Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Elftes Kapitel.

Wenn Wilderich und Benedicte eine so lange Zeit behalten, um sich über ihre Lage auszusprechen, so hatte dies seinen Grund in einem Zögern Duvignots, zum Äußersten zu schreiten, in den Gedanken, von denen der General erfaßt und bewegt wurde, nachdem er vorhin das Zimmer des Schultheißen verlassen halte.

Er hatte ein Dokument in der Hand, auf das hin er den unglücklichen Mann vor ein Kriegsgericht stellen und nach vierundzwanzig Stunden erschießen lassen konnte.

Die Proklamationen Jourdans, die eine solche Strafe auf Verbindungen mit der feindlichen Armee setzten, berechtigten ihn vollständig, ja verpflichteten ihn dazu.

Auch ohne dies wäre er berechtigt dazu gewesen, als oberster kommandierender Offizier in einer Stadt in Feindesland, in welcher der Belagerungszustand verkündet war. Sein Oberfeldherr hatte ihm, dem energischen und zudem in Frankfurt durch seinen frühern Aufenthalt so wohlbekannten Mann, die Hut der Stadt übergeben, in der Voraussetzung, daß er schonungslos und unerbittlich die Maßregeln durchsetzen würde, welche notwendig seien, um diesen Punkt möglichst lange dem rückziehenden Heere zu erhalten. Der General konnte nach der Schärfe des Rechts verfahren. Er konnte Marcelline zur Witwe machen! Er konnte den Streit zwischen ihr und ihm mit einem Streiche zerhauen, mit einem Worte enden.

Dieser Gedanke bestürmte ihn, während er die Treppe aus dem Stockwerk des Schultheißen niederstieg; aber er bestürmte ihn auch zu sehr, um ihn sofort mit klarem Bewußtsein einen Entschluß ergreifen zu lassen.

Duvignot war ein Sohn der Revolution, die der Freiheit Hekatomben von Menschenleben gebracht, die zu ihrer Verteidigung den Boden, auf dem sie stand – wie eine angegriffene Feste des Niederlandes sich unter Wasser und Meereswellen setzt – unter Blut gesetzt hatte. Er war ein Soldat und hatte den Tod in allen Gestalten gesehen; er kehrte von einem leichenbedeckten Schlachtfelde heim; der Tod war ihm ein vertrautes Ding, ein ihm gewöhnliches Ereignis, eine alltägliche Lösung. Er war nicht der Mann, der viel Wesens aus einem Menschenleben machte.

Und dennoch war er erschüttert; er fühlte seine Energie sich brechen bei dem Gedanken an diesen Tod, in den er einen Mann senden wollte, der zwischen ihm und seiner Leidenschaft stand! Diese Leidenschaft war groß und etwas, das ihn blindlings beherrschte, dem er alles zu opfern imstande war. Aber auch das Leben des Mannes, den er betrog und verriet? Er fühlte, daß es etwas Fürchterliches sei um eine solche Tat, daß jenseit derselben für ihn etwas Dunkles, zu Fürchtendes, Grauenhaftes liegen könne, die Reue, die Selbstverachtung.

Als er auf dem Vorplätze vor seinem Zimmer unten angekommen, trat er an die Treppe, welche in den Hausflur hinabführte. Er stand eine Weile in Gedanken verloren; dann winkte er dem Gendarmen, der da unten Wache hielt, und als der Mann vor ihm stand, sagte er: »Ist der Kapitän Lesaillier da?«

»Er ist eben gekommen und unten im Zimmer der Adjutanten.«

»Sagt ihm, er soll einige Leute nehmen und oben die Treppe damit besetzen – der Schultheiß und ein Mensch, der bei ihm ist, werden arretiert werden müssen – aber er soll da oben auf weitere Befehle von mir warten.«

»Zu Befehl, Citoyen General!« versetzte der Gendarm und eilte, dem Kapitän Lesaillier seinen Auftrag auszurichten. Duvignot aber wandte sich und trat raschen Schrittes zurück in das Gemach Marcellinens, das er vorher verlassen hatte. Er fand sie in derselben Stellung in ihrem Sessel am Fenster, wie er sie verlassen, nur daß sie ihr Tuch an die Augen gedrückt hatte.

»Marcelline,« sagte er, auf sie zuschreitend und mit bewegter Stimme, »das ändert alles, da lies!« Er reichte ihr den Brief des Erzherzogs; sie nahm ihn mit lässiger Hand, ohne aufzublicken.

