Levin Schücking
Der Kampf im Spessart
Levin Schücking

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Fünftes Kapitel.

Der Schösser stapfte unterdessen unwirsch davon, er ging Frau Afra berichten, daß dieser heillose Mensch, der Förster Buchrodt, ihm angekündigt habe, Haus Goschenwald werde eine Einquartierung erhalten, als er plötzlich stehenblieb und wie schreckergriffen beide Hände von sich streckte.

»Alle Teufel!« sagte er.

Frau Afra, an der andern Seite des Hofes auf einem umgestülpten Eimer sitzend, um zu warten, bis es dem Gestrengen gefalle, zum Essen zu kommen, stieß einen leisen Schrei aus. Die Mägde um sie herum riefen auseinanderfahrend: »Da hören Sie's selber.«

Frau Afra hörte es selber und der gestrenge Herr hörte es auch. Er hörte Kanonenschüsse, unverkennbare Geschützesschläge – eins, zwei, drei – ein halbes Dutzend aufeinanderfolgend – dann eine Pause – dann aufs neue.

Alle Kriegserfahrung des Ritterschaftlichen half da nichts – es war Kanonendonner; in der Ferne mußte ein Gefecht stattfinden, und daß es stattfand, bewies, daß die Franzosen geschlagen seien, daß sie auf ihrer Rückzugslinie durch den Spessart angegriffen wurden.

Und so war es in der Tat. Die Führer des Aufstandes hatten ihre Leute so lange vom Angriff zurückgehalten, als es möglich war. Ein zu früher Ausbruch der Erhebung hätte die Feinde gewarnt. Sie hätten andere Wege eingeschlagen, wenn sie zu früh erfahren, wie gefährlich und verhängnisvoll ihnen die Waldpässe des Spessart werden sollten.

Denn die Schlacht bei Würzburg war geschlagen, ein zweiter entschiedener Sieg der Kaiserlichen. Die Sambre- und Maasarmee war halb aufgelöst; in bunt und wild gemischten Massen flutete sie in die Defilees hinein, in denen sie keine Gefahr ahnte; hatte sie doch bei ihrem Vorrücken die Entwaffnung des Landes vorgenommen, hatte doch Jourdans Proklamation Todesstrafe auf den Besitz von Waffen gesetzt.In seiner Proklamation vom 11. Messidor im vierten Jahre der französischen Republik hieß es: »Die Bewohner der Dörfer, Flecken, Städte, welche sich bewaffnet vereinigen würden, werden mit Gewalt zur Niederlegung ihrer Waffen gezwungen, sodann erschossen und ihre Häuser verbrannt werden. Jeder Bewohner, welcher im Lande gefunden wird und ohne Erlaubnis eines Generals ober Oberoffiziers Waffen trägt, soll arretiert, verurteilt und auf der Stelle erschossen werden.«

Und trotz dieser Drohungen stand das Land jetzt in Waffen, wenn diese Waffen auch freilich gar oft nur die einfache Pike waren, in die jede Heugabel, jede Stange sich rasch umwandelt, wenn der Haß eines durch Mißhandlung empörten Volkes losbricht, oder das Holzfällerbeil, das ein etwas längerer Stiel zur besten Hellebarde und so gefährlich wie die schneidigste Streitaxt macht. Und der Feind war ja geworfen; er mochte jetzt mit Totschießen, Niederbrennen drohen, jedermanns Hand, jede nervige Faust in den Bergen erhob sich wider ihn und jede krampfte sich um ein rächendes Eisen.

Die Schlacht bei Würzburg hatte am 3. September stattgefunden. Die Truppen der Republik, geführt von ihren besten Generalen, dein kühnen, glänzenden und so früh gefallenen Championnet, von Bernadotte, Lefebvre, Genier, Ney, hatten sich tapfer geschlagen. Der mörderische Kampf hatte lange unentschieden hin- und hergewogt, von sieben Uhr, dem Augenblick, wo der dichte Nebel des Herbstmorgens gefallen, bis um drei Uhr nachmittags, wo ein von Wartensleben ausgeführtes Kavalleriemanöver den Ausschlag gegeben. Vierundzwanzig Schwadronen Harnischreiter hatte er vorgeführt; sie marschierten im verdoppelten Feuer der französischen Artillerie, in größter Ruhe auf; vierzehn Schwadronen leichter Reiterei wurden auf ihrem rechten Flügel en échelon gesetzt und im Verein mit acht frischen Grenadierbataillonen, die sich an ihren linken Flügel schlossen, führten sie den entscheidenden Schlag.

