Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Vierzehntes Kapitel

Es war am andern Abend, als er Frankfurt erreichte; in Hanau war er jetzt auf kaiserliche Truppen gestoßen; er hörte dort, daß sie am folgenden Tage den Marsch auf Frankfurt antreten sollten, während von der andern Seite, von Höchst her, das bereits besetzt war, ein anderes Korps zur Vertreibung der Franzosen aus der alten Kaiserstadt anrücken würde. Um so eiliger suchte Wilderich vorwärts zu kommen, in der Angst, daß der französische Kommandant, dem klar werden mußte, wie kurz seines Bleibens in der von ihm tyrannisierten Stadt nur noch sein könne, desto grausamer und rücksichtsloser über das Schicksal des armen gefangenen Schultheißen entschieden und das Ärgste bereits vollführt habe.

An dem Allerheiligentore – Frankfurt hatte damals noch vor seinen alten Befestigungen einen bastionierten Wall mit zerfallener Brustwehr und einem breiten Wassergraben und seine sämtlichen Tore – am Allerheiligentore wurde er von der französischen Wache angehalten. Er mußte Auskunft über sich geben; als man Schwierigkeiten machte, ihn durchzulassen, verlangte er lebhaft zum Kapitän Lesaillier geführt zu werden, »zum General Duvignot, zum Kommandanten!« rief er endlich aus, als er sah, daß die Mannschaft auf der Wache den Kapitän Lesaillier nicht kannte.

»Das kann geschehen,« versetzte der wachthabende Offizier, rief einen Unteroffizier vor und befahl diesem, ihn vor den Kommandanten zu führen.

Der Unteroffizier winkte ihm und schritt neben seinem Pferde her der Zeil zu.

Wilderlich sagte, als sie die erste Straße hinter sich hatten: »Mein Freund, Sie begreifen, daß ich nicht mit dem Pferde und mit diesem vor Ermüdung halbtoten Kinde vor dem Kommandanten erscheinen kann.« »Das ist wahr,« antwortete der Mann; »wir müssen beide unterbringen.«

»Ist es Ihnen eins, in welchem Wirtshause?«

»Wenn es nicht vom Wege abliegt, sicherlich.«

»So kommen Sie!«

Wilderich lenkte sein Pferd dem nahen Grauen Falken zu. Als er auf den Hof ritt, fand er die Pulverwagen abgefahren und seinen Sachsenhäuser an der Stalltür lehnend, mit Behagen aus einer kurzen Pfeife rauchend und den Genuß nachholend, den er sich während der Anwesenheit der bedrohlichen Fracht auf dem Hofe hatte versagen müssen.

»Wie, seid Ihr das?« sagte der Mann, als er den Reiter erkannt hatte. »Zum Teufel, Ihr steckt ja täglich in einer neuen Uniform! Diese da steht Euch besser!«

Wilderich ließ den Knaben, der ermattet und schlaftrunken in seinen Armen hing, dem Sachsenhäuser in die Hände gleiten und sprang dann selbst zur Erde.

»Da nehmt, nehmt mir auch das Pferd ab,« rief er aus, »und sagt mir – ist nichts geschehen in der Stadt, ist niemand gerichtet, erschossen?«

»Erschossen – nun freilich!« rief der Sachsenhäuser. »Ohne Blut tun's ja – Gott steh' mir bei, Euer Franzose da wird doch kein Deutsch verstehen?«

»Sprecht, sprecht, wer ist erschossen? Der Schultheiß?«

»Der Bollrath? Bewahre, der sitzt auf dem Eschenheimer Turm, aber erschossen ist er nicht.«

»Gott sei gedankt!« rief Wilderich aus tiefster Brust.

