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25. März.

Es ist geschehen – er hat gesprochen! Er ist gerettet – ach, ich möchte es in alle Welt hinausjubeln, mein Herz ist übervoll von Seligkeit!

Gestern abend wollte ich trotz meiner Schläfrigkeit die Nachtwache nicht abtreten, und um mir's behaglich zu machen und nicht in Kleidern zu stecken, in welchen man den Arm nicht in die Höhe heben kann und mit Falten und Fältchen an jeder Ecke hängen bleibt, war ich in das wenigst verwitterte der alten Seidenfähnchen, die ich vergangenen Monat aus unsern Kasten und Truhen ans Tageslicht gezogen hatte, geschlüpft.

In dem weiten, glatten, faltigen Rocke und dem kleinen Leibchen, das wie für mich gemacht zu sein schien, fühlte ich mich so wohlig, daß ich, mir selber unbegreiflich, mir nichts dir nichts in meinem Lehnstuhle eingeschlafen bin und zwar eingeschlafen, ohne vorher einzunicken oder dagegen anzukämpfen, und daß ich meinen Kranken also wohl zwei Stunden ganz und gar sich selbst überlassen habe.

Plötzlich wachte ich auf – die Lampe war heruntergebrannt, das Feuer am Erlöschen und jenes fröstelnde Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit, das offenbar vom Nachtwachen unzertrennlich ist, überlief mich.

Ich sah nach der Uhr; Gott sei Dank! Es fehlten noch ein paar Minuten an der Stunde, zu der ich ihm seine Medizin geben mußte, ich hatte also auch noch Zeit, für die Erwärmung des eiskalten Zimmers zu sorgen.

Zeichnung: E. Bayard

Während ich vor dem Kamin kniete und auf die noch glimmenden Kohlen, die ich mit dem Munde aus Leibeskräften anblies, mit beiden Händen einen mächtigen Holzklotz schob, vernahm ich auf einmal eine Stimme, die mit mir sprach. Mit einem gellenden Schreckensschrei fuhr ich in die Höhe und starrte um mich, ohne begreifen zu können, woher die Worte kamen, und ohne ihren Sinn zu verstehen.

Dann war mein nächster Gedanke an den Verwundeten und ich flog zu seinem Bett; freilich war er es, der mich gerufen hatte. Auf einen Ellbogen gestützt, das von der Binde nicht bedeckte Auge weit geöffnet und mit dem Ausdruck gespanntester Neugierde auf mich geheftet, sah er so verwundert drein, als ob er sich mit einemmal in eine andre Welt versetzt fühlte. Er wiederholte seine Frage nicht, sondern verharrte lange in seiner Stellung, mich vom Kopf bis zur Zehenspitze unverwandt ins Auge fassend, und erst als er an der Bewegung meiner Lippen erkannt haben mochte, daß ich, all meinen Mut zusammenfassend, eine Frage an ihn zu richten im Begriffe war, kam er mir zuvor.

»Gnädige Frau,« sagte er zögernd, wie wenn er erwartete, daß ich die Anrede ablehnen werde, »darf ich Sie bitten, mir zu sagen, wo ich bin?«

»Im Schloß Erlan bei Fond de Vieux, mein Herr,« erwiderte ich mit etwas unsicherer Stimme.

»Gänzlich unbekannt,« sagte er vor sich hin. »Und Sie sind die Schloßherrin?« fuhr er aufblickend fort.

»Halb und halb, mein Herr, ja.«

»Und – entschuldigen Sie mein thörichtes Fragen, gnädige Frau, aber ich glaube, mein Verstand ist mir etwas abhanden gekommen – was mache ich eigentlich hier?«

»Ihre Genesung abwarten. Nach dem entsetzlichen Unfall, der Sie betroffen hat, wurden Sie hierher gebracht.«

»Ach, ein Unfall?« bemerkte er, und wie ich schon die Lippen öffnete, um aus tiefstem Herzensgrunde zu rufen: »Ich beschwöre Sie, es wenigstens nicht für etwas andres zu halten,« fuhr er mit derselben Kaltblütigkeit fort: »Würden Sie in Ihrer Liebenswürdigkeit so weit gehen, mir mitzuteilen, in welchem Jahre wir leben, gnädige Frau?«

Hätte ich nicht seinen vollkommen ruhigen Gesichtsausdruck vor Augen gehabt, so würde ich natürlich an einen erneuten Fieberanfall gedacht haben, allein er sprach in leichtem, gleichmütigem Konversationstone, und ganz mechanisch antwortete ich: »Im Jahre 1885.«

»Wirklich?« sagte er halblaut, wie im Selbstgespräch. »Hätte nicht gedacht, daß die Mode so aussähe.«

Dann fuhr er unvermittelt fort: »Könnte ich Papier und Feder bekommen? Ich möchte einen Freund, der in größter Sorge sein wird, beruhigen.«

»Herrn Jacques?« fragte ich unwillkürlich.

