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10. März.

Zwischen dem Schnee und mir besteht entschieden eine gewisse Wahlverwandtschaft, und um ein Haar hätte er mich heute früh wieder für sich behalten. Diesmal aber hatte ich Beßres zu thun, als in einem windstillen Winkel einzuschlafen. Es ist ein Unterschied, ob man einen Schatz zu bergen hat, oder ob man mit leeren Händen einherwandelt. Ich hab' mich durchgekämpft, und da bin ich denn auch glücklich wieder.

Der Abmarsch hat keine besondern Schwierigkeiten gehabt. Benedikta steckte bis über die Ohren in den Wonnen eines großen Scheuerfestes und »Einer« war in den Schrank gesperrt, somit hatte ich freie Hand.

Mein Kleid hoch aufgeschürzt, feste bäuerische Bergschuhe an den Füßen, einen Großmuttermantel um die Schultern, so war ich für Sibirien ausgerüstet, und fröhlicher konnte man nicht durch Schnee und Eis wandeln.

Kaum hatte ich ein paar hundert Schritte gemacht, als eine schwarze Masse mir über den Weg kugelte – mein armer Hund war's.

Ob er den Schrank umgestürzt und zertrümmert, die Thür aufgedrückt oder das Schloß gefressen hat, um herauszukommen, weiß ich noch nicht, sobald ich aber sicher war, daß er das Haus nicht in Aufruhr gebracht und keine andern Verfolger auf meine Fersen gelockt hatte, war ich herzlich froh, ihn zum Begleiter zu haben, und alles, was ich thun und sagen wollte, ausführlich mit ihm zu besprechen.

Zeichnung: E. Bayard

»Ich klopfte an die Thür«.

Mutter Lanciens Häuschen liegt ziemlich abseits vom Dorfe, halb versteckt in einem Tannendickicht, dessen höchste Zweige ein zweites Schutzdach darüber bilden. Auf dem schmalen Fußpfad war der Schnee gehörig festgetreten und im Sommer wird, denke ich, kein Gras darauf wachsen. Jedenfalls hatte ich für heute den Wallfahrern den Rang abgelaufen, und die morgendliche Einsamkeit ließ mich eine lange Unterredung hoffen.

Während ich an die Thür klopfe, wage ich durch eine kleine Scheibe des daneben liegenden Fensters hineinzuspähen. Die Prophetin ist zu Hause, sie sitzt neben dem Herde. Auf dem Feuer dampfen und brodeln fünf oder sechs kleine Töpfe, alle überragt ein großer Kessel, von dem sie vorsichtig den Deckel abhebt, um prüfend und aufmerksam den Dunst einzuatmen … Hm! Mir ist's, als ob es nach frischem Fleisch röche! Ein leiser Schauder läuft mir über den Rücken, und ohne ein zweites Mal zu pochen, mache ich ein paar Schritte seitwärts – als ob eine Wahrsagerin nicht alles wüßte! Durch die dicke Mauer fühlt sie meine Nähe, steht auf, öffnet die Thür, sieht mir einen Augenblick ins Gesicht, versteckt sich halb hinter der schützenden Wand, senkt den Kopf demütig wie ein Betteljunge, der um ein Almosen bittet, und ohne sich mehr über mein Erscheinen zu verwundern, als wenn ich schon zwanzigmal bei ihr gewesen wäre, sagt sie: »Fräulein Colette? Kommen Sie doch herein und wärmen Sie sich ein wenig; der Wind zerreißt einem ja das Gesicht heute.«

Sie rückt mir einen Strohstuhl zurecht, »Einer« legt sich zu meinen Füßen und streckt die großen Tatzen wohlig auf den durchwärmten Stein, und sie setzt sich auf ihren alten Platz, mir gerade gegenüber. Ich muß gestehen, daß ich im ersten Augenblick alle Fassung verloren hatte. Von meinem Mantel, den ich auf die Stuhllehne gelegt hatte, floß mir der geschmolzene Schnee Tropfen auf Tropfen den Hals hinunter, ohne daß ich auf den Einfall gekommen wäre, mich anders hinzusetzen.

Die alte Frau ließ sich indessen nicht stören, sie stöberte in der Asche herum, fachte das Feuer an – alles ohne ein Wort zu sagen; in dem Augenblick aber, als ich das verlegene Schweigen nicht länger mehr aushalten zu können meinte und eine rechte Dummheit vom Stapel lassen wollte, fragte sie mich: »Essen Sie sie gern recht heiß?« wobei sie ruhig den Deckel von dem großen Kessel hob und eben gargekochte Kartoffeln herausnahm.

Die Schale war ringsum geplatzt und die mehlige, schneeweiß schimmernde Masse quoll dampfend heraus, den ganzen Raum mit ihrem Dufte erfüllend.

Nun war mir mit einem Schlage die Zunge gelöst und in nicht sehr zusammenhängenden Sätzen, weil ich immer wieder meine Kartoffeln blasen und sie von einer Hand in die andre nehmen mußte, klagte ich mein Leid und erbat mir Rat.

Die Hände überm Kopf zusammengelegt, mit einem Lächeln, das, je länger ich spreche, immer freundlicher und herzlicher wird, hört mir Mutter Lancien zu, ohne mich auch nur durch eine Bewegung zu unterbrechen.

