Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Drittes Kapitel

Während der Schösser davonstelzend dieser friedlichen Beschäftigung nachging und das junge Mädchen eigentümlich erregt sich über ihre Arbeit bückte und den Hof von Haus Goschenwald der Frieden und die Stille seiner Weltentrücktheit umfing, spielten sich jenseit der Berge, welche seinen Horizont schlossen, desto gewaltsamere Ereignisse ab.

Infolge davon war am andern Tage schon seit dem Morgengrauen die Heerstraße, die sich durch diese Bergwelt zog, ungewöhnlich belebt worden von allerlei kriegerischem Transport. Von Zeit zu Zeit war ein bewaffneter Reiter in der Richtung nach Westen dahergesprengt. Es waren einzelne Fuhrwerke gekommen, belastet mit verwundeten Menschen; andere Wagen schienen allerlei geplünderte Habe zu enthalten, große Koffer und Kisten, gefüllt mit Gott weiß welchen Gegenständen, die man eilen mochte, auf der Rückzugslinie des Heeres in Sicherheit zu bringen. Von kleinen Abteilungen umgeben, marschierten Haufen entwaffneter Soldaten in weißen Röcken oder grauen Mänteln. Einmal eine starke Abteilung von Reitern kam daher; sie eskortierte drei sich folgende Bauernwagen, auf deren jedem eine große eisenbeschlagene Kiste stand – war es die Kriegskasse, die man in Sicherheit brachte? Die solche Transporte eskortierende Mannschaft verriet wenig von dem lustigen Übermute französischer Truppen auf dem Marsche; sie sahen abgerissen, müde, verdrossen aus, sie fluchten und wetterten: die Bauern, welche die requirierten Wagen führten, erhielten flache Säbelhiebe, die Tiere auch wohl scharfe, mehrere von ihnen bluteten. Die Republik hatte ihre Heere im Jahre 1796 uniformiert ins Feld gesandt; es waren nicht mehr die wilden bunten Scharen, die in den vorhergehenden Jahren das linke Rheinufer überschwemmt; und doch sahen auch diese Truppen heute bunt genug aus. Manch geplündertes Stück hatte zum Ersatz der zerrissenen Montur gedient; neben einem alten Troupier, der im Mantel und in den hohen Stiefeln eines ehrwürdigen Landpfarrers aus der Gegend von Schweinfurt marschierte, wandelte ein junger Sergeant unter dem dreieckigen Federhute eines würzburgischen Kavaliers oder hinkte ein Verwundeter, drapiert in den schwarzen Ordensmantel mit dem weißen Kreuz darauf, der in irgendeiner Commende des Deutschen Ritterordens erbeutet sein mußte.

Das Gerücht von dem Schauspiel, das die Heerstraße von Würzburg nach Frankfurt darbot, war die Waldtäler rechts und links heraufgedrungen, auch bis zur Mühle in der uns bekannten Schlucht; die Frau und die Schwiegermutter des Gevatters Wölfle standen eben vor dem Forsthause und redeten auf Muhme Margaret ein, sie solle sie hinabbegleiten, sie wollten sehen, was da vorginge. Muhme Margaret schwankte; wo sollte sie den kleinen Leopold lassen unterdes? Ihn mit des Müllers Kindern sich umtreiben zu lassen, das hatte Wilderich verboten; aber der Herr Wilderich war ja nicht daheim; er war um diese Zeit nie daheim, sondern ging seinen Geschäften nach. Muhme Margaret konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie nahm den kleinen Burschen, der an ihre Röcke sich schmiegend neben ihr stand und verwundert über alles das, was die Müllerfrauen erzählten, diese mit seinen großen braunen Augen anblickte, bei der Hand, um ihn hinüberzuführen. Da riß das Kind sich los und lief mit dem Ausruf: »Bruder Wilderich!« plötzlich die Schlucht hinauf. Wilderich war es in der Tat, der aus dem Walde zurückkehrend eben daherkam und, als er durch den kleinen Garten vor seinem Hause schritt, mit sehr ernstem Gesicht den Frauen einen Gruß zunickte und zu Margaret sagte: »Komm mit hinein, Margaret, ich habe mit dir zu reden!«

»Wahrhaftig,« flüsterte Margaret zu den Frauen gewendet ihm nach, »der lebt nicht lange mehr, wenn er endlich einmal zu reden beginnt.«

Sie trat ihm nach über die Treppenstufen in die Küche, wo Wilderich eine Weidtasche vom Pflock nahm und sie mit einem neuen Vorrat von Pulver und Blei zu füllen begann, den er aus seinem Zimmer herbeiholte.

