um dort wenigstens zu erfahren, wie es den beiden Männern ergehe. Die Küsterin hängte in einem der leeren Viehstände durchnäßte Kleidungsstücke zum Trocknen auf die Leine, der Küster saß, in eine zerschlissene Steppdecke gewickelt, zähneklappernd am Herde.

»Das sind 'n paar höllischen saure Tage für Domine un' mich gewesen, Mamsell,« sagte er mit seiner lauten, klangarmen Stimme. »Ich hah' mich all wieder 'n bäten verhoalt, aberst Domine, der is man slecht auf'n Schick. Löschenwollen un' nich Löschenkönnen, un' denn die Franschen mit ihr großes Maulwerks, das is Domine zuviel geworden. Un' denn das mit Gerd Arend. Soll ich mal lunkohren, ob Domine Sie seh'n will, Mamsell Stinchen? Moder, froag du em.«

Leberecht jedoch hatte Christinens Kommen schon von oben gehört und rief an der Treppe nach ihr.

Sie flog hinauf zu ihm und drückte sich, nicht mehr Herrin ihrer Empfindungen, ungestüm in seine Arme. Sie folgte ihm ungeheißen in sein Stübchen und sah dort, in hausmütterlichem Instinkte, vor allen Dingen nach dem Feuer im Öfchen. Er hatte sich im Sessel zurückgelehnt und wehrte ihr matt, als sie an seiner Seite niederkniete und seine Hände um ihr eigenes Gesicht legte. Sie glühten und zuckten wie in heftigem Schmerze an ihren kühlen Wangen, und nun erst sah sie beim schwachen Dämmerlichte des scheidenden Tages, daß ihre Innenflächen voller Brandwunden waren. Ein Schreckensruf entfuhr ihr. Welche Veränderungen auch in seinem Gesichte! Versengt das schöne, volle Haar, ein dunkler, breiter Schorf quer über die Stirn, die geröteten Augen wimperlos, die dichten, regelmäßigen Brauen zu aussetzenden Bogenlinien entstellt. Ach, und wie schwermütig sein Blick, wie leidend der Ausdruck seines Mundes.

»Ich bin krank; es ist wohl besser, ich lege mich nieder, mein gutes Kind,« sagte er. »Frage mich noch nicht nach dem, was ich erlebt habe. Wissen sollst du alles, du mein geliebter Trostesengel – später. Mir brennt der Kopf, geh, laß mich lieber allein. Selbst dich vermag ich jetzt nicht zu ertragen.«

»Komm mit mir zu uns, laß mich dich pflegen,« versuchte sie zu bitten, er aber schüttelte abwehrend den Kopf. »Einsamkeit, nur Einsamkeit für heute,« wiederholte er, nahm sie einen Augenblick auf seine Knie, um sie mit seinen trocknen, heißen Lippen zärtlich zu küssen, und verschloß hinter ihr die Tür, als sie endlich und widerwillig von ihm ging. Es währte eine ganze Weile, bis er sie langsam treppab steigen hörte, aber er legte den Kopf aufs Fenstersims, kurz und rasch atmend, und regte in Übermüdung nicht Hand noch Fuß.

Allein er schätzte sein Bedürfnis nach Einsamkeit doch zu hoch. Als es völlig dunkel geworden war und die ganz unbeschützte Helle der Talgkerze seinen entzündeten Augen empfindlich weh tat, löschte er das Licht und heftete seinen Blick auf die winterliche Finsternis da draußen. Das Fieber in seinen Adern ließ ihn nicht schlummern; die feuchte Kälte, die zwischen den schlechtgefugten Teilen des Fensterrahmens eindrang, durchschauerte ihm Mark und Bein. Immer verworrener und schreckhafter wurden seine Gedanken. Er durchlebte die furchtbaren Wührdener Nachtszenen noch einmal, und die regnerische Dunkelheit erschien ihm wieder erhellt vom roten Schein lodernder Flammen.

Er sah Arends blutrünstige Hände an den Stricken zerren, mit denen die Gendarmen ihn gefesselt hatten; er hörte des Unseligen heiseres Schreien nach seinem Wamse, in dem Reemts Trauschein steckte: »De Schien! Junge! woahr di den Schien! Kärl, Kärl! dat Poppier!« Vorhin, als er die englischen Waffen im Keller verborgen, hatte er das Wams ausgezogen und wieder anzulegen vergessen. Nun verbrannte es mit all dem übrigen. Leberecht war selbst zur Rettung auf die Kate zugestürzt, das Feuer leckte ihm Gesicht und Hände, die Gendarmen rissen ihn zurück und drohten und fluchten wüst. Er hörte das Jammern der vier kleinen Mädchen, die sich in Todesangst an Cord Ahlers' Rock hängten und weinten: »Moder! Moder schall koamen!« Mutter konnte nicht kommen. Da trugen sie ihre Leiche, starr gestreckt, kaum notdürftig verhüllt, in Hast aus dem brennenden Hause, das Kindchen im Sarge hinterdrein. Wohin damit? Irgendein barmherziger Mitmensch nahm sie in Obhut, schaffte sie hinweg aus Brand und Rauch und rief dem tobenden Gefangenen unten am Landeplatz zu: es solle für ein rechtliches Begräbnis gesorgt werden. Von Wurth zu Wurth eilten Kähne hin und her, wildes Rufen, Flehen, Geheul der Angst. Und all den Greuel übertönend das überlaute, welsche Kommandieren, dazwischen das unheimliche Brausen und Knistern der Flammen, das Rauschen des Wassers um die hastigen Ruder. Zu Leberechts Gesicht und den verbrannten Händen bohrte dazu der scharfe Wundschmerz. Von einem wendete er sich zum andern, um Einsicht, um Mitleid, aber sein Französisch ließ ihn vor Aufregung und Empörung im Stich, und um ein Haar wäre auch er gebunden und abgeführt worden, wenn er nicht eben zu rechter Zeit an sich gehalten hätte.

