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Sechstes Kapitel.

Als Christine am folgenden Morgen die Augen aufschlug, war alles still um sie her und Leberecht nicht mehr an ihrer Seite. Seine Nähe berührte sie, nach den zwei kurzen Tagen ihrer Ehe, noch nicht als etwas Gewohntes, sondern neu, mit fremdartiger Wonne, die, einem süßen Rausche gleich, über sie kam. Sie konnte sich im Moment nicht zurechtfinden. Sie rieb ihre Augen vollends wach, stützte sich in den Kissen auf und verharrte, völlig gedankenlos, mehrere Minuten. Bleischwer, wie gegen das Ende der vergangenen Nacht ihr Schlaf geworden war, gewann sie in lückenhaften Bruchstücken die Erinnerung an das Jüngsterlebte wieder. Erfolgreich half ihr das Gedächtnis erst von jenem Augenblicke an, da sie, mit ihren bitterschmerzlichen Träumen ringend, ihren turmhoch herabstürzenden Körper plötzlich gestützt, ihre irrende Hand festgehalten fühlte, und dann am Herzen des Gatten zu vollem Leidvergessen erwacht war.

Warum hatte er sich nun von ihr hinweggeschlichen? Sie preßte ihr Gesicht ins Kissen auf der Stelle, die noch den Eindruck von seinem Haupte behalten hatte. Dann schlug es draußen sieben; das erste, das Ansageläuten, mußte sie heute ganz und gar verträumt haben.

Sie zog die Bettgardinen auseinander; durch das runde Ausguckscheibchen in der fensterlosen Ostwand des Stübchens schaute dunkelgoldene Morgenröte zwischen dem silberweißen Gezweig der Kirchhofsweiden zu ihr herein: ein wunderbarer Sonntag brach an. Der Widerschein dieses Goldrots färbte plötzlich die Blätter des aufgeschlagenen Gesangbuches, das, noch von gestern Nacht her, auf dem Binsenstuhle neben dem Bette lag.

– – »Gürte dein Schwert an die Seit'
Als ein Held, und für sie streit'
Und zerschmettre deine Feind'
Soviel hier auf Erden seynd – – –«

Mit einem Schlage kehrte ihr alles zurück. Um sie her begann das ganze Gemach zu tanzen, so jäh schoß ihr die Blutwelle zum Hirn und ebbte so rasch wieder hinweg, daß mit einemmal ein Gefühl äußerster Angst sich ihrer bemächtigte und eine Kälte, die ihr jedes Glied erzittern machte. Sie sprang auf und kleidete sich eilends in der ungeheizten Stube an. Wie hatte sie nur gestern, in all ihren bangen Gedanken und dem vergeblichen Harren auf Leberecht, ihre Hausfrauenpflichten dergestalt vergessen und verabsäumen können, daß sie schamrot wurde, indem sie ihr kleines Reich musterte? In diesem Wuste hatte ihr Mann heute früh das traute Stübchen erblickt? Da lagen noch die Überreste von Reemts Abendbrot auf dem Tische und der Leuchter, an dessen ziselierter Säule mit jonischem Kapitäl das Wachs der ausgebrannten Kerze in Tropfen und Striemen klebte. Da stand Leberechts Glas, aus dem er durstig getrunken, neben dem Fayencekruge, und der große Kaktus im Fenster, der eine Fülle von Knospen angesetzt hatte, hing abgeknickt am Stocke. Das war Leberechts Verschulden gewesen, als er sich einmal in seinem einsamen Seelenkampfe so hart gegen die Scheiben gedrückt hatte.

Die Zerfahrenheit ihrer Umgebung kam über sie, die daheim in der Pastorei an peinliche Ordnung gewöhnt worden war, wie ein förmlicher Jammer. Mein Gott, warum fühlte sie sich so schlaff und zu Tränen geneigt? Rasch ans Werk und Wandel geschafft, und in Sonnenglanz und Festesandacht den trübseligen Wochenanfang vergessen.

Nun erschien Beta, die das Bedienen des jungen Paares vorläufig mit übernehmen sollte, und sie ließ ihre runden Augen stumm, ohne eine Miene zu verziehen, auf dem blassen Gesichte der »lüttjen Pastorschen« ruhen.

»Dat is bannig kolt, Mummsell,« sagte sie, kniete nieder und heizte. »Is Se flau, oder fruß't Ähr?«

»Keins von beidem, ich habe nur keine gute Nacht gehabt,« entgegnete Christine. »Sei flink, Betchen, und bringt mir etwas Warmes zum Trinken, und wenn du meinen Mann siehst, könntest du ihm sagen, daß ich fertig bin und auf ihn warte.«

Während sie ihr Ordnungswerk vollendete, ging Beta in die Diele hinunter und an den Herd, um das Frühstück zu bereiten.

»Segg inns, Köstersche, wo is de junge Domine.« fragte sie von ihrer Ecke aus die Küsterin, die melkend unter ihrer Kuh im Stande saß.

»Dat ward boaben de Fro woll weten. Ick heww em jo nich to woahren,« entgegnete die Angesprochene unwirsch. Ihr war's sehr wenig zu Dank, daß die Pfarrmagd in ihrer Diele herumstand und »lunkohrte«, und doch konnte sie sich um keinen Preis entschließen, sich aus der Bedienung des neuen Hauswesens einen Nebenverdienst zu machen. Für eine Mannsperson sorgen, der naturgemäß Hände und Füße im Wege standen, warum nicht? Aber einem jungen Dinge von Frau sich unterstellen, das selbst arbeiten konnte, das ging ihr wider die Natur, obwohl sie Christine auf ihre herbe Weise gern hatte.

