Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Zehntes Kapitel.

Während Wilderich die gewundene, auf einen ziemlich dunkeln Vorplatz führende Treppe hinanstieg, saß der vom Obergeneral Jourdan von Würzburg aus als Kommandant nach Frankfurt gesandte General Duvignot, den wir auf dem Wege dahin mit so viel Hemmnissen kämpfen sahen, in einem bequemen und wohnlich, wenn auch nach unseren Begriffen sehr einfach eingerichteten, auf den Hof hinausgehenden Zimmer in höchst lebhafter Unterhaltung mit einer Dame begriffen, welche wir ebenfalls kennen.

Duvignot war in der frühesten Morgenfrühe in Frankfurt angekommen; er hatte sein Quartier im Hause des Schöffen genommen. Am Morgen hatte er energisch, scharf und schonungslos die Zügel des Regiments ergriffen und vor Geschäften kaum die Zeit gefunden, um mittags Frau Marcelline zu begrüßen, die nach ihm unter dem Schutze des Kapitäns Lesaillier glücklich mit ihrem Gefolge eingezogen war. Vor einer halben Stunde hatte er eine durchgreifende Maßregel getroffen, um so viel Ruhe zu gewinnen, rasch eine Mahlzeit einzunehmen und dann ein Gespräch mit der Frau vom Hause halten zu können. Sie saß in einem an das Fenster gerückten Lehnstuhl, müde hingegossen, die Arme im Schoße, das Haupt vornübergebeugt und auf den Boden niederblickend.

Der General stand aufrecht an dem Fenster, die linke Hand auf dem Knopf der Espagnolettestange, mit der rechten lebhaft gestikulierend.

Doch wurde das Gespräch nur leise flüsternd geführt.

»Ich versichere dich, Marcelline,« sagte er, »darüber kann keine Täuschung sein; wir sind vollständig geschlagen, so daß an eine Behauptung Frankfurts gar nicht mehr zu denken ist; wir werden uns halten, solange wir können, vielleicht noch vierzehn, vielleicht noch acht Tage, es hängt bloß von der Energie ab, womit die österreichische Armee ihre Siege ausbeutet und auf uns drückt. Auch im besten Falle, wenn der Erzherzog sich jetzt durch den Odenwald links werfen und Moreaus Rheinarmee zum Rückzuge zwingen würde, auch dann könnten wir das rechte Rheinufer nicht halten und müßten zurück, zurück nach Frankreich. Glaub' mir's, Marcelline!«

»Ich glaube dir's ja, aber bedarf's denn etwas anderen als einer kurzen Waffenruhe für euch, um bald siegreich zurückzukehren? Und wenn ich mich nun in das Schicksal fügen will, zu warten, ich, die so lange Jahre diese unselige, martervolle Lage des sich Fügens und Harrens habe aushalten müssen, daß ich es habe lernen können?«

Frau Marcelline sprach dies mit einem tiefen Seufzer und schmerzbewegt ihre Finger zusammenpressend.

»Harren, auf unsere Wiederkehr? Weißt du, ob, wenn wir wiederkehren, ich unter denen sein werde, die unsere Fahnen siegreich hierher zurücktragen? Ob ich nicht längst dann in weite Ferne, nach dem Oberrhein, nach Italien gesandt sein werde?«

»Das hängt ja doch von dir ab.«

»Und wenn auch, ich sehe nun einmal im voraus, daß wir gar nicht wiederkehren werden.«

»Du zweifelst an dem Siege eurer eigenen Waffen?«

»Nein, nicht deshalb. Ich sehe nur voraus, daß diesem Feldzuge der Friede folgen wird. Das ist unausbleiblich. Wir sind erschöpft; wir bedürfen des Friedens; das Direktorium will den Frieden; und unsere Feinde? Trotz ihrer jetzigen Erfolge bedürfen sie seiner weit mehr noch als wir. Verlassen von Preußen, können sie es gar nicht auf einen weitern Krieg im folgenden Jahre ankommen lassen. Dieser Winter bringt uns den Frieden, so gewiß ich diese Hand ausstrecke, und deshalb, Marcelline, fasse Mut, sei groß und stark und entschließe dich!«

»Ich kann nicht!« lispelte sie leise. »Es ist unmöglich!«

»Unmöglich! Das Wort ist so leicht bei der Hand, wenn der Mut und der Wille fehlen!«

»Aber mein Gott, du selbst kannst doch nicht so verblendet sein, nicht einzusehen, daß ich nicht den furchtbaren Schimpf, die Schande, die Verdammung aller Menschen auf mich laden, daß ich nicht meinen Mann in Verzweiflung stürzen und, auf nichts anderes als die Stimme der Leidenschaft hörend, dir blindlings nachfolgen kann, wohin du mich führst!«

»Nicht? Das könntest du nicht?« antwortete Duvignot bitter. »Die Urteile bei Menschen, die Rücksicht auf deinen Mann sind dir wichtiger als mein Glück, mein Leben, mein ganzes Dasein, das ohne dich vernichtet ist?«

»O mein Gott, Etienne, du weißt, wie ich dich liebe!«

»Liebe – eine Liebe ohne Vertrauen! Du vertraust mir dein Los nicht an, du willst dich nicht von mir führen lassen, du –«

»Wie ungerecht du bist, mir so bitter vorzuwerfen, daß ich nicht taub und blind für alles bin! Wäre ich achtzehn Jahre, so könnte ich es sein, jetzt kann ich es nicht mehr. Die Folgen einer solchen verbrecherischen Tat stehen nun einmal vor meinen Augen, und ich kann, ich kann nicht!«

»Freilich, du handeltest ja auch sehr töricht! Die reiche Patrizierfrau, die sorglos, im Wohlleben, in allem Luxus, der sie umgibt, von Huldigungen umringt, hier ihre glückliche Existenz weiter führen kann, wird nicht so wahnsinnig sein, ihr Los an das wechselreiche, unstete Leben eines armen Glückssoldaten zu fesseln!«

»Das sind Worte, die der Zorn aus dir spricht, Etienne, und ich brauche deshalb nicht darauf zu antworten, ich bin zu stolz dazu!«

»Zu stolz, da liegt's! Du bist zu stolz, Marcelline, um wahrhaft lieben zu können. Die Liebe ist demütig! Was ficht sie der Menschen Urteil an und ob es sie hoch oder niedrig stellt? Sie hört nur auf die eine Stimme, auf die des Herzens – Marcelline, ich bitte, ich flehe dich an, höre auf sie, ich will es, ich verlange es von dir, ich kann es fordern, denn du bist mein Weib, mein durch die heiligsten Bande an mich gekettetes Weib! Was hat die inhaltlose Form zu bedeuten, dieser Priestersegen, der dich mit einem alten ungeliebten Manne verbunden hat? Uns hat das Herz, hat die Natur mit heiligern Banden verbunden, und das lebende Zeugnis dieses Bundes, wenn es nun vor dich träte und zu dir spräche: Verlaß, verlaß meinen Vater nicht, denn –«

»Ich bitte, o ich bitte dich, Etienne, rede nicht weiter!« sprach das gepeinigte Weib, ihre Hände vor das Gesicht schlagend.