»Nur die Bauern sind heut erschossen, die armen Teufel – drei Bauern, die sie sich eingefangen haben. Das war heut morgen, gestern ist's zwei Klingenberger Bauern, zwei ganz unschuldigen Burschen, nicht besser gegangen –«

»Nun, sorgt für das Kind und das Pferd,« fiel Wilderich ihm in die Rede. »Bringt das Kind auf Euer Bett in Eurer Kammer, laßt es keinen Augenblick aus den Augen, hört Ihr? Ihr sollt reich belohnt weiden, wenn Ihr das Kind wie Euren Augapfel hütet, reicher, als Ihr denkt! Wollt Ihr?«

»Weshalb nicht? Es soll schon für das Jüngelchen gesorgt werden. Wenn Ihr nicht zurückkommt, ihn mir wieder abzunehmen, nehm' ich als Trinkgeld Euren Gaul.«

»Das mögt Ihr!« erwiderte Wilderich, indem er hastig den Knaben an sich drückte und ihn zu beschwichtigen suchte, da er plötzlich in lautes Weinen ausgebrochen war, als er sah, daß Wilderich ihn allein bei dem fremden Mann lassen wollte.

»Sei ruhig, sei ruhig, mein Kind,« sagte er, »ich komme zurück, sogleich, sogleich! Du sollst schlafen, und wenn du wieder erwachst, steh' ich an deinem Bett –«

»Margaret, Mutter Margaret – ich will zu Mutter Margaret!« schrie der Kleine wie in Verzweiflung aus, als ob er, empört darüber, daß Wilderich ihn verlassen wolle, nur noch auf die alte Margaret in der Welt zähle.

»Na, so komm, du Zappelfisch, wir wollen sehen, ob die Margaret oben in meiner Kammer ist,« sagte der Sachsenhäuser, während Wilderich sich hastig wendete und mit seinem Franzosen davonging.

Es war stiller auf den Straßen Frankfurts als das erstemal, da Wilderich in die Stadt eingeritten; die Verwundeten, die Marodeurs, die in Auflösung geratenen Truppen waren fort und dem Heere in nördlicher Richtung nachgesandt; man sah nur Mannschaften von in Ordnung gehaltenen Korps, wenn auch eine starke Patrouille, welcher Wilderich begegnete, in der Haltung und in ihrem ganzen Aufzuge verriet, daß sie im Felde gewesen und von starken Strapazen heruntergebracht war. Als Wilderich im Hause des Schultheißen angekommen, fand er den Flur nicht mehr von Menschen erfüllt wie das erstemal, nur einige Ordonnanzen waren da, die jetzt Raum genug gefunden, einen Tisch aufzustellen und mit jenen republikanischen Karten zu spielen, auf denen der König durch La France und der Bube durch die Freiheitsgöttin ersetzt war.

Ein Adjutant trat eben aus dem Nebenzimmer, in welchem Wilderich die Unterredung mit Lesaillier gehabt, und der Unteroffizier rapportierte; der Adjutant sandte den letztern fort, zu seiner Wache zurück und winkte Wilderich, ihn zum Kommandanten zu begleiten. Wilderich folgte ihm die Treppe hinauf und trat hinter dem Adjutanten in das Zimmer Duvignots; er sah diesen an seinem Tische sitzen, den Rücken der Tür zukehrend, den Kopf auf den linken Arm gestützt, während die rechte Hand auf einem vor ihm liegenden Papiere Figuren kritzelte.

»Citoyen General,« meldete der Adjutant, »die Wache am Allerheiligentor schickt einen Mann, der sich nicht ausweisen kann und darauf besteht, vor den Kommandanten –«

Duvignot hatte unterdes langsam den Kopf gehoben und gewendet – im Augenblick, wo er Wilderichs ansichtig wurde, verzog sich seine Stirn in Falten, er schloß halb die Augen, wie um schärfer zu sehen und zu erkennen, dann sprang er plötzlich auf mit dem Ausruf: »Was, Sie sind's? Diesmal in einer andern Maske! Zum Teufel, was bringt Sie zurück – in die Höhle des Löwen, Unglücksmensch?« setzte er mit aufflammendem Zorn hinzu, indem er Wilderich einen Schritt entgegentrat.