Beta zeigte, indem sie Wasser auf ihr Roggenmehl im Kaffeebeutel goß, mit dem zurückgeworfenen Kopfe nach oben: »Se süht so benaut uut, Köstersche.«

»Loat ähr doch, Beta, dat geiht mi nicks an un' geiht di nicks an. Un' segg d'r man nicks van an diene Ohlsche, hürst du?«

»Kiek inns! Doar is ähr Domine! w'rraftig, mit Reemt Arend upp Schöfels! Wat hett Reemt Arend hier um Hand, Köstersche?«

»Dat weet ick nich. Dat is mi ook gans pertu egoal. Swieg still, du büst'n rechte Babbelsnute. Bring ähr dat Drinken hen, Beta, Domine will nu woll glieks koamen.«

»Doar suus't Reemt Arend hen,« bemerkte Beta und drückte sich die Plattnase noch platter gegen die Scheibe. Dann lief sie mit ihrem Kaffeebrette treppauf und siieß mit dem Holzschuh derb an die Stubentür.

»Mummsell! Kann Se mi nich de Döhre losmoaken?«

Christine öffnete, aber sie eilte sofort wieder auf ihren Söllerplatz am Fenster zurück. Auch sie hatte Reemt Arend eben mit einem Gefühle wahrer Erleichterung auf seinen Schlittschuhen in der Richtung von Ritterhude von dannen jagen sehen. Gleichmut und Freudigkeit bahnten sich von neuem den Weg zu ihrer Seele; ihr kleines Heim lachte sie an, wohnlich und warm, und die Glocken läuteten zum zweitenmal. In ganzen Scharen sah die junge Frau Schlitten und Schlittschuhläufer dem ernst-klaren Rufe folgen von nah und fern. Sie faltete still lächelnd ihre Hände über der Brust. Ihr geliebtes Eigentum, ihr Gatte war's, zu dem all diese Andächtigen mit ihrer Sorge und Bitte kamen. Mit stolzer Vorfreude dachte sie seiner herrlichen Predigt, die er ihr gestern gelesen hatte, ehe der späte Gast den Abendfrieden brach.

Sie schrieb den heutigen Bibeltext und den verordneten Gesang auf: »Jesus ist mein Freudenlicht«, legte beides bereit und ordnete das Predigtornat sorgfältig über der Stuhllehne. Beta ließ nicht nach: ihre »Mummsell« mußte den eigens bestellten heißen Kaffee trinken, solange sie noch dabeistand, und dann wurde die Bunzlauer Kanne in der Ofenröhre für Domine warm gestellt. Endlich sah Christine den Ersehnten durch das runde Seitenfenster. Gesenkten Hauptes, die Hände hinter sich zusammengelegt, schritt er zwischen den Kirchhofssteinen auf und ab.

»He leernt sien« Präk,« meinte Beta, indem sie eilends davonklapperte, um die Kirchzeit nicht zu versäumen. Christine blickte der hurtigen, kleinen Gestalt im grünen Lakenrock nach; jetzt knixte sie vor dem Geistlichen – sie hatte bei der Mutter eine Art Anstand annehmen müssen – aber Leberecht winkte ihr abwehrend, ging tiefer in die bescheidene Gräberkolonie hinein und nahm sein beschauliches Hin- und Herwandeln wieder auf.

Gerade, als Christine den Kreppschal über ihr blaues Sonntagskleid knüpfte, trat der Langerwartete ein. Sie begrüßte ihn mit wenigen, leisen Worten, ehrerbietig, um seine vorbereitende Andacht nicht zu stören.

»Teurer, Bester, guten Morgen,« sagte sie, umfaßte ihn und küßte ganz zart seine Wange, die sehr frisch und kalt von der Winterluft war. Um seinen Mund jedoch lagen die Falten strengen Ernstes und unter seinen Augen dunkle Schatten. Er blieb auch beim bloßen Versuche eines schwachen Lächelns stehen, als er sein junges Weib zum Morgengruß in die Arme nahm.

»Verzeih mir, mein liebes Lieb, daß ich mich heute früh wie ein Verbrecher von dir fortgestohlen habe,« sagte er. »Mich litt es nicht mehr in der Ruh, und du schliefst so gut. Zudem wollte ich Reemt gern noch an seiner Mutter Grab begleiten und einiges Dringende mit ihm bereden, ehe er ging. Aber du bist tapfer gewesen, Herzenskind, du hast nicht mehr geweint, ich sehe es in deinen Augen. Recht so! Das freut mich. Nur immer Mut haben.«

Er strich ihr, wie er's besonders gern tat, mit rascher Bewegung das Haar aus der Stirn zurück, und küßte ihre Schläfe mit all den feinen, violetten Äderchen unter der klaren Haut, und dann ihren Mund.

Während Christine ihm darauf eilends das Frühstück herbeiholte, saß er, in sich gekehrt, am Arbeitsplatze, den Kopf in der einen Hand, mit den Fingern der andern geräuschlos und mechanisch den Takt zu seinen Gedanken gegen die Tischplatte schlagend. Das Blättchen mit Text und Gesangnummer schob er von sich und sagte zu Christine: »Es muß ein andres Lied nach der Predigt gesungen werden, ich will's dann von der Kanzel verlesen. Bemerke du dir's rechtzeitig, Nummer dreihundertvierzehn.«

Sie sah ihn verwundert fragend an; es war Gustav Adolfs:

»Verzage nicht, o Häuflein klein.
Obschon die Feinde willens seyn,
Dich gäntzlich ju verstören –«

er jedoch blickte an ihr vorüber, genoß hastig einen Schluck und einen Bissen und erhob sich.

»Komm, wir müssen uns bereit machen.«

Sie half ihm in den Talar, reichte ihm sein Barett und erhob sich auf die Zehen, um ihm auch die Bäffchen zu befestigen. Ihr Herz klopfte in heiligem Glücke, wie er im wallenden Gewände vor ihr stand, schlank, stattlich und breit von Brust. Plötzlich nahm er ihre beiden Hände und drückte Stirn und Augen hinein:

»Kind, wenn ich dir nur aussprechen könnte, wie mir's zu Sinn ist, und wie wohl du mir tust mit deiner Ruhe um mich her. Ich danke dir, ich danke dir von ganzem Herzen!«

»Nach der Kirche, ehe wir zu den Eltern hinübergehen, will ich dich innig bitten, daß du dein Wort hältst und mir dein Vertrauen gibst,« sagte sie mit der gleichen leisen Stimme von vorhin, und er erwiderte:

»Ja, Christine, du sollst es haben, soweit ein Mensch es dem andern zu schenken vermag. Laß uns dann gleich nach dem Gottesdienst zusammen heimgehen.«