Jourdan befahl gegen vier Uhr den Rückzug. Die französische Armee vollzog diesen auf zwei Straßen. Ihr Gros bewegte sich nordwärts über Hammelburg, Brückenau, Schlüchtern, um die Lahn zu erreichen. Ein anderer Teil des geschlagenen Heeres warf sich westwärts und folgte der Straße durch den Spessart nach Frankfurt, um sich auf die letztere Stadt zurückzuziehen und dann mit dem Blockadekorps von Mainz zu vereinigen, das etwa zwölftausend Mann stark unter Marceaus Befehle stand.

Die Heerstraße von Würzburg nach Frankfurt lief damals in nordwestlicher Richtung über Heidenfeld, wo sie den Main überschritt, durch stille und wenig bevölkerte Waldtäler nach Aschaffenburg.

Eine zweite Straße folgte von Würzburg bis Gmünden und Lohr dem Laufe des Mains, um von Lohr stark westlich auf Aschaffenburg zuzulaufen. Es ist die Linie, welche jetzt, nur ein wenig mehr nördlich gelegt, die Eisenbahn verfolgt.

Der Erzherzog Karl detachierte einige Korps zur Verfolgung der nordwärts abziehenden Feinde, die Hauptmasse seiner Truppen dirigierte er westwärts, dem untern Main zu, um die Besatzung von Mainz an sich zu ziehen und sich dann südwärts auf Moreau zu werfen. Die Infanterie sollte über Lengfurt und Heidenfeld und Rohrbrunn der Hauptstraße folgen, die Kavallerie über Bischofsheim und Miltenberg rücken, beide, nachdem sie am 4. bei Würzburg gerastet.

Die Verfolgung während dieses Rasttags hatten aber die insurgierten Bauern übernommen. Einzelne Angriffe des empörten Landvolkes hatten die republikanische Armee bereits auf der ganzen Rückzugslinie von Amberg her beunruhigt! schlimmer war es geworden am Abend und in der Nacht nach der Schlacht vom 3. September, auf dem Wege bis zum Mainübergange bei Heidenfeld; als aber die Franzosen im ersten Morgengrauen des 4. den Spessart betraten, fanden sie eine kleine Vendée. Hier wurde der Marsch ein fortwährendes Kämpfen. Die Bauern griffen an zahlreichen Stellen zugleich die wie eine lange Schlange viele Stunden weit sich hinziehenden Scharen an. Von den Bergseiten herab, hinter Eichen- und Buchenstämmen her knatterte das Feuer in die Bataillone und löste die letzte Ordnung, die sie zusammengehalten, auf; gegen die verwirrten Massen gingen ganze Haufen Bauern mit geschwungenen Piken und Äxten vor; vor dem wuchtigen Angriff mit dem Bajonett, vor dem Rottenfeuer flohen sie zurück, die schützenden Waldhöhen hinan; bald darauf aber begannen sie dasselbe Spiel von neuem, bis die Kampflust zur wilden Wut wurde, bis selbst die Kartätschenladungen, womit der Feind sie begrüßte, ihre Schrecken für sie verloren und sie nur für wenige Augenblicke auseinandergesprengt in ihre verdeckten Stellungen trieben.

An einzelnen Stellen war die Lage des geschlagenen Heeres verzweiflungsvoll. Während es sonst im Weiterziehen kämpfte und sich seiner Haut wehrte und rechts und links mit zahlreichen Toten seinen Weg bezeichnete und nur immer chaotischer durcheinanderwogte, staute sich an diesen einzelnen Stellen die Flut der Zurückziehenden vor einem Hindernisse auf, das, wie ein Deich in einem Strome die Gewässer, ihre Massen aufhielt und sie dichter und dichter sich zusammen- und wild durcheinanderdrängen ließ. Wo die Heerstraße durch einen engen Talpaß zog, waren aus gefällten Baumstämmen hohe und furchtbare Verhaue aufgeschichtet, hinter denen her die Büchsen- und Flintenkugeln in die aufgelösten Bataillone schlugen; sie mußten erst genommen, erstürmt, durch Artillerie mit Vollkugeln zusammengeschossen werden, bevor es möglich war, vorwärts und aus diesen höllischen Defilees herauszukommen.