»So,« sagte er dann, »nun braucht nur noch der Sepp zu kommen; bereit wären wir; und bis er kommt, höre fein zu, Margaret, was ich dir zu sagen habe.«

»Ich hör' schon zu, Herr Wilderich,« antwortete Margarete. »Ihr seid keiner von denen, die so viel sprechen, daß man nicht darauf hört; und wenn Ihr nun endlich sagen wollt, was Ihr eigentlich vorhabt, ich denk', zu früh ist's nicht mehr!«

»Just die rechte Stunde, alte Muhme. Und nun sollst du alles wissen. Du weißt, wir haben Krieg mit den Franzosen, hier in Franken, in Schwaben und jenseit der Berge, wo der Bonaparte – hast du von dem gehört?«

»Bonaparte?« wiederholte Muhme Margaret und schüttelte dann den Kopf. »Nein, von dem hab' ich nicht gehört; was ist mit dem?«

Wilderich ging und holte ein Stück Kreide herbei. Damit machte er einen langen Strich auf den Anrichtetisch.

»Schau,« sagte er, »das hier ist der Rhein, der fließt an der Westseite des Reiches. Und hier oben gen Süden, wo ich diesen zweiten Strich mache, da sind die Alpen. Und hier links, diesseit der Alpen, da ist Wien. Begreifst du?«

»In Wien, da ist der Kaiser, das begreif' ich schon!« rief Margarete aus. »Und hier,« fuhr Wilderich, Striche machend, fort, »ist der Main, und hier – hier ist der Spessart.« Er begann einen länglichen Bogen an der Nordseite der Linie, die den Main darstellte, zu zeichnen, als Leopold, der sich gespannt an den Tisch gedrängt hatte, ihm die Kreide aus den Fingern nahm und ausrief: »Laß mich den Spessart machen, laß mich, Bruder Wilderich!«

»Nur zu, mein Junge, mach du den Spessart,« erwiderte Wilderich, ihm lächelnd die Hand auf den lockigen Kopf legend, »aber mach's hübsch und deutlich, sonst wird Muhme Margarete, deren geographische Vorkenntnisse schwach sind, aus der Sache nicht klug. Gut so! Also das ist der Spessart. Nun gib acht, Muhme! Sieh, hier unten vom Rhein, von Düsseldorf und Köln her, ist uns die Sambre- und Maasarmee, befehligt vom Obergeneral Jourdan und stark etwa achtundsiebzigtausend Mann, ins Reich eingebrochen, um über die Lahn und hier den Main und so weiter durch Flanken und Oberpfalz auf Wien zu ziehen.

Hier, vom Oberrhein, von Straßburg her, ist der französische Obergeneral Moreau mit der Rhein- und Moselarmee, achtzigtausend Mann stark, in Schwaben eingefallen, um in gerader Richtung ostwärts weiter auf Wien zu marschieren.

Drüben aber, jenseit der Alpen, da dringt die Alpenarmee unter Bonaparte, etwa vierzigtausend Mann stark, wider die Kaiserlichen vor und hat des Kaisers General Wurmser bereits zurück- und ins Tirol hineingeworfen, um durch die Alpentäler von Süden her auf Wien zu rücken.

Du siehst also, Margaret, daß es diesmal darauf angelegt ist, das alte Reich ganz und gar unter die Füße zu bringen und die römisch-kaiserliche Majestät in Wien einzusaugen wie einen armen Vogel auf dem Nest.«

Margarete nickte.

»Ja, ja, das begreift sich schon!« sagte sie.