»Darf ich dir's noch sagen, daß ich mich unbeschreiblich auf deine schöne, herrliche Predigt vom vergangenen Abend freue?«

»Du wirst eine andre Predigt hören, Christine. Die gestrige nimm und bewahre sie dir, wenn du willst. Sie soll dir allein gehalten bleiben. Geh nun voran, und Gott sei mit uns beiden, meine liebste Christine.«

Er stand eine ungewöhnlich lange Weile, nachdem das Singen verhallt war, stumm auf der Kanzel, die Hände um deren Rand gelegt, und ließ seine Augen mit seltsam lodernden Blicken über die Versammlung hinschweifen. Christine, die, kraft ihrer neuen Würde als Domines Gattin, heute zum erstenmal nicht auf der Orgel geblieben, sondern für die Predigt in den elterlichen Kirchstuhl gegangen war, blickte furchtsam zu ihrem Manne empor und wünschte, daß die Mutter neben ihr gesessen hätte. Aber keiner aus der Pastorei war gekommen.

Wo hinaus zielte Leberecht? Wider alles Herkommen gab er, da er endlich zu reden anhob, weder Epistel noch Evangelium des dritten Feiertages als Textwort aus, sondern griff auf die Stelle im dreizehnten Kapitel des Römerbriefes zurück, die dem ersten Adventssonntage angehört:

»Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir es glaubten;

Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbey gekommen, so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.«

»Brüder! Freunde! Wir haben gefragt von einer Nacht zur andern: ›Wächter, ist die Nacht bald hin?‹ Und der Wächter brachte immer wieder die gleiche Antwort seines Herrn: ›Seid stille; erkennet, daß Ich Gott bin!‹ Nun aber steht er auf der Zinne und rufet: ›Die Nacht ist vergangen!‹

»Hoch über den Sternen steht er, und sein Ruf erschallt in die Lande. Er sieht, was eure blöden Augen am matten Schimmer des Horizonts kaum erst ahnen: er sieht den Tag anbrechen nach seines Herrn Willen, und kündet's euch. Ich bin der Wächter geworden in der jüngsten Nacht, mich hat der ewige Gott auf die Zinne gestellt und mir befohlen: ›Siehe zu und bedenke, wie du ruchbar machst, was ich dir zeige.‹ Ich mache es ruchbar, Brüder und Freunde, ich bringe euch die Botschaft. Eine neue Adventsbotschaft, denn Advent heißt ›Ankunft‹ – die Ankunft des Lichts.

»Seht, es bricht durch die Dämmerung, urplötzlich, erschrecklich! Ein wolkenschwerer Tag zieht herauf, nicht die segnende Sonne, sondern der zuckende Blitz des Gewitters erhellt uns seine erste Stunde. Aber auch der Blitz ist ein Licht aus des Ewigen Hand, Brüder, und des Ewigen Donnerwort ruft von Osten her, aus der weiten, russischen Steppe: ›Schauet an, was ich euern Augen erleuchte, die Binde will ich von ihnen hinwegziehen.‹

»Ich will euch sagen, was ihr seht! Ein fahles Roß, das über den Schnee der Steppe dahinjagt und die eisigen Wellen eines großen Flusses durchschwimmt, ›und der auf dem fahlen Rosse sitzt, des Name heißt Tod, und die Hölle folget ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger.‹ Bis auf den heutigen Tag, Brüder und Freunde, hat die furchtbare Herrscherin unsrer Zeit, die Lüge, um das fahle Pferd › Verderben‹ und um den Reiter › Tod‹ auf des Pferdes Rücken ihren Nebel geschlagen, gleich einem Mantel. Wir sahen die beiden nicht. Jetzt aber sehen wir sie. Wir sehen, wie des Verderbens Huf die Armeen untertritt, wie des Todes Hippe Leben um Leben niedermäht und die Brücken hinwegschlägt vom großen Flusse und auf ihrer Spitze Feuerbrände trägt. Und er, der Kaiser, der Unüberwindliche nach seinem eigenen, frevelhaften Bedünken, er, der die Geißel über uns schwang und die Lüge um uns her wob, zieht heim an der Spitze einer Armee des Grausens und des Jammers. Seht das Gottesgericht beginnen über seinem stolzen Haupte! Noch steht er, noch steht sein Thron; aber der ewige und gerechte Gott wird dem deutschen Volke zeigen, wie es das Schmelzfeuer unter die goldenen Füße dieses Thrones legen soll, daß er stürze, und wie es die Geißel in Stücke brechen mag.

»Advent! Des Lichtes Kommen sage ich euch an, meine Freunde! Ich spähe zu Tal von der Zinne, und die Finsternis sinkt zu Boden vor meinen Augen. Und nun vernehmt all den Greuel, den ich sehe. Ich will ihn euch zeigen, nackt und bloß, bedeckt mit Schwären und Plagen; zuckende Glieder, fleischloses Gebein. Denn der Mantel der Lüge, der sie bedeckte, ist zerschlissen vom langen Gebrauch.

»So hört nun, und ein jeglicher von euch schlage in sich voll Zerknirschung und spreche:

»›Herr! Herr! suchest du also die Sünden der Völker und Herrscher heim an vieltausend Unschuldigen, wie wird es mir ergehen um meiner Sündenschuld halber.‹

»Erhebt euch; entblößt eure Häupter, und faltet die Hände, daß sie geweiht und gewürdigt werden, die Waffen des Lichts zu tragen, dessen erster, erlösender Funke über der Steppe Graus dahinblitzt, um auch uns bald zu leuchten mit Gottes Hilfe.«

Murmeln und Poltern ging durchs Gestühl. Die Glieder der Gemeinde, die in den Gängen standen, traten ehrerbietig zurück und machten Platz für Christine. Ihr Gesicht weiß, die Augen leuchtend wie Sterne, so schritt sie hinauf zur Orgel und sah von dort herab in ihres Mannes ernstes Antlitz. In den Staub hätte sie sich vor ihm beugen mögen. Zusammengeschlossen lag seine starke Rechte auf dem Kanzelrande, seine Linke hielt das Zeitungsblatt, das Reemt ihm gestern von Dingen gebracht hatte. Daraus las er, mit herzerschütterndem Ausdrucke, das ganze neunundzwanzigste Bulletin, Wort für Wort, Zahl für Zahl. Seine Stimme ward rauh und bebte; aus seinem Gesicht wich die Farbe, und seine Augen blickten wie durch einen Flor.