»Weshalb soll ich nicht weiter reden,« eiferte Duvignot, »weshalb, da du mich feig verlassen willst, nicht alles dir ins Gedächtnis rufen, was uns für ewig zusammenkettet?«

»Will ich denn das Band zerreißen?« rief Marcelline aus geängstetem Herzen aus. »Aber wie soll ich dir folgen? Wie ist es möglich? Wohin? Zu wem? Wen hast du auf Erden, zu dem du mich bringen könntest? Hast du einen Kreis, in dem ich, stolz darauf, die deine zu sein, geschützt, geachtet und geehrt meine Tage zubringen könnte, wenn du nicht da, wenn du nicht daheim, sondern wenn du auf Monate, Jahre hinaus im Felde sein wirft? Und wenn du fällst, du mit deinem rücksichtslosen Drang, der Gefahr zu trotzen, deiner Verwegenheit, deinem Ehrgeiz, deinem Ruhmdurst, all dem Feuer, das einen Soldaten nicht zu Jahren kommen läßt – wohin dann mit mir verlassenem, entehrtem, schmachbedecktem Geschöpf?«

»Du bist sehr klug und besonnen, Marcelline,« antwortete Duvignot, eine verächtlich abwehrende Bewegung mit der Hand machend. »Ihr Frauen könnt das, mit Besonnenheit lieben! Wenn die Besonnenheit nur nicht so feig wäre! Eine mutigere Klugheit würde dir hie Dinge in anderem Lichte zeigen; dein Mann wird einmal sterben und dann wirst du mein Weib werden, das ist einfach die Zukunft, die meine Klugheit mir zeigt! Höre, Marcelline, ich flehe dich noch einmal an, folge mir, suche dich nicht von mir loszureißen.«

»O mein Gott, wer spricht davon?«

»Du, du tust es! Was kann uns ein armseliger Briefverkehr sein, wenn Hunderte von Meilen vielleicht zwischen uns liegen, wenn die Hoffnung, uns wiederzusehen, verschwindet, wenn andere Menschen, andere Schicksale, wenn die Jahre treten zwischen dich und mich –« »Menschen, Schicksale, Jahre, sie werden mich nicht verändern, sie werden mich nicht von dir trennen!«

»So fühlst du jetzt! Doch wer übernimmt die Gewähr dafür? Und deshalb will ich, daß du mir folgst. Du wirst es. Aber ich möchte vor allem dich freiwillig, ungezwungen, aus eigenem Antriebe, nur der Liebe gehorchend, mir folgen sehen. Ich sträube mich aufs äußerste, dich zu zwingen.«

»Und wie könntest du mich zwingen?«

»Ich kann es!«

»Weil du die Gewalt in der Stadt hast? Willst du mich als ein Beutestück betrachten? Willst du mich mit Gewalt entführen?«

»Nein, nicht das!«

»Dann wüßte ich nicht, wie du's könntest!« sagte Marcelline stolz.

»Vielleicht kann ich's doch!« versetzte Duvignot, den Blick abwendend. »Aber ich sage dir ja, meine ganze Seele sträubt sich dawider und deshalb flehe ich dich an: entschließe dich, wag' es, vertraue mir, traue meiner Kraft, dir die Zukunft so glücklich zu gestalten, daß du es nie bereuen wirst! Ich habe das Vorgefühl, ich möchte sagen, in meiner Brust die Bürgschaft eines großen und glänzenden Schicksals; die Geschichte ist im Rollen begriffen, wir gehen alle einer Zukunft voll großer Ereignisse und Katastrophen entgegen, voll welterschütternder Wandlungen und gewaltiger Krisen im Leben der Völker; das ist die Zeit für starke Arme und mutige Seelen. Darum Mut, Mut, Marcelline, und nur Mut; der Mut allein ist der Schlüssel zu allem Glück.

»Glück, Glück, als ob es aus einem Verbrechen erblühen könnte, mit dem man den Himmel beleidigt und der ganzen Welt Trotz bietet. Ist das möglich?«

»Wenn du im Leben mit mir, in der Verbindung mit mir, in einer Zukunft an meiner Seite kein Glück mehr siehst, dann freilich –« fuhr Duvignot zornig auf.

»Du wirst ungerecht,« versetzte sie lauter; »ich habe alles getan, alles, was ich tun konnte für dein Glück! Dies kann ich nicht. Ich kann meine Pflicht vergessen, aber nicht so meine Ehre, nicht so meines armen alten Mannes Ehre mit Füßen treten.«

»Seine Ehre!« sagte Duvignot verächtlich. »Nun wohl denn, wirf sie in eine Wagschale und mein Glück in die andere; sieh, welche dir schwerer wiegt. Ich werde dich morgen danach fragen, denn meine Zeit ist hin, ich muß gehen, du weißt, wie man mich bedrängt.«

»Du wirst nie eine andere Antwort von mir erhalten als diese,« erwiderte Marcelline.

»Vielleicht doch!«

»Niemals!«

»Wir werden sehen!«

»Was sollen diese Anspielungen, diese Drohungen, als ob du mich zwingen könntest, bedeuten? Sprich offen heraus, ich fordere es.«

»Du wirst es erfahren, wenn du unerbittlich bleibst.«

»Etienne, Etienne, was hast du vor, woran denkst du? Du gestehst selbst, daß du nicht vorhast, Gewalt zu gebrauchen?«

»Nein, das nicht. Ich werde dich dadurch zwingen, daß ich dir in der Ferne, in meiner Heimat etwas zeige, was dich unwiderstehlich dahin und mir nachziehen wild.«

»Und dies Etwas?«

»Kein Wort mehr darüber!«

»O, ich bitte dich –«

»Nicht heute,« entgegnete Duvignot, sich abwendend, »meine Stunde ist abgelaufen, der Dienst verlangt mich! Adieu, Marcelline! Fasse dich, fasse Mut, sei mein großes und starkes Weib, fühle, daß du mein bist, und – reiche mir die Hand!«

Sie reichte ihm langsam und wie gebrochen die Hand, ohne die Augen zu ihm zu erheben. Dann ließ sie den Kopf mit einem tiefschmerzlichen Seufzer an die Lehne des Armstuhls zurücksinken.

Duvignot war mit raschen, heftigen Schritten davongegangen.

In dem Augenblicke, als er auf den Vorplatz draußen trat, hatte eben Wilderich Buchrodt, dem Bedienten folgend, die letzte Stufe der Treppe betreten.

