Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Zweites Kapitel

Wilderich ging in der Tat am andern Tage, als ob er danach sehen wolle. Er war am Morgen ungewöhnlich früh aufgestanden, aber zuerst war er in die Mühle gegangen, mit dem Gevatter Wölfle zu reden. Margarete hatte gesehen, daß mehrere fremde Männer die Schlucht heraufgekommen und sich ebenfalls in die Mühle begeben hatten – der Müller hatte seine Räder gestellt, als ob er Wichtigeres heute zu tun habe, als seine alten Steine sich umschwingen zu lassen. Margarete schüttelte den Kopf über dies Treiben, aber sie war gewohnt, daß man ihr ein Hehl daraus machte, und so plauderte sie ihren Ärger nur gegen den kleinen Leopold aus, der ihr von der Wiese am Bach gelbe Blumen des Löwenzahns zutrug, aus denen sie ihm eine Kette um den Hals machen mußte. Als Wilderich aus der Mühle zurückkam, nahm er erregt, wie es schien, und hastig ein Frühstück ein, dann warf er die Büchse um, pfiff seinem Hunde und schritt davon, die Schlucht hinauf.

Eine halbe Stunde später sah er die Steinbrücke von Haus Goschenwald vor sich. Der alte Schösser saß zwar nicht mehr auf der Brustwehr, aber er lag in seiner roten Uniform und mit einer hohen weißen Zipfelmütze auf dem gelbgrauen, runzeligen Haupte in einem offenen Fenster des Torbaues, über dem Einfahrtstor. So blickte er Wilderich entgegen, ohne sich zu rühren, nickte auch nicht mit dem Kopfe, als dieser die Hand grüßend an seine Mütze legte; wenn er auch nicht mehr starr und steif wie ein Steinbild auf der Brücke saß, versteinert schien der alte Mann doch.

Wenn man durch das gewölbte Tor im Vorbau auf den Hof von Goschenwald kam, so hatte man rechts das Haupthaus und vor sich einen im rechten Winkel vorspringenden Flügel; von diesem nach dem Vorbau hin schloß links eine niedrige gezinnte Mauer den Hof, über welche man fort in das enge, waldbewachsene Tal und den Weiher im tiefsten Grunde blickte, in die stille, grüne, menschenleere Waldwelt.

Mitten im Hofe stand eine Linde und unfern ein Ziehbrunnen mit seinem Eisenrade zwischen zwei Steinpfeilern; der Brunnen mußte sehr tief sein, da Goschenwald auf halber Berghöhe lag und das ganze Tal beherrschte. Dicht unter der Linde, die weithin ihre niederhängenden Zweige ausbreitete und den Boden umher mit ihren gelben beflügelten Blüten bedeckt hatte, stand eine Bank, und auf dieser Bank saß ein junges Mädchen in einem dunkelgrünen Kleide, unter dem nach der Mode der Zeit ein graues Unterkleid hervorblickte; ihre Brust war mit einem weißen geblümten Tuche umhüllt, das auf dem Rücken zu einem Knoten zusammengeschlungen war; um ihr Haupt wallten frei die dichten braunen Locken. So saß sie da, das Kinn auf die Hand gestützt und in das Tal vor ihr hinabschauend; ein grober grauer Strickstrumpf, mit dem sie beschäftigt gewesen sein mußte, lag in ihrem Schoße. Wilderich fixierte sie überrascht, als er näher kam. War das in der Tat – ja, sie war es, dies schöne rosig-bleiche Antlitz konnte keinen Doppelgänger haben – es war die Nonne von gestern!

Ein eigentümliches Gefühl von Befriedigung war es, womit Wilderich die Wandlung bemerkte, die aus der Nonne ein junges Mädchen, anscheinend des wohlhabenden Bürgerstandes, gemacht. Es war auffallend, daß sie so geeilt, das fromme kirchliche Gewand abzutun; für den jungen Forstmann freilich konnte es ganz dasselbe sein, ob er sie nun so oder so sah; und doch flößte der Anblick ihm eine warme, wohltuende Empfindung ins Herz.

