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2. März.

Ein Ding, über das ich schon viel nachgedacht und worüber die Tante zu befragen ich doch nie den Mut gehabt habe, ist die Art unsrer beiderseitigen Beziehungen: wohnt sie bei mir, oder ich bei ihr? Hat sie mich aufgenommen in ihre Burg, oder gewähre ich ihr das schützende Dach meiner Ruine? Gehören die beiden Türme und die vier Mauern, die noch die Kraft haben, ihren Namen »Schloß Erlan bei Fond de Vieux« zu tragen, dem Fräulein von Dorn oder dem Fräulein von Erlan?

Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, sehe ich uns immer hier bei einander, Tante und Nichte, wie wir es heute noch sind. Sie immer so steinern, so trocken und groß, ewig eingeriegelt in ihrer riesigen, nach der Sonnenseite gelegenen, vor Wind geschützten Stube, und mich draußen und drinnen umherstreichend in Wetter und Wind, ohne daß sie im geringsten Notiz von mir zu nehmen schien. Zwischen uns beiden stand und steht Benedikta, die Köchin und Wirtschafterin, Kellermeister und Gärtner in einer Person, und überdies noch meine einzige Freundin. Alles ist, wie es gewesen war, nur daß Franzel vielleicht das Brunnenrad etwas langsamer und schwerfälliger in Bewegung setzt, als zu meinen Kinderzeiten.

Dazwischen liegen meine zwei Klosterjahre, die köstlichen, glückseligen Jahre, in denen man mich beim Namen nannte, mit mir sprach, wo mein Bett neben zwölf andern, ganz gleichen, schneeweißen Betten stand, unter deren Decken ein übermütiges Kichern ausbrach, so oft es mir nur in den Sinn kam, ein kleines Zeichen zu machen! Zwei Jahre, in denen ich so vieles gelernt habe, wenn auch nicht gerade alles, was man uns in den Schulstunden beizubringen beflissen war.

Mein Kloster, wo ich Freundschaften für die Ewigkeit geschlossen, wo man mich gelehrt hat, meine Haare aufzuwickeln und einen Fächer zu handhaben, wo ich zum erstenmal gehört habe, was man ein Ideal nennt und daß ein Mann notwendig dunkel, blaß, etwas ältlich, finster und sarkastisch sein muß, um ein Held zu heißen! Ach, wer gibt mir je die glückseligen Klosterstunden zurück!

So hoch auch die Mauern waren, die uns umgaben, ganz konnten sie doch das Geräusch von Paris nicht abhalten, und an jedem Besuchstage drang ein profaner Windstoß herein, der uns allerlei von der bunten Welt da draußen zutrug und den Gesprächsstoff für die ganze Woche lieferte. O, diese geheimnisvollen Plauderstündchen in dem dichten Gebüsche des Parkes, das uns wie ein undurchdringliches Dschungel schützte und abschied, und wo doch das Rauschen eines fallenden Blattes uns auseinanderschrecken machte; dies Versteckspielen hinter dem Sockel einer Statue, sobald eine der Nonnen in Sicht kam, die für so böse galten und doch so weiche, herzliebe Stimmen hatten; die tollen Zettelchen, die unter der Firma geographischer Fragen und Antworten von Pult zu Pult wanderten, ach, was kann es denn Schöneres geben! Das Mittelländische Meer bedeutet eine Person, das Baltische eine andre, und diese beiden Wasserflächen mußten einander Dinge anvertrauen, die alle wohlbestallten Naturgesetze in einem Nu über den Haufen warfen.

Nach den Zettelchen kamen die Geschenke: große blaue oder rote Liebesknoten mit einer Stecknadel auf ein Blatt weißes Papier befestigt, das alle möglichen Zeichnungen, Verse und Wahlsprüche enthielt, aus denen man eine Zuneigung und eine Zärtlichkeit erkannte, die einem Herzklopfen machte.