Dann hatte plötzlich eine schnarrende Stimme nach Reemt Arend gerufen. Nirgends eine Spur von ihm. Die schnarrende Stimme verlangte des Flüchtigen Signalement. Jeder der Anwesenden gab, wie auf Verabredung, eine andre Beschreibung des Entwichenen: ein rauhes Lachen ward irgendwo laut, aber der Lacher ließ sich nicht auffinden. » Vous nous paierez ça! Tous de vous – tous, tous! sacré nom d'un chien!«

Nun war die Hälfte der fremden Quäler in Wührden zurückgeblieben, um Strafe zu vollziehen; die übrigen hatten ihren Gefangenen brutal ins Schiff gestoßen, daß er fiel und hart mit dem Kopfe aufschlug, den Sack mit den gehehlten Waffen warfen sie hinterdrein und fort!

Da, wenig Rudersiöße vom Dorfe entfernt wo sich die große Höveder Bracke dehnte, hatte sich urplötzlich ein grimmiges Geschrei unter den Franzosen im Schiff erhoben.

» Aux armes! tirez! tirez!« und sie feuerten einem schwimmenden Menschen nach. Sie trafen ihn; da – dort: Blitz und Knall; der Schwimmende tat einen markerschütternden Schrei – noch eine Salve: er bäumte sich hoch auf, die Wasser spritzten, rücklings versank er in der gurgelnden Tiefe der Bracke. – – –

Auf Leberechts Stirn perlte kalter Schweiß. Er erhob sich und begann hastig in seinem engen Stübchen hin und her zu schreiten, obwohl die Füße bleischwer unter ihm waren. Nicht entrinnen konnte er diesen Bildern des Entsetzens. Alles war umsonst getan worden, womit er sein heiliges Amt entweiht hatte unter dem Drucke der Not: die Zwangstrauung; die Einsegnung des unredlichen Gutes. Der Freveltat war die härteste Strafe auf dem Fuße gefolgt.

Wenigstens nach Kräften hatte er dann das Seine
getan, um den Stachel des grausamen Unheils abzustumpfen.
Er hatte die beiden Leichen einsargen lassen
und nach der Insel vorausgeschickt, die ganz verwaisten
Kinder selbst mit sich zur Stadt genommen und für ihre
Unterbringung im lutherischen Waisenhause gesorgt.
Ja, es war ihm sogar mit unendlicher Mühe gelungen,
Reemt Arend von der Konskription frei zu machen.
Zwar, seine Haft mußte er für den Fluchtversuch verbüßen,
ohne Gnade; dann aber würde er sich selbst
wieder angehören, wenn er sich sofort den Behörden
stellte. Wo aber war er? Vogelfrei streifte er im Lande
umher und verschlimmerte seine Sache.

In der Stadt hatte Leberecht die neuesten Zeitungen gelesen. Den unklaren Siegesbericht von Malo-Jaroslawecz, in dem ein Satz dem andern zu widersprechen schien, namentlich in der ungeschickten, deutschen Übersetzung des französischen Bulletins; die ewigen Tiraden über das herrliche Wetter und des herrlichen Kaisers unverwüstliche Gesundheit, die oberflächliche Erwähnung der unbequemen Kosakenpulks und dann ein grelles Streiflicht, das die nackte Wahrheit blitzgleich ahnen ließ: hundert Chirurgen seien durch Posen marschiert, um sich unverzüglich zur großen Armee zu begeben.

Wieder zeigte ihm sein fieberndes Hirn lange Züge verwundeter Soldaten, die, elend und lebenssatt, durch die trostlose Steppenwüste dahinschwankten, ihren berittenen, wohlgepflegten Generälen nach.

Eintönig schlug der Regen von draußen gegen seine Fenster. Eine Angst, eine Traurigkeit sondergleichen bemächtigte sich seiner Seele, und das Gefühl körperlichen Leidens überwältigte ihn mit einem Male.