Als er auf sie zutrat, fühlte er sich tief erröten, und dem Blicke, den sie groß und ruhig auf ihm haften ließ, ein wenig unsicher begegnend, aber mit der Verbeugung eines weltgewandten Mannes, sagte er: »Ich hoffe, Demoiselle, Sie finden mich nicht zudringlich; meine Waldstreiferei führte mich in die Nähe, und die Hoffnung, zu erfahren, daß Sie wohl untergekommen sind und daß Ihre Fußreise Sie nicht zu sehr ermüdet und angegriffen habe, bis hierher.«

»Ich danke Ihnen,« versetzte sie freundlich, aber sehr ernst. »Wie Sie sehen, bin ich wohl. Ich danke Ihnen für die große Gefälligkeit, welche Sie mir gestern erwiesen und die ich nicht hätte annehmen sollen, da Sie einen so weiten Weg deshalb zu machen hatten. Aber ich wußte ja nicht, wie weit.«

»Sie kannten den Weg nicht, freilich, und es wäre ja unverzeihlich von mir gewesen, hätte ich es Ihnen überlassen, sich den Weg selber zu suchen. Darum reden wir nicht von Dank.«

Sie antwortete nicht, Wilderichs Auge haftete auf dem Antlitze des jungen Mädchens, das einen so unbeschreiblichen Zauber auf ihn ausübte; unter dem Einfluß dieses Zaubers, der ihm eigentümlich die Gedanken verwirrte, wußte er nicht, wie er den abreißenden Faden des Gesprächs wieder anknüpfe. »Es freut mich,« stotterte er endlich, »daß Sie hier wohl aufgehoben sind. Der Herr Schösser hat sicherlich – «

»Der Herr Schösser,« fiel sie lächelnd ein, »hat endlich den Brief der Äbtissin gelesen und mir die besten Zimmer dort oben –« sie deutete auf den vorspringenden Flügel des Baues – »eingeräumt; er spricht zwar nur mit den Augen, der Herr Schösser, aber er scheint ein friedlicher, wohlmeinender Herr; auch ist er nicht so abgeneigt, auf eine Frage eine Antwort zu geben, wie man glauben könnte. Man muß ihn nur dabei – die Haushälterin hat es mir verraten – Ew. Gestrengen nennen und er wird dann gleich ein ganz umgänglicher Mann. Die Zimmer sind recht wohl erhalten, sie haben eine hübsche Aussicht, und ich bin durchaus nicht unzufrieden, sie mit meiner Zelle vertauscht zu haben.«

»Und diese Tracht, die so viel kleidsamer und, wenn ich es zu sagen mir herausnehmen darf, so viel passender für die Demoiselle ist, mit dem schwarzen Habit, in welchem ich mich gar nicht recht Sie anzureden getraute!«

Sie nickte lächelnd.

»Ich war nur Novize oder auch das nicht einmal so recht im Kloster,« sagte sie. »Ich trug das schwärze Habit nur so mit den andern, und ich habe es abgelegt, da es doch nur eine Entweihung desselben wäre, wenn ich es hier vor den Leuten beibehalten und so Parade mit einem frommen und sehr ernsten Berufe gemacht hätte, der meiner Seele ganz fremd ist, für den ich gar nicht würdig genug bin. Es ist sicherlich nicht Eitelkeit, wenn ich Ihnen heute so verwandelt und verweltlicht erscheine, nein, nur Ehrlichkeit!«

Sie sah ihn dabei mit Augen an, aus denen diese Ehrlichkeit hervorleuchtete.

Wilderich geriet immer tiefer in den Zauberbann dieser Augen, er kam sich dabei, weil er nichts zu antworten, nichts Sinniges oder Kluges vorzubringen wußte und das Rot der Verlegenheit auf seinen Wangen brennen fühlte, entsetzlich hölzern und täppisch vor; er suchte nach einem Schluß der Unterredung, und mochte sich doch auch von der Stelle, wo er stand, nicht losreißen.

»Die Klostertracht,« sagte er nach einer Weile, »würde Sie vielleicht doch besser geschützt haben, wenn der Sturm hier in unsern Waldbergen losbricht.«

»Der Sturm? Sie meinen?«

»Ich meine den Kampf, der sich hier in der Stille vorbereitet. Ich darf es Ihnen ja sagen. Sie wissen, daß die Franzosen oben im Lande zurückgeworfen sind; eine zweite Schlacht, vielleicht in der Gegend von Würzburg, wird hoffentlich ihre Macht völlig brechen und sie zwingen, sich durch die Wälder hier auf den Rhein zurückzuziehen. In diesen Wäldern aber werden sie alsdann vernichtet werden.«