»Ich gab mein Ehrenwort, daß ich zurückkommen würde – und hier bin ich!«

»Unglaublich! Sind Sie so dumm, daß Sie mir in die Hände rennen, sich von mir in die Hölle schicken zu lassen?«

»Ich bin klug genug zu wissen, daß Sie mir kein Haar krümmen werden, General!« antwortete Wilderich ruhig.

»Wir werden sehen!«

»Es war,« fuhr Wilderich fort, »freilich nicht mein Wille, just zu Ihnen zu kommen; man hat mich aber vor Sie geführt – nun bitte ich Sie, mich zu der Frau dieses Hauses zu führen!«

»Ich – Sie?«

»Ich bitte darum. Ich habe mein Lesaillier gegebenes Ehrenwort auf eine Weise gehalten, die Ihnen beweisen muß, daß man auf mein Ehrenwort bauen kann!«

»Das ist wahr!«

»Nun wohl, ich gebe es Ihnen noch einmal, daß ich die Frau dieses Hauses sprechen muß, um ihr das Wichtigste mitzuteilen, was ihr ein Mensch auf Erden mitteilen kann.«

»Und was ist das?«

»Ich werde es ihr sagen!«

»Heraus mit der Sprache – ich will wissen, was –«

»Ich habe gesprochen, was ich Ihnen zu sagen hatte; es ist alles! – führen Sie mich jetzt zu ihr!«

Wilderichs ruhige Entschlossenheit imponierte Duvignot. Er warf einen zornig forschenden Blick auf ihn, dann wandte er sich zu gehen.

»Kommen Sie!« sagte er dabei.

Er führte Wilderich über den Korridor in das Wohngemach Marcellinens; sie war nicht darin, aber sie trat, als sie die Schritte der Männer hörte, aus der halbgeöffneten Tür des Nebenzimmers.

»Der Mensch hier bat Ihnen eine Mitteilung zu machen, Madame, wie er. vorgibt,« sagte der General.

»Mir?« fragte Marcelline, forschend zu dem jungen Mann hinüberblickend.

»So ist es, Madame,« antwortete dieser, »Ihnen, der Mutter des kleinen Leopold –«

Marcelline wurde bleich, ihre ganze Gestalt schrak zusammen, sie sah starr den fremden Mann an und öffnete die Lippen, ohne daß sie ein Wort hervorbrachte.

»Ich komme, Ihnen Ihren Sohn zurückzubringen.«

»O – um Gott – Leopold – das Kind ist –«

»In meinen Händen – seit langer, langer Zeit – ich habe es treulich gepflegt, ich habe es wie einen jüngern, mir anvertrauten Bruder betrachtet, ich habe es von Herzen liebgewonnen, so lieb, daß ich mich schwer von ihm trenne –«

»Aber wie ist es möglich,« rief hier Duvignot aus, »daß dies Kind in Ihren Händen sein kann? Ihre Behauptung ist Wahnsinn, ist eine Lüge, und –«

»Wie das möglich ist? Ich denke, Sie, mein Herr General, können wohl ebensoviel zur Erklärung dessen beitragen als ich.«

»O mein Gott, mein Gott, sprechen Sie weiter – sagen Sie, wo ist das Kind, wo ist es?«

Marcelline, die dies ausrief, hob dabei wie flehend die gefalteten Hände empor.

»Es ist in Ihrer Nähe,« erwiderte Wilderich, »und ich sagte Ihnen, ich komme, es in Ihre Arme zu führen; ich werde dies aber erst dann tun, wenn Sie sofort Demoiselle Benedicte rufen lassen und ihr das furchtbare Unrecht abbitten, welches Sie ihr angetan. Das ist meine erste Bedingung und die zweite, daß dieser Mann hier seinen abscheulichen Vorsatz fallen läßt, mich und den Schultheißen wegen des Briefes des Erzherzogs verfolgen zu lassen!«

»Wie können Sie von Bedingungen reden!« rief Marcelline aus. »Geben Sie mit das Kind zurück, und ich will Benedicte den Saum des Kleides küssen!«

»Habe ich Ihr Wort?« fragte Wilderich den General.