Erstarrt lauscht die Gemeinde. Die Bauern standen vorgebeugt, offenen Mundes; in den hölzernen Gesichtern wetterte es. Da und dort stampfte ein unsichtbarer Fuß dumpf auf den Steinboden, einmal ging ein unterdrückter Fluch durch die Kirche, niemand wußte, von wessen Lippen: »Düvelshund du!«

»Verzage nicht, o Häuflein klein.
Obschon die Feinde willens seyn.
Dich gäntzlich zu verstören.
Und suchen deinen Untergang,
Davon wird dir recht angst und bang.
Es wird nicht lange währen!«

Diesmal tat es des Predigers tiefe und klare Stimme allen zuvor im Singen, wenn auch die Orgel wie verträumt dazu spielte in gebrochenen Akkorden, denn Christine war einer Ohnmacht nahe. Ihr war's, als wallten die dunklen Schleier der Zukunft vor dem Seherblick ihrer Liebe auseinander, und was ihr erschien, flüchtig, unfaßbar, grell überflammt, das machte ihr den Pulsschlag stocken.

»So wahr Gott Gott ist und sein Wort,
Muß Teufel, Welt und Höllenpfort'
Und was dem tut anhangen.
Endlich werden zu Hohn und Spott:
Gott ist mit uns und wir mit Gott,
Den Sieg woll'n wir erlangen –«

»Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein Name. Dein Reich komme –«

In die verhallenden Klänge der Orgel hinein sprach er das Gebet des Herrn. Dann breitete er die Hände über seine Gemeinde aus, und statt des gewohnten Segens rief er: »Heiliger! Allmächtiger! Allwissender! Nun wir von hinnen gehen, halte uns den Weg zu unserm Rechte, den wir heute an deiner Stätte erkannt haben, unverfinstert. Hilf uns, daß wir nicht wiederum abweichen, sondern uns auf ihm den Frieden erjagen, durch eigene Kraft und deinen Beistand! – – Amen.«

Als Leberecht, nachdem er die langatmige Frage seines Küsters, einer Taufbestellung wegen, beantwortet hatte, in das abgeteilte Eckchen trat, das zur Sakristei diente, fand er dort schon zwei Kirchgänger auf sich warten. Der kleinere von ihnen war Jan Carsten, der Oberender Vollbauer, ein rechthaberischer Klotzkopf, dessen Haar in Borsten wuchs, während die schwarzen Brauen tief auf die Lider herabgedrückt erschienen. Er hatte einen schönen, helläugigen Alten, in Kniehosen und feinem, blauem Tuchrock, bei sich, einen wahren Patriarchen aus der Bibel. Dieser war seit mehreren Tagen bei seiner Tochter, Jan Carstens Frau, zu Besuch in Oberende.

»Das is Harm Finke aus Teufelswoor,« stellte Jan Carsten seinen Begleiter vor. »Der wollte Ihn was befragen, Domine.«

»Nä, nä, erst will ich Ihm meinen Dank sagen,« fiel der Alte ein und streckte dem Geistlichen seine schmale, wenig verarbeitete Hand hin. »Seine Predigt is'n wackers Stück Werk gewesen, da muß er orr'ndlich drauf studiert haben. Unser Pastor riskiert so'n Gott'swort nich. Das tut bei uns aber van nöden. Bei uns stecken sie alle in der Mudde drin un können nich hochkommen. Fransch oder Deutsch, das is den Kerls pertu egal, wenn sie bloß in Frieden sitzen un dicke Butter aufs Brot haben. Das muß nu doch 'ne andre Art kriegen, wenn sich die Sache so verhält, wie Er uns aus Seinem Blatt abgelesen hat. Ich bin Gemeindevorstand un ich wollte Ihm den Vorschlag tun, daß Er Seine Predigt bei uns nochmal halten sollte, wenn es Ihm sonst paßt. Wir wollen es Ihm gut bezahlen, was Er verlangt. Er will uns jewoll das Fell hinter den Ohren lassen.«

»Ich danke Euch recht sehr für Euer Zutrauen, Finke,« entgegnete Leberecht. »Leider wird es sich schwerlich nach Euerm Wunsche mit der Predigt machen lassen. Vor allem möcht' ich meinem Kollegen bei Euch nicht ins Amt eingreifen, und dann bin ich hier ans Jürgensland gebunden. Ohne dringende Not darf und mag ich mich nicht aus meiner Gemeinde entfernen, besonders nicht während dieses unbeständigen Winterwetters.«

»Was mein Jüngster is, der hat geschriebene Schrift gelernt. Will Er mir denn woll den Schetts von Seiner Predigt geben, daß mein Hinnerk uns den vorlesen kann?«

»Ich besitze kein Konzept von meiner heutigen Predigt; ich habe ganz frei gesprochen. Wie tut mir's leid, daß ich Euch auch dazu ›nein‹ sagen muß.«

»Denn hilft das nichts, Domine, denn muß Er sich doch beschließen un zu uns nach Teufelsmoor kommen; mal in d'r Woche, un Er hält uns die Predigt siillkens bei mir auf der Diele,« sagte Finke und streckte Leberecht noch einmal die Hand hin: »Geb' Er mir die Hand drauf, daß Er kommen will, es is w'rafftig van nöden bei uns.«

»Er will nich, laß ihn doch gewähren, Bestvader,« warf Carsten ärgerlich dazwischen und sah nach seiner großen, silbernen Uhr. »Wir müssen weg, das Essen verkommt, wenn's 'n Glockenstunn' über die Zeit zu Feuer steht.«

»Du Gierslang! Du kriegst den Bauch noch früh genug voll,« gab der Alte zurück. »Er will woll, wenn'r kann. Is't nich so, Domine? Wennehr soll ich auf Ihn rechnen?«

»Sowie es leichter reisen ist, Finke. Aber ich hoffe zu Gott, daß wir längst bessere Zeiten haben, wenn der Frühling kommt und das Wasser im Lande fällt.«

»Er is kein Sßan Jürdner. Das Wasser, das fällt nich vor Junitag,« bemerkte Carsten und zog ungeduldig die Brauen über der Nasenwurzel zusammen.