»Aber der Mensch denkt und Gott lenkt,« fuhr Wilderich fort, »und diesmal hilft ihm zu unserm Glück bei dem Lenken ein blutjunger Mensch, mit dem wir ein wenig besser vom Fleck kommen, als wenn der liebe Gott, wie in den vorigen Zeitläufen, sich mit den alten Graubärten von Feldmarschällen und Feldzeugmeistern zusammentat, wo's selten viel Gescheites gegeben hat. Der junge Mensch, das ist der Prinz Karl; der hat sich mit des Kaisers und des Reiches Armee zuerst dort unten in den Lahngegenden dem Heere Jourdans entgegengestellt und es bei Wetzlar gründlich zusammengeschlagen. Die Sambre- und Maasarmee hat sich eilig auf den Rückzug begeben müssen.

Darauf ist der Erzherzog Karl nach Oberdeutschland geeilt, um dem Moreau die Stirn zu bieten. Das hat da ein langes Raufen gegeben, der Erzherzog hat erleben müssen, daß ihn die Truppen aus Sachsen im Stich gelassen haben und heimgegangen sind; die Truppen des schwäbischen Kreises, der auf eigene Faust Frieden mit den Franzosen geschlossen, hat er gar entwaffnen lassen müssen; und so hat er sich zurückziehen müssen bis ins Donautal.

Hier aber hat er sich plötzlich gewendet; denn während er so im Schwarzwald und in Schwaben sich mit Moreau herumgeschlagen, ist da unten die Sambre- und Maasarmee wieder vorgerückt, hat den Feldzeugmeister Wartensleben, der ihr gegenüber aufgestellt geblieben, zurückgeworfen, hat Frankfurt bombardiert, Würzburg genommen und die Österreicher bis nach Amberg geworfen. Das hast du gehört, wir haben sie auf ihrem siegreichen Marsch ja damals auch hier gehabt, die Franzosen –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn Margarete; »nur weiter, Herr Wilderich!»«

»Der Erzherzog also hat sich von Moreau abgewendet, hat ein starkes Korps wie einen Schirm vor ihm aufgestellt, damit er nicht sehe, was dahinter geschehe, und ist bald von der Donau in die Oberpfalz gerückt, hat sich mit Mariensleben vereinigt, die Franzosen bei Teining und Neumarkt überfallen und bei Amberg geschlagen, und die Sambre- und Maasarmee ist auf dem Rückzuge; sie wird noch einmal Widerstand leisten und eine Schlacht liefern, so glaubt man: dann aber wird sie in unsere Täler hier, in den Spessart, den der Leopold da so schön hingezeichnet hat, als ob's eine Katze wäre, die einen Buckel macht, hineingeworfen werden, und dann eben wollen wir dem lieben Gott, der die Deutschen nicht verläßt, und unserm jungen Kriegshelden aus Leibeskräften helfen, ihnen das Wiederkommen zu verleiden – wir Mannen im Spessart hier! Nun weißt du alles, Margaret!«

»Ihr wollt ihm helfen,« rief Margarete aus, »Ihr wollt auch Soldaten spielen und –«

»Soldaten spielen, nein; wir wollen nur zeigen, daß die deutschen Bauern, dies Volk halbverhungerter und von ihren Herren zugrunde regierter Leibeigener, sich noch nicht von den Fremden mit Füßen treten lassen; wir wollen ihnen beweisen, daß deutsche Fäuste immer noch stark genug sind, um eine Schmach zu rächen.«

»Aber – der liebe Heiland und die Mutter Gottes von Rengersbrunn stehen mir bei – das gibt ja nur noch mehr Blutvergießen und Elend.«

»Ein wenig Blutvergießen schon, ohne das wird's freilich nicht abgehen...«

Muhme Margaret war zu entsetzt, um ihn ausreden zu lassen.

