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XVIII. Kapitel.
Die letzte Szene.

Punkt zwei Uhr eröffnete der Lordrichter die Sitzung mit einer kleinen Ansprache.

»Wir treten nun in den letzten Teil dieser Verhandlung ein,« sagte er, »die uns seit drei Tagen beschäftigt. Ich hoffe, sie heute zu Ende führen zu können. Ich bitte alle Anwesenden, vollkommene Ruhe zu bewahren, da ich sonst gezwungen sein würde, den Saal räumen zu lassen. Nichts, was hier vor diesen Schranken auch noch gesprochen werden sollte, darf irgendeinen Anwesenden zu Beifalls- oder Mißfallenskundgebungen verleiten. Ich werde im anderen Fall keinerlei Rücksicht auf Stand oder Geschlecht irgendeines Ruhestörers walten lassen. Herr Verteidiger, ich stelle Ihnen nunmehr den Aufruf Ihrer Zeugen anheim.«

Sir Malcolm erhob sich.

»Ich habe nur zwei Zeugen hierhergerufen, Mylord, da die Aussagen der beiden genügen werden, um den Gerichtshof von der Schuldlosigkeit meiner Mandantin zu überzeugen. Der eine der Zeugen war heute morgen von der Anklagebehörde als Belastungszeuge vernommen worden. Ihn beabsichtige ich nun, zur Entlastung der Angeklagten zu vernehmen. Der zweite Zeuge ist dem Gericht ebenfalls kein Unbekannter mehr. Er hat schon einmal hier ausgesagt und will nun heute seine damaligen Aussagen vervollständigen. Mit dem Zeugen Boscombe bitte ich diesen Verhandlungsabschnitt eröffnen zu dürfen. Zeuge Boscombe! Sie sind hier? Bitte betreten Sie die Zeugenbank. Ihre Personalien sind bereits festgestellt, ebenso Ihre Tätigkeit in Verbindung mit dem Nachweis der Schuldlosigkeit der Angeklagten. Soll ich Sie fragen oder wünschen Sie den ganzen Komplex Ihrer Bekundungen vorzutragen?«

»Ich ziehe vor, auf Ihre Fragen zu antworten, Sir Malcolm«, erwiderte der Zeuge, dessen erneutes Erscheinen in der Zeugenbank lebhaftes Geflüster im Saal ausgelöst hatte. Auf der für die Zeugen reservierten Bank saß der Zeuge des heutigen Vormittags, der zweite Sohn des ermordeten Lord. Er starrte vor sich hin, als interessierten ihn die kommenden Bekundungen des Zeugen Boscombe gar nicht. Nur ein unruhiges Flackern seiner Augen hätte dem aufmerksamen Beobachter seine innere Unruhe verraten können.

»Sie schilderten uns, Herr Zeuge, bei Ihrer ersten Vernehmung, Ihre Beobachtungen, wiesen uns auf einen gewissen Graves und auf Haley hin, die angeblich mit diesem Fall in innigster Beziehung gestanden haben sollen. Sie teilten mir heute morgen in einem mir im Gerichtssaal überreichten Schreiben mit, daß sie Ihre damaligen Aussagen vervollständigen möchten. Darf ich Sie nun bitten, mir zu sagen, welchen Erfolg Sie bei Ihren Nachforschungen hatten?«

»Ich wies darauf hin, daß mir aus der Umgebung des Ermordeten sowohl dessen Kammerdiener Haley, als auch der Schwager aus erster Ehe, Graves, beruflich bekannt geworden waren. Der erstere aus seiner erpresserischen Tätigkeit, der letztere unter seinem Spitznamen »Der Rote«. Ich erwähnte ferner, daß mir sowohl die Angeklagte, wie auch ihr angebliches Opfer, Lord Montauban, bekannt waren; über die Dame erfuhr ich nichts nachteiliges; von Lord Montaubans früherer Tätigkeit kann ich das nicht ohne weiteres behaupten.«

»Sie kannten ihn von früher her?«

»Jawohl. Als er sich kurz nach dem Krieg von seinen regelmäßigen Geschäften zurückgezogen hatte, widmete er sich wie auch früher schon, einem einträglicheren Geschäft, dem Rauschgifthandel. Sein Adjutant, ein gewisser Grootman, der eine längere Zuchthausstrafe abbüßen mußte, war ein intimer Freund des Ermordeten. Seit dieser Verurteilung herrschte zwischen den beiden erbitterte Feindschaft, die wohl darauf zurückzuführen war, daß Grootman seinen Freund Lord Montauban für einen Verräter hielt. Als Dritter in diesem Bund konnte Perth gelten, der ebenfalls gefaßt und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Nach der Entlassung Grootmans trafen sich die beiden wieder. Grootman, Perth und Graves begannen nun an Lord Montauban eine Erpressungskampagne. Ich erwähnte bereits, was für diese drei dabei heraussprang. Bei der Verteilung bekam Perth, der sich zurückgesetzt fühlte, von Graves ein Messer in die Brust gejagt und empfahl Grootman, dem Graves das Handwerk zu legen. Die beiden vertrugen sich jedoch wieder, da Grootman sozusagen höhere Ziele, die sich mit Lord Montauban beschäftigten, im Auge hatte. Ich will gleich betonen, daß ich bis gestern einen von den drei Herrschaften, entweder Grootman, Graves oder Perth für den Mörder Lord Montaubans hielt. Haley war der Zwischenträger für alle drei. Die seit gestern von mir gemachten Beobachtungen wiesen nun, soweit die blutige Tat in Frage kam, in eine andere Richtung. Die drei Genannten hatten nur indirekt mit diesem Verbrechen zu tun, denn – der wirkliche Mörder Lord Montaubans war ihnen um eine knappe halbe Stunde zuvorgekommen.«

Hunderte Augenpaare ruhten auf dem Zeugen, der seine wichtigen Bekundungen mit aller Ruhe gemacht hatte.

»Sie wissen, wer der Mörder Lord Montaubans ist?« fragte der Verteidiger.