Und dann erschien eines Tages, urplötzlich, zum erstenmal, seit sie mich abgeliefert hatte, meine Tante wiederum, und ohne ein Wort der Vorbereitung sagte sie mir, daß sie mich mit sich nach Hause nehmen werde.

»Deine Erziehung ist beendigt,« erklärte sie ohne lange Einleitung, »und da du es in den zwei Jahren nicht fertig gebracht hast, dir eine anständige Versorgung zu verschaffen, so mußt du wieder nach Erlan.«

Nach Erlan. Ich war wie versteinert, es war, als ob man mich plötzlich in ein Grab stoßen und den Stein darauf setzen wollte, während ich noch atmete, lebte.

»Aber Tante,« stieß ich verwirrt hervor, »glauben Sie doch nicht, daß ich etwas wisse, daß ich etwas gelernt habe, im Gegenteil, Orthographie, Rechnen, Geschichte –«

Ich blieb stecken, ich wußte nichts mehr zu sagen, ach, am liebsten hätte ich gar nicht mehr gesprochen, dann wäre sie vielleicht auf den Gedanken gekommen, mich da zu lassen, um b–a–ba buchstabieren zu lernen. Solche Kleinigkeiten, wie ich sie erwähnt habe, konnten sie nicht aus dem Concept bringen, und mir in ihrer gewohnten Art und Weise das Wort abschneidend, sagte sie ganz trocken: »Wenn du nichts gelernt hast, Nichte, so beweist das nur, daß du die zwei Jahre hier ganz nutzlos verbracht hast, und ich müßte mir ein Gewissen daraus machen, dich auch nur eine Stunde länger hier zu lassen. Ueberhaupt ist das ganz deine Sache und du fügst damit deiner Stellung als unbemitteltes Mädchen noch den weiteren Vorzug hinzu, ein ungebildetes zu sein, was dir deinen Weg im Leben nicht wesentlich erleichtern wird. Gott sei Dank, bin ich dafür nicht verantwortlich; ich habe das Meinige gethan, um dir behilflich zu sein und dich unabhängig zu machen.«

Dabei stand sie mit einer Entschiedenheit auf, die dieser Unterredung ein für allemal ein Ziel setzte, was mich in solche Verzweiflung brachte, daß ich fast unwillkürlich ausrief: »Und wenn ich Beruf fürs Kloster hätte?«

»In dem Falle,« erwiderte sie, sich mit einem eigentümlichen Lächeln rasch nach mir umwendend, »würde ich dich allerdings hierlassen.«

Sie hielt einen Augenblick inne, dann sprach sie, indem sie, ohne mich anzusehen, auf die Thüre zuging: »Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden Zeit, dir das zu überlegen,« und damit war sie wie ein beängstigender Traum entschwunden.

Vierundzwanzig Stunden gewonnen. Mir war, als hätte ich damit den Frieden für alle Ewigkeit, und Haube und Schleier der Schwestern kamen mir beinahe hübsch vor, wenn ich bedachte, daß sie mich vor der Verbannung retten konnten.

Obwohl es streng verboten war, schlüpfte ich im ersten unbewachten Augenblicke in den Schlafsaal hinauf und hatte mir im Handumdrehen mit Hilfe von zwei Taschentüchern und meiner schwarzen Schürze die ganze Kopfbedeckung der Nonnen zurecht gemacht.

Unstreitig sah ich ohne diesen Schmuck besser aus, allein abschreckend war der Anblick doch keineswegs, und ich fand sogar, daß die weiße Binde über den Augen dieselben noch dunkler und größer erscheinen ließ. Dies war natürlich vorläufig die Hauptsache, und mein Entschluß stand sofort unwiderruflich fest. Den ganzen übrigen Tag widmete ich alle meine Gedanken dem strengen Ernst, der nun mein Leben erfüllen sollte, und als man mich mit einem kleinen Auftrage in unser am andern Ende des Parkes gelegenes Krankenhaus schickte, gelang es mir, den Weg beidemal barfuß zurückzulegen, ohne daß jemand es bemerkt hätte.