»Und wenn sie Euch dabei totschießen, Herr Wilderich, Euch – ich bitt' Euch, was soll dann werden – ich bitt' Euch darum – was soll dann aus mir und was aus dem Jungen da werden?«

»Darüber eben wollte ich mit dir reden, Margaret. Hör zu! Für den Fall, daß mir etwas Menschliches begegnet, hab' ich ein Papier in die oberste Lade meiner Kommode gelegt. Darauf steht geschrieben, daß der Leopold mein Erbe ist und daß du für ihn sorgen sollst, bis er zu einem Förster getan werden kann, um ein feiner Weidmann zu werden, wie ich bin. Ich habe nicht viel zu vermachen, aber ich denke, bis dahin wird's schon reichen. Du mußt eben damit auskommen!«

»Heilige Mutter Gottes von Rengersbrunn!« ächzte Margarete, die Hände faltend. »Und steht denn in dem Papier auch, was es auf sich hat mit dem Jungen, wessen Kind –« – Wilderich nahm den kleinen Leopold bei der Hand und führte ihn vor das Haus.

»Komm, Brüderlein, da setze dich auf die Treppe,« sagte er; »gib hübsch Obacht, mein Kind, ob du den Sepp nicht kommen siehst, und sag mir's gleich – willst du?«

Der Kleine nickte und nahm gehorsam den ihm angewiesenen Platz ein. Wilderich kehrte in die Küchenhalle zurück, und sich in seinen Stuhl am Herde niederlassend, sprach er zu der alten Muhme, deren weit aufgerissene Augen ihn nicht mehr verlassen hatten, weiter.

»Das Nötigste davon,« sagte er, »steht in dem Papier. Aber da es mit dem Lesen ein wenig bei dir hapert, Margaret, will ich dir, damit du es besser begreifst und dir einprägst, in der Kürze erzählen, wie es zugegangen, daß ich der Pflegevater meines guten Jungen geworden. Wenn er zu seinen Jahren gekommen, kannst du's ihm mitteilen; es ist dann an ihm, ob er Schritte tun will, nach den Seinigen zu forschen oder nicht! Der Sepp, scheint es, läßt uns ja Zeit, daß ich dir die ganze wunderliche Geschichte berichten kann. Also hör: »Siehe, ehe ich meine Stelle in diesem Revier antrat, war ich Forstbeamter in der Nähe von Zweibrücken, Adjunkt meines Vaters...«

»Ja, ja, so was habt Ihr mir gesagt, Herr!« fiel Margaret, die ihn mit dem Ausdruck einer verzehrenden Spannung anstarrte, ein.

»Durch unser Revier aber,« fuhr Wilderich fort, »zog sich die große Heerstraße von Mainz nach Paris. Nun war es im vorigen Herbst; in einer mondhellen, warmen Nacht hatte ich Wildschützen nachgespürt und kam sehr spät – es mochte fast Mitternacht sein – auf jene Heerstraße, um sie eine Strecke weit zu verfolgen und dann rechts abzubiegen und auf einem kurzen Waldwege heim zu unserm Forsthause zu gelangen. Wie ich nun so daherkomme, sehe ich unfern der Stelle, wo dieser Waldweg sich abzweigte, von fern schon eine Kalesche halten; ein Mann schritt neben derselben auf und nieder. Als ich näher kam, nahm ich wahr, daß vor dieser Kalesche nur ein Pferd gespannt war, und dieses Pferd lag regungslos am Boden. Der Fremde aber, der, in einem Mantelkragen sich gegen die Nachtluft schützend, auf der Heerstraße auf und abging, blieb, als ich ihn erreicht hatte, vor mir stehen und redete mich in französischer Sprache an; er fragte, ob ich wisse, wie spät es sei und wie weit bis Pirmasens. Ich gab ihm die nötige Auskunft; dann fuhr er fort: Ich bin in großer Verlegenheit. Ich bin auf der Reise, wie Sie sehen, von Mainz und weiter her, und will nach Paris. In Zweibrücken gab man mir für meine Postchaise zwei ganz elende, abgetriebene Pferde; vor ein paar Stunden ist mir das eine gestürzt und nicht wieder aufzubringen gewesen; das andere hat der Postillon abgespannt und ist darauf heimgeritten, um, wie er sagte, frische Pferde von der Station zu holen; aber der niederträchtige Mensch kommt und kommt nicht, ei läßt mich hier allein die Nacht zubringen – es ist zum Verzweifeln.