»Jawohl, Sir. Ich könnte Ihnen den Mann binnen zwei Sekunden vorstellen. Ehe ich das jedoch tue, möchte ich weiter ausführen, wie ich auf seine Spur kam. Ich irrte also, wie ich schon sagte, auf meiner Suche nach dem Mörder Mylords zwischen drei verschiedenen Personen hin und her: Haley kam als Täter nicht in Frage, obwohl er dabei die Hände im Spiel gehabt haben muß. Welches Interesse hatte Grootman, welches Graves, welches Perth daran, ihren früheren Komplizen zu beseitigen? Der letztere als der vom Verrat Montaubans am wenigsten betroffene, wohl das geringste. Ich schied ihn also vorläufig aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Blieben Graves und Grootman. Der letztere konnte durch einen Mord an Lord Montauban zwar keine finanzielle, dafür aber seelische Vorteile erringen. Er würde seinen Rachedurst befriedigt sehen. Genügte das aber, um einen so krassen Egoisten, wie Grootman unstreitig ist, zu einem Mord zu verleiten, der ihm, wurde er ertappt, den Hals kosten konnte? Möglich, aber unwahrscheinlich. Um jedoch keine Möglichkeit außer acht zu lassen, hielten meine Leute den Verdächtigen dauernd unter Beobachtung. Heute morgen gegen zehn Uhr wurde Grootman wegen Ermordung seines Freundes Haley durch Beamte von Scotland Yard verhaftet. Die Beweise für sein Verbrechen lieferte ich gleichzeitig mit den übrigen Bekundungen über den verübten Mord an die Kriminalpolizei ab.«

Niemand im Saal – die meisten davon hatten die Aussagen Haleys gehört – hatte bisher eine Ahnung davon gehabt, daß der irdischen Laufbahn des verräterischen Kammerdieners ein Ziel gesetzt worden war. Das Sensationsbedürfnis des Auditoriums kam voll auf seine Rechnung.

»Meine Beobachtungen ergaben folgendes,« fuhr der Zeuge fort: »Grootman spielte zwar mit dem Gedanken, seinen Komplizen Montauban zu beseitigen, aber erst nachdem er ihn wie eine Zitrone ausgepreßt haben würde. Solange das nicht der Fall war, hatte Grootman kein Interesse daran, die Laufbahn Montaubans gewaltsam abzukürzen. Das festgestellt, blieb Graves. Ja, er hatte ein Interesse daran, seinen Schwager zu beseitigen: Erstens wußte er, daß er beim Tod Montaubans erben würde, und zweitens genügte er dadurch dem Rachedurst seines Freundes Grootman. Dieses Rachegelüst des letzteren aber fiel mit dem Wunsch Graves zusammen, Lord Montauban erst einmal gehörig zur Ader zu lassen und ihn erst dann zu beseitigen. Grootman winkte Graves ab. Dieser gehorchte um so lieber, als er erfuhr, daß als Alleinerbin die zweite Gattin Montaubans eingesetzt worden war. Solange dieses Testament in Kraft war, hatte Graves keinerlei Vorteile. Die Beseitigung seines Schwagers hätte dann nicht nur Grootman, sondern auch ihn, Graves, geschädigt. Lady Montauban wäre in den alleinigen Genuß des Vermögens gelangt und alle anderen, mit Ausnahme des Titelerben, leer ausgegangen. Die Verschworenen befanden sich nun in einer Zwickmühle. Töteten sie Lord Montauban nur aus Rachedurst, dann hatten sie das finanzielle Nachsehen. Nicht ein Pfennig kam ihnen dann zu. Grootman hätte auf Erpressungen verzichten müssen, denn Tote erpreßt man nicht; Graves mußte damit rechnen, enterbt worden zu sein. Was also tun? Warten? Davon war Grootman kein Freund. Auch Graves standen die Schulden bis an die Kehle. Irgendein Ausweg, der beiden Triebfedern, Rache- und Gelddurst, gerecht wurde, mußte gefunden werden. Da brachte Haley willkommene Kunde. Er berichtete, daß man den Schauspieler Macdonald allgemein für den Verehrer der zweiten Lady Montauban hielt. Das genügte, um Grootman und Graves einen raffinierten Plan fassen zu lassen: Zwischen Lady Montauban und ihren Gatten sollte durch Erregung von Eifersucht ein Keil getrieben werden. Bei der sicherlich folgenden Scheidung würde Lady Montauban enterbt werden. Damit kam, wurde Lord Montauban beseitigt, noch ehe er ein neues Testament aufsetzen konnte, automatisch das frühere wieder in Kraft, demzufolge Graves Miterbe sein sollte. Die Geldbedürfnisse Grootmans sollten durch Erpressungen der Erben befriedigt werden. Die Kinder des Lords würden bestimmt gern zahlen, wenn es sich darum handelte, das Andenken ihres Vaters fleckenlos zu erhalten.«

»Woher wissen Sie das alles, Mr. Boscombe?« fragte der Vorsitzende voller Interesse und Bewunderung den geschickten Mitarbeiter Sir Malcoms.

»Es gelang mir, gleichzeitig mit Grootman auch Graves festnehmen zu lassen. Beide haben ein Geständnis abgelegt, welchem ich meine Kenntnisse verdanke.«

»Bravo!« klang es von den Lippen des Lordrichters. Das Lob fand vielstimmiges und vom Vorsitzenden nicht unterdrücktes Echo.

»Ein teuflischer Plan wurde ausgebrütet, dessen Urheber Grootman gewesen sein muß, wenn er jetzt auch seinem Komplizen Graves die Urheberschaft zuschiebt«, fuhr Boscombe fort. »Es handelte sich um nicht mehr und nicht weniger als drei Punkte: Speisung des Mißtrauens Lord Montaubans gegen die eheliche Treue seiner jungen Frau; zweitens: Intrigieren, um eine Scheidung herbeizuführen und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß mit erfolgter Scheidung das Lady Montauban begünstigende Testament umgestoßen würde, um das frühere, alle Verwandte bedenkende wieder in Kraft zu setzen. War das geschehen, dann Beseitigung Montaubans, um zu verhindern, daß ein drittes Testament den zu erwartenden fetten Bissen wieder entführte. Wie nun aber Lady Montauban kompromittieren? Graves löste die Frage, die einem anderen angesichts der unverbrüchlichen Treue Myladys Kopfzerbrechen bereitet haben würde, auf eine recht einfache Weise. Er machte sich an Macdonald heran, gewann dessen Vertrauen, drückte ihm wieder und wieder seinen Abscheu vor jener Ehe zwischen einem Siebzigjährigen und einem jungen Mädchen aus und weckte damit alle Kavalierinstinkte des von sich ziemlich eingenommenen Schauspielers. Graves lieferte durch seinen Freund Grootman die Mittel, um Macdonald den Verkehr in Lord Montaubans Haus zu ermöglichen. Immer von neuem riet er ihm, seine Angriffe auf Lady Winifreds Herz zu erneuern. Die Szene, die uns der Zeuge Grosvenor heute morgen schilderte, hat wirklich stattgefunden. Graves hatte sie arrangiert. Ob aber die Aeußerungen, die der Zeuge angibt, vernommen zu haben, von Lady Winifreds Lippen wirklich gefallen sind, wird das Hohe Gericht noch Gelegenheit haben zu prüfen. Vorläufig will ich nur den weiteren Hergang der Dinge zu schildern versuchen. Ich habe mir dieses wenig erfreuliche Mosaik Stein für Stein zusammentragen müssen. Nur die Schlußsteine verdanke ich den Geständnissen Graves' und Grootmans.«

Der Zeuge machte eine Pause, um sich durch einen frischen Trunk zu stärken. Er leerte das ihm gereichte Glas in einem Zug. Im Saal herrschte tiefstes Schweigen.