»Mein Gott, Sie sprechen das so bestimmt aus – Sie glauben, der Erzherzog Karl wird sie hier auf dem Rückzuge angreifen?«

»Nicht das. Der Erzherzog Karl wird mit seiner Armee für die Weidmänner des Spessart der Treiber sein, der ihnen das gehetzte Wild in den Schuß treibt! Wir sind bereit und gerüstet, es zu empfangen. Es ist alles vorbereitet. Wir haben im stillen für Waffen gesorgt, die Männer im Gebrauch derselben geübt, die Anführer und Rotten aufgestellt, die Punkte, wo die Angriffe erfolgen sollen, bestimmt. Warten Sie ein paar Tage, und Sie werden auch hier in Goschenwald hören können, wie's drüben in den Tälern, durch die die Straßen ziehen, knattern und knallen wird.«

»Mein Gott, was sagen Sie mir da!« rief das junge Mädchen erschrocken. »Und das soll hier unter meinen Augen vorgehen?«

»Hier schwerlich! Seien Sie darüber beruhigt! Goschenwald liegt in gerader Linie fast eine Stunde von der Heerstraße entfernt. Sie werden höchstens einige der Jäger vorüberziehen sehen, nichts von der Jagd!« »Das ist aber doch fürchterlich! Und Sie, Sie selbst?« versetzte sie, indem sie in das von dem Ausdrucke wilden Mutes und der Kampfeslust glühende Antlitz Wilderichs blickte.

»Ich selbst, ich bin Weidmann, im Spessart angestellt; durch mein Revier zieht ein gutes Stück der Rückzugslinie des Feindes; möchten Sie da meine Büchse feiern sehen?«

Sie antwortete nicht. Ihre Züge waren bleicher geworden.

»Schrecklich ist es aber doch,« sagte sie dann, mit dem Ausdrucke der Angst zu Wilderich aufblickend; »es hat mich so entsetzt, daß ich noch in dieser Stunde wieder aufbrechen und mich weiter flüchten möchte! Aber wohin, wohin? Ich weiß keinen Winkel auf Erden, der mich aufnähme, wenn ich diesen hier verließe – keinen Winkel, keine Stätte! O mein Gott!« setzte sie halb wie für sich und den Blick von Wilderich abwendend, um in die Ferne hinauszustarren, hinzu, »ich bin ja nun einmal verlassen von allen, verlassen und verloren! So muß es denn über mich kommen, ich muß es überstehen, so gut es zu überstehen ist!«

»Es tut mir leid,« versetzte Wilderich bewegt, »daß es Sie so erschreckt, so zittern macht. Hätte ich's Ihnen lieber nicht verraten, wie wir's bis heute verborgen haben gehalten vor aller Welt, außer vor denen, die's anging, die den nötigen Haß im Herzen, die nötige Kraft in den Muskeln und Sehnen haben, um zu helfen, mit einem heiligen Wetterschlage in das böse Volk, das unser Vaterland höhnt, beschimpft, ausraubt und zertritt, zu fahren! Doch ich dachte, Ihnen dürft' ich's sagen; mir ist, als dürft' ich eben Ihnen alles sagen, Ihnen müßt' ich alles sagen; und dann, dann, dachte ich, seien Sie vorbereitet und ängstigten sich nicht, wenn Sie wüßten, daß alles wohlgeordnet, alles vorgesehen ist; daß nicht tollkühne Menschen sich um Sie her leichtsinnig in den Untergang stürzen, sondern daß ein überdachter Plan das selbständige Handeln des Volkes regelt. Das Volk will zeigen, daß es auch die Waffe zu handhaben versteht und alte Schmach zu rächen weiß, und daß, so viel man auch getan, seine Kraft, seinen Mut und sein Selbstbewußtsein in dem Modersumpf unsers Reichswesens zu ersticken, diese Kraft doch noch lebendig ist und zu siegen weiß, wenn man ihr nur Raum läßt, sich zu offenbaren. Um das an den Tag legen zu können, hat es sich aber vorgesehen, damit es nicht bei dieser Erhebung eine klägliche Rolle spiele und zum Spotte derer werde, welche es verachten. Es hat seine Maßregeln dawider getroffen. Es wird kein Kinderspiel werden, sondern ein sehr ernstes Stück Arbeit. Aber fürchten Sie nichts! Es wäre nicht wohlgetan, wenn Sie darum diesen Aufenthalt verlassen wollten, falls Sie wirklich so allein stehen in der Welt, wie Sie sagen.«