»Meinen Dank für den guten Willen,« sagte Bauer Finke. »Wir müssen in Hoffnung stehen, daß es mit Seinen besseren Zeiten bald in Schick kommt.«

»Das kann Er ficks so hinsagen, Domine,« meinte Carsten. »Was sollen wir denn dabei tun? Sieht Er: wenn Er uns garrentiert, daß der venienige Ekel von franschen Kaiser mein'swegen über hier reist, wenn'r aus Rußland flüchtig werden muß, denn wollen wir ihn woll klein kriegen. Aber so für Wollust un Weihdage ins Geschirr gehn un losballern? un denn hinter die Tralljen gesperrt werden oder abbrennen, wie Gerd Arend? Nä, das paßt uns Hoffsitzern nich, Domine. Wir bezahlen den Ocktreu un damit gut. Mein'swegen kann Er ja die Polit'schen anstiften, die kleinen Leute, Bartels un Dierking, un Meiners in Niederende, aber was wir sind, wir wollen das bleiben lassen. Er hat uns ja heute vorgelesen, was das Kriegführen für'n saure Schinderei is, nä; das is an uns nich bewendt!«

»Trägst du kein Herz in der Brust, keinen Funken Liebe für dein Vaterland?« wollte Leberecht ausrufen, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg. »Das ist die Frucht der Saat aus der Tiefe meines Fühlens!« sprach es bitter in seiner Seele. »Ich kann keinen von euch zur Hingabe und zu Opfern zwingen,« sagte er laut, »aber für jeden mutigen Mann, den meine Worte der heiligen Sache gewonnen hätten, wollte ich Gott auf den Knien danken. So hoff' ich denn, Finke, daß ich Euch nächsten Sonntag wieder in meiner Kirche sehe, und daß Ihr einen andern Glauben gewinnt, Jan Carsten.«

Er verabschiedete die beiden und ging hinaus. Es erquickte ihn, daß vor der Sakristeitür noch mehrere anscheinend auf ihn gewartet hatten und ihn ehrerbietig grüßten, oder ihm von obenhin zublinzelten.

»He is'n fermoosten Kärl, Domine,« sagte ein dicker Wührdener Bauer und schlug ihn derb auf die Schulter, »oaberst He is to iwerig. Wi wull'n d'r all dörkoamen, wenn us de verdammten franschen Rackers man tofräe leten!«

»Herr und Gott, wie dringt man in diese vernagelten Köpfe ein?« dachte Leberecht entrüstet, als er seines Weges weiter ging.

Christine war längst zu Hause, und er sah sie, oben am Giebelfenster harrend, zwischen ihren Blumen stehen. Allein, nochmals wurde er aufgehalten. Beta lief ihm, von der Pforte des Pastorengartens aus, entgegen.

»Domine möchte doch gleich mal zu unsern Domine hereinkommen.«

Seufzend folgte er der Magd. Seine ganze Sehnsucht ging nach der Aussprache und dem endlichen Alleinsein mit Christine. Sein Herz war übervoll.

In der Diele des Pastorenhauses standen auch ein paar Landleute aus der Gemeinde, tranken Warmbier und drückten sich, gerade als er kam, mit jenem unmerkbaren Kopfnicken, das ebensogut Schüchternheit als Hochmut bedeuten kann, an ihm vorüber zur Haustür hinaus.

Der alte Herr empfing seinen Schwiegersohn zum erstenmal in heftigster Aufregung und ohne jegliches Begrüßungswort. »Leberecht! Leberecht! Was hast du getan? Wie darfst du dich unterfangen, den Brand ins Volk zu werfen? Dieser schweren Rasse Ideen in die Köpfe zu setzen, die zu lauter Elend und Mißbrauch führen müssen, weil Menschen solchen Schlages sie weder fassen noch austragen können, so, wie du sie zu deinem Unglücke in dir gären läßt! Ja, zu deinem Unglücke! Was willst du bezwecken? was ausrichten? Du, ein junger Mensch, ein bloßer Anfänger im Amte, ohne Stellung und Einfluß! Den kleinen Mann wiegelst du auf, und verleitest ihn zu Torheiten, die ihm an Kopf und Kragen gehen werden und uns allen mit. Glaub' nicht, daß ich ohne Grund so rede. Zu mir sind Leute gekommen, gleich nach der Kirche, – die böse Moorhauser Sippschaft –, haben mir von deiner Predigt gesprochen und mir kalt ins Gesicht gesagt, sie seien nicht mehr willens, den Zehnten ans Pastorat und die Steuern an den Huissier zu zahlen. Napoleon habe uns alle ins Amt gesetzt, und da es nun doch aus sei mit ihm, so brauchten sie seinen Angestellten auch nichts mehr zugute zu tun. Sieh, das ist die taube Ernte deiner Pulverkörner! Entweder lasse die Dinge ihren natürlichen Gang gehen und beschränke dich darauf, ein Gott wohlgefälliger Diener seiner evangelischen Kirche zu sein, oder suche dir einen andern Wirkungskreis unter heißeren Köpfen!«

»So werde ich mich von hier fort melden, Vater,« erwiderte Leberecht mit jener Kälte des Tones, hinter dem sich oftmals Schmerz und Kränkung denen gegenüber verstecken, die Anspruch auf schonende Ehrfurcht haben. »Längst hätte ich einsehen sollen, daß Sie recht haben, daß ich mich unnütz ausgebe für diese Gemeinde. Heute – jetzt ist mir's ganz klar geworden. Aber Sie wissen, wie schwer, trotz alles persönlichen Fühlens, meine Stellung zu jener trostlosen Erkenntnis seit kurzem ist, wie sauer mich, um Christinens willen, der Abschied von Sankt Jürgen ankommen würde.«