Einer der schlimmsten Pässe lag hinter dem Dorfe Bischbrunn. Zwei enge kleine Seitentäler mündeten hier von beiden Seiten auf die Heerstraße, und diese Seitentäler waren für die Kämpfenden wie gemacht, sich verdeckt in ihnen aufzustellen, aus ihnen hervorzubrechen und sich in sie hinein und an den Bergwänden aufwärts zu flüchten, wenn eine geschlossene Truppe im Sturmschritt gegen sie anrückte. Der Weißkopf, der Waldmeister, den wir von Wilderich nennen hörten, befehligte hier etwa zwei- bis dreihundert wohlbewaffnete Bauern. Sie waren eben auseinandergesprengt worden und sammelten sich wieder um eine jener Rieseneichen, die heute noch der Stolz des Spessarts sind; sie stand etwa in Manneshöhe über der Sohle des Seitentals, und der Waldmeister saß unter ihr, damit beschäftigt, einen neuen Stein auf seine Büchse zu schrauben.

»Bin gleich fertig, ihr Mannen,« sagte er zu den schwer atmenden und keuchend herankommenden Leuten. »Stellt einen Posten vorn auf die Bergegge, der uns wahrschaut, wenn ein neuer Trupp kommt; so lang wollen wir uns ein wenig Ruhe gönnen. Du, Natz, du machst mir auch nicht mehr weis, daß du kein Wilderer bist; hab's wohl gesehen, wie du immer aufs Blatt trafst. Wie viel Stück Wild hast mir im letzten Winter aus dem Revier weggeschossen, du?«

»Ach, Waldmeister,« antwortete ein blasser, blonder, junger Bursche im Kittel, »denkt Ihr denn heut noch daran? Ich mein', die Herren machen uns nun für das, was wir heut ausrichten, all' zu Waldmeistern und geben's Wild frei.«

Die Männer umher lachten.

»Wär' schon recht,« rief ein kleiner Mann mit einer Hasenscharte, der sich eben müde ins Moos niedersetzte und die alte Doppelflinte aufrecht zwischen den Beinen hielt, »wär' schon recht, Natz; aber daraus wird nichts, kannst mir's glauben. Das Wild, als da sind die Sauen, die Spießer, die Böck' und die Rehgeißen, das ist die eine Sorte von denen, die den Bauer ruinieren, und die andere Sorte, das sind die Herren, die Schlösser, die Domherren, die Kavaliere, denen 's Wild gehört. Hätte der Bauer nun Permiß, daß er sich die eine Sorte mit dem Blasrohr vom Leibe halten dürft', 's könnt' gar leichtlich sein, daß er's auch mit der andern versuchte, und darum – na, alleweil kannst dir's schon selbst ausrechnen.«

»Ich geb' aber nachher meine Flinte doch nicht wieder heraus!« rief der Natz trotzig. »Will sehen, wer kommt und sie mir abholt!«

»Na, na, na,« fiel hier ein starker, untersetzter Mann mit einem runden, roten, aber stark von Blatternarben zersetzten Gesicht ein, aus dem kleine verschmitzte Augen hervorblinzelten, »bist ja gar ein verwegener Bursch, Natz. So zu reden, wo der Herr Waldmeister dabei ist! Solchen Leuten wie dir hätt' man das Blasrohr gar nicht in die Hände geben sollen. Es ist ohnehin ein Jammer, daß man das arme Franzosenvolk damit so drangsalieren muß. Man meint, die Eingeweide müßt's einem im Leibe herumdrehen, wenn man's ansieht! In meinem Ort daheim stift' ich ein Seelgerät für ihre armen Seelen, für all die armen Teufel, die heut dran glauben müssen.«

»Was schwatzt der da? Den jammert's?« rief hier ein dritter aus.

»Na, gewiß jammert's mich, und jeden friedliebenden, rechtschaffenen Christenmenschen muß es jammern,« fuhr der Blatternarbige, mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischend, fort, »daß er so hinter ihnen dreinlaufen muß und all die Hundsmüh' und Sekatur mit ihnen hat! Wenn das so fortgeht, so weiß ich nicht, wie ich's noch lang dermachen soll; schon fünf Tage lang bin ich dabei, und 's graust mich –«

»Fünf Tage lang bist dabei?« fragte hier der Waldmeister. »Ja, du bist ja ein Fremder – woher kommst denn und weshalb bist denn dabei?«

»Woher ich komme?« sagte der Mann, sich mit dem Rücken an den Stamm einer Buche lehnend und seinen dreieckigen Hut in den Nacken schiebend, um dann die Hände über der Mündung seiner Büchse zu kreuzen. »Ich komme von Teinung, da bin ich daheim.«