»Allerdings! Ist er hier gewesen, gnädige Frau?«

»Nein, aber in Ihren Fieberphantasieen.«

»Ach! Ich habe phantasiert! Hm – war wohl nicht sehr geeignet für junge Ohren?«

Ohne mich zu bedenken, schüttelte ich den Kopf.

»So? Nun, dann um so besser,« sagte er. »Die Narrheit ist also offenbar vernünftiger als der Verstand. Wollen Sie die Güte haben, mir das Gewünschte zu verschaffen, gnädige Frau?«

»Alles, was Sie befehlen, soll zu Ihren Diensten stehen, aber morgen. Man schreibt nicht bei Nacht.«

»Weshalb nicht, wenn man eine Lampe hat?«

Und dabei lächelte er über seine eignen Worte wie ein Kind.

»Weil der Arzt die größte Ruhe für nötig hält und mir niemals verzeihen würde, Ihnen so etwas gestattet zu haben,« versetzte ich.

Seine Augenbraue zog sich kraus, wie bei einem Menschen, der keinen Widerspruch kennt und ertragen kann, und er streckte den Arm so rasch und kräftig aus, daß ich einen Schritt nach rückwärts machte. Er lächelte von neuem und sagte, leicht das Haupt neigend: »Keine Sorge, gnädige Frau! Aber entschuldigen Sie mich, daß ich Sie hier zu stehen veranlasse; ein Kranker hat es schwer, seine Ritterpflichten zu erfüllen.«

Damit wies er mir mit der Hand einen Lehnstuhl an.

Ich war ganz verwirrt und verlegen. Dieser Mann, der aus langer Bewußtlosigkeit mit starken Schmerzen in fremder Umgebung erwachte und nun mit diesem halb spöttischen Tone über alles mögliche sprach, ohne auch nur mit einer Silbe zu fragen, was für ein Unfall ihn auf das Krankenlager geworfen habe, war mir höchst befremdlich, und nichts von dem, was ich mir ausgemalt hatte, wollte eintreffen.

Ohne mich zu setzen, hatte ich die Hand auf die Lehne des mir angewiesenen Stuhles gelegt und stand wortlos, unfähig, meine Gedanken zu sammeln, vor diesem seltsamen Individuum. Draußen schlug die Turmuhr und dabei kam mir die Medizin wieder in den Sinn.

»Das müssen Sie trinken!« sagte ich, das auf dem Tische bereitstehende Glas zur Hand nehmend.

Er wies mich mit einer nicht mißzuverstehenden Gebärde von sich, und äußerst hilflos wiederholte ich in flehendem Tone: »Das müssen Sie trinken, mein Herr, ich bitte Sie darum. Es ist ein Schlafmittel.«

»Ich weiß es, ich weiß es!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Das steht auch in dem Stück.«

Er trank, ohne ein Wort weiter zu äußern; nur als Benedikta, die ich gezwungen hatte, sich ein wenig niederzulegen, sachte wieder eintrat, bemerkte er: »Und da kommt der alte Franz!«

Mit einem leise geflüsterten: »Danke!« ließ er den Kopf in die Kissen sinken und zehn Minuten darauf schlief er und hat fortgeschlafen, bis der Arzt kam, der gegenwärtig noch bei ihm ist.

*

Der Doktor ist zufrieden, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, und hält eine Verletzung des Gehirns für ausgeschlossen.

Dagegen setzt ihn der Charakter unsres Pfleglings, dieses wunderlichen Kranken, offenbar ebenso sehr in Erstaunen wie mich, und als er vorhin aus seinem Zimmer trat, hat er sich eifrig die Stirn abgetrocknet.

»Was für ein rebellischer Schlingel! Mein armes Kind!« sagte er zu mir. »Weshalb hat er nicht noch vier Wochen bewußtlos bleiben können. Jetzt ist gar nicht mehr mit ihm auszukommen! Von Aufstehen und Davonlaufen redet er.«

Soviel ich gehört, hat er sich, als der Doktor diesen Morgen bei ihm eintrat, ohne von seinem Verbande im geringsten Notiz zu nehmen, aufrecht hingesetzt und ihm in kurzen, aber artigen Worten für seine Mühe gedankt.

»Die Zeit ist schlecht gewählt, um die Wissenschaft auf Bergpfaden wandeln zu lassen,« hat er gesagt, »und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, daß ich wider Willen Ihnen Ungelegenheiten gemacht habe.«

Dann hat er wieder angefangen, Fragen zu stellen, und zwar so ziemlich die nämlichen, die er heute nacht an mich gerichtet hat, was nicht sehr für die Klarheit meiner Antworten spricht, und das alles geschah so hastig und rasch, daß dem Doktor, wie er mir erzählt hat, vom Zuhören der Atem ausging.

Nachdem er über die geographische Lage, die ihm offenbar große Sorgen gemacht hat, so weit aufgeklärt war, soll er sich aufs lebhafteste und eingehendste nach seinem eignen Zustande erkundigt haben.