»Das tue ich,« versetzte das junge Mädchen, zu Boden blickend; »allein, ganz allein!«

»Das ist ein hartes Los,« erwiderte Wilderich weich und mit gedämpfter Stimme. »Für ein junges Mädchen doppelt, obwohl es auch die Seele eines Mannes wunddrücken kann, wenn er sich sagen muß: du bist allein in der Welt, die Deinen sind alle dahin, sind tot, du selbst bist wie ein loses Blatt in diese Talschlucht, in diese Berge, in diese Welt hineingeweht, ohne daß du weißt, was dich eigentlich dahin bringt; ohne daß das Bewußtsein des Fremdseins in dieser Welt je für dich aufhört; ohne daß sich Fäden spinnen zwischen ihr und deinem Gemüt, die dir endlich das Gefühl, eine Heimat zu haben, gäben; ohne daß die alte quälende Empfindung der Herzensleerheit ein Ende fände und das ewige schmerzliche Träumen von einem Glück, das irgendwo jenseit der grünen Bergwaldkämme im Ost oder im West für dich existieren müsse, je aufhörte.«

»Und ist's Ihnen so zumute – Ihnen – hier?« fragte leise errötend und zu ihm aufschauend mit bewegterer Stimme das junge Mädchen.

»So ist's,« sagte er. »Ich bin fremd hierher gekommen, seit wenigen Monden. Ich bin zu Hause in der Unterpfalz, aus der Gegend von Zweibrücken. Da ist nun alles französisch drüben. Mein Vater war Forstmeister dort, ein alter Mann, gichtgelähmt, ich durfte ihn nicht verlassen. So hielt ich's aus. Ich sollte sein Nachfolger werden und versah den Dienst für ihn schon seit mehreren Jahren. Ich hielt es aus trotz der neuen Wirtschaft dort; als aber mein Vater gestorben, da hielt mich nichts mehr zurück, ich gab meine Stellung und Aussicht auf, und der Kurfürst von Mainz, der jetzt in Aschaffenburg sitzt, gab mir ein vernachlässigtes Revier, sein allerentlegenstes – dieses hier!«

Das junge Mädchen sah ihn an, ohne zu antworten.

»Sie klagen mit Unrecht,« sagte sie dann nach einer Weile, »über solch ein Lebenslos. Es gibt härtere. Keine Heimat zu haben ist besser, als eine zu haben, die uns ausgestoßen hat; keinen Kreis verwandter und geliebter Menschen zu besitzen besser, als in dem, der uns gehört, Hader, Feindschaft und tödlichen Haß zu wissen!«

Wilderich nickte leise, indem er sinnend auf die Sprechende vor ihm blickte. Ein unendliches Mitleiden mit ihrem Lose erfüllte ihn, da er sofort annahm, daß sie nur von ihrem eigenen reden könne.

»Sie haben recht, Demoiselle,« entgegnete er dann. »Und wenn – wenn –«

»Was wollten Sie sagen?« fragte sie unbefangen, als er ins Stottern geriet.

»Nichts, als daß unsereins ja auch den Trost hat, zuweilen zu etwas nütze sein zu können – vielleicht wenn Sie irgendeines Schutzes, eines Dienstes bedürften – gewiß wird es Ihnen erwünscht sein, Auskunft, Nachrichten über die Vorgänge, die wir zu erwarten haben, zu erhalten – ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß, wenn ich wiederkommen dürfte, wenn Sie mir vergönnen –«

Wilderichs Erröten und Stottern wurde peinlich, so daß sie einfiel: »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aufrichtig. Ich würde sehr undankbar für den Schutz sein, den Sie mir bereits einmal haben angedeihen lassen, wenn ich nicht gern Ihre Gefälligkeit wieder in Anspruch nähme, sobald ich ihrer bedürfte und ich wüßte, daß es Ihnen nicht wieder eine so große Mühe machte, wie ich sie Ihnen gestern gemacht habe.«

»Bitte, reden Sie nicht mehr von der Mühe und lassen Sie mich mit der Hoffnung gehen, daß Sie unter allen Umständen auf meinen Eifer, Ihnen dienen zu können, zählen!«