»Was soll ich damit?«

»Lies!«

»Nun,« fuhr sie apathisch fort, nachdem sie das Blatt überflogen, »was soll es? Es ist nichts, was mich just überrascht; ich sagte dir, daß ich dem Erzherzog begegnet bin und am selben Ort Benedicte gefunden habe. Der Brief ist an Vollrath, gib ihn ihm. Ich denke viel an seine Benedicte jetzt!«

»Vollrath erhielt den Brief. Er nahm ihn in meiner Gegenwart, und das genügt, um ihn des Verrats zu überführen. Ich werde Vollrath daraufhin vors Kriegsgericht stellen und erschießen lassen.«

Marcelline fuhr erschrocken zusammen.

»Ah – du – du sagst – nein, ich kann nicht recht gehört haben! Du sagst –«

»Ich könne ihn erschießen lassen, so sagt' ich, und so wird es geschehen.«

»Um Gottes willen, das ist, das kann nicht möglich sein.«

»Laß mich ausreden. Meine Pflicht gebietet mir, die Befehle, die ich erhielt, ausführen zu lassen, und zu diesen Befehlen gehört, unnachsichtlich jede Verbindung mit unsern Feinden zu ahnden; wir können, wir dürfen nicht anders handeln, von stärkern Gegnern umgeben, in Feindesland uns unserer Haut wehrend, in einem Kriege, wo von Schonung keine Rede ist und die Bauerncanaille sogar sich wie eine blutdürstige Bestie auf uns gestürzt hat.«

»Du sprichst dies alles nicht, um mich wirklich glauben zu machen, daß du ein solcher Unmensch, ein so verabscheuungswürdiger Schurke sein würdest –«

»Ruhig, ruhig, Marcelline, zornige Worte bringen uns nicht weiter; höre mich an. Ich werde das Leben deines Gatten schonen, ich werde diesen Brief zerreißen, wenn du es willst. Dagegen wird dein Gatte einwilligen, dir all das deine herauszugeben, dich friedlich ziehen und mir folgen zu lassen! Geh zu ihm und stelle ihm die Bedingung.«

»Um Gott, ich soll zu ihm gehen, ich soll ihm ins Gesicht mein Verbrechen bekennen, ich soll seine Einwilligung in einen schmachvollen Handel verlangen?«

»Wenn du mich liebtest, wie du so oft geschworen, würde ich diese hochtönenden Worte nicht zu hören brauchen,« rief Duvignot mit aufwallendem Zorn aus. »Nimm die Dinge einfach, wie sie liegen! Blicke der Notwendigkeit mit mehr Ruhe und Vernunft ins Gesicht, laß die Worte und handle. Du stehst vor einem Entweder-Oder, und kein Gott rettet dich vor einer Entscheidung!«

»Daß kein Gott den rettet, der einmal in deinen Händen, scheint in der Tat! Etienne, du bist entsetzlich, es graut mir vor dir!«

Er zuckte mit düsterm Stirnrunzeln die Achsel.

»Entscheide dich und geh!« sagte er, sich ans Fenster stellend und seine Stirn an eine der Scheiben beugend.

»Aber glaubst du denn, glaubst du in der Tat,« rief Marcelline, »daß Vollrath in einen solchen schmachvollen Vertrag einwilligt? Daß er mich gehen heißt, wenn ich ihm als Preis dafür jenen Brief dort biete?«

»Ich denke doch!« stieß Duvignot zornig hervor.

»O, du irrst, du irrst gewaltig. Der alte Mann wird nie in etwas einwilligen, was wider seine Ehre ist, nie – und er liebt mich wahrhaft, mehr vielleicht als du, der imstande ist, mich so zu quälen. Weißt du, was seine Antwort sein wird?«

»Was wird sie sein?« fragte Duvignot. »Er kann dich nicht mit ins Grab nehmen, dieser Mann, der dich mit so heißer Liebe liebt, wie du sagst!«

»Nein, aber er kann übers Grab hinaus mich vor Unglück, vor dem Untergang behüten wollen. Er wird sagen: Ich darf mir das Leben nicht erkaufen wollen mit dem sichern Unglück deines Lebens. Willigte ich ein, so wärst du ein verlorenes Geschöpf, du würdest grenzenlos unglücklich werden an der Seite eines Mannes, der solche Mittel gebraucht, um dich zu besitzen. Deine Zukunft, das ganze Elend deiner Zukunft steht vor mir, und ich will dir nicht das Tor öffnen zu dieser Zukunft; lieber gehe ich in den Tod, der mich nicht entehrt, wie es das Leben nach solch einem Handel tun würde!«