Torbeeken griff nach Leberechts Hand und hielt sie fest. »Lieber Sohn, ich habe mich vergessen, trage mir's nicht nach. Wir wollen einander nicht mit bösen Worten kränken,« lenkte er ein, und sein Gesicht, auf dessen mageren Wangen das hohe Rot der Erregung gebrannt hatte, war wieder blaß und sanft wie gewöhnlich. »Du weißt es; du mußt es fühlen, daß nichts als väterliche Liebe der Urgrund meines Zitterns um dich und auch um mein Kind ist. Laß mich all meine treugemeinten Warnungen in fünf kurze Worte zusammenfassen: ›Der Einzelne ist ein Sandkorn.‹«

»Viele Sandkörner geben den Bergsturz, der den Abgrund ausfüllt und neues Land schafft,« entgegnete Leberecht. »Ich vermag nicht wider meine Überzeugung zu empfinden und zu handeln. Mein ganzes Streben geht darauf aus, Einigung zum Edelsten unter den Geistern zu schaffen, die mein Wort lenken soll. Was mir mein Gewissen als heilige Pflicht hinstellt, das verfolge ich. Mißlingt es mir, so hab' ich getan nach meinem besten Vermögen und gebe mich Gottes Barmherzigkeit anheim. Was ich Ihnen aussprach, als ich zum erstenmal an Ihrem Tische saß, das wiederhole ich heute: Mein Vaterland über alles!«

»Und Christine?« fragte Torbeeken schmerzlich.

»Christine und ich sind eins geworden und empfinden das Gleiche. Bedeuteten meine Lehren von der Kanzel einen bloßen Irrwahn, so würde ihr klarer Geist den Wahn und seinen Urheber zurückgewiesen haben. Ich will es ohne Sorge auf das ankommen lassen, was sie nach meiner heutigen Predigt tut. Und nun bitte ich Sie inständig, lesen Sie diese Zeitung, und hoffentlich sagen Sie mir nach Tisch, wenn wir uns ruhiger wiedersehen, daß Sie mich besser begreifen. Wollen Sie, daß ich heute so und morgen so empfinden soll, wie ein Charakterloser?«

»Das sei ferne von mir! Aber du bist jung, nimm Lehre an –«

»Die Not der Zeit ist meine Lehrmeisterin. Was sie über uns verhängt, davon sollen wir uns fördern lassen.«

»Zu revolutionären Umtrieben?«

»Nein, Vater, zu Freiheitstrieben. Mit dem Furchtlosesten unsrer Kirche rufe ich: ›Hier steh' ich; ich kann nicht anders. Gott helfe mir!‹«

»Ja, Gott helfe,« sagte der alte Mann leise und wintte seinem Schwiegersöhne, ihn allein zu lassen.

Leberecht ging mit zögernden Schritten zum Küsterhause hinüber. Er scheute sich, in dieser verzweifelten Stimmung seiner Frau unter die Augen zu treten. Sogar der Gedanke, ein stilles und anmutiges Daheim zu besitzen, tat ihm weh. Auch der heitere Sonnenschein, die Harmonie und schneeige Fleckenlosigkeit der Landschaft, die in ihrer Eigenart etwas Beruhigendes hatte, stießen ihn eher zurück, als sie ihn innerlich freudiger gemacht hätten. Er sagte sich, daß er das ganze Jürgensland hasse; er beklagte Bauer Finkes feiner geartete Seele, die er der seinigen verwandt fühlte wenn auch dem hohen Siebziger Mark und Kraft zu kühnen Taten naturgemäß nicht mehr zu Gebot standen. »Ihm wär's besser, er stürbe zwischen heut und morgen,« dachte er, »und mir auch! Hätt' ich Christine nicht, wahrlich, ich würfe die Flinte einfach ins Korn oder dort hinein, in den unergründlichen Brunnen. Wer weiß, ob es nicht einst in grauen Zeiten dem Ritter Jürgen ebenso ergangen ist wie mir mit diesen schlaftrunkenen Bauerngemütern, als er sein schneidiges Arsenal ins tiefe Wasser versenkte. Und hinterdrein wird man heilig gesprochen!«

Unter diesen Gedanken stieg er langsam treppauf, und Christine kam ihm schon vor der Stubentür entgegen:

»Da bist du endlich, endlich! Komm geschwind herein! Laß dich umarmen, laß dir danken!«

»Christine,« sagte er, als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, und ließ den Kopf auf ihren Scheitel sinken, »bleib' du mir nahe; tröste mich. Ich bin grenzenlos entmutigt!«

»Geliebter, weshalb denn? Nach einer solchen Predigt, nachdem du mit Menschen- und Engelszungen geredet hast?«

»Es ist nichts gewesen, als ein tönendes Erz und eine klingende Schelle, Christine, obwohl mir's, bei Gott, an der Liebe nicht gemangelt hat.«

»Einziger Mann, versündige dich doch nicht an dir selbst und der Gemeinde! Hast du denn die Gesichter um dich her nicht angesehen? Ist dir's völlig entgangen, wie sie voll Schaudern und Verwunderung waren?«

»Schaudern über mein Hintenansetzen der priesterlichen Würde, die es schändet, wenn sie ihre erschütterndste Predigt als profanes Zeitungsblatt mit auf die Kanzel bringt; Verwunderung ob der Märchen, die ich ihnen auftischte,« sagte er mit herbem Spott. »Ich habe erfahren müssen, was hinter diesen Masken steckt! Märchen sind Gaukeleien, und man setzt sie nicht in Leben und Wahrheit um: dies Argument steckt hinter ihnen. Ein einziger Idealist unter der stumpfen Menge, und dieser Einzige ein Greis und kein Gemeindeglied. Wie hocherhaben steht Gerd Arend heute in meiner Erinnerung da, von ihm galt doch wenigstens: ›Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem.‹ Ja, diese Empfindungen hab' ich als Dank für meine Gabe empfangen und deines Vaters strenge Mißbilligung in den Kauf!«

Mit heftiger Bewegung befreite er sich von Barett und Bäffchen und setzte den Fuß hart auf die Diele, als es ihm nicht sofort gelang, sich des Talars zu entledigen. Schweigend half ihm Christine, schaffte ihm das ganze Ornat aus den Augen, und da er sich auf den Binsenstuhl vor seinem Arbeitstische warf, die Lippen nagend, den Ellbogen gestützt und die geballte Linke an der Stirn, lehnte sie sich gegen ihn und nahm seine freie Hand.