Da sie nicht gleich antwortete, machte er ihr mit noch tieferm Erröten eine Verbeugung und ging. Sie blickte ihm eigentümlich bewegt nach. Vielleicht fühlte sie jetzt, wo er nicht mehr da war, sich ein wenig beunruhigt, es beschlich sie der Gedanke, ob sie in diesem Gespräch nicht auffallend offen und aufrichtig und über ihre Lage zu mitteilsam gewesen und was er darüber denken müsse. Es ist nun einmal so schwer, wenn man durch die Ereignisse aus allem Gleichgewicht gebracht und so in eine völlig andere Umgebung geworfen, weit aus den täglichen Lebensgleisen geschleudert ist, die strenge Haltung, wie die Sitte sie will, zu bewahren, nicht von dem, was das Herz erfüllt, mehr über die Lippen fließen zu lassen, als man sollte!

Ihre Skrupel, daß Wilderich sie mißdeuten und mißverstehen könne, waren jedoch sehr unbegründet! Er sagte sich nichts über sie, er grübelte nicht, er urteilte nicht, er fühlte nur stärker das, was ihn die ganze schlaflose Nacht hindurch erfüllt, dies Betroffen- und Ergriffensein von der fremden, all sein Denken gefangennehmenden Erscheinung; es war ihm, als ob das zu einem wahren Sturm werden könne, was schon jetzt ihm durch alle Adern pochte; er fühlte es und sagte es sich schon mit bewußter Klarheit, daß dieses geheimnisvolle schöne junge Mädchen mit seinem seltsamen Schicksal ihm mehr am Herzen liege als alles andere, was ihm nahestand in dieser stillen grünen Bergwelt und außerhalb derselben.

Eine Weile, nachdem Wilderich gegangen, erschien eine zweite Person auf dem Hofe zu Goschenwald. Diesmal war es der gestrenge Herr Schösser, der Herr Schösser in der abgetragenen roten, auf den Nähten ein wenig weiß gewordenen Uniform, in welcher einst der ritterschaftliche Kanton von Oberfranken seine grausam tapfere und Schrecken verbreitende Heeresmacht zu der römisch-kaiserlichen Armada stoßen lassen, wenn es galt, den Reichsboden wider Türken oder Franzosen zu verteidigen. Rot war diese Uniform; ob die grüne Sergeweste mit Messingknöpfen und die gelben Beinkleider und die schwarzen Gamaschen, in denen der Herr Leutnant außer Dienst stolzierte, vorschriftsmäßig dazu gehörten, finden wir in den Büchern der Geschichte nicht verzeichnet. Vielleicht hing diese Farbenwahl mit dem persönlichen Geschmack Sr. Gestrengen zusammen; gewiß aber gehörte dazu der quer getragene Degen, der an der steifgeraden dünnen Gestalt des Mannes hing wie eine Raa an einem Mastbaum, so daß man den Lehrsatz von der Gleichheit der Scheitelwinkel daran beweisen konnte; und sicherer noch gehörte zur Uniform die Konvolvulusblume des zierlichen Zopfes!

Der Schösser kam aus dem Torbogen heraus, dann stelzte er in dem ganzen Hofe herum mit einem gewichtigen Schritt, nicht rechts noch links blickend; es sah aus, als ob der alte Mann dienstmäßig eine Ronde, eine Patrouille, ein schattenhaftes Korps seiner Tapfern, das nur er hinter sich erblickte, führte; und in der letzten Ecke, da mußte er sie wohl entlassen haben und der Dienst zu Ende sein; die linke Hand auf den Rücken gelegt, die rechte in die grünsergene Weste geschoben, nahm er das Mädchen unter der Linde als Richtpunkt, auf den er jetzt zustelzte.

»Wünsche Guten Morgen, Demoiselle Benedicte!« sagte er, die Hand an seinen dreieckigen Hut mit der roten Plumage legend.

»Guten Morgen, Gestrengen!« antwortete sie.