»So weit her?«

»Just von daher, wo der Franzose zuerst kehrt gemacht hat. Ich bin halt hinter ihm dreinmarschiert, ganz still und zumeist bei der Nacht, hinter dem Nachtrab drein, habe dabei manchen armen Teufel von halbtotem Marodeur oder zum Krüppel geschossenen armen Lumpen angetroffen, im Straßengraben und in den Scheuern und Barmen am Wege.«

»Und hast ihnen wohl geholfen und sie getränkt und verbunden wie der barmherzige Samariter?« rief hier lachend einer der Männer, die einen Kreis um den Fremden geschlossen hatten. »Ja,« sagte der Blatternarbige lakonisch; »ich habe ihnen geholfen, wenn sie nicht schon genug hatten!«

»Aber wenn du gar so ein mitleidiges Herz hast,« fragte der Waldmeister, »weshalb kommst denn hierher zu uns?«

»Na,« sagte der Mann aus Teinig, den dreieckigen Hut wieder über die Stirn ziehend und mit den kleinen stechenden Augen zwinkernd, »ich muß noch ein wenig so mitmachen, ich habe meine Zahl nicht voll!«

»Deine Zahl? Was ist das, deine Zahl?«

»Meine Zahl ist siebzig. Just siebzig, nicht mehr und nicht weniger! Ich muß ihrer siebzig haben; für jeden zehn; das habe ich gelobt bei der Mutter Gottes von Ötting. Denn sieben Ochsen haben sie mir verbrannt – lebendig im Stadel – armes unschuldiges Vieh – und fett dabei, schwer fett – hab' eine Brauerei in Teining, den Gaishofstoffel nennen's mich da – und das Mensch, die Stallmagd, ist auch hin worden, als sie mir Haus und Stadel mit Feuer angestoßen haben! Da hab' ich ein Gelübde getan zur Mutter Gottes von Altötting – für jeden Ochsen zehn, die dran glauben müssen!«

Die Bauern lachten auf.

»Bist ein Kerl, ein wüster!« sagte der Waldmeister kopfschüttelnd; »aber der richtige Franzosenjäger! Na, komm nur mit – und vorwärts, ihr Leute, ich sehe den Jörg von der Bergegge herlaufen und winken – richtig, man hört's schon stoßen und rumpeln – das müssen Kanonen sein. Haltet nur brav auf die Pferde, Leute, nur immer auf die Pferde!«

Die ganze Schar eilte zu Hauf und unter dem Laubdach der Bäume der Bergegge, welche die Straße beherrschte, zu. Der »Franzosenjäger« ihnen nach; es wurde jetzt erst sichtbar, daß er hinkte, daß eins seiner Beine kürzer als das andere; aber seine Bewegungen waren trotzdem und trotz seiner Stärke auffallend behende; auch war er bald an der Spitze der Schar, obwohl er, wie er sagte, so viele Tage hindurch schon dem abziehenden Heere gefolgt war wie ein böser Wolf dem Leichengeruch.

Eine andere für das rückziehende Heer verhängnisvolle Stelle lag weiter westwärts, da, wo der Verhau, von dem wir Wilderich reden hörten, angebracht worden, ein Verhau, zehnmal erstürmt und auseinandergeschleudert und dann jedesmal hurtig wiederhergestellt, sobald den Verteidigern desselben die Muße dazu geblieben. Darüber war es Mittag geworden; eben hatte sich wieder ein hitziges Gefecht zwischen einer Infanteriekolonne und den den Verhau verteidigenden Bauern und Forstleuten entsponnen, als sich ihm eine Schwadron französischer Chasseurs näherte, die, wie von den Folgen der allgemeinen Auflösung unberührt, sich in straffer Ordnung zusammenhielt. In ihrer Mitte ritt ein General, über dessen dunkle, schweiß- und staubbedeckte Züge der Zorn der Niederlage und die Empörung über diese wilden Angriffe verachteten Landvolks einen erschreckenden Ausdruck von Grimm und Wildheit gelegt hatten. Er mochte kaum vierzig Jahre zählen, aber sein Gesicht war stark durchfurcht, die schmalen, blitzenden Augen lagen tief eingesunken und das glatt und schlicht an seinen Schläfen anliegende lange schwarze Haar ließ dieses ursprünglich edel geschnittene Gesicht noch schmaler, gelber und magerer erscheinen.

In seinem Gefolge ritten ein Paar Offiziere und – überraschender Anblick in dieser wilden Kampfszene – zwei Frauen.

Mit der Truppe, welche ihn umgab, war er rasch herangetrabt. Die vordersten seiner Reiter sorgten dafür, daß das marschierende Kriegsvolk ihm Platz machte.