»Lieber, erzähle mir alles,« bat sie.

Er tat ihr den Willen, aber kaum fünf Minuten lang litt es ihn ruhig an seinem Platze. Er sprang auf und durchmaß das kleine Gemach hin und her, während des Redens. Sie schlang ihren Arm durch den seinigen und hielt Schritt mit ihm.

»Wir sind doch gute Kriegskameraden,« tröstete sie herzlich. »Es wird auch wieder zum Frieden kommen, und hier bei mir findest du ihn immer.«

Leberecht drückte ihre Hand gegen seine Lippen. »Du bist meine Welt, Geliebteste, aber du bist nicht die Welt. In der hab' ich keinen Frieden mehr, so, wie es jetzt um mich steht. – – Mein Leben muß anders werden! Ich ersticke in dieser Luft!« rief er leidenschaftlich aus, und da sie seinen Schritt plötzlich hemmte und ihn mit erschrockenen Augen anstarrte, blieb er stehen und besann sich wieder auf sich selbst. Dann setzte er sich mit ihr auf das trauliche Söllerplätzchen am Fenster, in den fröhlichen Sonnenschein, der da draußen über der stillen, kleinen Welt lag.

»Die Sonne und du, ihr Herzerquickenden wenigstens verschmäht mich nicht,« sagte er voll tiefen Gefühls und beugte sich über Christinens Antlitz, das, in Glanz gebadet, zu ihm aufblickte. Sie versuchte zu lächeln, als sie aber sah, wie seine Augen in Tränen standen, war's mit ihrer Fassung vorbei. Sie legte ihren Arm um seinen Nacken, er streichelte ihre Wangen, und so saßen sie stumm in Gottes warmem Sonnenschein mit ihrer Betrübnis.

»Unsre Tränen sind fruchtlos, mein Kind,« unterbrach er zuletzt das Schweigen. »Kannst du mir ruhig zuhören und mir zu folgen versuchen, so will ich dir meine Empfindung zergliedern. Sieh, ich bin von einem starken und bewußten Drange beseelt: ›Vorwärts!‹ heißt dieser Drang. Was aber nützt alles Vorwärtsstreben, wenn das Ziel nicht in die Höhe führt? Schreitest du in einer Ebene voran, so wandelst du in einer ewigen Täuschung, die dir Mut und Kraft lähmt. Du meinst, dem Himmel entgegen zu eilen, weil er am Horizonte in gleicher Linie mit deinem Fuße zu liegen scheint, aber fieh; er weicht vor deinen Schritten zurück. Nur wenn du emporsteigst, frisch und rüstig über gefährliches Geröll und an Abstürzen hin, dann kommst du endlich dem Himmel näher. Reine Luft, und unter dir die Welt in ihrem eigenem Nebel! Die Schrunden deiner Hände, die Mattigkeit deiner Füße reuen dich nicht länger; du hast der Ewigkeit einen Schritt entgegen getan. Und tötet die Einsamkeit, die Abwesenheit aller irdischen Labung, auch deinen sterblichen Menschen, so hat doch deine erlöste Seele nicht mehr weit bis hinauf zur göttlichen Freiheit. Verstehst du das?«

»Wie sollt' ich nicht? Es ist so klar wie das Wasser aus unserm Brunnen.«

»So laß mich meine Parabel zu Ende bringen, geliebtes Kind. Wo wandeln wir jetzt, wir armseligen Geschöpfe unsrer Zeit? Zuder versumpften Ebene, dem häßlichsten Untergange preisgegeben. Der Schlamm zieht uns hinab, und wir versinken und ersticken in ihm. Und wo der Sumpf nicht ist, da durchpflügen wir endlose, trostlose Sandstrecken als knechtische Jochtiere, zu Boden gedrückt von den Lasten des Usurpators. Meine Kraft zu dieser aufgezwungenen Schwachheit ist am Rande, Christine! Ich muß mich herausreißen, und sollte ich Mantel und Rock, Hab und Gut im Sumpfe stecken lassen müssen. Ja, heraus, Christine; – wir alle, jeder nach seinen Bedürfnissen! Ich, weil ich von meinen Freiheitsrechten und meiner Menschenwürde so durchdrungen bin, daß ich freudlose und vergebliche Arbeit als eine Sklaverei verachte, du, weil du ein Teil von meinem Ich bist, und nur dem ganzen Ich gelingt sein Streben ganz

Sie saß mit gefalteten Händen, den Blick von Leberecht abgekehrt, und strengte sich an, den vollen Sinn seiner Worte zu begreifen. Als er schloß, wendete sie ihm langsam ihr Gesicht wieder zu:

»Sage mir in allem die Wahrheit, sei sie so arg wie sie wolle. Sag' mir, ob ich dein Gleichnis recht verstanden habe: könntest du je deinem Amte untreu werden?«

Er sah sie fest an. »Du hast mich erkannt, Christine. Wenn das Vaterland Männer verlangt mit den Waffen in der Hand, dann ja! Dann laß' ich die Frösche im Sumpf und schwinge mich zur Höhe empor. Das Amt ist nur die Schale; der Geist, der in ihm wohnt, ist der Kern. Der bleibt mir, unverloren, unverändert, ob er nun unterm Talare, oder unterm Soldatenrocke lebt. Ebenso wie meine Seele dein bleibt, Christine, ob du ihre vergängliche Hülle, sichtbar, wie jetzt, in deinen Armen hältst, oder ob sie dir entrückt wird.«

Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und drückte seine Gestalt gewaltsam an sich. Am Heben und Senken ihrer Schultern fühlte er's, daß sie weinte.

»Ich kann dich nicht verlieren,« flüsterte sie schluchzend; »das Ganze lieb' ich, nicht nur die Seele, auch das, was ich umfasse, dich, dich! O Gott! rede nicht weiter davon!«

Leberecht hob ihr Gesicht in die Höhe und küßte es innig. »Sieh mich an, weine nicht, liebstes Leben! Ich bin bei dir und du bei mir; nimm mich und halte mich, je fester, desto lieber. Laß uns unsre Tage auskaufen.«

»Mit Furcht und Zittern,« sagte sie, und ihre Stimme bebte.