»So reden Sie doch erst, wie es möglich ist, daß Sie der Hüter dieses Knaben sind?« »Ich verlange, daß Sie mir glauben,« entgegnete Wilderich gebieterisch; »ich werde keine Silbe reden, bis Benedicte hier ist, nur vor ihr!«

»So lassen Sie das Mädchen holen!« rief Duvignot.

Marcelline flog, wie von Stahlfedern geschnellt, davon.

Wilderich ließ sich müde in einen Armsessel nieder; Duvignot wandte sich schweigend zum Fenster, wie um den Ausdruck furchtbarer Bewegung und Spannung zu verbergen, der auf seinen harten gebräunten Zügen lag.

So verrannen die Minuten, bis das Rauschen von Frauenkleidern hörbar wurde; Marcelline trat mit Benedicte, sie an der Hand führend, durch die offene Tür des Nebenzimmers herein. Benedictens bleiches Gesicht hatte eine leise Röte überflogen, als ihr Blick auf Wilderich fiel; ihre blauen Augen wurden feucht, sie streckte ihm die Hände entgegen, sie eilte mit dem Impuls des Herzens, der mächtiger war als jede Rücksicht auf die Anwesenden, auf ihn zu, sie warf sich an seine Brust, um sich dann sofort wieder loszureißen, und dabei rief sie aus der schwer aufatmenden Brust: »Sie – Sie kommen zurück – Sie – hierher?«

»In die Höhle der Löwen,« antwortete lächelnd Wilderich, ihre beiden Hände festhaltend, um sie in tiefer Rührung an seine Brust zu drücken, »der Löwen,« fügte er hinzu, »die uns nun nichts mehr anhaben werden –«

»So reden Sie, reden Sie jetzt!« fuhr Duvignot, sich wendend, stürmisch dazwischen.

»Das will ich,« antwortete Wilderich. »Sie sollen hören, wie ungerecht, wie abscheulich an diesem jungen Mädchen gefrevelt worden ist! Sie haben Sie beschuldigt, das Kind geraubt zu haben –«

»Wie konnte ich anders!« rief Marcelline mit fliegendem Atem aus. »Wissen Sie denn etwas von allem dem, was hier geschehen ist, als man mir das Kind entführte?«

»Was ich weiß, das stehe ich ja eben im Begriff zu sagen,« entgegnete Wilderich, »alles, was ich weiß – hören Sie nur zu.«

Wilderich begann zu erzählen; er gab über die Art, wie er der Pflegevater des kleinen Leopold geworden, denselben Bericht, den wir ihn früher der Muhme Margaret geben hörten.

»Dieser abscheuliche Bube, diese Schlange, dieser Grand de Bateillère!« fuhr bei dieser Erzählung mehrmals Duvignot dazwischen, in furchtbarem Zorn hin und her rennend. »Ich werde ihn erwürgen, ich werde ihn töten!«

»Also er – also du, ihr wart es?« stammelte kaum hörbar und in ihren Sessel zusammensinkend, wie entsetzt und verzweifelt, Frau Marcelline. Sie barg das Gesicht in ihren Händen und brach in furchtbares Schluchzen aus.

»O, so bringen Sie mir das Kind, bringen Sie mir es!« rief sie dann, das mit Tränen überströmte Gesicht zu Wilderich emporhebend.

»Ich will es,« versetzte Wilderich; »ich denke ja, meine Bedingungen sind bewilligt, mein Herr General und Kommandant –«

»Zum Teufel, so gehen Sie doch, statt all dieser überflüssigen Worte!« schrie Duvignot in Wut.

»Lassen Sie mich, mich, die es geraubt haben sollte, es in dieses Haus zurückbringen!« bat leise Benedicte.