»Ich spüre da eine Kugel,« hat er, auf sein Knie deutend, gesagt. »Was hat das zu bedeuten? Sie haben mir doch nicht meuchlings das Bein abgeschnitten, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen? Und hier? Bin ich etwa trepaniert worden?«

Der Doktor that sein Möglichstes, um ihn zu beruhigen, aber er gehört nicht zu den Kranken, die sich mit leeren Worten abspeisen lassen; er rückt dem Wie und Warum der Dinge auf den Leib und hat nicht nachgelassen, bis man ihm seine Verletzungen anatomisch erklärt und bezeichnet hatte. Darauf verlangte er einen Spiegel und der Doktor reichte ihm den aus seinem kleinen chirurgischen Etui.

Zeichnung: E. Bayard

»Nette Wirtschaft,« hat er vor sich hingemurmelt. »Mir das einzig Leidliche, was ich im Gesicht habe, verpfuschen! Na, wenn der große Pyrrhus sich einen Ziegelstein auf dem Kopfe gefallen lassen mußte, so kann ich ja auch an einem Flaschenhalse draufgehen.«

»Von Draufgehen ist vorderhand überhaupt nicht die Rede,« bemerkte der Doktor.

»Hab's auch keineswegs im Sinn,« erwiderte der Patient. »Heute morgen ist mir noch etwas flau zu Mute, aber sei's um eine Woche, so wird meine Wirtin von der Last eines landfremden Kranken erlöst sein. Melden Sie ihr das, Doktor, ich bitte Sie.«

Der Arzt nickte, ohne zu antworten, mit dem Kopfe und seine Gebärde mag ziemlich deutlich gesagt haben: »Immer zu, mein junger Freund, Sie reden da großen Unsinn, aber ich will Ihnen nicht widersprechen,« denn der Kranke gewann plötzlich die Ueberzeugung, daß dies väterlich wohlwollende Kopfnicken nur ein frommer Betrug oder ein kleines Beruhigungsmittel sei, und daß hinter den dichten weißen Augenbrauen vermutlich ganz andre Ansichten vorhanden seien.

Er stellte den Doktor sofort darüber zur Rede und forderte so gebieterisch, Tag und Stunde seiner Wiederherstellung zu erfahren, wobei er ärgerlich versicherte, daß ein Mann in seinem Alter sich nicht wie ein Kind in Schlaf lullen lasse, daß der Arzt notgedrungen eine Frist ansetzen mußte, die er vorläufig auf einen Monat bemaß, sich im stillen den zweiten vorbehaltend.

Sein Wutausbruch muß sehenswert gewesen sein.

»Einen Monat, Doktor!« soll er gerufen haben. »Einen Monat! Vier Wochen wollen Sie mich hier behalten? Nun, das schlagen Sie sich nur ja aus dem Sinn. Ich habe mir für diesen Frühling einen andern Schlachtplan zurecht gemacht und gedenke nicht, in behaglicher Stille die Neubildung meiner Knochenmasse mit anzusehen, das können Sie mir glauben. Uebrigens kann diese Zusammenleimerei an jedem beliebigen Orte so gut geschehen wie hier, sollte ich meinen. Einen Monat! In einem Monat will ich unter indischem Himmel auf einer Palmenmatte liegen und mir von sechs Sklaven Wind fächeln lassen.«

»Da fahren Sie wohl per Elektricität oder Luftschiff hinüber?« fragte der Doktor lachend. »Aber abgesehen davon; wollen wir ein bißchen vernünftig reden. Es kann Ihnen doch kaum wünschenswert sein, Ihr Lebtag ein Krüppel zu bleiben, nur weil Sie nicht die Geduld hatten, sich eine Weile pflegen zu lassen?«

»Entschieden nicht, denn ich mache von meinen Beinen mehr Gebrauch, als andre Menschen sich träumen lassen, aber mit der Kapsel, in die Sie mich eingeschmiedet haben, ist es doch ganz einerlei, ob ich im Bett oder im Eisenbahnwagen liege, das Bein ist ja vollkommen unbeweglich.«

»Wenn Sie auf den Wolken fahren, o ja.«

»Braucht es gar nicht,« entgegnete er lebhaft. »Sie unterschützen die Schlafwagen. So wild Ihr Felsennest auch sein mag, ein Dutzend Menschen, die mich für Geld und gute Worte zur nächsten Bahnstation tragen, wird schon aufzutreiben sein. Von dort erreiche ich ganz bequem das Meer und lasse mich auf demselben Wege, wie man die schweren Frachtstücke an Bord befördert, aufs Schiff rollen, wo ich dann vollauf Muße habe, mich gesund zu langweilen.«

»Steht Leben oder Tod auf dem Spiele, wenn Sie nicht reisen?« fragte der Arzt.

»Nein, ganz einfach mein Vergnügen.«

Daraufhin hat der Doktor ohne ein Wort seinen Hut ergriffen und den schweren Mantel, den er zum Trocknen aufgehängt hatte, von der Stuhllehne genommen. Als der Patient erkannte, daß sein Gegner sich zum Aufbruch anschickte, fuhr er so wütend auf, daß unser wackerer Doktor, einen Fieberanfall fürchtend, eilig wieder an sein Bett trat.