»Mein schönes Kind,« sagt sie dann mild, »Ihr Fall ist kein schwerer; unheilbare Leiden habe ich bei Zwanzigjährigen überhaupt noch nie wahrgenommen, aber ich fürchte, die guten Leute hier haben Sie über das, was ich thun und leisten kann, falsch berichtet, und Sie trauen mir Dinge zu, die nicht in meiner Macht stehen. Meine Mittel sind schlichter Art und Sie könnten selbst ebensolche, wenn nicht beßre, für alles mögliche finden, wenn Sie sich recht besinnen wollten. Wenn wir eine Kälte haben, wie jetzt zum Beispiel, so stecke ich Fieberkranke, Huster und allerlei Leute, die draußen nichts verloren haben, ins Bett; die Vollblütigen aber, die alleweil am Ofen hocken und mit der Pfeife zwischen den Zähnen im Tabaksqualm einschlafen, die schicke ich an die Luft. Das bekommt nun beiderlei Leuten gut, und weil früher nie jemand an so was gedacht hat, meinen sie Wunder, was die alte Lancien zuwege gebracht, und so ist's mit allem! Wir zwei können ja offen miteinander reden und Ihnen sage ich gern, daß blutwenig Weisheit zu alledem gehört. Na, nun sind Sie im stillen ärgerlich und denken, um das zu erfahren, hätten Sie keinen so weiten Weg zu machen und eine so schlechtberatene Frau nicht zu besuchen brauchen! Kann sein, wir kriegen doch noch was heraus, Kind – nur Geduld! Wenn es auch mit den Feen und Zauberern aus und vorbei ist, so haben wir doch noch eine Menge guter Geister, die uns gern aus der Not ziehen, und an die verweise ich Sie. Der liebe Gott soll mir's verzeihen, daß ich dieselben in einem Atem mit den Geistern, welche die Menschen sich selbst zurecht gemacht haben, nenne; ich denke wahrhaftig nicht gering von ihnen. Wenn kein Mensch auf Erden Ihnen helfen kann, mein junges Fräulein, wie wär's denn dann mit den lieben Heiligen des Paradieses?«

Zeichnung: E. Bayard

Die Heiligen des Paradieses! Ich gestehe, daß ich über die Maßen verblüfft war und daß mich's kaum mehr in Erstaunen gesetzt hätte, Mutter Lancien einen jungen, schönen Kavalier mit gedrehtem Schnurrbarte und einem Federhute in der Hand aus der Brotschublade nehmen und ihn mir vorstellen zu sehen.

»An das hab' ich nie gedacht!« sagte ich endlich, als sie mich immer noch erwartungsvoll ansah.

»Ja, ja, so was kommt vor,« bemerkte sie und fing nun an, mir klar und eingehend auseinanderzusetzen, daß man durch richtiges Beten alles erlangt, wonach einem das Herz steht, wie man sich dabei anstellen muß, wenn man um diese und wenn man um jene Gunst bittet, so daß mir's wirklich vorkam, als ob sie mit all diesen Heiligen auf dem allervertrautesten Fuße stünde und jedes einzelnen Empfindungen ihr geläufig wären.

»Als Sie noch ein Kind waren,« sagte sie, »wie haben Sie's da gemacht, wenn Sie nach einer Frucht verlangten, die für Ihre kleinen Händchen zu hoch am Baume hing? Sie haben jemand, der größer war als Sie, gebeten, Ihnen dieselbe zu reichen, nicht? Nun, jetzt sind Sie ja hoch genug gewachsen, um die Dinge dieser Welt ohne Hilfe erreichen zu können, aber bei allem, was Ihnen zu hoch hängt – und es wird allezeit etwas geben, das Sie nicht erreichen können – machen Sie's wie damals!«

Sie sprach so einfach und dabei so erhaben, wenn ich das Wort gebrauchen darf, daß ich, ohne unserm Pastor zu nahe zu treten, sagen muß, daß keine seiner Predigten dieser gleichkam, und ihr Glaube war so tief innerlich wahr und dabei so mit fortreißend, daß ich ihr klopfenden Herzens zuhörte und durch die trüben kleinen Fensterscheibchen alle Bewohner des Paradieses mit offnen Händen, gütigem Lächeln und der freundlichsten Bereitwilligkeit, mir alle guten Gaben, über die sie verfügten, zukommen zu lassen, auf den Wolken stehen sah.

Wie es möglich gewesen ist, daß mir nicht einmal in den Sinn gekommen, mich an ihre Hilfe zu wenden, fasse ich gar nicht! Und wenn ich bedenke, wie meine Andachtsübungen nun mein Leben ausfüllen, möchte ich am liebsten heiße Thränen vergießen über die so lange vergeudete Zeit!

Doch das lohnte ja jetzt gar nicht mehr! Neun Tage sind schnell vorüber, und wenn man weiß, daß nach Ablauf derselben das Glück kommt, fliegt die Zeit!

An den heiligen Joseph muß ich mich wenden, hat mir Mutter Lancien gesagt, und noch kein Mensch hat erlebt, daß er je eine derartige Bitte nicht erfüllt hätte! Freilich muß man mit Inbrunst beten, die neun Tage gewissenhaft einhalten und unverbrüchlich festen Glauben haben.

Ob ich Glauben habe! Ach, mir ist's ja, als ob mir der Heilige in Person sein Wort gegeben hätte, und nicht um alle Güter der Welt würde ich die vorgeschriebenen neun Tage auch nur um eine Viertelstunde verkürzen oder verlängern.

Moses hat es teuer genug bezahlen müssen, daß er ein zweites Mal an den Felsen von Horeb geschlagen hat, ich werde das Wunder nur einmal versuchen. Nur hoffe ich, daß ich so vertrauensvoll und mit so überzeugenden Worten an meinen Felsen schlagen werde, daß der Quell vielleicht schon vor dem neunten Tage hervorsprudelt.

Ach! Wie hab' ich diese Mutter Lancien lieb! Und wenn sie will, soll sie sicherlich in der prächtigen Karosse, die mich von hier entführt, ihren Platz haben!


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