Duvignot blieb stehen und erwartete ihn.

»Was wollt Ihr, von wem kommt Ihr?« fragte er barsch den Ankommenden. »Wer zum Teufel hat Euch wider meinen Befehl heraufgelassen?«

Wilderich mußte seine ganze Kraft, sich zu beherrschen, zusammennehmen, um nicht das Erschrecken zu verraten, das bei diesem Zusammentreffen und bei der zornigen Anrede des heftig erregten Mannes so natürlich war. Er konnte nicht daran zweifeln, daß es der gefürchtete Kommandant sei, dem er in den Wurf gekommen. Er legte die Hand an den Schirm des Tschakos und antwortete in meldendem Tone: »Exempt von der dritten Halbbrigade der Chasseurs zu Pferde, zweite Schwadron –«

»Der Mann will nicht zu Ihnen, Herr General,« fiel der Bediente sich entschuldigend ein, »sondern zum Herrn Schultheiß, deshalb habe ich ihn herausgeführt.«

Duvignot sah von einem auf den anderen.

»So führt ihn zum Schultheißen!« antwortete er und wandte sich einer Flügeltür zu, die in sein Zimmer führte. Wilderich schlug das Herz schon von der Angst befreit hoch auf, er folgte dem rasch gehenden Bedienten unmittelbar hinter dem General.

»Wo steht Eure Halbbrigade in diesem Augenblick?« fragte dieser, vor seiner Tür sich plötzlich um und wieder zu Wilderich wendend.

»Sie ist in Hanau angekommen, Citoyen General!« versetzte Wilderich auf gut Glück, da er fühlte, daß er mit einer Antwort keinen Augenblick zögern dürfe.

»Wann?«

»Gestern abend!«

»In Hanau?«

»Zu Befehl!«

»Wie heißt Euer Divisionsgeneral?«

»Ney.«

»Und Eure Halbbrigade führt?«

»Major de la Rive!« antwortete in steigender Beklemmung Wilderich, die Namen mit dem Mut der Verzweiflung herausstoßend.

»Was habt Ihr bei dem Schultheißen zu melden?«

Wilderich stockte jetzt.

»Ich habe ihm einen Brief von einem gefallenen Kameraden zu bringen, der mich bat, ihn sofort zu überbringen, da Gefahr im Verzuge sei!« sagte er endlich.

»Seid Ihr deshalb Eurer Abteilung von Hanau hierher zuvorgeeilt?«

»Zu Befehl, Citoyen General!«

Der General trat auf die Schwelle der Tür, welche der Bediente ihm unterdes dienstfertig aufgeworfen hatte. Wilderich sah ihn schon mit unsäglicher Erleichterung im nächsten Augenblicke verschwinden; aber der General sagte, halb den Kopf zurückwendend, mit einem kalt trockenen Tone: »Folgt mir!«

Wilderich konnte nicht anders als gehorchen. Er trat in das große, nach vorn auf die Straße hinausgehende Zimmer, das Prunkgemach des Hauses, das jetzt dem Kommandanten als Empfangszimmer diente. Der General winkte ihm mit der Hand, dem Fenster näher zu treten, dann sagte er: »Gebt mir den Brief Eures gefallenen Kameraden.«

»Citoyen General, Sie werden mich entschuldigen; ich habe dem Sterbenden gelobt, ihn nur dem Schultheißen selbst –«

»Ihr seid sehr gewissenhaft, mein lieber Exempt von den dritten Chasseurs zu Pferde! Ich achte das. Geht also hinauf, Euren Brief dem Schultheißen zu übergeben; da ich jedoch ein wenig neugierig geworden, was in dieser Depesche sein mag, die so eilig zu bestellen ist, so werde ich dabei sein. Hierher!«

Der General verließ das Zimmer wieder, schritt über den Vorplatz draußen der Treppe in das zweite Stockwerk zu, und nachdem er mit Wilderich oben angekommen, klopfte er an eine Flügeltür, welche unmittelbar über der unten in seine eigenen Zimmer führenden lag.

Noch bevor er ein »Herein!« vernommen, öffnete er, winkte Wilderich, den er vorausgehen ließ, einzutreten und trat selbst ein.

Der Schultheiß Vollrath bewohnte den über des Generals Empfangszimmer liegenden Raum, ein weites Gemach, das an den Wänden ringsum bis zu dreiviertel der Höhe mit Bücherrepositorien besetzt war. Über ihnen standen vergilbte Gipsbüsten, an den Wänden oben hingen eine Reihe alter Familienbilder; ein paar Lehnsessel, Stühle mit hohen rohrgeflochtenen Rückenlehnen und ein paar Tische mit Büchern und Schriften und Aktenstößen darauf waren die ganze bescheidene Einrichtung dieses Wohngemachs, das nur an der Wand zwischen den beiden Fenstern den strengen und fast düstern Eindruck, den es machte, verleugnete. Hier hingen, wie es schien, allerlei Jugend- und Freundschaftserinnerungen des alten Herrn, zwei Pastellbilder von jungen Frauen, Silhouetten in runden Glasrähmchen, ein Bildwerk aus Haararbeit, das einen Tempel mit einer Tränenweide darstellte, und darunter eine alte, seht vergilbte rote Seidenschleife in einem noch ältern, noch vergilbtern Immortellenkranze.

Der Schultheiß Vollrath war ein Mann von über sechzig Jahren. Auf seinem Gesicht sprachen zwei hervorstechende Züge den ganzen Charakter des Mannes aus. Die hohe und breite Stirn verriet seine Intelligenz und der weiche Mund eine unendliche Gutmütigkeit, eine gefährliche Gutmütigkeit, wenn man anders das schmale, so wenig ausgebildete Kinn als Zeichen jeglichen Mangels an Energie deuten durfte. Er hatte das dünne spärliche Haar hinter die Ohren zurückgestrichen, ein schwarzes Käppchen vertrat die Stelle der großen gepuderten Perücke, die jetzt auf einem der Aktenstöße vor ihm lag. So saß er an seinem Schreibtisch, die Stirn auf den Arm gestützt, wie in Sinnen verloren, mit der linken Hand wie in träumerischem Spiel die goldene Tabatiere drehend, die vor ihm lag. Bei dem hastigen Eintreten der zwei Männer fuhr er wie aufgeschreckt empor.

»General Duvignot,« sagte er, diesem entgegenschreitend, »Sie sind es, und wen bringen Sie da?«

»Übergebt jetzt Euren Brief, Chasseur!« befahl der General trocken mit zornig gerunzelten Brauen.