»Ich möchte wohl wissen, wer mich hindern sollte, meinen Willen durchzusetzen?« sagte der Fremde, sich immer mehr erhitzend.

»Ich, mein Herr!« hat der Doktor geantwortet, indem er den Hut aus der Hand legte und sich ganz ruhig wieder setzte. »Wir wollen unsern Standpunkt ein für allemal feststellen, und da Sie nicht als Kind behandelt sein wollen, werde ich Ihnen reinen Wein einschenken. Erstens einmal genehmigen Sie die Versicherung, daß mir an Ihrer werten Person und Ihrem Knie durchaus nichts gelegen ist, und daß ich in jedem andern Falle einen Menschen, der persönlich keinen Wert auf heile Glieder legt, nach seinem Belieben zu Grunde gehen ließe, ohne den kleinen Finger zu rühren oder eine Miene zu verziehen. Augenblicklich aber bin ich Ihr Arzt, und dieser Umstand ändert die Sachlage vollständig. Haben Sie gedient, mein Herr? Wahrscheinlich, jedenfalls aber werden Sie einen Begriff davon haben, was Soldat sein heißt und was ein Heer stark macht. Man stellt einen Mann auf seinen Posten mit dem Befehl, keine lebende Seele vorüber zu lassen. Weshalb? Wozu? In wessen Namen? Das alles weiß er nicht, aber kraft des Befehles wird er das Bajonett fällen, ob Freund oder Feind ihm nahe kommt. Unsereiner ist im selben Falle. Ich sehe Sie irgend einen Weg einschlagen, ich kenne Sie nicht. Sie gehen mich nichts an, ich werde Ihnen keinen Kieselstein in den Weg legen, noch wegräumen. Da kommt ein Sturz, eine Verwundung, irgend ein Uebel, das Sie zu Boden wirft, und von diesem Augenblick an gehören Sie zu mir, ich kehre um, ich hebe Sie auf, ich lade Sie auf meine Schultern und bin verantwortlich für Sie, wie der Soldat für das Thor, das er bewacht. Möglicherweise sind Sie mir unangenehm, ich leiste Ihnen widerwillig Dienste, ich hasse in Ihnen einen persönlichen Feind, einerlei: Krankheit und Tod rüsten zum Angriff, meine Pflicht ist's, Wache zu halten und ihre Pläne zu stören. Ohne Sie zu kennen, ohne von irgend jemand zu Ihrem Hüter berufen zu sein, fühle ich mich verantwortlich für Sie, eben weil Sie verwundet sind und weil kein andrer zur Stelle ist, um Ihre Heilung zu übernehmen. Bei jedem Versuch, diese Schwelle zu überschreiten, treffen Sie mich mit gefällter Pike; nun sind Sie gewarnt, mein Herr!«

»Doktor!« hat der junge Mann ihm die Hand hinstreckend erwidert, »verzeihen Sie mir! Ich bin Ihr Gefangener auf Ehrenwort! Sie dürfen meine Unart nicht mit gereizter Krankenstimmung entschuldigen; so wie vorhin bin ich ungefähr zu jeder Zeit, aber so eigensinnig ich sein mag, wenn man mich fest anfaßt und am rechten Fleck, gebe ich nach!«

Zeichnung: E. Bayard

»Na, so was muß man nur wissen!« versetzte der Doktor gutmütig und ließ seinen stürmischen Kranken allein in Gesellschaft der Schreibmaterialien, die er glücklich erlangt hat.

Wir sind nun auch einigermaßen über die Persönlichkeit unsers Gastes aufgeklärt und wissen annähernd, wer er ist.

Sein Name ist Peter Graf Civreuse, und sein Beruf, meinte der Doktor, sei, soweit man berechtigt ist, nach dem ersten Eindruck zu urteilen, Dummheiten zu machen. Im übrigen ein gebildeter, gut aussehender Mann – darin ist der Doktor ganz meiner Ansicht – und offenbar ein ganz eigenartiger Charakter.

Unser Doktor hat ihm die Namen der Tante und den meinigen gleichfalls genannt, und so sind wir einander nun in aller Form Rechtens vorgestellt; die wirkliche Ursache des Unfalls hat er ihm aus Furcht vor seinem reizbaren Temperament noch verschwiegen, was mir unaussprechlich lieb und tröstlich ist. Meine Scheu vor dem Fremden steigert sich mit jeder Stunde, und ich kann mir nicht denken, wie ich einer Auseinandersetzung mit ihm über diesen Punkt die Stirn bieten soll.

Benedikta, die soeben das Zimmer in Ordnung gebracht hat, sagt mir, daß er noch schreibt, und so überlasse ich ihn der Unterhaltung mit seinem Jacques und warte mit Furcht und Zittern ab, wie alles werden soll und wie ich von diesem schroffen, so gar nicht entgegenkommenden Manne je Vergebung erlangen soll.