Fast ohne daß er sich des »Wann« und »Wie« bewußt worden war, ohne gepocht oder gerufen zu haben, stand er plötzlich, ganz in seinen Mantel gewickelt, inmitten der Wohnstube des Pastorenhauses und streckte die zitternden Hände, nach irgendeinem Halt tastend, ins Leere.

Mutter und Tochter sprangen auf, schoben ihre Spinnräder beiseite und geleiteten den halb Bewußtlosen um den großen Tisch herum zum Kanapee. Er flüsterte ein paar undeutliche Dankesworte und kauerte sich, wie ein Schwerkranker, ohne Willen und Rücksicht, in der Sofaecke zusammen. Das milde Licht der Schirmlampe schwamm vor seinen trüben Blicken, und er fühlte das wortreiche Bedauern der Pastorin über sich hinfluten wie die Wasser eines seichten Stromes.

Sie eilte, in Mitleid aufgelöst, zur Küche an ihr Allheilmittel, die Teebüchse, während Christine ihre eigene Wolldecke aus dem Schlafstübchen holte. Geschickt hüllte sie den Frostbebenden hinein, befreite ihn vom Mantel und löste ihm das enge Halstuch. Dann brachte sie ihn in eine bequeme Lage, alles mit sanfter Gewalt und ohne Zimperlichkeit, als sei sie nicht seine Braut seit vier kurzen Tagen, sondern seine Gattin seit der gleichen Zahl von Jahren.

Nach und nach erholte er sich ein wenig unter der ungewohnten Sorge und Pflege weicher Frauenhände. Der alte Herr, der ganz vertieft in seine Chroniken am Schreibtisch der Studierstube gesessen hatte, kam herein, mit Hilfe von Krücke und Wand, setzte sich vorsichtig neben seines Helfers improvisiertes Krankenlager, und unter mannigfachen Stockungen und Wiederholungen berichtete Leberecht in großen Umrissen von seinen jüngsten Erlebnissen.

Eine Erbitterung, die er nicht zu besiegen vermochte, tobte immer heftiger in ihm: er sprach wie ein Aufrührer, bis ihn die Mattigkeit förmlich niederschlug. Schließlich übermannte ihn ein fieberischer Schlaf, und wohl eine Stunde lag er so, das entstellte Gesteht mit geschlossenen Augen an Christinens Arm gelehnt. Dann schrak er wieder auf, wollte sich erheben und ins Küsterhaus zurückkehren, aber seine Pflegerinnen ließen ihn nicht fort. Freilich ein Gastzimmer gab's in der Pastorei nicht, wenn auch der Raum dazu vorhanden gewesen wäre. Aber die leeren Mansardengemächer waren unbenutzt, ungelüftet und kalt seit Jahr und Tag; man mußte suchen, sich anders zu helfen. So ward Leberecht, da er Christinens zierliches, kleines Reich rundweg von der Hand wies, nach bester Möglichkeit auf dem Kanapee gebettet, und die Pastorin ließ sich die Nachtwache nicht nehmen. Geschäftig huschte sie bis nach Mitternacht ab und zu und trug ein ganzes Arsenal gegen den Tod zusammen, ehe sie sich selbst Ruhe gönnte bei ihrem Strickstrumpfe und Vossens »Louise«. Darauf sah Leberecht sie allgemach im Sorgenstuhl einnicken; ihr regungsloses Profil zeichnete sich im Lichtkreise des Dochtlämpchens als feiner grauer Schattenriß an die weißgetünchte Stubenwand. Allein kämpfte der Leidende wider die Fiebergespenster um ihn her, bis sich vorsichtig die Flurtür öffnete und Christine unhörbar hereinglitt. Leise setzte sie sich auf den Rand des Kanapees, ganz dicht zu dem Geliebten, und hielt ihm das Glas mit Himbeerwasser an den Lippen. Als er ihr flüsternd klagte, wie sehr ihn die wilden Phantasmagorien quälten, zog sie seinen schmerzenden Kopf an sich, hüllte ihren »warmen Tröster«, mit dem sie sich gegen die Nachtkälte geschützt hatte, wieder um ihn her, wie am vergangenen Sonnabend auf der Orgelempore, und faltete ihre Hände um seinen Nacken. So fand sie die Mutter, eng vereint und fest schlafend, als sie selbst gegen Morgen erwachte. Gefühlvolle Tränen vergoß sie beim Anblicke dieses rührenden Bildes und hielt das Haus totenstill für ihre lieben Beiden, bis Christine, verschämt und reumütig, zu ihr in die Küche schlüpfte, um Leberechts Morgensuppe zu bereiten.


Andern Tages sprach Leberecht den Totensegen an Frau Arends und ihres Kindes frischem Grabe, in dem ein Regenpfuhl stand. Am Sonntag darauf ward sein erstes Aufgebot mit Demoiselle Christine Torbeeken von der Kanzel herab verlesen. Seine Papiere hatte er wohlgeordnet aus der Stadt mitgebracht.


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