»Alles verlief für die Verschworenen programmgemäß. Macdonald war Wachs in ihrer Hand. Er ließ sich formen und kneten und hatte zuletzt überhaupt keinen eigenen Willen mehr. Anfänglich mag es seiner Eitelkeit geschmeichelt haben, als erfolgreicher Bewerber um die Liebe der jungen Lady Montauban in die Bahn zu treten, den alten, schwerreichen Konkurrenten aus dem Sattel heben zu können und den Adligen, denen er feindlich gesinnt war, zu zeigen, daß er, der arme Teufel, doch so viel Einfluß ausübte, um eine Frau von der Seite des ungeliebten, wenn auch reichen Gatten zu reißen. Zuletzt aber, um die Zeit der Ermordung Lord Montaubans, liebte Macdonald Lady Winifred wirklich. Er war bereit, alles für sie zu opfern. Diese Entwicklung hatten die Verschworenen, vor allen Dingen aber der schlaue Graves, vorausgesehen. Er kannte Leute vom Schlag Macdonalds gut genug, um zu wissen, daß sich dieser zuletzt in seine angebliche Liebe für die Gattin Montaubans so hineinbeißen würde, daß jede Rücksicht fallen würde. Die Pläne, die man im Auge gehabt hatte, zeitigten den Erfolg, den wir alle kennen. Macdonald kompromittierte Lady Winifred in so starkem Maß, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als in eine Scheidung zu willigen. Ich möchte gleich vorausschicken, daß nicht der geringste Anlaß für Lord Montauban vorlag, die Treue seiner Gattin anzuzweifeln. Die Intrigen aber, die nicht nur von seiten der Verschworenen gegen die junge Frau gesponnen wurden, hatten endlich Erfolg. Die Scheidung wurde ausgesprochen. Es war Zeit, an die weiteren Voraussetzungen anzuknüpfen. Wie die Verschworenen wußten, beabsichtigte nunmehr Lord Montauban ein Testament zu Ungunsten seiner Frau anzufertigen. Anwalt Rowe war damit beauftragt. Haley hatte erfahren, was Lord Montauban plante, glaubte jedoch, daß das Lady Winifred begünstigende Testament bereits annulliert wäre. Diese Vermutung oder Ueberzeugung teilte er den übrigen Verschworenen mit. Noch ehe Lord Montauban Zeit fände, ein neues, in seinem Inhalt noch unbekanntes Testament zu machen, mußte er sterben. Die Verschworenen hatten bereits ihren sauberen Plan fertig. Am Tag der Scheidung erhielt Macdonald einen anonymen Brief, der ihn über das Vorleben Lord Montaubans unterrichtete. Die von ihm daraufhin verlangte Unterredung wurde ihm von seinem Rivalen bewilligt. Was verhandelt wurde, wird niemand je erfahren. Beide Männer sind tot. Ich kann mir aber leicht vorstellen, daß Macdonald Lord Montauban gegenüber aus seiner Liebe zu Lady Winifred kein Hehl machte, dabei aber betonte, daß die Frau völlig schuldlos der Untreue bezichtigt worden war. Er wird von Lord Montauban verlangt haben, das Lady Winifred zur alleinigen Erbin des Barvermögens einsetzende Testament bestehen zu lassen und dadurch ihre Zukunft ein für allemal sicherzustellen. Vielleicht hatte der Schauspieler dabei auch seinen eigenen Vorteil im Auge. Er mag gehofft haben, bei der nunmehr geschiedenen und entwurzelten Frau mehr Aussicht auf ein Jawort zu haben.«

»Wie erfuhren Sie alle diese Einzelheiten, Mr. Boscombe?« wollte Sir Malcolm wissen.