Wilderich sah, daß er gefangen war. Er hatte von dem Briefe gesprochen, er konnte ihn jetzt nicht mehr zurückhalten. Er konnte auch den Schultheißen, der mit einem wohlwollenden Blicke ihm seine Augen zuwandte, nicht warnen. Er konnte nichts tun, als seinen Brief hervorziehen und, indem er ihn dem Schultheißen übergab, sagen: »Er ist zu eigenen Händen und ganz privater, nur den Herrn Schultheißen persönlich betreffender Natur.«

Der Schultheiß nahm den Brief entgegen und betrachtete betroffen das Siegel; auch des Generals Blicke hefteten sich auf das Siegel. Der Schultheiß machte, ehe er das Schreiben aufriß, eine Bewegung mit der Hand, um den General einzuladen, Platz zu nehmen.

»Ich danke,« versetzte dieser lakonisch und blieb, während der alte Herr das Siegel erbrach, stehen.

Wilderich hatte unterdessen Zeit, sich ganz das Gefährliche seiner Lage klarzumachen. Es war offenbar, daß der General Verdacht geschöpft, daß er die Maske, in welcher Wilderich stak, durchschaut – was sollte daraus werden, wenn er den Brief des feindlichen Feldherrn zu lesen bekam? Die Schlinge war um Wilderich zugezogen; sein letztes Hilfsmittel mußten jene erbeuteten Briefe bilden, oder er war verloren. Der Schultheiß las den Brief. Seine Miene nahm dabei einen Ausdruck tiefen Ernstes an; er las still bis zu Ende, dann sagte er aufschauend: »Und hat der Schreiber dieses Briefes denselben Ihnen übergeben, um ihn mir zu bringen? Sie sind französischer Soldat – wie ist das? Wie hängt das zusammen?«

»Ein Kamerad hat ihn mir übergeben,« erwiderte Wilderich, »der –«

»Lassen Sie mich, bitte, den Brief sehen,« unterbrach Duvignot, indem er ohne weiteres dem alten Herrn den Brief aus der Hand nahm und zu überfliegen begann.

»Es ist seltsam,« fuhr der Schultheiß fort; »der Brief muß dann aufgefangen und in die Hände gekommen sein, für die er nicht bestimmt war; wie kann ein französischer Soldat ihn mir bringen?«

»Beruhigen Sie sich, mein Herr Schultheiß,« fuhr hier Duvignot scharf dazwischen, »der Mann ist kein französischer Soldat, er ist ein österreichischer Spion, und dieser Brief beweist mir, daß Sie mit unsern Feinden in heimlicher Verbindung stehen! Man rechnet auf Ihre Beihilfe, Ihren Verrat, um dem Feinde Frankfurt in die Hände zu spielen. Und wer Ihnen dies schreibt, ist der Erzherzog-Feldmarschall selbst!«

»Mein Herr General,« fuhr der Schultheiß erschrocken auf, »ich muß Sie bitten –«

»Es tut mir leid,« fiel ihm der General ins Wort; »Sie sind ein Mann, den ich als sein Gast schon zu achten habe; ich bin Ihnen Dankbarkeit schuldig für das Wohlwollen, das Sie mir schon vor Jahren, als ich unter Custine Ihre Stadt betrat und Ihr unfreiwilliger Gast wurde, mit so vieler Urbanität zeigten; aber meine Pflicht geht über meine persönlichen Gefühle, ich muß Sie vor ein Kriegsgericht stellen lassen, Herr Schultheiß.«

Der Schultheiß war totenbleich geworden.

»Wenn Sie mich achte»,« sagte er, »so werten Sie mir auch glauben. Ich bin kein Verräter! Dies Schreiben ist an mich gerichtet ohne mein Wissen und Wollen, dieser Mann dort kann kein Spion sein, denn –«

»Kein Spion? Wir werden das sehen!« rief Duvignot, sich zu Wilderich wendend, aus. »Wer seid Ihr? Ihr werdet nicht länger behaupten, daß Ihr französischer Soldat seid! Ihr seid ein Deutscher, das habe ich an Eurer Sprache erkannt. Nun wohl, wir haben auch Deutsche unter unsern Fahnen. Aber die Chasseurabteilung, zu der Ihr gehören wollt, steht nicht in Hanau, ich traf sie gestern auf dem Marsch nach der Wetterau; sie gehört nicht zu Neys Division; ich kenne keinen de la Rive. Wie war gestern Eure Parole? Seht Ihr, Ihr wißt das nicht! Ihr hättet Euch vorher besser über Eure Rolle unterrichten sollen, bevor Ihr wagtet, sie zu übernehmen. Sie sehen, Schultheiß, daß ich recht habe, dieser Mann ist kein französischer Soldat, er ist ein österreichischer Spion. Ich denke, dieses Schreiben hier, dies Schreiben in seinen Händen ist Beweis genug.«

»Beim lebendigen Gott,« rief Wilderich hier stolz und entrüstet aus, »Ihre Beschuldigung ist falsch und ungerecht, Herr General. Ich bin kein Spion, und dieser Herr hier, den ich in einen so unseligen Verdacht bringe, ist völlig unschuldig; ich bin kein Franzose, ich gestehe das offen ein, ich bin der Revierförster Wilderich Buchrodt vom rohrbrunner Revier im Spessart, ein Mann, den noch niemand einer schlechten Handlung wie die, den Spion zu machen, fähig gehalten hat.«

»Förster aus dem Spessart – in der Tat?« fiel Duvignot ein. »Einer von den Leuten, mit denen wir eine so schwere Rechnung auszugleichen haben! Doch enden wir,« fuhr er wie eine innerliche Erregung niederdrückend und stoßweise fort. »Herr Schultheiß, ich muß tun, was der Dienst nur gebietet. Ich bin gezwungen, Ihnen anzukündigen, daß Sie diese Zimmer nicht zu verlassen haben, bis weiter über Sie verfügt wird. Den Mann dort wird man zur Konstablerwache führen. Der Brief bleibt in meiner Hand!«

Der General wandte sich rasch und ging, so rasch, als wolle er sich der peinigenden Szene, der Pflicht, die er gegen seinen Gastfreund zu erfüllen hatte, so bald wie möglich entziehen. Wilderich hätte ihm nachrufen mögen: »Halt, warten Sie, ich habe einen Preis, um den Sie abstehen werden von diesem entsetzlichen Verfahren wider zwei Unschuldige«; aber ebenso rasch fuhr ihm der Gedanke durchs Hirn, daß der französische Gewalthaber alsdann ihm einfach seine Briefe werde nehmen wollen, wie er den Brief des Erzherzogs genommen, ohne dafür das geringste Zugeständnis zu machen; und dann, wie konnte Wilderich von diesen Briefen in Gegenwart des Schultheißen reden, sie zeigen; wer war die Frau, die sie an den General geschrieben? War es nicht das eigene Weib des Schultheißen? Sollte er dem alten gebrochenen Manne die Schmach antun? Und wenn er es tat, wenn er diese verbrecherische Liebe dem Manne des treulosen Weibes verriet, war ihm dann nicht gerade deshalb die schonungsloseste Rache des Generals gewiß?

