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Achtes Kapitel.

Friede umfing ihn, als ob er des Himmels Vorsaal beträte. Aber er wehrte den Frieden von sich ab, den er nicht verdiente.

Wie er das Orgeltreppchen so lautlosen Trittes erklimmen konnte, daß die Musizierende keine Ahnung von seinem Kommen und seiner Nähe empfing, das hätte er später nicht zu erklären vermocht. Denn die ausgetretenen Stufen knisterten und knarrten arg im gewöhnlichen Leben.

Dumpf drückte und nagte seine Pein; die Grabesluft dieser Zufluchtsstatt beladener und seliger Herzen beklemmte ihn. Im tiefsten Schatten lehnte er sich gegen die Mauer, kaum zehn Schritt entfernt von Christine, zog den Mantel fröstelnd um sich her und ließ die Mütze achtlos aus der Hand zu Boden gleiten. So blickte er aus halbgeschlossenen Augen das liebe Bild vor ihm an.

Sie saß in ihrer enganliegenden, pelzverbrämten Kaszawaika, die sie auch beim Eislauf zu tragen pflegte, und der alte Kreppschal war um ihr Gesicht geschlungen. Völlig selbstvergessen sang und spielte sie, der Kälte des Raumes nicht achtend. Fromm und kindlich war der Ausdruck ihrer lieblichen Züge, und doch verrieten ihre leise geröteten Lider kaum getrocknete Tränen, und als sie zwischen den Akkorden einmal Pause machte, um sich in die erstarrenden Finger zu hauchen, legte sich Wehmut um den reizenden Mund.

Sie konnte sich anscheinend nicht von der Rose aus Jesses Stamm trennen und wiederholte diese ihre Lieblingsmelodie zwei-, dreimal. Immer süßer, immer eindringlicher und feierlicher ward ihr Singen: ein Meer von überirdischen Klängen schien unter den steinernen Wölbungen auf und ab zu wogen.

»Das Blümlein, das ich meine,
Davon Esaias sagt,
Das hat gebracht alleine
Marie, die reine Magd –«

Der Lauscher hielt im Krampf den Atem an, sein Herzschlag stockte. Er schloß die Augen: bis in sein Innerstes hinein fühlte er es plötzlich schwarze Nacht werden –

»Des freuen wir uns baß.
Und wollen Gott lobsingen –«

Besinnungslos, mit vorgestreckten Händen, stürzte er zu ihren Füßen nieder in die Knie, barg sein Antlitz an ihrer Brust und brach in ein wildes, unaufhaltsames Weinen aus:

»Christine! Christine! Christine!«

Der Schreckensschrei erstarb ihr im Munde. Instinktiv hüllte sie die herabhängenden Enden ihres Kreppschals, den sie gern ihren warmen Tröster nannte, um sein Haupt mit den verwehten und feuchten Haaren, drückte es an sich, fester, mit beiden Armen, und wiegte es hin und her, als vermöge sie so das qualvolle Schluchzen und Stöhnen des zusammengebrochenen Mannes zu geschweigen. Umsonst – immer stürmischer ward es. Er preßte seine Stirn so gewaltsam gegen sie, daß ihre Brust schmerzte; seine ganze Gestalt bebte in ihrer Umschlingung, wie unter starken Schlägen. Sie wußte nicht mehr, was tun in ihrer Herzensangst. Sie streichelte sein Haar, sie ließ ihren Kopf auf den seinigen sinken und weinte bitterlich mit ihm. Zu einer Frage kam sie nicht; sie fühlte sein schweres Leid, ohne es zu wissen, weil ihr Leben in seinem lebte.

»Lieber, Teurer – Einziglieber! Nicht doch, nicht doch! Es wird wieder gut werden!« stammelte sie an seinem Ohre, und er schluchzte nur fort und fort das, was ihm allein heilig und tröstlich geblieben war auf Erden: ihren Namen.