Aber wenn er bisher von den einzelnen Kampfszenen, durch die er gekommen, sich nicht aufhalten lassen, so war es hier ein anderes. Die Straße war gründlich versperrt, und für die nächste Zeit schienen die Verteidiger des Verhaues durchaus nicht geneigt, den Kugeln, die hageldicht in ihre aufgeschichteten Baumstämme schlugen, weichen zu wollen; zwischen den Ritzen und Zwischenräumen dieser Baumstämme durch, über den Rand der Barrikade hinweg zischte Kugel auf Kugel zurück, die wohlgezielt jedesmal ihren Mann traf. Dazu schmetterten die Hörner ihre Signale, wirbelten die Trommeln und schrien und tobten die Offiziere, und über dem ganzen wüsten Schauspiel schwankten und wogten die Wolken von Pulverdampf.

Der General ließ seine Truppe halten, bevor er in eine zu gefährliche Nähe dieser Kampfszene geriet; er nahm den hohen Hut mit dem dreifarbigen Federbusche, der seine Würde bezeichnete, ab, wischte sich mit seinem Tuch die Stirn und sagte zu seiner Begleiterin gewendet, zu der großen, blassen, mit entsetzten Blicken in das Getümmel schauenden Frau: »Wir sind da in des Teufels Küche geraten! Hier hilft kein frisches Vorwärts und kein unbekümmertes Weitergehen trotz aller Rauferei zu unserer Rechten und Linken mehr! Verflucht, daß keine Artillerie zur Hand ist! Soll ich hier warten, bis die Infanterie uns Platz geschafft hat? Ich habe keine Zeit zu warten! Verdammte Lage!«

»Sollte denn gar kein Weg in der Nähe sein, der rechts oder links abführte?« fiel die schöne große Frau mit bleicher Lippe ein.

»Ich habe vorhin zur rechten Hand eine Schlucht bemerkt,« sagte ein kleines und, wie es schien, vor Furcht zitterndes weibliches Wesen, das hinter der Dame ängstlich mit beiden Händen sich auf ihrem Pferde festhielt; es war gut, daß einer der Chasseurs dicht neben ihr das Pferd am Zügel führte, sie selbst würde schwerlich damit fertig geworden sein, das durch den Kampf und den Lärm aufgeregte Tier zu führen und zu halten.

»Wo ist diese Schlucht?« fragte der General.

»Hinter uns, einige hundert Schritte zurück – ein Weg führt hinein!« antwortete einer der Offiziere, den die Binde als seinen Adjutanten bezeichnete.

»Wohl denn, so retten wir uns in die Schlucht, bringen wir Sie da in Sicherheit!« sagte der General zu der Dame gewendet und warf sein Pferd herum.

Das ganze Geschwader machte kehrt, schaffte sich Bahn wie früher durch die nachdringenden Massen und schwenkte nach wenigen Minuten links in die Schlucht hinein, in welcher es zu der Mühle und Wilderichs Forsthaus hinaufging.

»Wird denn dieser Weg nicht irgendwo hinführen, von wo aus man die Barrikade umgehen und so weiter kommen könnte?« rief hier der General aus. »Dubois, geben Sie doch die Karte her!«

Der Adjutant zog eine Karte aus seiner Sattelhalfter hervor und reichte sie dem Vorgesetzten.

Der General schlug sie auseinander und suchte im langsamen Weiterreiten sich darauf zu orientieren.

»Dies hier muß die Schlucht, in der wir uns befinden, sein; der Weg läuft auf einen Ort oder Hof Goschen – Goschenwald aus und schwenkt dann links – links zwischen Bergen durch – ah, vortrefflich, er schlängelt sich mit der Heerstraße parallel, um sie eine oder zwei Stunden weiter westlich wieder zu erreichen. Eine dünne Linie, ein Fußpfad am Ende nur, aber enfin, es ist doch ein Weg, es muß da auch durchzukommen sein. Eh bien, wagen wir's! Vorwärts, vorwärts!«

Er reichte die Karte dem Adjutanten zurück. Dabei streifte sein Blick das Antlitz der Dame, deren Augen gespannt auf ihn gerichtet waren.