Diese Gedanken durchzuckten ihn: er hatte sie noch nicht ausgedacht, als der General längst verschwunden war.

»Mein Gott,« sagte der Schultheiß, sich an der nächsten Stuhllehne aufrecht erhaltend, mit kreidebleichen Lippen, »unseliger Mensch, welches Schicksal bringen Sie über mich! Wie um Himmels willen –«

»Mehren Sie meine Verzweiflung nicht noch,« rief Wilderich im furchtbarsten Schmerze aus. »Ich gäbe jeden Tropfen meines Blutes dafür, könnte ich wieder gutmachen, was ich verbrochen an Ihnen – dies Entsetzliche; aber Sie sind ja unschuldig, was kann Ihnen geschehen, deshalb, weil ein von Gott und seinem Verstande verlassener Mensch Ihnen einen Brief bringt?«

»Was mir geschehen kann, das fragen Sie, nachdem Sie selbst es gehört, das Wort Kriegsgericht – und wissen Sie nicht, daß in einer Stadt, wo der Belagerungszustand erklärt ist, in Tagen, wie diese sind, bei einer Armee, die auf der Flucht ist und die sich um ihr Dasein schlägt, das Wort gleichbedeutend ist mit Tod?«

Wilderich schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht.

»Sprechen Sie, was wollen Sie, was treibt Sie, so zu handeln? Was hat den Erzherzog getrieben, mir einen solchen Brief zu schreiben, einen Brief, der mir Handlungen zumutet wider den Machthaber, der augenblicklich hier die Gewalt hat?«

»Ich, ich allein,« rief Wilderich aus. »Ich drängte ihn zu dem Briefe. Ich liebe Benedicte, ich wollte ihr Beschützer sein, ich wollte sie retten, nun bringe ich Ihnen den Tod durch meine Leidenschaft –«

»Sie lieben meine Tochter?« rief der Schultheiß mit einem unbeschreiblichen Ton von Erstaunen und Entrüstung zugleich aus.

»Sie ist also in der Tat Ihre Tochter?«

»Sie sagen, Sie lieben sie, und wissen nicht, wer sie ist?«

»Nein, und dennoch liebe ich sie, innig und tief und ehrlich, wie ein deutscher Mann je geliebt hat. Ich wußte sie bedroht, dem gehässigsten Verdacht, den Peinigungen durch ein ihr feindseliges Weib ausgesetzt, ich zitterte für ihre Freiheit, ihr Leben, ich wagte alles, um ihr Hilfe zu bringen.«

»Sie sehen, welche Hilfe Sie gebracht haben,« fiel der Schultheiß bitter ein, während ein paar Tränen über seine bleichen alten Wangen zu rollen begannen.

»Sie sind ein unvernünftiger, hirnloser Mensch, der das Verderben über mich gebracht hat,« fuhr er dann fort; »aber ich sehe, Sie fühlen es, wie ruchlos Sie handelten. Sie sind nicht schlecht, Sie verdienen jedenfalls den Tod nicht, der Sie erwartet, sicherer, unabwendbarer als mich. Retten Sie sich, Sie müssen Ihr Heil in der Flucht suchen, fliehen Sie, bevor man kommt, Sie in den Kerker zu führen.«

»Fliehen? Wohin?«

»Das Haus unten ist voll Soldaten; aber vielleicht gibt es einen Weg über die Speicher, auf die Dächer der nächsten Häuser – was weiß ich! Kommen Sie, kommen Sie!«

»Wenn Sie mich fliehen lassen, verdoppeln Sie den Schein Ihrer Schuld, Ihre Lage wird zehnfach ärger – ich bleibe!«

»Nein, nein,« rief der Schultheiß, »was sollen zwei Menschen sterben, wenn dies bittre Los einem wenigstens abgenommen werden kann? Ich bin ein alter Mann, ich bin zur Flucht zu alt, zu ungeschickt, Sie werden sich retten können, vor Ihnen liegt noch ein langes Leben – folgen Sie mir –«

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich hier, damit ich die Menschen, die Sie richten wollen, überzeugen kann –«

»Sie werden sie nicht überzeugen können. Man würde uns beide zum Tode führen, ohne auf Sie zu hören.«

»Und doch –«

»Kommen Sie, ich will's,« rief der alte Mann hastig aus und schritt auf die Tür des Nebenzimmers zu.

Wilderich folgte ihm. Es war das Schlafgemach des Schultheißen, das sie betraten. Dieser öffnete im Hintergrunde eine zweite Tür, die in einen ganz schmalen, dunklen Gang leitete, an dessen Ende sich wieder eine Tür zeigte.

Del Schultheiß pochte an dieselbe und lief flüsternd: »Mach' auf, mach' augenblicklich auf, Benedicte!«

Wilderich erbebte bei diesem Namen. Sie – sie war's, die er sehen sollte – sehen sollte, um nur einen Blick mit ihr zu wechseln, ein Wort, um dann weiter zu fliehen und nie wieder vielleicht nur ihren Namen nennen zu hören? Nein, das war nicht möglich! Wie ein Blitz durchfuhr es ihn; hier lag vielleicht die Rettung, bei ihr, die Rettung für den Vater Benedictens wie für ihn. Sein Entschluß stand fest. Die kleine Tür bewegte sich, ein Riegel wurde im Innern fortgeschoben, sie öffnete sich, Benedicte stand auf der Schwelle.

Aus dem kleinen Zimmer, aus welchem sie getreten, fiel das Licht der Dämmerung, die draußen begonnen, auf die Gestalt ihres Vaters und Wilderichs.

»O mein Gott,« flüsterte sie erschrocken, daß ihre Worte kaum vernehmlich waren, »Sie, Sie hier?«

»Du kennst ihn also, es ist so, wie er sagt, er kommt um deinetwillen? Alles, alles dies ist um deinetwillen, du entsetzliches, mir zum Unglück geborenes Geschöpf?« rief der Schultheiß aus, der in seinem Zustande von Schrecken und Angst alle Haltung und Fassung zu verlieren schien.

Benedictens Augen öffneten sich weit; sie starrte den Vater an, aber sein Ausruf, seine Empörung konnte sie nicht zerschmettern, weil sie ihn nicht begriff, nicht verstand.

»Starre mich nur an,« fuhr der Schultheiß, die Hände ringend, fort, »«du, du warst es, die mein Leben vergiften wollte –«

»O nicht das, nicht noch einmal, nicht immer wieder das! Vater, Vater, ich flehe dich an, sei barmherzig!« rief Benedicte, wie bittend die Hände erhebend.