»Während der Unterredung Macdonalds mit Lord Montauban hatte Haley, wie es seine Gewohnheit war, gelauscht. Noch am selben Abend berichtete er darüber an seine Komplizen. Am 25. Juni suchte daraufhin Graves Macdonald auf und teilte ihm mit, daß Lord Montauban ein neues Testament veranlaßt habe, das seiner geschiedenen Gattin jedes Recht auf das vorhandene Barvermögen rauben sollte. Da dies wahrscheinlich den Abmachungen Macdonalds mit dem alten Lord widersprach, war es Graves leicht, den Schauspieler zu einer Reise nach Holscombe zu veranlassen, um dort angeblich Montauban umzustimmen zu versuchen. Graves versprach weiter, ein gutes Wort für Lady Winifred einzulegen, wenn es Macdonald nicht gelänge, bei seinem Schwager etwas zu erreichen. Um zu verhindern, daß Lady Montauban etwas von diesen Bemühungen Macdonalds erfuhr, verschwieg Graves die Tatsache, daß Lady Winifred noch in derselben Nacht England an Bord der »Montana« verlassen wollte. Macdonald reiste nach Holscombe, wurde, wie nicht anders zu erwarten war, von Mylord hinausgeworfen, suchte, nachdem er sich bereits wieder nach Edinburgh zurückbegeben hatte, nochmals Holscombe auf und trieb sich mehrere Stunden dort herum. Gegen ein Uhr nachts wurde er im dortigen Park eines Fremden ansichtig und folgte ihm. Er sah ihn einen vor dem Haus stehenden Baum besteigen und blieb in der Nähe desselben verborgen. Plötzlich hörte er einen Schuß fallen. Gleich darauf sah er den Mordschützen vom Baum klettern. Im Haus waren die Lichter aufgeflammt, die ihre Reflexe bis in den Garten warfen. In dem entstehenden Halbdämmerlicht erkannte Macdonald den Mörder. Ehe er sich jedoch an dessen Verfolgung machen konnte, traf ihn ein furchtbarer Hieb auf den Hinterkopf. Er erwachte erst wieder aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit, als die Polizei, die von der erschreckten Dienerschaft herbeigerufen worden war, Spürhunde in den Garten losgelassen hatte. Mit Mühe entkam ihnen der Verstörte. Zu Fuß eilte er nach Edinburgh zurück, erreichte den Morgenschnellzug nach London und kam am Nachmittag wieder in der Hauptstadt an. So rasch er konnte, suchte er Graves auf, um diesem zu berichten, was in Holscombe geschehen war. Aber Montaubans Schwager versuchte nicht einmal, Erstaunen zu heucheln. Er sagte Macdonald offen heraus, daß er ihn für den Mörder halte. Der Beschuldigte wies den Verdacht heftig zurück. Der Streit war sicherlich von Graves gesucht worden, um Macdonald in seiner Gewalt zu behalten. Als ihm dieser aber drohte, er würde alles, was bisher geschehen war, an die große Glocke hängen, wendete sich das Blättchen. In diesem Augenblick wurde Macdonald für die Endziele der Verschworenen eine nicht zu verachtende Gefahr. In einem unbewachten Augenblick tötete Graves seinen Besucher, verbarg den Leichnam in einer geräumigen Bücherkiste und sann nun nach, wie er die Spuren seines Verbrechens beseitigen könnte. Ihm war klar, daß das spurlose Verschwinden Macdonalds ohne weiteres auf diesen den Verdacht lenken würde, er sei Montaubans Mörder. Dies paßte ausgezeichnet zu seinen Plänen. Er hatte nicht nur einen Mitwisser beseitigt, sondern auch einen Blitzableiter gefunden, der einen etwa drohenden Verdacht von ihm und Grootman ablenken mußte. Keinen Augenblick hatte Graves an der Wahrheit der Mitteilungen Macdonalds gezweifelt, wer – nun wer denn der wirkliche Mörder Montaubans war.«

»Ist Ihnen bekannt, wer denn nun eigentlich den Greis ermordete?« fragte inmitten der Stille im Saal Sir Malcolm.

Boscombe nickte.

»Jawohl, Sir Malcolm. Lord Montauban wurde von seinem zweiten Sohn, dem dort auf der Zeugenbank sitzenden Charles Wawerley Grosvenor ermordet. Achtung! Er versucht zu entkommen.«

Aber die beiden Herren, die auf Anregung des Detektivs gleich zu Beginn der Nachmittagsverhandlung neben dem Beschuldigten Platz genommen hatten, waren auf ihrem Posten. Ehe Grosvenor auch nur einen Fuß zur Flucht setzen konnte, war er bereits gefesselt. Wild blickte er auf seine Häscher. Dann richteten sich seine unlöschbaren Haß verratenden Augen auf Boscombe.

»Woher wußten Sie,« wandte sich der Lordrichter an die beiden Detektive, die den erstarrt dastehenden Mörder festhielten, »daß dieser Fall eine derartige Lösung finden würde?«

»Mr. Boscombe war gegen Mittag in Scotland Yard und sprach mit unserem Inspektor, Mylord«, erwiderte einer der Gefragten. »Daraufhin bekamen wir den Auftrag, diesen Mann während der Nachmittagsverhandlung nicht aus den Augen zu lassen. Mehr wissen wir auch nicht, Mylord.«

Der Vorsitzende richtete seine kalten Blicke auf Boscombe:

»Im allgemeinen liebe ich solche Theatercoups nicht, Mr. Boscombe«, sagte er beißend. »Ich hoffe aber, daß der Erfolg Ihre Maßnahmen rechtfertigen wird. Führen Sie den Gefangenen einstweilen ab«, befahl er den beiden Beamten. »Wenn ich ihn brauche, werde ich ihn mir holen lassen.«

Die Tür schlug hinter dem Ertappten zu. Willenlos ließ er sich abführen, seine Widerstandskraft schien gebrochen. Der Schlag war zu unerwartet niedergebraust.

Atemraubend lag die entsetzliche Stille über dem großen Saal. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Niemand hatte eine solche Lösung erwartet.

»Wie sind Sie auf den Mörder gekommen, Mr. Boscombe?« fragte endlich der Vorsitzende.

Boscombe richtete sich hoch auf. Er weidete sich an der durch ihn hervorgebrachten Sensation, deren Nachwirkungen sich jetzt, durch keinen Ordnungsruf unterbrochen, in aufgeregtem Geflüster äußerten. Als der Detektiv zu sprechen begann, konnte man unschwer aus seinem Tonfall heraushören, daß er der Polizei Vorwürfe machte, sich durchaus auf die Mitschuld der Angeklagten versteift zu haben, ohne anderweitig nach dem wirklich Schuldigen zu suchen.

»Als mir der Fall«, begann er, »von Sir Malcolm und dessen Auftraggeber, Herrn Hans-Lothar von Weiße, zur weiteren Aufklärung übertragen wurde, hatte ich wenig Hoffnung auf Erfolg. Auf der einen Seite hatte die Polizei alle Trümpfe auszuspielen: Flucht Lady Montaubans, spurloses Verschwinden des angeblichen Mörders oder Totschlägers, Harry Macdonald, Motive zur Tat: Scheidungsurteil, Liaison der Verdächtigen, Furcht Macdonalds vor gesellschaftlichem Boykott, Rachedurst gegen denjenigen, der seine Laufbahn zerstört hatte, kurz, alle möglichen Gründe, warum Macdonald im Verein mit Lady Montauban oder mit ihrer Hilfe den Verhaßten aus dem Weg schaffen sollte. Andererseits aber konnte es wohl möglich sein, daß auch andere Personen ein Interesse daran hatten, Lord Montauban unschädlich zu machen. Wem würde eine solche Tat die meisten Vorteile bringen? Ein Aktivum hatte ich, das mir eine große Hilfe werden sollte, die wirklich Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen: Das unentwegte Vertrauen, das gute Menschen in Lady Montauban setzten. Gewiß, Mylord und meine Herren Geschworenen, wenig genug war es, um den Nachweis zu führen, daß die Angeklagte schuldlos war, aber – ich beschloß nach reiflichen Erwägungen, mich an den Fall, so aussichtslos er auch in jenen Augenblicken schien, zu wagen.«

Hunderte Augenpaare ruhten auf dem Mann, der der Meinung eines ganzen Landes zum Trotz die beinahe unlösbare Aufgabe unternommen hatte, eine Schuldlose vor einem Justizmord zu bewahren. Als Boscombe nach kurzer Atempause fortfuhr, war es im Saal still und feierlich wie in einer Kirche geworden.