»Tun verhoffen,« fuhren Se. Gestrengen fort, »daß die Demoiselle Benedicte eine wohlschlafende Nacht genossen!«´

»Ich danke Ihnen, Gestrengen; ich habe nach meiner ermüdenden Wanderung sehr tief und sehr lange geschlafen.«

»Auch, daß Wohlderselben die Ziegenmilch noch hinreichend warm serviert worden. Habe sie selber gemolken und der Beschließerin Afra zu schleuniger Überbringung anrekommandiert.«

»Ei, Sie melken die Ziege selbst, Herr Schösser?«

»Jawohl, Demoiselle, melke ich sie selbst; dem Dienstvolk kann man so etwas nicht überlassen; melke sie selbst, bereite auch selbsten den Käse – sehr guten Käse – werde die Ehre haben, bei Tische mit einem kleinen Pröblein aufzuwarten. Was ich jedoch vermelden wollte, Demoiselle Benedicte, da Wohldieselbe mir anitzo von der Frau Äbtissin brieflich anempfohlen ist, so möchte es angemessen erscheinen, daß ich Hochderselben mittels eines Antwortschreibens zu erwidern mich beflisse, wie ich solchem Ansinnen nachzuleben mit besonderer Dienstergebenheit erbötig sei.«

Benedicte, wie er unsere Novize genannt, nickte mit dem Kopfe, doch schien ihr in dem Ton des Mannes eine Andeutung zu liegen, die sie nicht gleich verstand, und so sah sie ihn fragend an. Sie bemerkte aber nur, daß ihre schweigende Zustimmung zu seiner Äußerung seine Miene durchaus nicht erhellte, als, er fortfuhr: »Wobei nur zu bedenken anheimgebe, daß auch noch dem Herrn Reichshofrat, dem Bruder der Frau Äbtissin, für den ich Goschenwald zu administrieren die Ehre habe, anderweit schuldige Meldung zu machen haben dürfte.«

»Sie wollen, daß Sie mich hier aufgenommen haben, an den eigentlichen Eigentümer dieses Hauses nach Wien melden?«

Der gestrenge Herr runzelte jetzt völlig schwermütig die Brauen.

»Das möchte allerdings für geziemlich erachtet werden, obwohl sonst nur alle Vierteljahre einen kurzgefaßten submissen Bericht dahin zu instradieren verpflichtet bin.«

Die Demoiselle Benedicte hatte jetzt den gestrengen Herrn und den leisen Ton von Wehmut und Klage, der in seiner Rede lag, verstanden.

»O,« sagte sie lebhaft, »Ew. Gestrengen sollen sich nicht eine Mühwaltung zumuten, welcher ich Sie gern überheben will! Ich selbst werde der Äbtissin danken, ihr berichten, mit welcher Güte und Zuvorkommenheit Sie mich in Haus Goschenwald aufgenommen haben, und zugleich bitten, daß die Frau Äbtissin dem Herrn Bruder in Wien Nachricht von den Umständen gibt, unter welchen sie mir in seinem Eigentum ein Asyl angewiesen hat.«

»Dieses wäre scharmant, Demoiselle Benedicte!« sagte der Krieger außer Dienst, erleichtert aufatmend und offenbar erfreut, die ihn beunruhigende Arbeitslast von seinen Schultern genommen zu sehen. »Bin des Schreibens und was damit zusammenhängt ein wenig ungewohnt geworden, und so will ich es dabei bewenden lassen, um so mehr, als die Posten nach Wien bei diesen Kriegsläuften so unsicher sind!«

»Sie haben recht, Gestrengen, die Posten sind so unsicher!«

Der Schösser ging, nachdem er über diesen Punkt beruhigt, zu einem andern Gegenstand über.

»Ist wohl,« fragte er, »ein alter Bekannter, der Herr, der eben ging, der Herr Revierförster, von der Demoiselle Benedicte?«

»O nein, durchaus nicht. Woraus schließen Sie das?«

»Dachte so, weil er Sie herbrachte. Nun, dann desto besser. Wollte Sie auch nur ein wenig gewarnt haben vor dem! Gefährlicher Mensch das! Staatsgefährlicher Mensch!«

Die Demoiselle Benedicte sah verwundert in das alte runzlige Gesicht vor ihr:

»Staatsgefährlich? Und weshalb?«

»Weil er hetzt, weil er die Bauern aufhetzt und stachelt, und weil man nicht weiß bei ihm, woher und wohin!«

»Woher er kommt, hat er mir soeben gesagt.«

»Was hat er gesagt?«

»Er stammt von drüben her, aus –«

»Ja, von drüben, von drüben, von da her, wo sie jetzt die Franzosen, die Republik haben, und –« der Herr Schösser dämpfte hier die Stimme zum Flüstern – »ist auch solch einer, ein Jakobiner, ein Republikaner, ein Klubbist und Emissär; soll hier wühlen! Die fränkischen Bauern sind alle Halunken; das will nicht mehr Schoß und Beden und Steuern zahlen; das will nicht mehr roboten, das will nicht mehr in Zucht und Zagen der Kirche dienen und in Furcht und Zittern vor der gestrengen Obrigkeit stehen; das läßt sich Reden von der neumodigen Freiheit halten und unterweisen, wie man Kraut auf die Pfanne schüttet. Na, wir werden erleben, was daraus wird.«