»Ja, Sie, Sie sollen es,« antwortete Wilderich bewegt, die Hand des jungen Mädchens ergreifend; »um Ihretwillen geschah ja alles, wären Sie nicht gewesen, ich wäre nie hierher gekommen, hätte nie die Herkunft Leopolds erfahren! Sie sollen das Kind in den Arm dieser Frau legen; Ihnen, der man seinen Tod schuld gab, Ihnen allein verdankt sie es – kommen Sie!«

Benedicte eilte ins Nebenzimmer, nach irgendeinem Tuch, einem Hut zu greifen, dann kam sie zurück, legte ihren Arm in den Wilderichs und beide gingen. Duvignot war noch in seinem wütenden Auf- und Ablaufen begriffen, Marcelline lag still weinend in ihrem Sessel; endlich stand er vor ihr still und sagte: »Höre, Marcelline, höre mich an, du wirst mich dann weniger schuldig sprechen; ich hatte meine guten Gründe, als ich im Einverständnis mit Grand handelte.«

»Was sollen mir deine Gründe?« versetzte Marcelline, ohne ihr Gesicht zu erheben. »Was sollen sie mir?«

»Sieh,« fuhr er fort, »wir hatten beide ein Interesse daran, uns Benedictens zu entledigen, sie aus dem väterlichen Hause zu entfernen. Wir hatten sie meinem Vetter Grand verlobt, den ihre Persönlichkeit anzog, und mehr noch ihre Hoffnungen auf das ganze Erbe ihres Vaters, da ich Grand nicht vorenthalten hatte, daß Leopold mein Sohn sei und daß ich zu rechter Zeit und Stunde schon dafür sorgen würde, daß er auf das Erbe Vollraths keine Ansprüche machen werde. Damit zeigte sich Grand zufrieden, bis er wirklich deines Mannes Einwilligung erhalten und sich als Bräutigam Benedictens betrachten durfte. Nun aber begann er von mir schriftliche Erklärungen zu verlangen, daß Leopold einst auf alles verzichten werde, Bürgschaften von mir, notarielle Akte darüber, was weiß ich alles, lauter Dinge, die mich schmählich kompromittieren konnten und mich gänzlich in Grands Hände gegeben haben würden. Denn wer stand mir für den Gebrauch gut, den Grand damit machen würde, wenn er einmal wirklich deines Mannes Schwiegersohn war? Ich ward endlich dieses ganzen Streites und dieser heftigen Szenen überdrüssig und sagte ihm: So machen wir ein gründliches Ende, und wenn nichts anderes deine Angst, daß dieses Kind dich um das Vermögen Benedictens bringen wird, beschwichtigen kann, so nimm den Knaben, nimm ihn, laß ihn verschwinden, bring' ihn in unsere Heimat, in die Bretagne, und sorge dort für ihn, bis ich komme, mich meines Kindes anzunehmen; mir ist ja auch der Gedanke unerträglich, daß er hier bleibt und als dieses alten Schöffen, dieses armen betrogenen Mannes Erbe betrachtet wird – und, um aufrichtig zu sein, Marcelline, um dir alles zu gestehen, ich sah ja ein, daß meines Bleibens nicht für immer hier sein könne, ich sah bei deinem Charakter die Stürme voraus, die wir gestern und heute richtig erlebt haben; es war mir willkommen, Leopold in die Heimat voraussenden zu können, nicht allein um mir das Kind zu sichern, sondern dadurch auch ein unfehlbares Mittel zu haben, dich zu zwingen –«

Marcelline machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Es ist entsetzlich!« sagte sie leise, sich aufrichtend, die Hände im Schoße haltend und den Boden anstarrend.