Allerdings, versetzte ich, wenn Sie auf diesen Postillon warten, so ist es sehr wahrscheinlich, daß Sie die Nacht hier zubringen müssen. Jetzt, wo diese Chaussee so viel befahren und benutzt wird, weil es der Hauptweg nach Paris ist, sind diese Leute viel geplagt und deshalb verdrossen und unzuverlässig. Ihr Postillon wird, fürcht' ich, sich ruhig in Zweibrücken aufs Ohr gelegt haben und schwerlich vor morgen erscheinen, und dann sich damit entschuldigen, daß keine frischen Pferde vorhanden gewesen. Man kennt das, und –

Es ist empörend, man sollte das Gesindel hängen! rief der Franzose aus. Hätte ich nur nicht den kleinen Burschen da bei mir – er deutete auf die Kalesche – so würde ich nicht warten, sondern zu Fuß nach Pirmasens gehen, da Sie sagen, daß es kaum eine Meile entfernt ist!

Welchen Burschen? fragte ich.

Das Kind dort im Wagen.

Ich bemerkte jetzt erst ein im Hintergrunde des Wagens geborgenes und in Decken und Tücher gehülltes Etwas, das, wenn es ein Kind war, sehr ruhig da zu schlafen schien.

Ich möchte Ihnen gern helfen, sagte ich, und vielleicht kann ich es. Meine Wohnung liegt nicht weiter als zwanzig Minuten von hier – dort drüben im Walde, das Haus des Forstmeisters Buchrodt. Ich will den Knaben dahin mitnehmen und ihn für die Nacht so unterbringen; Sie können dann vorauf nach der nächsten Station gehen und von dort Postpferde senden, um Ihre Kalesche zu holen, und den Postillon beauftragen, zuerst bei unserm Hause vorzufahren, um Ihren Knaben abzuholen.

Der Fremde schien sich eine Weile zu besinnen.

Wie Sie wollen, fuhr ich deshalb fort; vielleicht ziehen Sie vor, mich erst mit dem Kinde nach meinem Hause zu begleiten und sich selbst zu überzeugen, daß der Kleine wohl untergebracht wird. Ich würde Sie selbst einladen, die Nacht bei uns zuzubringen, wenn nicht die späte Störung meinem sehr alten kränklichen Vater –

O nein, nein, fiel der Fremde ein, dem ich den wahren Grund, meines Vaters Abneigung gegen alles, was Franzose war, lieber verschwieg, nein, nein, ich vertraue Ihnen das Kind gern an. Machen wir es so, es ist das beste, und ich bin Ihnen sehr dankbar! Aber, fuhr er fort, Sie machen sich eine große Last, mein Herr, mit Ihrem Edelmut, Sie müssen das Kind tragen, es ist erst dritthalb Jahre alt.

Nun, versetzte ich lachend, man muß die Folgen seines Edelmuts gelassen hinnehmen, sonst wäre kein Verdienst dabei; geben Sie ihn nur her, ich habe manches Reh auf den Schultern nach Hause getragen, und das ist schwerer. Der Franzose hatte den kleinen Burschen aus dem Wagen gehoben und mir übergeben; er nahm vom Vordersitz auch noch ein Bündel, das er mir gleichfalls übergab.

Hier ist sein Nachtzeug, sagte er dabei; bitte, nehmen Sie es auch; der Kleine – er heißt Leopold – ist daran gewöhnt.

Ich schob das Bündel über den Lauf meiner Büchse und nahm den Knaben auf den Arm. Der Fremde aber wiederholte die Abrede, daß der Postillon, den er von der nächsten Station schicken werde, mit seiner Kalesche bei uns vorfahren und das Kind abholen solle; dann nahm er ein Pistol aus der Seitentasche seines Wagens, steckte es in die Brusttasche, reichte mir die Hand, sagte mir tausend Bank für meine Gefälligkeit und ging dann eilig in der Richtung nach der nächsten Station, nach Pirmasens, davon.