»Cui bono? Wer hatte die größten Vorteile, falls dem Greis etwas Menschliches passierte? Lord Montauban war ein alter Mann, der vielleicht, hoch gerechnet, noch ein Jahrzehnt zu leben hatte. Wer hatte, nachdem Lady Montauban von ihm sichergestellt worden war, ein Interesse daran, diese Lebensspanne abzukürzen? Wer mußte befürchten, daß die weitere Existenz des alten Mannes ihm Schaden brächte? Wer eine Tat, wie die, die uns hier versammelt sieht, begeht, tut es meist aus gewichtigen Gründen? Wer konnte einen Grund, wichtig genug, haben, um, würde er zur Rechenschaft gezogen, ein Todesurteil, zumindest aber eine lange Zuchthausstrafe zu riskieren? Das waren die Fragen, die ich mir vom ersten Augenblick meiner Betrauung mit diesem Fall vorlegte. Ich habe hier bereits geschildert, wie es mir nach langem Suchen gelang, auf die Spuren Graves, Grootmans, Perths und Haleys zu kommen. Die vier Verschworenen hatten Gründe, sich ihres früheren Komplizen zu entledigen. Ich habe Ihnen, Mylord und meine Herren Geschworenen, darzulegen versucht, wie es kam, daß jene vier Leute davon abgehalten wurden, ein weiteres Verbrechen den vielen, die sie schon begangen hatten, hinzuzufügen. Gerade, als sie Lord Montauban beseitigen wollten, kam ihnen ein anderer zuvor. Wer dieser andere war, wissen Sie jetzt; ich aber hatte damals nicht die geringste Handhabe, auch nur im entferntesten ein Mitglied der Familie des Ermordeten zu verdächtigen. Das kam erst später. Lange Wochen ließ ich die vier Verschworenen nicht aus den Augen. Meine besten Leute wandte ich daran, jene Bande dauernd zu beobachten. Das Resultat meiner Beobachtungen und der meiner Leute kennen Sie jetzt. Heute morgen gelang es mir, Graves und Grootman festnehmen zu lassen. Sie sind dadurch, daß sie mit dem Mord an ihrem Komplizen Montauban nichts zu tun hatten, nicht weniger schuldig als der wirkliche Täter. Keiner von ihnen hätte auch nur einen Augenblick gezögert, den tödlichen Streich gegen Lord Montauban zu führen. Aus meinen Ermittlungen ging hervor, daß Lord Montauban keineswegs ein unbeschriebenes Blatt war, sondern sein Vorleben kaum das Licht der Oeffentlichkeit vertragen hätte. Im Verlauf meiner Beobachtungen stiegen mir immer größere Zweifel auf, ob ich mich denn mit meinem Verdacht, die Bande Grootman habe den Mord begangen, nicht auf dem Holzweg befände. Grootman und Graves hatten zwar ein Interesse daran, Montauban von einer Neufassung seines Testaments abzuhalten, aber – so sagte ich mir – sie hätten ihr Ziel, den früheren Komplizen zu schröpfen, wohl auch ohne Gewalttaten erreicht. Daß sie gleichwohl, als ihnen die Haut unter den Nägeln brannte, mit dem Gedanken umgingen, den gordischen Knoten durch Ermordung Montaubans zu durchhauen, sprach nicht gegen meine sich langsam entwickelnde These, daß vielleicht doch ein mir vorläufig unbekannter Außenseiter den Mord begangen haben könnte. Macdonald kam für mich, trotz der Indizienbeweise, die auf ihn als Täter wiesen, als Mörder nicht in Frage. Alle Auskünfte, die ich über diesen Schauspieler erhielt, betonten, daß er zwar stets große Worte im Munde führe, aber im Herzen ein Feigling sei, der keiner Fliege etwas zu Leid tun könne. Gewiß, auch Feiglinge begehen Gewalttaten, aber nur dann, wenn sie in einem Augenblick der Leidenschaft jede Gewalt über sich verlieren. Daß dies bei Macdonald nicht der Fall gewesen war, wußte ich. Hätte er eine Gewalttat begehen wollen, dann war die beste Gelegenheit dazu, während er mit Lord Montauban jene Unterredung hatte. Dabei hätte Macdonald wohl, würde er von Montauban gereizt worden sein, die Haltung verlieren und sich an dem alten Mann vergreifen können. Eine Rache aber kalt zu genießen, Tage nach seinem letzten Zusammentreffen mit dem Gatten Lady Winifreds sich an diesem zu vergreifen, dazu war Macdonald nicht der Mann. Darin stimmten alle überein, die ihn gut kannten und mir bereitwillig alle erbetenen Auskünfte gaben. Da die Verschworenen wahrscheinlich auszuscheiden hatten, Macdonald aber als Täter ebensowenig in Frage kam, begann ich andere Winkel abzuleuchten. Graves, der Schwager, war bekanntermaßen ein Tunichtgut. Ich behielt ihn im Auge, da ich mir noch nicht sicher war, ob er wirklich nicht seine Hände auch in diesem Brei hatte. Dann nahm ich mir den Titelerben des Hauses Montauban vor. Er würde früher oder später ans Ruder gekommen sein. Die Tragödie einer vierzig Jahre währenden Thronfolgerschaft sah ich auch in diesem Fall klar vor mir. Der jetzige Lord Montauban war ein hoher Dreißiger. Sein Einkommen genügte, um ihm ein bequemes, sorgenfreies Leben zu gewährleisten. Er hatte als Achtundzwanzigjähriger die Tochter eines Großindustriellen geheiratet. Seine Gattin hatte ihm mehrere Millionen mit in die Ehe gebracht. Er konnte warten, bis seinen Vater das Zeitliche segnen würde. Für ihn lag kein Grund vor, diesen Augenblick herbeizusehnen. Sein Familienleben verlief in geordneten Bahnen. Er hatte keine kostspieligen Leidenschaften, die ihn vielleicht hätten in Schulden stürzen können. Sein Verhältnis zum Vater war freundschaftlich, wenn er auch keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die um beinahe zwanzig Jahre jüngere Stiefmutter, Lady Winifred, machte. Der älteste Sohn des Ermordeten hatte zu Lebzeiten des Vaters alles versucht, um diese Ehe mit einem Mädchen aus dem Volke zu hintertreiben. Als ihm dies nicht gelang, sah er in einer gewissen Vornehmheit des Charakters davon ab, die zweite Gattin seines Vaters zu beleidigen oder ihr irgendwie zu nahe zu treten. Er beachtete sie ganz einfach nicht. Für ihn war sie, während er im Haus des Vaters ruhig weiterverkehrte, Luft. Alle diese Informationen stammen von einem Mann, der die Familie Montauban seit vielen Jahren kannte und mir gegenüber seine Vermutungen offen äußerte.«

»Dürfen wir den Namen Ihres Gewährsmannes erfahren, Mr. Boscombe?« fragte Sir Malcolm, als der Zeuge erschöpft schwieg.