 ,

Graf Civreuse an Jacques de Colonges.

»Nicht wahr, Du hast mich für tot gehalten, alter Freund? Schäme Dich Deines Irrtums nicht! Ich habe es selber ein paar Tage geglaubt.

»Wie viele Stunden ich begraben gewesen bin, weiß ich nicht, wo ich war, ebensowenig, vermutlich da, wo andre Menschen auch hinkommen, wenn sie ihr Bewußtsein verloren haben, aber es schien mir sehr tief unter der Erde zu sein, und diese lastete so schwer auf mir, daß ich mit dem bißchen Willenskraft, das mir noch geblieben war, unaufhörlich versuchte, ob ein tüchtiger Ruck mit der Schulter nicht die vier Bretter meines Sarges sprengen könnte. Wenn man einmal so weit ist, hat man die letzte Reise jedenfalls zur Hälfte zurückgelegt und ist an der Grenze von zwei Welten angelangt, an einem Punkte, wo ein Nichts, ein Hauch genügt, die Wagschale nach der einen oder nach der andern Seite zu neigen.

»Glücklicherweise kippte sie mit mir nach der guten Seite um – menschlich gesprochen heißt das – und ich bin eines schönen Abends, etwas zerquetscht und zerschunden von meinem Falle, aufgewacht, was bei der Höhe, von der ich herunter geflogen bin, nicht zu verwundern ist, und fand mein Knie in ein weißes Holzfutteral eingeschachtelt und meinen Kopf kunstgerecht verbunden.

»Auf einer Turmuhr schlug es Mitternacht, das war der erste Ton, den ich wieder vernahm; die Stunde war also für eine Rückkehr aus dem Jenseits äußerst passend und sinnig gewählt.

»Soviel ich mich erinnern kann, sagte ich mir, ist es in der Welt der Brauch, daß diese kleinen Maschinen nie mehr als zwölf Schläge thun; wenn diese sich auch damit begnügt, so werde ich ja wohl lebendig und auf meinem früheren Planeten sein.

»Die Uhr betrug sich vorschriftsmäßig, und sehr beruhigt darüber, daß ich mein altes Ich wieder gefunden hatte, schlug ich die Augen auf, um zu erfahren, wo ich mich befände.

»Kennst Du ›Die Fee‹ von Octave Feuillet? Hast Du das geistreiche kleine Stück, das überall in der Welt gegeben wird, je gesehen? Gut! Ich erwachte also an diesem Abend, es war, soviel ich weiß, gestern, im ersten Akt der ›Fee‹ und habe die betreffende Scene mit Fräulein von Athol in höchsteigner Person gespielt. Glaube ja nicht, daß das ein Scherz sein soll, und höre mich an.

»Das erste, womit ein Kranker sich beschäftigt, ist sein Bett. Das meinige hat gewundene Säulen, einen Betthimmel, der mit Gobelins im Stil Ludwigs XIII., vielleicht auch XIV., ich will das nicht beschwören, behangen ist, und eine Decke von alter Seide, die wir auch Bettumhang nennen können, wenn Du nichts dagegen hast. Der Raum in dem ich mich befinde, ist sehr groß, zwei gelbliche Kerzen in nicht endenwollenden hohen Leuchtern erhellen ihn schwach, die Wände sind mit Eichenholz getäfelt, und wenn man etwas Phantasie hat, so entdeckt man ganz hoch oben in der Dunkelheit eine Balkendecke, an der hin und wider ein Streifchen Gold sichtbar ist.

»An den Wänden stehen steife, geradlehnige Sofas, die einem vom bloßen Ansehen Rückenschmerzen machen, eine Sammlung von ganz gleichen Betstühlen, wie zur Messe in Reih und Glied gestellt, füllt eine Ecke aus; auf dem Boden keine Spur von einem Teppich.

Zeichnung: E. Bayard

»… In dem Lehnstuhl eine zierliche, schlanke, blonde Dame.«

»Endlich vor dem Kamin ein Lehnstuhl – Du hast Dir wohl gedacht, daß ich den Lehnstuhl bis zum Ende aufspare? – und in dem Lehnstuhle eine zierliche, schlanke, blonde Dame in einem rosa Atlaskleid mit langer Schnebbe, kerzengerade dasitzend und fest schlafend. Ihr Kleid ist zweihundert Jahre alt, ihr Gesicht achtzehn: wie das zusammenreimen? … Ich arbeite so lange an der Lösung dieses Rätsels, bis die kleine Dame urplötzlich ohne alle Vorbereitung aufwacht.