»Arme Marcelline,« rief er dabei, »ich verstehe den Vorwurf in Ihrem Blick – wie ich Ihnen solch eine Strapaze noch zumuten könne – freilich, freilich, ich kann Sie solch einer Irrfahrt, solch einer Anstrengung nicht aussetzen – Sie können nicht mehr! Zum Teufel, wer hätte auch gedacht, daß wir in eine solche Cochonnerie geraten würden! Es wird Zeit, daß Sie Ruhe finden, meine Teure, daß Sie einige Stunden der Erholung bekommen.«

»Freilich, es ist schrecklich, dies alles!« versetzte die Frau mit einem von der Aufregung, der in sie sich befand, gedämpften und heiser gewordenen Organ; »es ist gar zu schrecklich –«

»Sie sollen in diesem Goschenwald, oder wie es heißt, die Nacht bleiben,« fiel der General ein.

»Bleiben, zurückbleiben ohne Sie, Duvignot, was muten Sie mir zu?«

»Beruhigen Sie sich, Marcelline, wir werden ja sehen, wie dies Goschenwald aussieht; verspricht es Ihnen irgendwie eine Stelle, wo Sie die Nacht hindurch ruhig Ihr Haupt hinlegen können, so werden Sie dableiben; ich lasse Ihnen den größten Teil meiner Eskorte zum Schutze, mit dem andern eile ich durch die Berge weiter. Ich darf nicht rasten, Jourdan zählt darauf, daß ich noch in dieser Nacht in Frankfurt ankomme, ich muß es wenigstens morgen vor Sonnenaufgang erreichen. Gesetzt nun auch, wir fänden auf dem Umwege, den wir jetzt machen müssen, weiter keine Hemmnisse, wie würden Sie einen solchen Ritt aushalten können?«

»O mein Gott, wäre ich doch nie mit Ihnen gegangen, wäre ich nie aus Würzburg gewichen!«

»Gewiß, gewiß,« fiel der General Duvignot ein, »es wäre besser gewesen, aber wer zum Henker konnte erwarten, auf solche Hindernisse hier zu stoßen? Als mir Jourdan den Befehl gab, eiligst das Kommando in Frankfurt zu übernehmen, was schien da einfacher und selbstverständlicher, als daß Sie sich mir und meiner Eskorte anschlössen, um aus dem Chaos in Würzburg heimzukommen nach Frankfurt, das man uns hoffentlich so bald nicht entreißen wird!«

»Wie war es möglich, daß man im Hauptquartier so gar nichts von dem, was sich in diesen Bergen vorbereitete, ahnte?«

»Mein Gott, wie war es möglich! Wir sind in Feindesland! Unsere Spione waren Esel oder haben uns betrogen! Auch haben wir verdammt wenig daran gedacht, daß wir geschlagen werden könnten, und uns wenig gekümmert um das, was hinter uns vorging, die Augen auf den Feind gerichtet, der vor uns stand!« »Ihr habt euren Feind verachtet!«

»Wir hatten ihn so oft geschlagen!«

»Nicht immer!«

»Ah bah, fast immer. Und wenn Bonaparte, dieser junge Teufel, ihn von Süden, Moreau, dieser alte Löwe, ihn von Westen und wir uns alle für wahre Teufel hielten, ihn von Norden packten, wie konnten wir etwas anderes erwarten, als ihm über den Leib zu marschieren bis nach Wien!«

»Und trotz all eurer Teufeleien und eures Löwengebrülls seid ihr nun doch geschlagen!« erwiderte bitter Marcelline dem General Duvignot.

»Wir werden schon Revanche nehmen! Aber ich sehe da Häuser,« unterbrach sich der General, auf die Mühle und das Forsthaus deutend. »Ob das Göschenwald ist? Lassen Sie sehen,« wandte er sich zum Adjutanten.

Der Adjutant reichte ihm die Karte; während er darauf suchte, sprengten ein Paar seiner Reiter sowohl nach der Mühle als nach dem Forsthause hinüber. Aber trotz des Gerassels, das ihre an die Türen pochenden Säbelscheiden machten, öffnete sich keine dieser Türen. Das Mühlrad stund still, kein Rauch kräuselte sich über den Essen. Die Müllersleute sowohl wie Frau Margaret im Forsthause mit ihrem kleinen Schützling mußten sich geflüchtet haben.

»Die Wohnungen scheinen verlassen,« sagte Duvignot, »auch ist die Entfernung von der Heerstraße nicht groß genug, als daß dies Goschenwald sein könnte. Nur weiter, weiter!«

Das Geschwader setzte sich trotz des steinigen und steiler werdenden schmalen Weges in Trab. Die Spitze der Truppe hatte nach einer Viertelstunde die Höhe erreicht, auf der man in das enge Bergtal niederschaute, das von Haus Goschenwald beherrscht wurde. Bald nachher wurde auch dieses letztere sichtbar.