»Ich bitte von Namensnennung absehen zu dürfen, Sir Malcolm. Er vertraute mir seine Kenntnisse nur unter der Voraussetzung meiner strengsten Diskretion an.«

»Der Name Ihres Gewährsmannes spielt schließlich auch keine wichtige Rolle«, beschied sich Sir Malcolm. »Fahren Sie bitte fort, Mr. Boscombe.«

»Was ich erfuhr, lenkte meine Nachforschungen auf den zweiten Sohn des Ermordeten, der ja nach englischen Gesetzen nicht berechtigt war, den Titel »Montauban« zu führen, sondern den früher von seinem Vater geführten Namen »Grosvenor« hatte. Charles Waverley Grosvenor war zur Zeit des Todes Lord Montaubans vierunddreißig Jahre alt. Er glich nicht nur in seinem Aeußeren dem Bruder seiner Mutter, sondern ihm waren auch viele Charaktereigenschaften Graves' zu eigen. Schon von Jugend an war er das Sorgenkind der Mutter. Er ist, wie Sie, Mylord und meine Herren Geschworenen, Gelegenheit hatten, sich zu überzeugen, ein hübscher, stattlicher Mensch. Gerade diese Eigenschaften wurden ihm zum Verderben. Bei den Frauen war er, wie man zu sagen pflegt, Hahn im Korbe. Jeden Pfennig, den er besaß, und auch Geld, das er nicht hatte, gab er für sie aus. Als zweiter Sohn wurde er vom Vater reichlich knapp gehalten. Mit den zwölfhundert Pfund, die er jährlich bezog, könne er, wie er sich des öfteren äußerte, kaum seine Schneiderrechnung bezahlen. Gewiß, niemand verwehrte ihm das elterliche Haus. Er konnte dort wohnen und essen. Aber dieser Ausweg kam für den Lebemann nicht in Frage. Er verzog in das teuerste Viertel Kensingtons, engagierte einen Diener und lebte wie ein Krösus. Pferderennen, Ausflüge nach Monte Carlo und Zoppot und ähnliche Zerstreuungen verschlangen Unsummen. Kurz ehe sich sein Vater zum zweitenmal verheiratete, suchte ihn Charles Waverley Grosvenor auf. Er wollte ihm, wie ich anzunehmen Gründe habe, seine Schulden beichten, die in die tausende Pfund gingen. Ob noch andere Dinge zur Verhandlung standen, weiß ich nicht. Hauptsächlich aber wollte er, wenn möglich, Geld vom Vater herausholen. In der damaligen Stimmung des greisen Bräutigams hatte Charles Grosvenor leichtes Spiel. Der Vater zahlte ihm nicht nur seine Schulden, sondern erhöhte auch seinen Jahresbezug auf fünfzehnhundert Pfund. Dafür mußte der Sohn sein Ehrenwort geben, nicht mehr zu spielen oder zu wetten. Ist es notwendig zu betonen, daß dieses Versprechen, kaum gegeben, schon wieder gebrochen wurde? Charles Grosvenor zahlte mit dem Geld, das ihm der Vater zur Begleichung seiner sämtlichen Schulden gegeben hatte, nur die allerdringendsten Gläubiger, diejenigen, die mit Zwangsmaßnahmen gedroht hatten. Den Rest des Geldes, etwa zweitausend Pfund, verwandte er zu einer Reise nach Zoppot, um dort seine Finanzen aufzubessern. Er kam ohne einen Pfennig nach London zurück, rechtzeitig, um an der Trauung des Vaters teilzunehmen.«

Boscombe stärkte sich wieder durch einen Trunk aus dem vor ihm stehenden Glas. Das frische Wasser, das vom Gerichtsdiener schon mehrmals erneuert worden war, schien ihm neue Kraft zu geben. Mit erhobener Stimme fuhr er fort:

»Seiner männlichen Unwiderstehlichkeit vertrauend, näherte er sich der jungen Stiefmutter und machte ihr nach allen Regeln der Kunst den Hof. Er fand Ablehnung. Das war für ihn etwas so neues, unerwartetes, daß er nun mit verdoppelter Kraft gegen diese uneinnehmbar scheinende Festung Sturm zu laufen beschloß. Es kam zuletzt soweit, daß ihm Lady Winifred verbieten mußte, ihre Gemächer zu betreten. Da schlug das beleidigte Siegergefühl bei Charles Grosvenor in flammenden Haß um. Wo er konnte, flüsterte er seinem Vater Verdächtigungen zu. Lady Winifred sei in Macdonald verschossen; beide trieben ein frevlerisches Spiel mit dem alten Mann; sie hintergingen ihn auf jede Art und Weise und bei jeder Gelegenheit; Charles bestach Haley, ihm alles zu berichten, was seinem Feldzug gegen Lady Montauban neue Munition bringen konnte. Haley leckte sich, wie man zu sagen pflegt, nach diesem Auftrag alle Finger. Sah er sich doch vor dreifachem Verdienst: Graves, Grootman und Charles Grosvenor! Alle drei waren auf der Jagd nach Nachrichten, die die junge Frau kompromittieren könnten; alle drei waren willens, gut dafür zu zahlen. Wenn es nichts zu berichten gab, konnte Haley seine Erfindungskünste walten lassen. Keine Angst, er würde schon dafür sorgen, daß die drei Herren auf ihre Rechnung kamen. Eines aber hatte Haley nicht bedacht: Die Möglichkeit, daß diese falschen Nachrichten über Lady Montauban wie ein Bumerang auf den zurückfliegen könnten, der sie in die Welt gesetzt hatte. Plötzlich wurde sich der Diener bewußt, daß er den Bogen überspannt hatte. Charles Grosvenor hatte, ohne daß Haley davon wußte, seinem Vater alles das hinterbracht, was Haley ihm gegen gute Bezahlung als authentisch geflüstert hatte. Lord Montauban mußte nun, ob er wollte oder nicht, seiner Gattin mißtrauen. Als Charles noch dazu das Glück hatte, Macdonald bei einer Liebeserklärung an Lady Montauban zu überraschen – es handelte sich um jenen Abend, über dessen Verlauf hier ausgesagt wurde – schlug das dem Faß den Boden aus. Lord Montauban wollte die Scheidung beantragen. Er hatte mit der Gattin eine Auseinandersetzung. Lady Winifred wies alle Anschuldigungen zurück. Sie hätte niemals und mit niemand die eheliche Treue gebrochen. Hohnlachend verwies sie der Gatte auf die Berichte, die ihm sein Sohn Charles gebracht habe. Daraufhin verbot sie diesem das Haus, ohne dem Gatten mitzuteilen, warum sie sich den Haß des Stiefsohnes zugezogen hatte. Woher ich das alles weiß? Nun, auch im Haus Lord Montaubans gab es Türen, an denen Dienstboten horchen konnten, Sir Malcolm.«