»Sie wirft einen schuldbewußten Blick auf mein Bett, wie ein Schulmädchen, das sich vor einer schlechten Note fürchtet; da sie aber in dem Halbdunkel nicht erkennen kann, ob mein Auge offen oder geschlossen ist, so nimmt sie vermutlich an, ich schlafe wie ein Murmeltier, und wendet, nach dieser Seite hin beruhigt, ihre Sorge als pflichtgetreue Vestalin dem Feuer zu. Sie beugt sich nieder, stöbert in der Asche umher, bläst mit beiden Backen in die Glut, daß ihr die Kohlenstäubchen ins Haar fliegen, und faßt dann mit großem Kraftaufwand einen Holzklotz, so etwa den vierten Teil einer mittelgroßen Eiche, und schiebt ihn rasch in den Kamin.

»Sie bewegt sich; sie lebt. Mit meiner Vermutung, daß ich es hier mit einer verzauberten oder versteinerten Schloßfrau zu thun hätte, ist es folglich nichts, und ich erkenne jetzt, daß ich in dem bretannischen Schlosse bin, wo Johanna von Athol ihre frommen Hexenkünste treibt und durch den Zauber des Urgroßmuttergewandes und ihre altväterische Redeweise den ungläubigen Comminges bekehrt und behext. Sie hat nur in meinem Falle den Puder weggelassen, und ihre Haarfarbe stimmt nicht ganz zu dem Kostüm.

»So sanft als möglich rufe ich – sie stößt einen Schrei aus und fährt in die Höhe. Mein Erwachen steht offenbar nicht in der Rolle, oder sie hat ihr Stichwort vergessen und ist nun in großer Not. Sie tritt jedoch näher und wir plaudern eine Weile, wobei wir uns in lauter Mißverständnissen bewegen: sie will mich absichtlich irreleiten, ich will ihr zeigen, daß ich ihr Spiel durchschaue. Schließlich entledigt sie sich meiner, wie man es in solchen Fällen zu thun pflegt, durch einen Schlaftrunk, der aber seine Schuldigkeit nicht so rasch thut, daß ich nicht noch die dritte Person in der Komödie hereinkommen sehen könnte, eine alte graue Duenna, runzelig und eingeschrumpft wie ein Apfel vom vorigen Jahre, mit kleinen, klugen Augen, die einen Menschen durch und durch zu sehen scheinen – jedenfalls wird sie die Rolle des alten Franz vorzüglich ausfüllen. Damit fällt der Vorhang, und ich erwache erst am andern Morgen wieder. Die Scene ist unverändert, nur steht statt der rosa Dame ein geistvoller, eigensinniger Doktor vor mir, der mir meinen Fall kurz und bündig erklärt und mir beim ersten Versuch zur Rebellion so gründlich den Kopf wäscht, daß ich noch etwas verblüfft darüber bin.

»Wenn Du die Sache genau wissen willst, so erfahre, daß ich ein Loch im Kopfe und ein zerschmettertes Knie habe. Hast du eine Ahnung gehabt, daß diese Dinge so zerbrechlich sind? Ich nicht im geringsten, und ich werde meinen Körper von nun an mit zarter Rücksicht, Ehrfurcht und Sanftmut behandeln.

»Daß zwischen Schienbein und Schenkelknochen eine solche Entfremdung entstehen kann, ist eigentlich unbegreiflich! Hier ein paar Knochensplitter, dort ein Bruch und in der Mitte eine aus den Angeln gehobene Kniescheibe, die wie ein närrisch gewordener Kompaß, der seinen Pol verloren hat, nicht mehr weiß, wo sie hingehört! Was meinen Hirnkasten betrifft, so ist das Stirnbein lädiert, man stellt mir jedoch innerhalb weniger Tage eine dauernde, vollständige Heilung in Aussicht.

»Du siehst, ich suche gute Miene zum bösen Spiele zu machen, in Wahrheit aber bin ich rasend, so rasend, wie nur je in meinen besten Momenten, und der Gedanke an die Mission, die Dich für Monate bei Deinem Onkel festhält, macht mich vollends toll. Wochenlang regungslos daliegen, und Du nicht da, um mir standzuhalten! Kannst Du Dir mich vorstellen unter sechs Fuß hohem Schnee mit meiner kleinen rosa Dame als einziger Stütze? Ich habe ja ganz vergessen, zu sagen, daß wir wie die Wintersaat unter einer dichten Schneedecke gebettet ruhen, und es also nur an uns liegt, Halme zu treiben; mein Doktor braucht abwechselnd Siebenmeilenstiefel und norwegische Eisschuhe, um zu mir zu gelangen.

»Nun fragst Du nach der Ursache all dieses Unheils und fragst auch: Wie zum Henker bist du in das Unglücksnest geraten?

»Die Geschichte ist die: Erinnerst Du Dich vielleicht, daß ich den Einfall hatte, mir am Anblicke einer richtigen Winterlandschaft mit obligatem Schnee und Eis den Blick zu schärfen für die Schönheit des Südens und mir den Gegensatz recht deutlich zu machen, ungefähr wie ein Feinschmecker sich durch morgendliches Fasten und einen Spaziergang in schneidendem Ostwinde den Appetit für ein Diner schärft?