»Du warst es« – der Schultheiß fuhr sich bei diesen Worten im Übermaß seiner Verzweiflung mit den Händen m das dünne graue Haupthaar – »du warst es, die mir das Kind stahl, verdarb, tötete –«

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, der Himmel ist mein Zeuge!« rief Benedicte mit einer Heftigkeit dawider, wie sie sie vielleicht nie noch so maßlos gezeigt hatte.

»Es ist nicht wahr, nicht wahr, daß du, nur du jetzt auch an meinem Tode schuld wirst, daß dieser unselige Mensch hier nur um deinetwillen sich mit einem Briefe an mich drängt, der mich verdirbt, der mich vor diesen erbarmungslosen Franzosen zum Verräter stempelt?«

»O mein Gott, was ist denn geschehen, welche neue Sünde habe ich begangen?« fiel Benedicte außer sich ein.

»Ich sag's dir ja, ich sag' dir's, dieser Mensch hier dringt zu mir und gibt mir in Duvignots Gegenwart einen Brief, einen Brief, der mein Todesurteil ist, und das um deinet-, nur um deinetwillen!«

Benedicte vermochte nicht länger sich aufrecht zu erhalten, sie wankte zurück, sie ließ sich rückwärts auf das Lager fallen, das an der Wand ihres Zimmers stand, sie schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen.

»Sie sind ein böser, schonungsloser, grausamer Mann!« sagte Wilderich jetzt mit unterdrücktem Zorne. »Wüten Sie wider mich und nicht gegen sie, die keine Schuld hat. Ihre wilden Vorwürfe machen die Sache nicht besser. Gehen Sie! Ich will nicht fliehen. Ich verlange, daß Sie mich mit Ihrer Tochter allein lassen. Ich verlange eine Unterredung mit ihr, ich will, ich verlange es – ich flehe Sie an darum. Wenn man kommt, mich gefangenzunehmen, so stellen Sie sich vor mich, nur eine Viertelstunde lang schützen Sie mich, bis ich mit ihr geredet habe.«

»Sie sind ein Tor, wenn Sie nicht fliehen. Dort hinter jener Tür« – der Schultheiß deutete mit zitternder Hand auf einen Ausgang im Hintergrunde von Benedictens Zimmer – »führt eine Treppe hinauf – sehen Sie, wie Sie da weiter kommen!«

»Ich sag' es Ihnen, ich will nicht. Gehen Sie, lassen Sie uns allein; nur kurze Zeit schützen Sie mich hier vor dem Verhaftetwerden, das ist alles, was ich will!«

Er drängte den Schultheißen zurück, er schloß die Tür des Zimmers, er ergriff eine der Hände Benedictens, und sich neben sie setzend, sagte er hastig: »Benedicte, hören Sie auf mich, die Augenblicke sind kostbar. Sie müssen sich ermannen, Sie müssen mir in kurzen Worten sagen, um was es sich handelt bei den Vorwürfen, die man Ihnen macht, dann kann ich handeln danach, dann, glaub' ich, kann ich den Frieden in dies Haus bringen und uns alle retten! Ich beschwöre Sie, sprechen Sie, vertrauen Sie mir, daß ich Ihnen solche Geständnisse nur entreiße, weil ich eben muß – ich muß alles, alles wissen, und Sie müssen reden – augenblicklich, es hängen Menschenleben davon ab!«

»O mein Gott, wie kann ich Ihnen das sagen, jetzt, jetzt das alles sagen!«

»Sie müssen es, Sie werden es, Benedicte, in wenigen kurzen Worten müssen Sie es; ermannen Sie sich, schöpfen Sie Hoffnung, raffen Sie Ihre Kraft zusammen!«

»Hoffnung, Hoffnung,« rief Benedicte, ihm ihre Rechte entziehend und die Hände verzweiflungsvoll ringend, aus, »meine einzige Hoffnung ist der Tod – die einzige letzte Erlösung!«

»Und doch müssen Sie reden – reden auf der Stelle, Sie sind es sich, Ihrem Vater, sind es mir schuldig,« drängte Wilderich, fast zornig werdend.

»Ihnen, der solches Unglück in das Haus gebracht –«

»Um Gottes willen, machen nicht auch Sie mir diesen Vorwurf! Um Sie verdien' ich ihn nicht, von Ihnen will ich ihn nicht hören. Was ich verschuldet, denk' ich gutzumachen, nur muß ich es wissen, wie ich es kann! Die Augenblicke sind so kostbar, so entsetzlich kostbar; um des Himmels willen, bei allem, was Ihnen teuer ist, fleh ich Sie an, sagen Sie mir zuerst, ist Ihre Mutter die Geliebte Duvignots?«

»Sie ist es!«

»Ihre Stiefmutter?«

»Ja.«

»Und was ist es mit dem Kinde, das, wie eben der Schultheiß ausrief, Sie entfernt haben sollen, Sie?«

»Es ist das Kind, der Sohn meiner Stiefmutter, der ihr geraubt wurde.«

»Weshalb kamen Sie in diesen Verdacht?«

»Weil ich, solange ich meines Vaters einzige Tochter war, mich auch als seine Erbin betrachten durfte, die Erbin seines großen Reichtums. Er heiratete – schon ein alter Mann – noch einmal, und meine Stiefmutter schenkte ihm einen Sohn. V«n dem Augenblicke an war ich arm, meines Vaters ganzes Vermögen bestand in Lehngut, es gehörte dem Sohne –«

»Weiter, weiter!«

»Ich wurde schlecht behandelt von meiner Stiefmutter. Man wollte mir mit Gewalt einen Menschen zum Manne aufdringen, den ich haßte; ich entfloh deshalb dem väterlichen Hause; in derselben Nacht, in derselben Stunde, verschwand der Sohn meiner Stiefmutter, geraubt, entführt, was weiß ich, und man gab mir schuld, ihn entführt, als den Erben, der mir mein Vermögen genommen, um des elenden Reichtums willen beseitigt zu haben; man fahndete deshalb auf mich wie eine Verbrecherin und verfolgte mich, und deshalb mußte ich mich verbergen, ich mußte mich verbergen vor aller Welt. Ich floh zu einer Verwandten meiner verstorbenen Mutter, der Äbtissin von Oberzell; dort lebte ich im Kloster, bis die Nonnen fliehen mußten, bis es galt, ein anderes Asyl für mich zu finden. Die Äbtissin sandte mich nach Goschenwald; mein böses Schicksal sandte meine Stiefmutter dahin. Alles übrige wissen Sie.«

»Weshalb sagte Ihr Vater, daß Sie sein Leben hätten vergiften wollen?«

»Muß ich auch das Ihnen sagen, auch das bekennen, die Stunde, worin ich schlecht, verächtlich, abscheulich war?«

»Sie waren nie schlecht, nie verächtlich, Benedicte, das sagt mir mein innerstes Gefühl, jede Regung meines Herzens, und ich muß alles wissen, alles!«