Wieder erfrischte sich Boscombe mit einem Trunk Wasser.

»Durch einen Bericht Haleys erfuhr Charles, daß sein Vater sein Testament zu ändern beabsichtigte. Diese Testamentsänderung kam Charles Grosvenor sehr zu statten. Er steckte wieder Hals über Kopf in Schulden, wußte aber auch, daß sein Vater ihm die Tür vor der Nase zuschlagen würde, wenn er erfuhr, wie sein Sohn sein Versprechen, nicht mehr zu spielen, gehalten hatte. Erfuhr der Vater, ehe er sein Testament nochmals umstoßen konnte, daß der Sohn ihn hintergangen hatte, dann war es so gut wie sicher, daß er ihn, und dann endgültig, enterben würde. Da gab Haley den letzten Anstoß zu dem Mordplan. Er berichtete Charles Grosvenor, daß sein Vater bereits ein neues Testament in Auftrag gegeben hatte. Zu gleicher Zeit, beinahe zur gleichen Stunde, erfuhr Charles, daß einer seiner Hauptgläubiger, ein Geldverleiher namens Eckstine, die Wechselklage gegen ihn eingereicht habe. Er fand die Ladung des Gerichts zum Termin vor. Sein Jahresgeld war bis auf einen kleinen Rest verbraucht. Auf dem Wechsel stand, unrechtmäßig vom Sohn unterschrieben, der Name des Vaters als Girant. Ruin starrte dem Fälscher ins Gesicht. Er wußte, was folgen würde, wenn der Vater von diesem Verbrechen des Sohnes erfuhr. Koste es, was es wolle, er mußte versuchen, sich die zweitausend Pfund, auf die der Wechsel lautete, zu verschaffen. Wohin er auch blickte, nirgends hatte er mehr Kredit. Der ältere Bruder war zwar reich, würde sich aber niemals zur Hergabe einer solchen Summe aufschwingen können. Ich muß es Charles Grosvenor lassen, daß er alles versuchte, um das Geld aufzutreiben. Seine Geschwister lehnten samt und sonders die Hergabe des Geldes für solche Zwecke ab. Er wagte es nicht, ihnen reinen Wein einzuschenken und zu beichten, daß er des Vaters Namen gefälscht hatte. Inzwischen war Lord Montauban nach Holscombe abgereist. Am übernächsten Tag stand Termin in der Wechselklage an. Woher in diesen achtundvierzig Stunden das Geld nehmen, um die Sache aus der Welt zu schaffen? Hin und her sann der geängstigte Mann. Er wußte, auf Wechselfälschung gab es in England nicht weniger als sieben Jahre Zwangsarbeit. Flüchten? Dazu fehlten ihm die Mittel. Hätte er seinen Geschwistern reinen Wein eingeschenkt, würden diese wohl Rat geschafft haben, um den Bruder vor dem Zuchthaus und den Familiennamen vor Schande zu bewahren. Zu beichten aber fehlte diesem Sünder der Mut. Endlich raffte er sich zu einem verzweifelten Entschluß auf. Er wollte zu seinem Vater reisen, dort erst einmal versuchen, ohne Beichte das Geld zu bekommen, aber, mißlang ihm das, seinem Herzen Luft schaffen und dem Vater alles zu gestehen, was ihn bedrückte. Irgendwelche Mordabsichten hatte er, zu seiner Ehre muß ich es sagen, bei seiner Entschlußfassung noch nicht. So kam es, daß an jenem Abend drei verschiedene Gruppen die Fahrt nach Schottland antraten: Macdonald, um sich mit Lord Montauban Winifreds wegen auseinanderzusetzen und ihn zu überzeugen, daß sie und er selbst schuldlos seien; die Gruppe Graves, um Lord Montauban aus dem Weg zu schaffen und – Charles Grosvenor, um die Folgen seiner Wechselfälschung abzuwenden. Im selben Zug fuhren alle, ohne daß einer vom anderen wußte. Macdonald versuchte vergeblich, seine Wünsche zu Gehör zu bringen. Graves und Genossen hatten andere Absichten, als sich mit Lord Montauban gütlich auseinanderzusetzen. Charles aber gelang es, bis zum Vater vorzudringen. Seine Bitten hatten keinen Erfolg. Der Vater wies ihm die Tür und drohte, das Verbrechen des Sohnes der Polizei zu offenbaren. Während der Sohn einen Baum erkletterte, um sich durch einen Blick ins Fenster des Arbeitszimmers seines Vaters zu überzeugen, ob dieser wirklich seine Drohung wahrmachte, umstrichen die beiden anderen Gruppen das Haus, ohne von der Anwesenheit eines Dritten etwas zu ahnen. Von seiner Beobachtungswarte aus sah Charles den Vater eifrig schreiben. Einen Bogen nach dem anderen legte der Schreibende zur Seite. Der Lauscher sah sich verloren. Er griff in seine Tasche, fand einen Revolver, den er sich aus irgendwelchen Gründen beim Antritt der Reise eingesteckt hatte und – zögerte. Selbstmord? In seinen jungen Jahren? Solange er lebte, war nichts verloren. Lag er aber kalt und starr, mit einer Kugel im Gehirn, unter dem Baum – was nützte es ihm dann, wenn der Vater seine Hartherzigkeit bereute? Damit war er nicht wieder zum Leben zu erwecken. Vater hatte sein Testament umgestoßen, das Lady Montauban zur Erbin eingesetzt hatte. Ein neues war, wie Haley ihm, dem Sohn, versichert hatte, bereits rechtsgültig unterschrieben. Nun, da der Vater wußte, welches Verbrechens sich sein Sohn schuldig gemacht hatte, war er imstande, ihn zu enterben. Und dann?