Er fuhr fort: »Im Anfange schrak Grand vor dieser Idee zurück. Er fürchtete die gerichtlichen Verfolgungen nach einer solchen Tat, die Gefahr des Entdecktwerdens bei der Ausführung, und auch die Last, welche ihm ein so kleiner Knabe, wenn er für ihn sorgen müsse, machen werde. Über dies alles wußt' ich ihn zu beruhigen. Ich schrieb an eine ältere Verwandte in der Bretagne, die mir bereitwillig antwortete: sie wollte die Sorge für mein Kind, wenn es ihr gebracht werde, gern übernehmen! Und als Grand sich endlich im Vertrauen mit einem Rechtsgelehrten besprochen und von diesem vernommen hatte, daß alle schriftlichen Erklärungen und Bürgschaften von mir den kleinen Leopold, der nun einmal Vollrath heiße und als Vollrath im Kirchenbuche stehe, nicht um seine Erbrechte bringen könnten – da fand auch er mein Auskunftsmittel als das einzige, das uns energisch und gründlich helfe, und erklärte sich bereit, Leopold nach Frankreich zu meiner alten Verwandten in der Bretagne zu bringen. Und so warteten wir denn unsere Zeit ab und führten's aus, in einer Nacht, wenige Tage vor dem, an welchem Grands Urlaub abgelaufen war und er abreisen mußte. Die Ausführung war so leicht – ich selber holte das Kind aus der Kammer seiner schlafenden Wärterin und brachte es die Hintertreppe hinab, auf die Straße hinaus, wo Grand es mir abnahm. Er nahm es unter seinen Mantel und ging damit zum Gallustore, wo er es seinem Diener übergab, der das Kind bis zu einem Orte jenseits Mainz brachte, wo er auf Grand warten sollte. Dieser kehrte in sein Quartier zurück. Was am anderen Morgen geschah, weißt du. Gedrängt, Grand noch vor dessen Abreise endlich ihr bestimmtes Jawort zu geben, hatte sich Benedicte entschlossen, in dieser selben Nacht das Vaterhaus zu verlassen und sich vor der Verbindung, die sie eingehen sollte, durch die Flucht zu retten. Sie war verschwunden, ein Brief, den sie auf ihrem Tische zurückgelassen, war deinem Manne gebracht worden, und zugleich durcheilte heulend die Wärterin des Kindes das Haus; das Kind war verschwunden. Wer anders konnte es geraubt haben, geraubt, um sich zu rächen, geraubt vielleicht, um es verschwinden zu machen und so wieder die unbestrittene Erbin zu werden, als Benedicte? Ein Zweifel an ihrer Schuld stieg in keines Menschen Seele auf, und ich, sollte ich sie rechtfertigen? Wahrhaftig, es war mir nicht zuzumuten. Mir konnte diese Deutung nur willkommen sein. Was, das mußte ich mich fragen, stand in dem Briefe, den sie ihrem Vater hinterlassen? Eine Erklärung ihres Schrittes, Klagen über die Gewalt, welche man ihrem freien Willen antun wollen – das gewiß! Aber nicht auch mehr? Rächte sie sich nicht auch an uns, indem sie uns anklagte, indem sie deinem Manne das Geheimnis unsrer Liebe verriet, indem sie ihm alles entdeckte, was sie beobachtet, durchschaut hatte? Das war sicher vorauszusetzen und ich zweifelte keinen Augenblick daran. Und was kam nun mehr im richtigen Moment, was entscheidender uns zu Hilfe als dieser Verdacht, diese Überzeugung von der nichtswürdigen Handlung Benedictens? Dein Mann konnte, es mochte nun in dem Briefe stehen, was da wollte, nicht das mindeste Gewicht auf die Anklage Benedictens wider ihre Stiefmutter mehr legen, die Anklage eines Geschöpfes, das so zu handeln fähig!«

»Gewiß, gewiß, es war sehr Politisch, sehr edel, daß du schwiegst und auch mich in dem Wahne ließest,« sagte Marcelline bitter und ohne Duvignot anzusehen.

»Aber dieser Elende, dieser Grand, der mich so betrog!« knirschte Duvignot ingrimmig zwischen den Zähnen. »Es ist mir unbegreiflich –«

»Mir nicht,« sagte Marcelline mit leisem, aber fast höhnischem Tone. »Er entledigte sich des Kindes, das ihm eine Last war, sobald er irgend konnte. Hätte sich seine Hoffnung erfüllt, wäre er der Mann Benedictens und der Eigentümer ihres Erbes geworden, so war es für ihn ja auch viel beruhigender, Leopold ganz beseitigt als in deinen Händen zu wissen. Du konntest später jeden Augenblick den Knaben wieder auftauchen lassen, um für ihn sein Recht zu fordern; Grand war in deine Hände gegeben, solange Leopold in deinen Händen war – darum ließ er Leopold verschwinden!«

»Ich glaube, du hast recht, Marcelline,« erwiderte offenbar überrascht Duvignot. »Wie ihr Weiber solche Canaillerien stets schneller durchschaut als wir!«

Eine stumme Pause folgte. Marcelline begann in Spannung und Ungeduld auf jedes Geräusch, das im Hause laut wurde, zu horchen.