Ich machte mich mit meiner Last auf den Weg heimwärts, weckte, als ich zu Hause war, die Haushälterin und ließ sie für das Kind, einen hübschen und sehr wohlgekleideten Knaben, Sorge tragen; ich war zu ermüdet, um nicht für mich selbst vor allen Dingen die Ruhe zu suchen. Am andern Morgen berichtete mir, als ich ziemlich spät mein Schlafzimmer verlassen, die Haushälterin, der Knabe liege noch in seinen Federn; noch sei die Kalesche nicht gekommen, ihn abzuholen. Das war seltsam, und rätselhaft wurde es, daß sie auch in der folgenden Stunde, daß sie im ganzen Laufe des Vormittags nicht erschien. Schon vor Mittag machte ich mich auf den Weg nach der Heerstraße; der Wagen war verschwunden, das gefallene Pferd lag ohne Geschirr im Weggraben. Es blieb mir nichts übrig, als meinen Weg bis nach der nächsten Station fortzusetzen, um Erkundigungen einzuziehen. Als ich am Nachmittage in Pirmasens ankam, hörte ich im Posthause, daß allerdings ein französischer Herr in der Nacht zu Fuß angekommen, daß er Pferde absenden lassen, seinen auf der Heerstraße stehenden Wagen zu holen, daß dieser zwischen drei und vier Uhr auch richtig angekommen und daß der Fremde darin sofort weiter gefahren, in der Richtung nach der lothringischen Grenze zu; von einem Kinde war keine Rede gewesen!

Ich war natürlich in hohem Grade empört über den ruchlosen Menschen, der meine Güte so schmählich mißbraucht und mir das Kind zur Last gelassen hatte. Ich stellte alle möglichen Nachforschungen an, ich erkundigte mich in Zweibrücken so gut wie in Pirmasens nach dem Fremden, aber weder die Postmeister noch die Postillone wußten über ihn etwas zu sagen. Er war ein noch ziemlich junger, sorgfältig gekleideter Mann mit vornehmen Manieren, ziemlich laut und herrisch in seinem Auftreten und nicht karg mit den Trinkgeldern gewesen; das war alles, was ich erfuhr; seinen Namen hatte er in Zweibrücken angegeben, aber der Postmeister hatte ihn vergessen, er wußte nur noch, daß es ein Doppelname gewesen, und er habe wie Bataille geklungen; in Pirmasens hatte man gar nicht danach gefragt.

Da blieb denn,« fuhr Wilderich zu erzählen fort, »für mich nichts weiter zu tun übrig, als mich in mein Los zu finden und den mir bescherten Kleinen als mein Pflegekind anzunehmen, für das ich von dem Augenblicke an, wo es das Schicksal in meine Arme gelegt, verantwortlich war; und das war mir nach wenig Tagen keine Aufgabe mehr, sondern nur noch eine Freude. Der kleine Bursche war gar zu hübsch, zu artig, zu zutulich, und wenn ich ihn auf den Arm nahm und dachte, wie verlassen er sei und nur mich auf der weiten Gotteswelt als Vater, Mutter und Geschwister habe, so überkam mich eine Rührung, und so – nun, was brauch' ich weiter davon zu reden? du weißt, wie lieb ich ihn habe.«

»Gewiß, gewiß, wer sollte es nicht sehen,« fiel Muhme Margaret ganz gerührt über diese Geschichte ein. »Ihr seid ein braver Mensch, Herr Wilderich; und der Leopold, wenn man auch seine Last mit dem Unrast hat – aber habt Ihr denn gar nichts weiter von dem verfluchten Franzosen, der Euch den Streich spielte, gehört?«

»O doch, schon nach acht Tagen. Es kam ein Brief von ihm an, von Paris aus geschrieben.«

»Ach, er schrieb Euch? Und was stand in dem Briefe?«

»Redensarten; recht höfliche übrigens. Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr, so lautete es ungefähr, wenn mein Mitleid mit dem armen Kinde, das ich Ihnen zurückließ, mich verführte, so grenzenlos Ihre Güte zu mißbrauchen. Das Kind ist nicht meines, es ist mir übergeben worden, aber es ist unendlich viel besser aufgehoben unter Ihrem friedlichen und stillen Dache, in der Pflege einer ruhigen Häuslichkeit, als bei mir, einem jungen Manne, der eine solche Häuslichkeit nicht besitzt und ein bewegtes Leben bald in der Hauptstadt, bald auf Reisen führt. Seien Sie sicher, daß man Ihnen die Last abnehmen wird, sobald es die Umstände erlauben, mit jeder Entschädigung, welche Sie bestimmen werden; und bis dahin erlauben Sie mir, mein Herr, mich zu nennen Ihren usw. G. de B.«

»G. de B., was heißt das?«

»Ja, was heißt es? Ich weiß es nicht,« versetzte Wilderich.