»Wohl denn! Es war im Jahre 1792, als dieser Duvignot mit dem Heere Custines nach Frankfurt kam, und das Unglück wollte, daß er sein Quartier in unserm Hause erhielt. Mein Vater war seit einem Jahre erst wieder vermählt. Meine Stiefmutter war sein Weib geworden, weil er sie eben gewählt hatte, weil sie ohne Vermögen war, weil ihre Verwandten den Gedanken, die Hand eines solchen Mannes auszuschlagen, gar nicht hätten in ihr aufkommen lassen; ihre Neigung wurde nicht befragt. Der junge schöne französische Offizier verliebte sich in sie; seine Leidenschaft erweckte die ihre, sein Werben machte sie bald zu seinem völligen Eigentum. Nach einigen Monaten mußte Duvignot Frankfurt verlassen. Meine Stiefmutter gab einem Sohne das Leben. Ein Jahr später kehrte Duvignot zurück; er war verwundet worden, er suchte Heilung, wie er angab, in Wiesbaden; von dort kam er oft zum Besuche zu uns. Endlich, als der Winter kam, siedelte er nach Frankfurt über und war täglicher Gast in unserm Hause; er wollte noch immer nicht ganz geheilt sein, und unter diesem Vorwande mußte es ihm gelungen sein, seinen Urlaub so lange ausgedehnt zu erhalten.

Mein Vater war blind gegen das, was vorging, gegen dies schmähliche Verhältnis. Ich sah es, ich durchschaute es. Auch haßte mich meine Stiefmutter, der es nicht entging, daß meine Augen schärfer waren als die aller andern; und Duvignot teilte natürlich ihre Gefühle gegen mich, bis diese plötzlich sich geändert zeigten. Er führte einen jungen und gewandten Menschen, einen Pariser, der, wie er sagte, der Sohn reicher Eltern, eines verstorbenen Parlamentsrates, war und Güter in der Bretagne befaß, in unser Haus ein; er nannte ihn seinen Vetter von seiten seiner Mutter, einer Dame aus dem bretagnischen Adel. Dieser Mensch warb um meine Hand. Duvignot redete für ihn, meine Stiefmutter befürwortete seine Werbung, mein Vater ward dafür gewonnen. Ich wurde gedrängt, gepeinigt, gescholten. In meiner Not, unfähig, mich länger wider eine Zumutung zu verteidigen, die mich empörte, denn ich verabscheute diesen Franzosen, der mir den Eindruck eines schlauen und geriebenen Intriganten, eines falschen und unreinen Menschen machte – in meiner Not flüchtete ich mich zu meinem Vater; ich sagte ihm alles, ich sagte ihm, wie seine Gattin ihn entehre, wie diese Verbindung, zu der man mich zwingen wolle, nur den Zweck habe, mich, die lästige, scharfblickende Zeugin des strafbaren Verhältnisses, zu entfernen. Mein Vater war aufs tiefste betroffen; er gelobte mir eine strenge Untersuchung, seinen vollen Schutz, sein unerbittliches Dazwischentreten. Er sprach meine Stiefmutter – und ward von ihrer Unschuld so überzeugt, wie davon, daß ich nichts weiter als eine böse, falsche Schlange sei! Dadurch ward ich zum Äußersten gebracht; ich sah keine Rettung und kein Heil mehr außer in der Flucht; ich entschloß mich dazu, ich verließ an einem späten Abend das väterliche Haus, ich flüchtete mich in ein Kloster und wähnte dort in Sicherheit zu sein.

Es war mein Unglück! Dieser eigenmächtige Schritt, der mich befreien sollte, sollte fürchterlich bestraft werden; denn in derselben Nacht verschwand das Kind, der Sohn und Erbe meines Vaters, und wer, wer anders nun hatte das Kind geraubt, entführt, als ich!«

»Furchtbares Zusammentreffen!« rief Wilderich aus. »Aber wie war es möglich zu glauben, Sie, Benedicte, Sie –«

»Meine Stiefmutter haßte mich – was hätte sie nicht von mir geglaubt!«

»Aber Ihr Vater –«

»Mein Vater ist schwach, er liebt sein Weib, wie ein alter Mann ein junges Weib liebt.«

»Das ist entsetzlich. Doch nun, da ich alles weiß, lassen Sie mich reden. Ich habe ein Pfand der Rettung für uns alle – ich habe die Briefe Ihrer Stiefmutter an Duvignot!«

»Die Briefe meiner Stiefmutter, die haben Sie?«

»So sagt' ich!«

»Ihre Briefe an Duvignot? Aber wie ist es möglich –«

»Wie sie in meine Hände kamen, ist gleichgültig; genug, daß ich sie habe, hier wohlverwahrt auf meiner Brust. Ich will zu Ihrer Mutter gehen, ich will ihr sagen: du wirst des Schöffen und wirst meine Freiheit von Duvignot verlangen, du wirst mir schwören, deinen Verdacht, deine böse Tücke wider Benedicte aufzugeben, du wirst meine Werbung um sie unterstützen; alsdann erhältst du deine Briefe zurück, die in meinem Besitz sind; wo nicht, so wird der, in dessen Händen sie liegen, sie deinem Manne zeigen, er wird sie der Welt zeigen, die Welt wird sehen, daß du ein schlechtes Weib bist, die Welt wird erfahren, daß Duvignot deinen Gatten vor ein Kriegsgericht stellen und ermorden läßt, um – dich zur Witwe zu machen!«

Benedicte sah ihn mit großen Augen an.

»Ich werde Ihnen, die Briefe geben,« fuhr Wilderich eifrig fort, »Sie sollen sie in Händen haben und aufbewahren, damit man sie mir nicht entreißen kann –«

»Eitle Hoffnung!« unterbrach ihn Benedikte jetzt tonlos und zu Boden schauend. »Sie kennen die Leidenschaft dieser Menschen nicht, nicht ihre Gewalttätigkeit! Meine Mutter ist Duvignot bis nach Würzburg gefolgt, sie ist hierher mit ihm zurückgekehrt; hat sie so dem Ärgernis getrotzt, was wird sie am Ende noch fürchten?«

»Aber sie kann nicht wollen –«

»Mag sein, mag sein; aber jedenfalls wird sie Ihnen nicht eher glauben, als bis sie die Briefe sieht, und wenn man sie ihr zeigt, so wird sie wissen, sie jedem, der sie hat, mit Gewalt entreißen zu lassen. Vergessen Sie, daß sie durch Duvignot hier allmächtig ist? Und wird sie sich nicht rächen wollen dafür, daß Sie diese Briefe gesehen, besessen, gelesen haben? Wird Duvignot nicht – aber,« unterbrach sie sich auffahrend, »hören Sie – mein Gott, man kommt, man wird Sie fortschleppen – in den Kerker, in den Tod – und meinen armen, armen verratenen Vater mit Ihnen!«

»Benedicte, fassen Sie sich, wir stehen in Gottes Hand, Gott wird uns nicht verlassen!«

»«Hat er nicht mich längst verlassen, mich, die ich nun zu allem Entsetzlichen auch das noch zu tragen habe, daß ich schuld an diesem unsäglichen Unglück geworden?»« »Da nehmen Sie die Briefe, bei Ihnen sind sie sicherer, bewahren Sie sie mir, bis ich sie Ihnen abfordern lasse.«

Er reichte ihr das Paket, das sie zögernd annahm und dann ängstlich unter das Kopfkissen ihres Bettes verbarg.