»Christine! – – o Christine! Christine!«

Allmählich gelang es ihrem Zuspruche, die Heftigkeit seines Schmerzes zu lindern. Er erhob sich von den Knien und bat nur: »Bleib bei mir, laß uns fort von hier gehen – ins Dunkle.«

Wie ein unmündiger Knabe ließ er sich von ihrer Hand das Orgeltreppchen hinabgeleiten. Unten in der Kirche legte sich ein matter Streifen Mondlicht breit über die grauen Platten des Fußbodens hin bis zum Leichenstein des Bischofs vor dem Altäre. Leberecht wandte sich vom Lichte ab, und Christine führte ihn seitwärts in den einstigen Kapellenwinkel der Sondersiechen. Da setzten sie sich, ganz nahe aneinander gelehnt, auf das schmale Bänkchen, Arm in Arm, Hand in Hand. Leberechts feuchter Mantel war ein schlechter Schutz vor der Winterkälte, aber den weißen Hauch ihres Atems sahen sie doch wenigstens nicht in der Finsternis.

Er konnte noch immer keine Ruhe finden. Bald an die eine, bald an die andre der zarten Mädchenwangen legte er sein glühendes Gesicht, und dann berührte sein Mund die weichen Lippen, die sich ihm nicht verwehrten. So hart grenzte dies süßeste Glück des Besitzergreifens an die bitterste Not des Sichselbstverlierens, daß ein Gefühl schmerzhaft in das andre überging.

Worte fanden sie lange nicht. Stumm, Wange gegen Wange gedrängt, ohne Kuß, ohne Händedruck saßen sie und hatten die Augen geschlossen. Zwei Müde, die nach beschwerlicher Wanderschaft am Ziele sind und nichts als Ruhe denken und wünschen.

»Geliebte,« sagte er endlich flüsternd, »küsse mich und laß mich dir alles beichten.«

Die ganze erste Liebe ihres jungen Herzens strömte ihr Kuß über ihn aus. Sie fand das vertraute »Du«, ohne daß sie's erst zu lernen brauchte. Ihre Hand ward warm in der seinigen. Vorbei war aller Wintergraus, angebrochen die Zeit der frohen Verheißung: Advent.

Sie rückten ans andere Ende ihres Bänkchens. Den Mondschein, der immer heller und goldener durch die kleine Kirche flutete und die trotzigen Pfeiler, die kurzen Wölbungen klar hervortreten ließ, fürchteten sie nicht mehr. Die Kanzel stand wie im Lichtnebel, das Gestühl in geheimnisvoller Dämmerung darunter, nur in den altersblanken Knäufen der Seitenlehnen spiegelte sich da und dort ein verirrter Strahl.

Alles beichtete er ihr, ehrlich bis ins kleinste, jeglicher Selbstverteidigung und Beschönigung bar. Das Gewissen in seiner Brust hätte ihn nicht gebieterischer zur Wahrheit zwingen können, als es die Liebe in seinem Herzen tat.

Sie hörte ihn ohne den geringsten Einwurf bis zu Ende, nur daß sie ihm die Hand drückte und sich noch enger an seine Schulter schmiegte, wenn das Zittern und Rauherwerden seiner Stimme ihr verriet, wie furchtbar er gelitten. Als er seine Beichte schloß, umschlang sie seinen Nacken, bog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn sonder Rückhalt.

»Gott hat dir das Rechte ins Herz gegeben,« sagte sie, und noch nie hatte ihn heißere Dankbarkeit überwältigt, als nach dieser schlichten Lossprechung von seiner Schuld aus dem Munde des geliebten Mädchens.

»Vielleicht wird mein Vater deine Tat anders, strenger beurteilen, als ich,« fuhr sie fort. »Aber laß es dich nicht beirren, das ist meine erste Bitte an dich, mein Geliebtester. Nimm es ohne Eifern von ihm hin, schweige aus Ehrfurcht vor seinen Jahren, nicht etwa um meinethalben. Sieh, er ist dem Himmel näher als wir, sein Geist schwebt schon halb über der bösen Welt und der schweren Zeit. Du und ich, wir stehen noch mitten darin, mein Geliebter, aber stehen wir denn nicht zusammen? O, Leberecht, möchte dich diese Gewißheit ebenso stärken wie mich. Ziehe du dir mein Herz, so wie du's haben willst, nur – liebe mich nie geringer als heute!«


Eines in des andern Arm wandelten sie, zwischen den mondbeschienenen Totenmalen des Kirchhofes zur Pastorei hinüber.

Am verschneiten, efeuumsponnenen Grabe der getreuen, neunzigjährigen Gatten blieben sie einen Moment stehen, beugten sich zu der eingesunkenen Holztafel nieder und schoben den Schnee ein wenig beiseite.

»Wi will tosam
In Himmel gahn!«

sagten sie beide aus einem Munde.


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