Zeichnung: E. Bayard

Außer ein paar unbedeutenden Hautritzchen verspürte ich dabei keine besondern Uebel, und mehr und mehr von meinem inneren Berufe durchdrungen, verbrachte ich einen Teil jener Nacht vor meinem Bette knieend, wobei ich mir überdies ein Bund kleiner Schlüssel, ein elfenbeinernes Papier- und ein Federmesser umgehängt hatte und diesen etwas stachligen Halsschmuck fest an meine Brust drückte, was mir sehr weh that.

Zweimal mußte ich, als die Aufsichtsschwester durch den Saal ging, in mein Bett stürzen, bei welcher Gelegenheit mein eisernes Gehänge ein verdächtiges Klirren vollführte, was sie veranlaßte, sich längere Zeit über mich zu beugen; allein sie vernahm so gleichmäßige Atemzüge und erblickte so festgeschlossene Augen, daß sie ihren Irrtum zu erkennen glaubte und beruhigt weiterschritt.

Als ich am andern Morgen aufwachte, war das ganze Kloster in Bewegung. Der Erzbischof, welcher fünf Novizen einkleiden sollte und den man erst in einigen Tagen erwartet, hatte sich, einer unaufschiebbaren Reise wegen, plötzlich für heute angesagt, und die Vorbereitungen für den feierlichen Akt wurden nun in höchster Eile getroffen.

»Wie entzückend,« sagte ich mir, während ich mich vergebens bemühte, meine widerspenstigen Haare zu flechten, die trotz allen dabei verwendeten Wassers stets in die ihnen gemäßen Locken zurückzuringeln bestrebt waren, »wie entzückend, daß der Himmel selbst mir Gelegenheit gibt, mich durch und durch zu prüfen, und daß ich heute abend meiner Tante bestimmt und klar antworten kann.« Es war mir jedoch unmöglich, an diesem Morgen eine Unterredung mit der Oberin zu erlangen, und meine Versuche, Schlichtheit und Demut in meiner Erscheinung zum Ausdruck zu bringen, trugen mir nur eine ziemlich scharfe Rüge ein.

»Wassertropfenfrisur! Reizend! Ganz neu!« flüsterte mir eine meiner Gefährtinnen zu, als wir in Reih und Glied antraten.

»Fräulein von Erlan!« erklang im selben Augenblick Schwester Agathens Stimme, weit weniger beifällig und sehr gebieterisch, »haben Sie etwa den Kopf in den Brunnen getaucht? Ich darf wohl bitten, daß Sie sofort hinaufgehen, Ihre Haare trocknen und sich noch einmal kämmen?«

Oben angelangt, wollte ich zuerst ins klare darüber kommen, wie ich denn eigentlich aussähe, und fand, daß meine Haare ganz fröhlich wieder pfropfenzieherten und daß sich am Ende jeder Locke und fast jedes einzelnen Härchens das Wasser in hellen Tropfen angesammelt hatte. Das war entschieden nicht häßlich, ebensowenig aber klösterlich, und ich wischte diesen unzeitig angebrachten Schmuck, welcher Diamanten so täuschend nachzuahmen wußte, energisch von meiner Mähne ab.

Während der heiligen Handlung stieg meine Begeisterung aufs höchste. Diese Blumen, diese Lichter und die fünf jungen Mädchen in den weißen Gewändern, deren lange Schleppen durch den Chor rauschten, steigerten meinen frommen Eifer bis zur glühendsten Sehnsucht, selbst an ihrer Stelle zu stehen.

Nur aus großer Entfernung konnte ich die Zuschauer erblicken, unterschied aber in der ersten Reihe einen hochgewachsenen jungen Mann in Uniform, und glaubte sogar zu bemerken, daß er rotgeweinte Augen habe. War es ein Verlobter, der hier die Braut zum letztenmal sah und stummen ewigen Abschied von ihr nahm? Es war ein derartiges Gerücht unter uns besprochen worden und die Sache erschien mir im höchsten Grade romantisch.