Dann wie mit einem plötzlichen Besinnen auffahrend sagte sie: »Weshalb gehst du, weshalb sendest du nicht, meinem Manne die Freiheit geben zu lassen?«

Duvignot blickte sie an, ohne zu antworten.

»Der fremde Mensch hat es dir zur Bedingung gemacht –«

»Hat er?« fragte Duvignot wie zerstreut.

»Mein Gott,« rief Marcelline auffahrend aus, »du wirst das doch nicht leugnen wollen, du wirst –« »Ich werde Bedingungen, welche ich angenommen habe, auch erfüllen. Aber zuerst möchte ich doch sehen, daß dieser Fremde, der sie mir vorschreibt, auch die seinigen erfüllt! Ich sehe bis jetzt nicht viel davon, und solange – solange ich Leopold nicht sehe, bin ich nicht geneigt, irgend Schritte zu tun, die wider mein Interesse sind, die mir die Waffen aus den Händen reißen.«

»Waffen? O mein Gott, wozu bedarfst du noch der Waffen? Was willst, was sinnst du?«

Duvignot zuckte die Achseln.

»Was ich will, was ich sinne? Brauche ich dir es zu sagen? Zum hundertsten, zum tausendsten Male? Glaubst du etwa, ich hätte das zerknirschende Gefühl eines demütigen Sünders in mir und zöge nun kleinlaut ab, mit einem ›Verzeihung, Madame!‹ und ›Seien Sie glücklich! Weihen Sie mir Unglücklichem eine Träne, wenn ich Ihnen anders derselben noch würdig scheine?‹«

Duvignot lachte nach diesen Worten bitter und höhnisch auf.

»Nein,« sagte er dann zornig, ingrimmig, die Stirn in Falten ziehend, die Arme auf der Brust verschlingend, »du und dein Kind, ihr seid mein, mir gehört ihr, und eher laß ich die ganze Stadt niederbrennen, eher sprenge ich eure Türme in die Luft, eher laß ich den Main sich vor Leichenhaufen stauen, ehe ich meinen Willen beuge, ehe ich dich lasse, ehe ich –«

Marcelline hatte sich langsam wie in furchtbarem Erschrecken vor diesem Ausbruch unbändiger Leidenschaft erhoben; sie hielt sich, geisterbleich, mit großen vor Angst starrenden Augen, zitternd an der Lehne ihres Sessels aufrecht, sie streckte die andere Hand gegen ihn aus und wie kaum mehr fähig zu reden und doch Herrin noch ihrer ganzen Willenskraft, sagte sie leise, aber feierlich: »Und ich, ich schwöre dir, daß ich mich eher unter diesen in die Luft gesprengten Türmen begraben, eher zu den Leichen, die das Flußbett ausfüllen werden, werfen lasse, als daß ich jetzt, jetzt noch dir folgte!«

Duvignot blickte sie mit wutflammmden Augen an, dann wandte er sich ab, zuckte die Achseln und ging.

Marcelline lauschte seinen Schritten; als sie verhallt waren, sank sie in ihren Sessel zurück und atmete tief, tief auf. Und dann – dann fuhr sie wieder empor und lauschte: Schritte von Kommenden wurden hörbar auf der Treppe, sie stieß einen Schrei aus, sie flog zur Tür, diese öffnete sich eben, und Benedicte trat herein, auf ihrem Arme den Knaben, dessen Haupt im nächsten Augenblicke an der Brust seiner Mutter ruhte, überströmt von ihren Tränen.


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