»Zu dem Zwecke hatte ich in einem kleinen Dorfe, dessen Name Dir nichts sagen würde, weil Du ihn so wenig kennst, wie ich ihn gestern gekannt habe, Halt gemacht und war von hier, den Rucksack auf den Schultern, zu Fuß in die Berge gewandert.

»Ich hatte mich nach dem Wege erkundigt und wußte, daß ich, geradeaus gehend, zu einem prachtvollen Aussichtspunkte gelangen würde; ein Tannenwald, ein Blick ins Thal und vielleicht ein altes Schloß sollten nacheinander auf der Bildfläche erscheinen.

»Nach einem halben Kilometer befand ich mich in vollkommener Einsamkeit, und wenn Du nicht zufällig auch einmal um diese Jahreszeit allein im Lande umhergestreift bist, so kannst Du Dir keinen Begriff von dieser Einsamkeit machen, die so ganz anders ist als die sommerliche. Wohin man den Fuß setzt, keine Spur eines andern Gehwerkzeuges, kein Schrei irgend eines Tieres, nicht einmal mehr die Abwechslung von rotem und weißem Klee oder gelbem Stroh, überall ein gleichmäßiges, leuchtendes Weiß, das in der ersten halben Stunde entzückt, in der zweiten ermüdet und schließlich Augenschmerzen macht. Keinerlei Terrainhindernisse mehr, kein Graben, keine Böschung, alles gleichförmig und eben, das Ideal demokratischer Gleichheitsapostel.

»Von Zeit zu Zeit läßt sich eine Schar von Raben mit dem frechen, selbstbewußten Geschrei der einzig am Leben Gebliebenen auf das Schneefeld nieder. Jetzt gehört ihnen die Welt, das wissen die Herrschaften sehr genau. An Büschen und Sträuchern hängt der Schnee und kleine Tropfen Reif. Ein drei Monate alter Tau, der noch ein paar Wochen Zeit haben wird, sich zu verflüchtigen, und dazu ein Nordwind, der einen förmlich entzweischneidet.

»Trotzdem führt jeder Weg schließlich doch zu seinem Ziele, und ich hatte nacheinander den schönen Blick ins Thal genossen, den Wald und die Aussicht gefunden, und nun tauchte auch das Schloß vor meinen Augen auf. Eine eingehende Beschreibung desselben erlasse Du mir vorderhand, da ich es ziemlich unvollständig studiert habe, wie Du sofort hören wirst, und da dies Schloß und ich nun notgedrungen nähere Bekanntschaft machen werden.

»Ein Flügel desselben liegt nach der Landstraße; vor diesem stand ich still und war in voller Harmlosigkeit beschäftigt, einen Stein vom Schnee zu befreien, um mich darauf zu setzen. Ich wollte mir alles mit Muße ansehen, denn das milde, melancholische, kühne Bild fesselte mich ungemein.

Zeichnung: E. Bayard

»Eine eigentümliche Neugier ergriff mich; es war mir, als ob hinter diesen altersgrauen Mauern etwas Besondres, Unerwartetes stecken müsse, und ein Verlangen, hineinzudringen, packte mich mit plötzlichem Ungestüm. Du kennst mich ja – alles Verschlossene und unerreichbar Scheinende hat mich von jeher angezogen, und ich könnte mich nicht entsinnen, als Junge je von einem niedern Ast einen Apfel stibitzt zu haben – von den hohen will ich das weniger behaupten.

»Als ich so dastand, stieg plötzlich die Erinnerung an unser letztes Gespräch lebhaft vor mir auf. Du hast doch nicht vergessen, wie wir neulich abends von meiner Reise sprachen und wie Du mir Vernunft gepredigt hast? ›Bin ich einmal in Indien,‹ hatte ich gesagt, ›so will ich alles sehen, und besonders das, was man dem Auge des Europäers entziehen will. Ich will in die innersten Beziehungen der Familie eindringen, ich will all ihre Ceremonien, all ihre drolligen oder feierlichen Bräuche kennen lernen, und wenn ich zwanzigerlei Masken anlegen müßte, um in die Geheimnisse ihrer Gottesverehrung einzuschleichen, zu Brahmas Füßen durchzudringen und ihn nach dem Gesetze anzubeten – ich will es.‹ Weise und vernünftig wie immer bemerktest Du darauf: ›Nimm dich in acht! Ein jeder hütet sein Geheimnis und die Unverletzlichkeit des häuslichen Herdes mit Eifersucht, keiner aber so sehr wie der Orientale, und du könntest das Vergnügen, deine Schuhsohle irgendwohin zu setzen, wo noch kein europäischer Stiefel gestanden hat, teuer bezahlen müssen.‹

»›Und wer sollte diesen Tribut fordern?‹ fragte ich Dich lachend. ›Meinst du, daß der Gott sich meinetwegen in Unkosten setzen und seine achtzehn Beine rühren werde, um von seinem Piedestal herabzusteigen?‹

»›Er schwerlich,‹ erwidertest Du, ›aber seine Getreuen werden ohne Bedenken einschreiten, und wenn du den heiligen Bannkreis vermessen überschreitest, so ist es höchst wahrscheinlich, daß der Faustschlag eines zürnenden Brahminen dich mahnt, Grenzen zu achten.‹