»Welchen Heroismus du ihm zutraust, welche rührende Liebe zu dir!« erwiderte Duvignot verbissen und doch von Marcellinens Worten erschüttert. Aber dies Gefühl wurde nicht Herr über ihn. Die Leidenschaft, die ihm die Trennung von dem geliebten Weibe als etwas Unmögliches, etwas ganz Undenkbares erscheinen ließ, die Kränkung seiner Eigenliebe, die in ihrem Widerstande lag, das Stachelnde und Schonungslose ihrer Worte, alles das durchwühlte ihn, und bitter rief er aus: »Ihr Weiber seid Egoisten, alle, alle. Du denkst bei dem allen nur an deine Zukunft und die Sicherheit deines Glücks darin!«

»Ihr Männer seid wohl nicht Egoisten? Du bist es nicht in dieser Stunde?«

»Wenn du es nicht bist, nun wohl, so geh, denk' zuerst an deinen Mann und wie du ihn rettest? denk' an ihn und nicht bloß an dein Schicksal, das dir so entsetzlich scheint, wenn du mir folgst, wenn du mir es anvertraust!«

»Ich kann Vollrath nicht retten, er wird es nicht wollen, nur du kannst es. Gib deinen schrecklichen, schurkischen Vorsatz, deinen teuflischen Willen auf.«

»Reize mich nicht mit solchen Worten; es ist genug, daß du sagst: Ich will nicht! Wohl denn, so höre: Du bist es, die deines Mannes Todesurteil unterschreibt, und nachher folgst du mir dennoch.«

»Dem Mörder meines Mannes? Nimmermehr!«

Duvignot wandte sich und schaute eine Weile auf die furchtbar erregte, verzweifelnde Frau nieder.

Der Anblick schien ihn zu erweichen; er fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte halblaut: »Suchen wir Frieden, Marcelline; höre mich an. Ich dürste nicht nach dem Blut dieses armen alten Mannes, bei meiner Ehre nicht! Mag er leben! Aber auch wir wollen leben, zusammen leben, denn anders fasse ich das Leben nun einmal nicht! Laß uns darüber einig werden, einig noch in dieser Stunde, damit alles abgetan sei, was neuen Streit zwischen uns entbrennen lassen könnte. Du fürchtest für das Glück deiner Zukunft, für dein Los, wenn du es mir anvertraust; das ist bitter, es ist demütigend für mich. Liebtest du mich so, wie ich dich, so würde kein Raum für solche Bedenklichkeiten in deinem Herzen sein, du würdest in einer Zukunft, die uns die Freiheit gäbe, uns ganz anzugehören, nur das höchste Glück erblicken und vertrauend dem Manne folgen, von dem du weißt, daß du seine ganze Seele besitzest. Sei es drum! Wenn ich deine ganze Seele nicht besitze, so wie du die meine besitzest, so gibt es ein Wesen wenigstens, was sie besitzt, und dieses Wesen wird die Macht haben, dich zu dem zu bestimmen, was du mir abschlägst.«

»Was willst du sagen?« rief Marcelline aus.

»Ich sagte dir vorhin, daß ich die Macht habe, dich zu zwingen, mir zu folgen. Ich drückte mich verkehrt aus. Nicht in meiner Hand liegt diese Macht, es ist ein anderes Wesen, das dich sich nachzuziehen vermag – «

»Wen, o mein Gott, wen kannst du meinen?«

»Brauche ich dir das noch zu sagen? Ich meine Leopold!«

»Leopold!« fuhr Frau Marcelline empor, sich stracks aufrichtend und die Hand nach Duvignot ausstreckend. »Leopold – was ist mit meinem Kinde, was weißt du von meinem Kinde? Rede, rede, was ist mit ihm, wo ist es?«

»Es ist in Frankreich!«

»In Frankreich? In deinem Lande?«

»In meinem Lande, in meiner Heimat, in der Bretagne, wohl gehütet, wohl aufbewahrt!«

»In deinem Lande – und da ist Leopold! Und das sagst du mir erst heute, erst jetzt! O du belügst mich, du entsetzlicher Mensch!«

»Ich spreche die Wahrheit!«

»Es kann nicht wahr sein, es kann nicht sein. Wie könnte Benedicte, nachdem sie das Kind entführt, es nach Frankreich, in deine Gewalt gebracht haben?»

»Behaupte ich das? Aber könnten meine Nachforschungen nach dem geraubten Knaben nicht erfolgreicher und glücklicher gewesen sein als die deinen? Könnte es mir nicht gelungen sein, ihn aufzufinden, und ihn, meinen Sohn, mein Eigen, das nach allen Gesetzen der Natur mir gehörte, dann in meiner Heimat in Sicherheit zu bringen und mir als einen teuren Schatz, als mein Liebstes da zu bergen?«

»Das – das sollte die Wahrheit sein, das behauptest du?«

»Ich behaupte es, ich schwöre es dir, daß das Kind in meinen Händen ist. Gibt es einen Schwur, der dich überzeugt, so nenne ihn mir, ich will ihn leisten. Bei meiner Ehre? Das genügt euch Weibern nicht, ihr wißt nicht, was einem Manne seine Ehre ist. Bei der Asche meiner Mutter! Ist dir das genug?«