»Sie tun ihm ganz gewiß unrecht,« versetzte Demoiselle Benedikte warm; »er hat so offen mit mir geredet – allerdings, er hat mir gestanden, daß sich das Volk rüstet, dem Heere des Kaisers beizustehen, und daß er selbst –«

»Einer der Haupträdelsführer ist – freilich, freilich, das wissen wir ja – aber dem Heere des Kaisers beizustehen? Glauben Sie's nicht, Demoiselle, glauben Sie's nicht, es ist alles Lüge, Lüge, Komödie. Sie sind nicht besser als die Jakobiner auch, sind alle Sanskulotten, und sie wollen nur die Waffen in die Hände bekommen, und hernacher, wenn sie gerüstet und in der Macht sind, dann werden wir's erleben.«

»Ich weiß von diesen Sachen nichts,« antwortete Benedicte betroffen; »ich habe nur gehört, daß überall ein Teil der Landbevölkerung sowohl wie der Bewohner der Städte den Franzosen als Befreiern und Verbreitern freierer und menschlicherer Staatseinrichtungen mit Freude entgegengesehen hat; daß aber jetzt ein furchtbarer Umschwung in dieser Gesinnung eingetreten ist; daß die Art, wie die Franzosen ihren Verheißungen durch ihr Auftreten Hohn gesprochen, wie sie geplündert, die Menschen mißhandelt und das Vieh gemartert, aus Frevelmut der Leute Eigentum vernichtet und die Altäre geschändet haben, eine tiefe Empörung hervorgerufen hat, und daß, wenn die Franzosen geschlagen sind –«

»Geschlagen sind – die Franzosen geschlagen sind!« viel hier der Schösser ein, während die Runzeln seines gelben Gesichts in wunderlich zuckende Bewegung gerieten. »Als ob die Franzosen geschlagen würden! Die werden nicht geschlagen, ich sag's der Demoiselle, ich, der dabei war.«

»Bei den Franzosen?«

»Nein, dabei, wenn sie nicht geschlagen wurden; wenn wir, die Reichstruppen geschlagen wurden; zehnmal, ein dutzendmal!«

»Aber mein Gott, bei Amberg hat doch der Erzherzog –«

»Lügen, Lügen, Possen! Alles nur Vorwand des Rebellenpacks, das losschlagen will. Bin auch Soldat; war bei den Ritterschaftlichen, bei den Erzstift-Mainzischen; auf Ehre, wir haben unsere Schuldigkeit getan wie brave Soldaten; aber geschlagen? Geschlagen haben sie uns – immer sie uns! Das läßt sich nicht schlagen, das Franzosenvolk! Aber darin hat die Demoiselle recht – die Empörung, die Rebellion, die Republik, die werden wir haben, sehr bald haben, und den Herrn da drüben, den Herrn Wilderich werden wir an der Spitze sehen, an der Spitze der Lumpenbande, sie mag mir's glauben!«

»Ich glaube,« versetzte die Demoiselle Benedicte erregt, »es ist unrecht von Ihnen, so von einem Manne zu reden, dem Sie nichts Bestimmtes vorwerfen können, als daß er eben ein Fremder in dieser Gegend ist.«

»Ein Fremder, ein Wildfremder,« rief der Schösser aus, »wildfremd mitsamt seinem Kinde!«

»Samt seinem Kinde? War er verheiratet?«

»Verheiratet? Der? Nichts davon! Es ist dergleichen nichts anhero bekannt; aber ein Kind hat er, hat's bei sich, jedermann kann's sehen.« Benedicte wandte ihr Gesicht ab von dem Zucken der Runzeln in des Gestrengen Antlitz und den Blicken voll häßlicher Bedeutung, die auf ihr lagen.

»Was geht's, uns an!« sagte sie. »Ich glaube, Ew. Gestrengen Ziegen meckern!«

»Ja, ja,« sagte der Ritterschaftliche; »ich will gehen und ihnen einen Arm voll frisches Laub bringen.«


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