Alle diese Erwägungen durchschossen den jungen Mann, während er vom Baum aus zusehen mußte, wie sich unter der Hand des Vaters die Sätze formten, die ihn, den Sohn, ins Zuchthaus bringen würden.«

Es gab niemand im Saal, der nicht die Szene vor dem Sommerhaus des Ermordeten vor seinem geistigen Auge abrollen sah. Das dunkle Gebäude, ein einziges Fenster erleuchtet; der vor diesem erleuchteten Fenster stehende dichtbelaubte Baum; in seinen Zweigen eine dunkle Gestalt, von der nur das Gesicht, bleich und furchtverzerrt, sichtbar war. Angstvolle, unruhige Augen, die durch das Glas hindurch auf den einsamen Mann starrten, der dort den Brief schrieb und im Begriff war, sein eigen Blut ans Messer der Justiz zu liefern. Alle im Saal glaubten den jungen Mann vor sich zu sehen, wie er zwischen Furcht vor dem Gesetz und Furcht vor dem Tod von eigner Hand schwebte.

Inmitten der erwartungsvollen Stille, mit der alle Anwesenden, selbst der kaltblütige Vorsitzende, des Endes der Schilderung harrten, fuhr Boscombe in seiner lebensvollen Darstellung fort:

»Schon hob sich die Hand des Lauschers, welche die Pistole hielt, an die Schläfe; schon wollte er abdrücken, um in Todesnacht zu versinken, als ihn plötzlich ein neuer Gedanke durchschoß. Jener Mann dort drin stand an der Schwelle des Grabes; er war alt und wurde gebrechlich. Warum sollte er, der jugendlich kraftvolle Mensch, der Sohn, sein Leben für einen dummen Streich hingeben, wenn ein Fingerdruck alle Gefahr bannen könnte? Die Pistole auf jenen alten Mann richten, die Zähne zusammenbeißen, abdrücken – und jede Gefahr einer Bestrafung oder Enterbung war gebannt. Eckstine würde warten, wenn er erfuhr, daß der reiche Vater gestorben war; auch die anderen Gläubiger würden sich wieder in Geduld fassen, nun die Aussicht bestand, das Geld, das sie einem Erben geliehen, mit guter Verzinsung wiederzubekommen. Beinahe ohne sich über seine Tat Rechenschaft abzulegen, hob Charles Grosvenor die Pistole, zielte sorgfältig auf das greise Haupt dort hinter dem Fenster, schloß die Augen und – drückte ab. Als er sie wieder öffnete, sah er seinen Vater vor dem Schreibtisch zusammengesunken. Aus einer Kopfwunde sickerte langsam das Blut auf die vor dem Greis liegenden Briefbogen. Der Knall hatte einige Diener aufgestört. Lichter blitzten auf. Mit einem Sprung war Charles vom Baum. Unten stieß er mit einem Mann zusammen. Ein Lichtstrahl verriet ihm, wer der Unbekannte war. Macdonald. Erst in diesem Augenblick gewann der teuflische Plan Gestalt, der später Macdonald das Leben rauben und der Stiefmutter unsäglichen Kummer bereiten sollte. Charles Grosvenor führte die Schlüssel zur Haustür der Villa bei sich. In drei Minuten stand er vor dem Schreibtisch des Toten, raffte die engbeschriebenen Briefbogen zusammen und verschwand, als sich eben die ersten Schritte der herbeieilenden Diener hören ließen. Auf der Straße nach Edinburgh stieß er mit der dritten Gruppe, Graves und Genossen, zusammen. Von diesem Augenblick an arbeiteten die beiden sauberen Verwandten zusammen, um alle Schuld auf Macdonald und Lady Winifred zu wälzen. Aber Macdonald hatte den Mörder erkannt. Als er an Charles Grosvenor herantrat, um diesem zu drohen, bestellte ihn dieser zu Graves. Dort brachte der Onkel den Schauspieler um, packte ihn in eine Kiste und versenkte ihn in die Themse.«

Sir John war der erste, der die den Schlußworten Boscombes folgende Stille brach:

»Angesichts der Bekundungen des Zeugen, an dessen Wahrhaftigkeit zu zweifeln ich keinen Grund habe, lasse ich im Einvernehmen mit meinen Vorgesetzten die Anklage gegen Lady Winifred Montauban fallen. Ich bitte Mylord, die Angeklagte nicht schuldig befinden zu lassen, und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen. Der durch die Aussagen des Herrn Zeugen beschuldigte Charles Waverley Grosvenor wird, ebenso wie die anderen, in dieses Verfahren verwickelten, Graves, Grootman und Perth, im ordentlichen Verfahren vor seine Richter gestellt werden.«

Der Vorsitzende erhob sich:

»Meine Herren Geschworenen! Sie alle haben gehört, was der Zeuge Boscombe hier ausgesagt hat. Ich habe, ebensowenig wie der Herr Staatsanwalt, irgendwelche Gründe, die Bekundungen des Zeugen anzuzweifeln. Ich bin der Meinung, daß die Anklage gegen Lady Winifred Montauban zusammengebrochen und ihre Schuldlosigkeit über alle Zweifel erhaben, festgestellt worden ist. Ich bitte Sie nun zu beraten. Wenn Sie zur selben Ansicht wie die Staatsanwaltschaft und ich gekommen sind, bitte ich, die Schuldfrage mit allen Stimmen zu verneinen.«

Die Geschworenen flüsterten eifrig miteinander. Dann erhob sich, ohne daß die zwölf getreuen und guten Männer ihre Plätze verlassen hätten, der Obmann:

»Nach bestem Wissen und Gewissen, Mylord, erklären wir die Angeklagte, Lady Winifred Montauban, für nichtschuldig.«

Mylord erhob sich wiederum:

»Gemäß dem Wahrspruch der Geschworenen und auch meiner eigenen Ueberzeugung folgend, spreche ich die Angeklagte, Lady Winifred Montauban, frei.«

In das Beifallsklatschen der Zuhörer, das diesmal ungerügt blieb, mischte sich das glückliche Schluchzen Lady Winifreds.


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