»Aber wie war es dir möglich –«

»Ich habe das Kind Grand de Bateillère anvertraut; ich habe es ihm auf die Seele gebunden, er hat es in die Nachbarschaft von Rennes geführt, zu einer seiner Tanten, die auf dem Lande lebt. Ich hörte lange nichts von ihm, aber sein letzter Brief sagte mir, daß das Kind wohl sei.«

»Und mir, mir verschwiegst du das?«

»Ich verschwieg es dir – vielleicht in der Voraussehung einer Stunde wie diese; einer Stunde, wo ich die Demütigung erlebe, zu sehen, daß meine Bitte: Verlaß mich nicht und folge mir, machtlos an dir abgleitet, wo ich dir sagen muß: Folge mir denn zu deinem Kinde, du wirst sonst dein Kind nie wiedersehen. Hatte ich recht,« fuhr er, als Marcelline nicht antwortete, mit Bitterkeit fort, »hatte ich recht, als ich dir sagte, ich könne dich zwingen?« Marcelline stand wie erstarrt, wie versteinert. Sie war totenbleich geworden. Nur in ihren unheimlich vergrößerten Augen, die auf ihm ruhten, schien noch Leben zu sein. So blickte sie ihn an, daß ihm unheimlich zumute wurde, daß er die Brauen zusammenzog und gebieterisch sagte: »Nun, so rede doch endlich!«

»Du hattest nicht recht!« stieß sie kaum hörbar hervor. »Nein, bei Gottes rächendem Strafgericht nicht! Du der Verbündete dieser Benedicte, um mir den größten Schmerz meines Lebens zu bereiten!«

»Das war ich nicht, ich war nicht ihr Verbündeter.«

»Und wenn auch, du konntest meine Angst um das Kind, meine Qual sehen und doch sagen, du liebtest mich! O unerhört, unerhört, unerhört!«

Sie sank in ihren Sessel zurück, sie schlug ihre Hände vors Gesicht und brach in bitteres Schluchzen aus.

»Gib mir mein Kind,« rief sie aus, »gib mir mein Kind zurück, und dann, dann laß mich nie, nie wieder den Vater dieses Kindes sehen!«

»Marcelline!«

»Ich will mein Kind von dir, nichts, nichts als das. Gib mir mein Kind zurück!«

»So fasse dich doch! Du wirst mit mir kommen, wir werden zusammen es wiedersehen.«

»Mit dir? Nie, nie! Aber ich werde es mir holen, ich werde es zu suchen, zu finden wissen; ich werde barfuß gehen und mich von Tür zu Tür betteln, wenn es sein muß, um mein Kind wiederzuerlangen; ich werde seinetwegen alles, alles opfern, ich werde meinen Ruf mit Füßen treten lassen, ich werde alles tun, was ein Weib tun kann, nur das eine nicht, dir Menschen ohne Seele und ohne Herz im Leibe zu folgen. Bei Gott, dies scheidet uns auf ewig!«

»Marcelline,« rief Duvignot leidenschaftlich aus, »mach' mich nicht rasend, nicht toll. Dies ist nicht dein letztes Wort, oder–« »Es ist mein letztes, unwiderruflich!«

»Wenn ich dir alles auseinandersetzen könnte, was mich bestimmte, was mich zwang –«

»Was bedarf es dessen? Du sahst meinen Schmerz, meinen furchtbaren Schmerz, die Not einer Mutter um ihr verlorenes Kind, und schwiegst! Es ist genug, übergenug. Sprich mir kein Wort mehr, geh, räche dich, tue, was du magst und kannst, töte, erschieße, bade dich in Blut, mich beugst du nicht mehr!«

»Zorniges, unvernünftiges, eigensinniges Weib,« brauste jetzt Duvignot auf, »füge dich in meinen Willen, oder –«

»Niemals! Du kannst mich zerbrechen, aber nicht beugen!«

»Nun dann im Namen der Hölle!« schrie Duvignot, »gebrochen sollst du werden! Es ist dein Trotz, der mich zwingt zu handeln!«

Er stürzte, den auf den Boden gefallenen Brief des Erzherzogs an sich reißend, davon und draußen einige Stufen der Treppe zum obern Stock hinauf, bis ihm auf seinen Ruf der Kapitän Lesaillier entgegeneilte.

»Der Schultheiß wird auf die Hauptwache abgeführt,« befahl er diesem. »Dann bemächtigen Sie sich des Menschen in der Chasseuruniform, den Sie da oben bei dem Schultheißen finden werden; beide werden streng bewacht!«


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