Er nahm ihre Wangen zwischen seine Hände und sah ihr tief in die Augen. »Unser ganzes Dasein ist mit Furcht und Zittern l, Christine. Muß ich dir Luthers Wort ins Gedächtnis zurückrufen:

›Mitten wir im Leben sind
Von dem Tod umfangen?‹«

»Nicht so! nicht so!« rief sie ungestüm. »Wir atmen noch und sind jung und glücklich beisammen! Nein, ich will nicht mehr weinen. – Jede Träne und jede trübe Stunde soll mir von jetzt an eine Sünde bedeuten, solang' ich dich nur habe!«

»Das ist ein tapferer Entschluß, den lob' ich,« sagte er. »Halt' ihn fest und dazu vergiß noch eines nicht: daß unser Vertrauen vom Herzen zum Herzen niemals über unsre Lippen und über die Schwelle unsres kleinen Heims hinausgehen darf.«

»Beichtgeheimnis, Liebster; das versteht sich von selbst,« versicherte sie eifrig und war bestrebt, sich zur alten Frohherzigkeit zusammenzuraffen um ihres Mannes willen. Aber es gelang nicht recht. Der stumme, ängstliche Blick ihrer Augen schmerzte Leberecht noch, als sie längst bei ihrer bescheidenen Mahlzeit zu zweien saßen und geflissentlich alltägliche Dinge besprachen.

Den Nachmittag und Abend dieses Sonntags verbrachten sie im Elternhause, dem äußeren Scheine nach alle vier in musterhafter Eintracht. Der Vater, die Güte selbst, die Mutter zwar, nach Art kleinlicher Naturen, zu Anfang ein wenig überhastig und zu Wortplänkeleien mit dem Schwiegersohne geneigt, dessen Ruhe auch sie jedoch sehr bald in Gleichmaß und Freundlichkeit hineinzwang. Das Gespräch berührte die Politik mit keiner Silbe. Schweigend hatte Torbeeken Leberecht die Zeitung zurückgegeben, schweigend war sie in Empfang genommen worden. Man bewegte sich auf dem neutralen Gebiete der modernen Musik: Gluck ward mit Mozart in Parallele gebracht, Zelter lebhaft mit Reichardt verglichen. Bis über das frühe Abendbrot hinaus dehnte sich die kleine Debatte zwischen Christine und ihren Eltern in ungezwungener Weise. Christine sprach weit angeregter, als sie's sonst in der Gewohnheit hatte, und tat es nur für Leberecht. Sie fühlte ihm an, daß jede Unterhaltung ihm heute zur Pein ward. Er saß still in seiner gewohnten Sofaecke, und wenn er Christinens Hand einmal aus der seinen ließ, so geschah es mit Widerstreben.

»Glücklich wie Engel sind sie miteinander, das ist mein Trost,« dachte die Mutter, so oft sie ihr junges Paar beobachtete, und dann nickte sie den beiden mit ihrem hübschen, guten Gesicht in der Blondenhaube zu.

Den Vater betrübte der ersichtliche Eindruck seines heutigen, peinlichen Streites mit Leberecht in tiefster Seele. Seine milde und friedfertige Natur, die alle Weichheit der Romantiker seiner Jugend mit ins Alter genommen hatte, sehnte sich nach ausführlicher Verständigung, allein Leberecht wies einen erneuerten Meinungsaustausch ebenso bestimmt wie ehrerbietig zurück.

»Jeder von uns beiden weiß jetzt genau, wie der andre denkt, lieber Vater, und weiß auch, daß er seine eigene Denkungsart wohl begründen kann und fest vertreten will. Lassen Sie dieses uns nicht mehr entzweien und trennen. Die persönliche Liebe und Achtung bleiben deshalb, was sie sind,« sagte er und küßte die väterliche Hand.

Christine hatte diesen kleinen Zwischenfall nicht mit erlebt, da er in des Vaters Studierstübchen zwischen den Männern allein zum Austrag gekommen war. Als sie, mit der Mutter aus der Küche zurückkehrend, Vater und Gatten in eine literarische Unterhaltung vertieft fand, fiel ihr ein Stein vom Herzen, wiewohl ihr der resignierte Ton in Leberechts kargen Antworten nicht entging. Bald genug geriet auch das Gespräch wieder ins Stocken. Der Vater rauchte schweigend seine lange Pfeife, und Leberecht mochte sich nicht zum Vorlesen entschließen, wie die Mutter anregte. Er sei innerlich zerstreut und müde, erklärte er, und dann bat er Christine zu singen. Er liebte ihr Musizieren, und daheim im Küsterhause gab es kein Instrument.

Sie setzte sich bereitwillig ans Fortepiano und sang ein Lied nach dem andern, all' ihre eigenen und der Ihren Lieblinge, besonders die neuen Zelterschen und Reichardtschen Kompositionen, zu den unvergleichlichen Texten von Goethe. Sie schwelgte mit ihrer schönen, reinen Stimme darin, und was ihr an Schulung fehlte, das ersetzte die natürliche Wärme des Ausdrucks.

Als sie das melancholische Schäferlied:

»Da droben auf jenem Berge,
Da steh, ich tausendmal –«

beendet hatte, dessen weiche, wiegende Melodie sich ihrem Alt ganz besonders anpaßte, sah sie, umschauend, daß ihr Mann in seiner Sofaecke eingeschlummert war. Sie legte den Finger auf die Lippen und trug vorsichtig das Licht aus seiner Nähe hinweg.

»Ich wecke ihn erst, wenn's Zeit zum Heimgehen ist, Mutterchen,« sagte sie leise. »Seien Sie mit mir froh, daß es heute nicht so schlimm um ihn steht, wie damals nach dem Wührdener Brande, als er uns dort in der nämlichen Ecke einschlief.« –

Sie ahnte nicht, die junge Frauenseele, daß es jetzt weit schlimmer um ihn stand, als damals.


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