Als aber nun die fünf Särge hereingebracht wurden und die eben noch bräutlich geschmückten Mädchen umgekleidet, im Nonnengewande und mit langen, schwarzen Schleiern verhüllt, sich hineinlegten und die Totenklagen über sich singen hörten, war mein Entschluß zerstoben wie Spreu vor dem Winde, ich riß hastig mein Büßerwerkzeug, das Schlüsselbund, aus meinem Kleide, und ohne auf irgend etwas zu hören, dem letzten Zank im Kloster Trotz bietend, flog ich in den Schlafsaal, um mich und mein bißchen Habe reisefertig zu machen.

Zur bezeichneten Stunde stand ich, meine Reisetasche in der Hand, thränenfeuchten Auges und ganz beladen mit Bildern und allerhand Schätzen, die mir im Sturme des Abschiedsschmerzes von allen Seiten zugeflogen waren, im Sprechzimmer, äußerst unglücklich, aber doch so fest zur Abreise entschlossen, daß Erlan in der Entfernung einen ordentlichen Nimbus gewann und ich sofort, nachdem meine Tante eingetreten war, der Thür zuschritt.

Zeichnung: E. Bayard

»Nun, nun,« sagte sie mit ziemlich überraschter Miene, »was soll das heißen?«

»Ich bin bereit, fortzugehen,« erwiderte ich einfach, ohne den leisen Anflug von Verachtung, der in ihrem Tone gelegen war, zu beachten.

Als ich die Oberin küßte, flossen die Thränen von neuem und mit einem feuchten Nebel vor den Augen überschritt ich die mir so liebgewordene Schwelle.

»Ostbahnhof!« rief meine Tante, in die Droschke steigend.

Zwei Stunden darauf saßen wir in der Eisenbahn und fuhren in einem Schweigen dahin, das der fünf neueingekleideten Schwestern, die mich unbewußt aus dem Hause des Herrn verscheucht hatten, würdig gewesen wäre.

Auf der Station, wo wir die Bahn verließen, wartete die gelbe Postkutsche, die uns der Heimat zuführen sollte, nur noch auf uns; mit einer Handbewegung hieß meine Tante mich einsteigen, und unwillkürlich von ihrer Wortkargheit angesteckt, deutete ich ihr ebenfalls nur durch eine Handbewegung meine Vorliebe für den luftigen Sitz auf dem Bänkchen über dem Kutscher an.

»Nein, nein!« sagte sie trocken. »Von jetzt an kommst du mir nicht mehr von der Seite.«

Im Dorfe wartete Franzel mit unserm alten Rumpelkasten, und noch ganz verwirrt und betäubt von dieser plötzlichen Verwandlung, stand ich am selben Abend zwischen den vier Wänden meiner Stube, aus welcher sich zu meinem Erstaunen so ziemlich alle Möbel entfernt hatten.

Meine Kerze erschien mir in dieser Nacht wie eine Leichenfackel; meine Schritte hallten in dem leeren Raume wider wie in einer Kirche, und als ich mich so mit einem Schlage verlassen und verloren fühlte, that ich das einzige, was ich vernünftigerweise thun konnte: ich setzte mich auf den Boden, schlang die Arme um mein ärmliches Köfferchen und weinte. Der Thränenquell, den ich am Morgen versiegt geglaubt, that seine Schleusen von neuem auf und all mein Herzweh ergoß sich darin. Als das besorgt war, stand ich auf, um mein Fenster einem Mondenstrahle zu öffnen, der leise an die Scheibe gepocht hatte, und zum erstenmal inne werdend, wie finster und tief das Thal ist, wie hoch die Berge, die uns von aller Welt abschneiden, konnte ich nicht umhin, laut zu seufzen: »Mein Gott, mein Gott, wer wird mich je aus dieser Wildnis erretten?«

Und eine sanfte, tröstliche Stimme, die ich von Zeit zu Zeit immer wieder vernehme, sprach in mir: »Er! Sei nur getrost.«

Seither erwarte ich ihn jeden Tag, entschuldige ihn jeden Tag und hoffe auf ihn ohne Unterlaß.


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