»Ah, das sieht ja vollständig gastlich und einladend aus, dieser alte Edelhof; die Essen rauchen – man ist eben beschäftigt, Ihnen eine Suppe zu kochen, Marcelline!« rief Duvignot aus. »Ich bin glücklich, Sie in ein solches Quartier senden zu können.«

Die Frau blickte verzagend auf das alte Gutsgebäude. Sie fühlte sich freilich bis zum äußersten ermüdet und bebte doch vor dem Gedanken, allein zu bleiben, zurück.

»Sie müssen sich darein fügen, meine Teure, es geht nicht anders,« fuhr er fort. »Während ich mich links durchzuschlagen suche, um die freie Heerstraße wiederzugewinnen und ohne Aufenthalt an mein Ziel zu kommen, müssen Sie sich dort oben Ruhe gönnen. Unsere Truppen werden die Wege für Sie bald freigemacht und gesäubert haben. Aber mich können Sie nicht weiter begleiten. Mein Gott, wenn Sie mir vor Erschöpfung ohnmächtig, wenn Sie mir krank würden, was dann? Dürfte ich Ihretwegen mich aufhalten? Und könnte ich Sie doch verlassen, verlassen unter freiem Himmel, in der Nacht, die herannaht? Seien Sie vernünftig, Marcelline, ich flehe Sie darum an!«

»Mein Gott, wenn es sein muß, so bin ich ja bereit,« sagte die Dame resigniert. »Welche Mannschaft werden Sie mir zu meinem Schutze lassen?«

»Die ganze Schwadron, wenn Sie wollen, ich werde nur ein Dutzend Chasseurs zu meiner Begleitung bei mir behalten. Dubois, zählen Sie so viel Mann, die bei uns bleiben, ab! Sie, Kapitän Lessaillier,« wendete er sich an einen andern Offizier, »bleiben mit Ihrer Schwadron als Eskorte der Dame.«

Das Dutzend Reiter wurde vorkommandiert, und Duvignot nahm Abschied von seiner Begleiterin.

»Adieu,« rief er, die Hand, welche sie ihm reichte, ergreifend und an seine Lippe ziehend. »Ich werde Ihnen in Frankfurt Quartier machen. Ich werde Sorge tragen, daß im Hause Ihres Mannes alles zu Ihrem Empfange in Bereitschaft ist. Adieu, meine Teure! Lesaillier, Sie werden das Vertrauen, das ich in Sie setze, indem ich Madame Ihrem Schutze übergebe, rechtfertigen!« »Seien Sie überzeugt davon, mein General,« antwortete militärisch salutierend der Offizier der Schwadron.

»Also noch einmal Adieu, Marcelline, ich lasse Sie in guter Hut!« rief der General aus, legte die Hand an den Hut und spornte sein Pferd an, um dem Weg zu folgen, der vor ihm ins Tal niederlief und dann sich links am Fuße der Höhe hielt.

Die Frauen mit ihrer Eskorte schlugen den Weg ein, der, sich rechts abzweigend, auf halber Berghöhe geradezu auf Haus Goschenwald führte.

Die Dame, welche der General Marcelline genannt hatte, sank, nachdem er sich von ihr getrennt, wie gebrochen vor Müdigkeit in ihrem Sattel zusammen. Die andere, ihre Zofe, musterte mit scheuem und mattem Blick den alten Edelhof vor ihr.

»Werden wir da nun zu Rast und Ruhe kommen?« rief sie aus.

»Wir wollen es hoffen,« sagte ihre Herrin mit einem Seufzer, »und wenn wir es auch nicht hoffen dürfen, es ist doch besser so, daß wir den General haben vorausziehen lassen.«

»Besser? Den General, der unser bester Schutz war?«

»Ja, besser! Was würde man in Frankfurt gesagt haben, wenn ich an der Seite Duvignots da eingezogen wäre!«

Sie sagte dies in deutscher Sprache, um nur von der Zofe verstanden zu werden, während die bisherige Unterredung in französischer Sprache geführt worden war.