»Weshalb dachte ich in dem Augenblicke an dies alles? Vielleicht, weil ich bei mir überlegte, ob die Empfindlichkeit der Franzosen ebenso schnell wachgerufen sei, wie der Inder, oder vielleicht, weil ich mir im stillen bewußt war, schon die Höhe der Mauer mit den Augen gemessen und eine Stelle gesucht zu haben, in die ich möglicherweise den Fuß setzen könnte – genug, ich dachte daran, und im nämlichen Augenblicke machte mich das Gekrach einer zerbrochenen Fensterscheibe aufblicken, und ehe ich Zeit gehabt hatte, o weh! zu rufen, traf mich ein Wurfgeschoß, dessen eigentliche Natur ich noch nicht ergründet habe, das aber von sicherer Hand geschleudert war, an die Stirn.

»Der Schlag war so ungeheuer stark, daß ich ins Schwanken geriet, mit beiden Füßen in dem Gerölle ausglitschte und mit voller Gewalt, ohne meinen Fall irgendwie aufhalten zu können, auf die Kniee stürzte und leider so ungeschickt, daß all das Ungemach, das ich Dir gemeldet habe, daraus entstanden ist.

»Kann man Zudringlichkeit der Menschen gründlicher von sich abwehren und konnte Deine Weisheit nachdrücklicher bestätigt werden, als durch dieses Zermalmen meiner neugierigen Begehrlichkeit, solange sie noch im Ei steckt, und diesen Faustschlag, den mir Dein Brahmine schon für die ungeborene Sünde versetzt?

»Irgend jemand kam sehr aufgeregt und mit lautem Jammerschrei herbeigelaufen, aber ich hätte darauf geschworen, daß gleichzeitig ein undurchdringlicher Nebel vom Boden aufstieg; denn ich konnte nichts mehr unterscheiden und muß fast augenblicklich das Bewußtsein verloren haben.

»Von dem, was zuerst mit mir geschah, weiß ich gar nichts und mein todähnlicher Schlaf scheint vier volle Tage gedauert zu haben.

»Ueber den Urheber meiner Wunde und das Werkzeug der grausen That ist meine Umgebung so zurückhaltend, daß ich immer noch auf leere Vermutungen angewiesen bin; sobald ich aber meine rosa Dame oder die Alte mit den durchbohrenden Augen wieder erwische, werde ich meine Nachforschungen mit Eifer betreiben.

»Einstweilen kenne ich wenigstens den Namen der Burg: Schloß Erlan bei Fond de Vieux, damit hast Du zugleich meine Briefadresse.

»Der Briefträger kommt nämlich wirklich zuweilen hierher, vorausgesetzt natürlich, daß ihm das Briefpaket für das benachbarte Dorf groß genug erscheint, oder daß ihm ein Krämer oder Metzger einen Auftrag erteilt, der die Bergfahrt lohnt.

»Zwei Frauen hausen mutterseelenallein hier: Fräulein von Dorn und Fräulein von Erlan, Tante und Nichte. Meine dem Doktor geäußerten Befürchtungen, daß ich den Damen in jeder Hinsicht schwere Opfer auferlegen werde, wurden von dem wackeren Manne mit so ehrlicher Miene beseitigt, daß ich wohl oder übel meine Skrupel vergessen und mir die Gutthaten dieser Freistätte gefallen lassen muß.

»Habe ich Dir übrigens gesagt, daß dieser Doktor von einem Monat in unveränderter Lage spricht, eine Redensart, die im Munde eines Arztes jedenfalls zwei Monate zu bedeuten hat? Zwei Monate daliegen wie ein Stück Holz!

»Ich knirsche und stöhne bei dem Gedanken, und wenn ich mir überlege, daß meine ganze Schuld in einer zehn Minuten dauernden, vollkommen platonischen Betrachtung einer alten Mauer besteht, einer Betrachtung, über die auch ein Cherub nicht zu erröten hätte, und daß ich dafür wochenlang zwischen drei Frauenzimmern verdummen soll, anstatt in indischen Dschungeln den Tiger zu jagen, so bin ich versucht, mit dem halbgeborstenen Kopfe vollends gegen die Wand zu rennen!

»›Du hast die Grille gehabt, in das Schloß hineinzukommen; jetzt bist du drin, was ist da zu klagen?‹ wirst Du mir entgegenhalten.

»Ja, mein Lieber, weil ich drin bin, will ich jetzt heraus! Ich habe gesehen, was hinter diesen Mauern steckt, und kann Dir versichern, daß auch ein Greis von achtzig Jahren die Sache nicht sehr amüsant fände.

»Aber still jetzt, Jacques, man pocht an die Thür und zwar sachte und leise; es muß ein niedlicher Finger sein. Steck Dich hinter den Bettvorhang, alter Freund, es soll Dir nichts entgehen, sei ganz ruhig!«


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