»Solch ein frecher Franzose!« sagte Muhme Margaret.

»Im Grunde hatte er doch vielleicht recht!« bemerkte Wilderich gutmütig. »Ich denke, das Kind ist besser bei uns aufgehoben, als es bei ihm gewesen wäre; und das ist die Hauptsache doch!«

Muhme Margarete widersprach nicht. Sie blickte nachdenklich ins Feuer – eine lange Pause hindurch.

»Ach Gott, es ist wohl so!« sagte sie dann, ihre Haube über den Kopf ziehend, und setzte mit einem Seufzer hinzu: »Wir sind alle Sünder!«

»Weshalb?« fragte Wilderich. »Wir tun, was wir können.«

»Aber wir versündigen uns oft in Gedanken.«

»Die schaden niemand!«

»Aber die Worte –«

»Du meinst, weil du zuweilen –«

Muhme Margarete nickte heftig mit dem Kopfe und zog die Haube noch weiter in die Stirn.

»Na,« lachte Wilderich, »laß es gut sein, ich hab' dir's weiter nicht übelgenommen, und –«

Er wurde unterbrochen durch den kleinen Leopold, der mit dem Rufe: »Der Sepp, der Sepp!« in die Küche gelaufen kam.

Wilderich sprang auf und ging dem Angekündigten hastig entgegen. Draußen sah er, daß der Forstläufer sehr eilig die Schlucht heraufkam und im Vorübergehen an der Mühle dem Gevatter Wölfte, der eben neugierig ausschauend mit seinem runden Gesicht ein Guckfensterchen in der weißgepuderten Bretterwand seines alten Bauwerks füllte, mit der Hand winkte.

»Die Leute ziehen sich zu Hauf, Förster Buchrodt,« schrie der Sepp ihm dann entgegen; »bei Rohrbrunn ziehen sie zu Hauf – der Tanz kann anfangen. Der Erzherzog hat die Franzosen bei Würzburg gestellt und Schwarz-Gelb ist Trumpf geblieben; nun kommt das geschlagene Pack in immer dichteren Trupps heran; der Philipp Witt läßt Euch sagen, Ihr sollt hier nach dem Rechten sehen, denn er selbst kann nicht dabei sein hier.«

»Er kann nicht dabei sein? Und weshalb nicht?« sagte Wilderich.

»Weil er anderswo sein muß. Die Hauptmasse der Franzosen wälzt sich nordwärts, auf Hammelburg und Brückenau zu; die hat der Witt sich aufs Korn genommen; in den Wäldern zwischen Hammelburg und Schluchtern hat er dreitausend Bauern stehen, und da will er selbst dabei sein.«

»Zum Teufel, und wir hier –«

»Wir hier haben auch keinen schlechten Stand; ein gut Teil strömt über Lengfurt und Heidenfeld in den Spessart herein, just unserer Straße da unten nach; es wird immer lebendiger da; also kommt und vergeßt Euer Pulver nicht. – Gevatter Wölfle,« rief der Sepp dem herankommenden Müller entgegen, »geht und holt Eure Büchse. Die Jagd kann losgehen. Vorwärts, vorwärts! Schwarz-Gelb ist Trumpf, und die Vivelanations soll heut bis auf den letzten der Teufel holen!«

Der Sepp eilte fort, die Schlucht wieder hinab, und nach wenigen Minuten folgten ihm hastig Wilderich und der Müller, beide im grünen Jagdkittel, mit ihren Büchsen und die schweren Weidtaschen über der Achsel.

Margarete betete ein Ave nach dem andern zur Spessartheiligen, der Mutter Gottes von Rengersbrunn, als sie auf der Schwelle des Forsthauses stehend ihrem Herrn nachblickte, wie er so eifrig davon und der Gefahr entgegeneilte.


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