»Glauben Sie mir,« fuhr er fort, »diese Briefe werden uns nützen, und wenn nicht, dann werden wir ja auch ohne sie unsere Unschuld beweisen können.«

»Gerade weil Sie unschuldig sind, wird man Sie nicht hören wollen.«

»Gerade deshalb? Aber das wäre ja teuflisch!«

»Die Menschen sind oft Teufel! Duvignot wird es ganz gut durchschauen, daß mein Vater und Sie unschuldig an dem sind, wessen er Sie beschuldigt. Wenn er Sie dennoch anklagt, so ist es ein Beweis, daß er Sie beide verderben will.«

»Er kann doch kein Interesse daran haben, mich zu verderben.«

»Wenn er meinen Vater vernichten will, so müssen Sie mitfallen.«

»Hören Sie, Benedicte, ich verzweifle dennoch nicht; ich kann nicht mit Ihnen glauben, daß dieser Mann so schlecht sei! Wir werden doch vor Richter gestellt werden. Vor diesen werde ich reden. Ich werde ihnen schildern, wie nur meine Leidenschaft für Sie mich verführt hat, hierher zu eilen; wie ich vom Erzherzog nichts anderes gewollt als eine Verwendung für Sie, wie die Angst um Sie allein mich hierher getrieben. Ich werde das mit aller Beredsamkeit, deren ich fähig bin, aussprechen, und wenn Sie, Sie, Benedicte, dann, falls man Sie fragt, meine Worte nicht Lügen strafen, wenn Sie großmütig genug wären, zu bestätigen, daß es so sei, daß Sie mich früher Freund genannt, daß Sie mir das Recht gegeben, für Sie zu handeln – Benedicte, zürnen Sie mir nicht, daß ich so spreche, daß ich so viel von Ihnen verlange – aber Sie würden es ja nicht für mich bloß, auch für Ihren Vater tun, und das–«

Benedikte legte, ohne sich zu besinnen, ihre Hand in die seine. »Weshalb sollte ich es nicht?« sagte sie kaum hörbar. »Habe ich Ihnen auch das Recht, für mich zu handeln, bis jetzt nicht gegeben, so würde ich es in jedem Augenblick gern und bereitwillig tun!«

»O, Sie würden es gern?«

»Ja, mein Freund, der einzige, den ich gefunden habe! – Das ist es eben, was mich Ihnen keinen Vorwurf daraus machen läßt, daß Sie so zum unsäglichen Unheil in dies Haus gedrungen; es ist mir ja, als trüge ich selber daran die Schuld, als hätten meine Gedanken, mein Verlangen Sie hierher gezogen, als hätten diese sehnsüchtigen Gedanken eine unwiderstehliche Gewalt über Sie üben müssen, denn meine Gedanken sind bei Ihnen gewesen, immer, immer, seit ich Sie zum ersten Male sah.«

Wilderich warf sich tieferschüttert ihr zu Füßen, er nahm ihre beiden Hände und preßte sie schluchzend an seine Lippen.

»O Dank, o Dank für dieses Wort! Ein solches unermeßliches Glück geben Sie mir, und dennoch sollte alles, alles schon mit uns aus, sollte unser Leben dem Tode verfallen, sollten unsere Minuten gezählt sein? O es ist, es ist nicht möglich, jede Fiber, jeder Blutstropfen in mir sträubt sich dawider, kocht dawider auf – o Benedikte, lassen Sie uns hoffen, lassen Sie eine kurze Spanne Zeit hindurch uns glücklich sein!«

Er barg sein Haupt an ihren Knien und schluchzte wie ein Kind. Sie legte ihre beiden Hände auf sein, dunkles Haupthaar und lispelte etwas, das er nicht verstand. War es ein Wort der Liebe, ein Bekenntnis des Herzens? Jedenfalls war es ein Gebet.

Das Geräusch von schweren Männerschritten und Waffenrasseln, das beide vorher vernommen hatten, war wieder erstorben. Jetzt wurde es aufs neue hörbar, erst dumpf, dann heller, die Schritte nahten durch den kleinen Korridor, durch den der Schultheiß Wilderich zu Benedicte geführt.

»O fliehen Sie, fliehen Sie!« rief Benedicte aufspringend aus.

»Fliehen?« sagte Wilberich. »Wohin? Und darf ich es denn? Zwar, ich möchte leben, jetzt leben, aber ich darf nicht, ich kann nicht, ich muß das Schicksal Ihres Vaters teilen, ich bin sein einziger Verteidiger, seine einzige Rettung, wenn es eine für ihn gibt. Ich darf ihm nicht fehlen in der Stunde, die über sein Los entscheidet! Aber,« fuhr er, sich plötzlich vor die Stirn schlagend, fort, »wie ist es möglich, daß ich das vergaß! Sagen Sie mir, wer in den Briefen Ihrer Stiefmutter kann G. de B. sein?«

»G. de B.? Wohl Grand de Bateillère, der Mann, den man mir aufdringen wollte.«

»Ah!« rief Wilderich aus, »dann –«

Zum Weitersprechen war es zu spät, wie es auch schon zu spät gewesen wäre zur Flucht – der Kapitän Lesaillier trat über die Schwelle. Hinter ihm standen ein paar Ordonnanzen des Generals.

»Im Namen der, Republik – Sie sind mein Arrestant,« rief der Kapitän zu Wilderich. »Folgen Sie mir!«

Benedicte flog an Wilderichs Brust, sie umklammerte ihn mit krampfhafter Gewalt, und dann riß sie sich wieder mit dem Aufschrei: »Und mein Vater – wo ist mein Vater?« von ihm los und wollte hinausstürzen.

Lesaillier hielt sie zurück.

»Ersparen Sie sich das, Mademoiselle,« sagte er teilnahmsvoll, und bewegt, »Ihr Vater ist nicht in seinem Zimmer – Sie finden ihn nicht ...«

»Er ist fortgeführt – gefangen?«

Der Kapitän zuckte die Schultern.

»Und ich, ich trage die Schuld, daß man ihn in den Tod schleppt, o ewiger Gott, ich allein!« rief sie mit einem Ausbruch furchtbarer Verzweiflung aus, und dann sank sie bewußtlos auf den Boden.


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