»Ah, bah,« entgegnete die Zofe ein wenig verdrießlich – sie war nicht in der Stimmung, sich viel Mühe zu geben, ihre Gedanken zu verbergen – »was würde man gesagt haben! Ich denke, die Verwunderung wäre so groß nicht gewesen. Und zudem wären wir in der Morgenfrühe hingekommen, wo niemand unsern schönen Triumpheinzug beobachtet hätte. Und endlich wird man in Frankfurt jetzt an anderes zu denken haben als an die Rückkehr der Frau Schöffin!«

»Das ist mein Trost freilich auch,« antwortete die Frau Schöffin. »Wie sagte der General, daß dies Haus heiße? Goschenwald?«

»In der Tat, ich glaube so war es.«

»Goschenwald!« wiederholte Frau Marzelline nachsinnend. »Ich habe den Namen schon gehört. Ja, ja, es ist richtig, Goschenwald, das muß einem entfernten Verwandten meines Mannes, von seiner ersten Frau her, gehören, einem Reichshofrat in Wien; mein Mann muß sogar einmal dort gewesen sein, ich erinnere mich, daß er davon geredet hat. Also dies ist es? Nun, es sieht verlassen und friedlich genug aus, um uns ein ruhiges Nachtquartier zu verheißen!«

Sie waren auf dem Hofe von Haus Goschenwald angekommen; die Truppe hielt, der kommandierende Offizier glitt rasch aus seinem Sattel, um Frau Marcelline Stallmeisterdienste beim Absteigen zu leisten, und ihr dann den Arm zu reichen, um sie ins Haus zu führen. Die Frau Schöffin fühlte erst jetzt vollständig ihre Ermüdung und ihre wie zerschlagenen Glieder; und deshalb entging ihr das seltsam Pittoreske der Erscheinung, die jetzt plötzlich vor ihr auftauchte und ihren Begleiter doch lachen machte. Es war die imponierende Gestalt Sr. Gestrengen des Herrn Schössers, der in seiner roten Uniform, die eine Hand an seinem quer sich spreizenden Degen, die andere auf den Knopf eines hohen spanischen Rohrs gelegt, wie ein Bild in der Umrahmung der Portaltür stand.

»Diantre,« sagte der Kapitän, »voilà le roi d'Yvetôt!« und fuhr dann zu ihm selber gewendet fort: »Très-haut et très-puissant seigneur, wir nehmen Ihre Gastlichkeit in Anspruch – bitte, machen Sie uns Platz!«

Der Schösser trat, als er seinen Versuch, den Ankommenden durch schweigende Hoheit zu imponieren, nicht erfolgreich sah, resigniert und ohne ein Wort zu erwidern, zur Seite. Er ließ nur seine grauen Augen rollen, als die Gruppe an ihm vorüber ins Innere des Gebäudes schritt, und dann nickte er dreimal mit dem Kopfe, daß sein Zopf in die Höhe schnellte, und murmelte: »Franzosen! Franzosen auf der Retraite! Welch blaue Wunder kann unser Herrgott tun! Welch blaue Wunder! Auf der Retraite! Franzosen!«

Der Trupp Chasseurs – es mochten ihrer etwa hundert bis hundertzwanzig sein – legte unterdessen auf die Stallungen Beschlag, um darin einen Teil der Pferde unterzubringen, und bereitete sich vor, mit dem Rest auf dem Hofe des Gebäudes zu kampieren.

»Geben Sie acht darauf, daß die Leute sich nicht zerstreuen und auf ihrer Hut bleiben,« sagte der Kapitän Lesaillier, der eben aus dem Hause zurückgekommen war, dabei zu seinem Wachtmeister. »Unsere Kameraden da unten werden das Gesindel, das sie attackiert, hoffentlich bald auseinandergesprengt haben, aber just dann könnten wir zerstreute Trupps davon hier auf den Hals bekommen. Lassen Sie deshalb nicht absatteln und stellen Sie einen Posten in gehöriger Entfernung vom Hofe auf. Duvignot hätte etwas Besseres tun können, als seine Weibsleute in diesem heillosen Rückzuge mitzuschleppen und just uns zur Sauvegarde seiner Liebschaften zu machen – Gott verdamme sie!« »Wäre mir auch lieb, wir wären aus diesen vermaledeiten Defilees heraus, Kapitän,« sagte der Wachtmeister; »ist einmal das Wunder passiert, daß uns diese Hunde von Weißröcken geschlagen haben, so kann auch das zweite Wunder passieren, daß sie einmal wissen, wie man einem geschlagenen Feinde auf dem Nacken sitzt; und kommen sie uns außer dieser Bauerncanaille auch noch auf den Hals, so wird die Suppe gut!«

»Das würde sie freilich, alter Grognard,« fiel der Kapitän ein; »aber da ist nichts zu fürchten, man kennt sie ja; sie werden nach ihren Anstrengungen einige Tage zum Ausschlafen nötig haben. Sorgen Sie dafür, daß die Pferde ein gutes Futter bekommen und daß nicht zu früh getränkt wird!«


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