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IX. Kapitel.
Vor dem Schwurgericht.

Sir Algernon Flaherty, Lordrichter, Geheimer Rat Seiner Majestät, Vorsitzender des Rechtsrates, war ein Mann, der schon das biblische Alter erreicht hatte. Er stammte aus einer irischen Adelsfamilie und war seines trockenen Humors, aber auch seiner unbeugsamen Strenge wegen beliebt und gefürchtet zugleich. Die Fälle, die vor ihm verhandelt wurden, ergaben stets nur das eine oder andere Resultat: Freispruch mit anschließender Ehrenrettung durch Sir Algernon, oder Schuldspruch mit Strafen, die der ganzen Strenge des Gesetzes entsprachen. Für mildernde Umstände oder psychisch-pathologische Erwägungen war Sir Algernon höchst selten zu haben. Er hatte schon lange alle diese, wie er sie nannte, »neumodischen Fisimatenten« in den Hades verbannt. Für die Geschworenenbank waren die Belehrungen Sir Algernons einerseits ein Gedicht, kurz gefaßt, jedes Wort ein Hammerschlag, und andererseits wie ein Gemälde wirkend, von dessen Hintergrund sich entweder die erwiesene Schuldlosigkeit des Angeklagten oder die Schuld desselben abhoben.

Vor diesem Mann sollte Lady Winifred Montauban erscheinen. Die Anklage vertraten zwei Herren der Generalstaatsanwaltschaft: Sir John Ruskin, Königlicher Rat, und Mr. Whitney Steadney, der Mann, dessen Plaidoyers für die Krone als rhetorische Leistungen bezeichnet werden konnten. Für die Verteidigung erschienen Sir Malcolm Davis und Sir Henry Barney, der nächst Sir Malcolm berühmteste Strafverteidiger Londons. Angesichts der Stellung der Angeklagten hatten alle Parteien ihre schwersten Geschütze aufgefahren. Eine Unmenge Zeugen für und wider Lady Winifred waren geladen worden, kurz, die Verhandlung, die am folgenden Morgen um neun Uhr beginnen sollte, versprach, eine Sensation ersten Ranges zu werden. Liddy und Hans-Lothar hatten, selbst als Sir Malcolm sich für sie verwandte, nur mit Mühe Zutrittskarten erhalten können. Sämtliche Tribünenkarten waren schon Tage vorher vergriffen. Das meteorhafte Auftauchen Lady Winifreds in den besten Gesellschaftskreisen, der Altersunterschied der beiden Gatten, der Scheidungsprozeß, die nachfolgende Ermordung Lord Montaubans und deren Begleitumstände hatten ungeheures Interesse für die Gerichtsverhandlung geweckt. Auf den Presseplätzen drängten sich die Berichterstatter aller Londoner und Provinzzeitungen, um nur ja diejenigen ihrer Leser, die nicht genügend Verbindungen hatten, um an der Verhandlung teilnehmen zu können, ständig und ausgiebig auf dem Laufenden zu halten.

Sir Malcolm hatte Lady Winifred noch am späten Vorabend aufgesucht, um ihr nahe zu legen, ihm ihre Verteidigung voll und ganz zu überlassen. Er war hoffnungsfreudig, einen Freispruch erzielen zu können; hingegen machte er sich keinerlei Illusionen, daß ebenso Gefahr bestand, die Verhandlung in eine Remis-Partie auslaufen zu sehen.

Schon um sechs Uhr morgens drängten sich am Tag der Verhandlung die Neugierigen am Eingang zum Kriminalgerichtsgebäude, obwohl nicht die geringste Hoffnung bestand, Eintritt zum Saal zu erlangen. Wenn Volksstimme wirklich Gottes Stimme bedeutete, dann war die Angeklagte so gut wie verurteilt. Unter den vielen Menschen, die die Tür belagerten, waren keine zwei, die Lady Winifred nicht für schuldig hielten. Man verzieh es ihr nicht, daß es ihr gelungen war, aus der Hefe des Volkes heraus zu den Höhen der Glücklichen hinaufzusteigen.

Punkt neun Uhr betrat Sir Algernon in aller Pracht seiner Amtsinsignien den Schwurgerichtssaal, von den Anwesenden respektvoll durch Erheben von den Plätzen begrüßt. Seine Beirichter, ebenfalls in roten Talaren und weißen Perücken, nahmen rechts und links von ihm Platz. Die beiden Vertreter der Anklage traten in eben diesem Augenblick gleichfalls in den Saal und beschäftigten sich, auf ihren Plätzen angekommen, gleichgültig mit ihren Akten. Der Herold begann die Liste der ausgelosten Geschworenen zu verlesen. Da Widerspruch weder von den Vertretern der Anklage noch seitens beider Verteidiger erfolgte, nahm die Zusammenstellung der Geschworenenbank nur wenige Minuten in Anspruch. Als Obmann wurde ein ehemaliger Regierungsbeamter auserwählt, der nun, stolz wie ein Spanier, seinen Platz als erster in der Reihe der Geschworenen einnahm. Sonst wies die Bank keinerlei Besonderheiten auf. Drei oder vier Handwerker, zwei Buchhalter, einige Arbeiter, zwei Adelige und einige andere Berufe repräsentierten alle Schichten des Volkes.

Ein Rauschen ging durch den Saal. Genau elf Minuten nach neun Uhr wurde die Angeklagte in den Saal geführt. Sie war vollkommen schwarz gekleidet. Hocherhobenen Hauptes, nicht einen Augenblick vor den vielen neugierigen Augen den Blick senkend, schritt sie hinter ihrer Aufseherin zur Anklagebank und nahm dort Platz. Den Richter begrüßte sie mit einem leichten Nicken ihres Hauptes, wandte sich zu den Geschworenen, grüßte auch sie und starrte dann nachdenklich vor sich hin.

»Angeklagte, erheben Sie sich«, befahl die knarrende Stimme des Lordrichters. Es sprach Bände, daß er die Angeklagte, trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht mit Namen ansprach.

»Sie sind Winifred, Lady Montauban, geschiedene Gattin des vor einiger Zeit gewaltsam getöteten Lord Montauban?«

»Ja, Mylord.«

»Wir wenden uns nun Ihren Personalien zu. Ich werde sie Ihnen vorlesen, und wenn Sie irgendeinen Irrtum bemerken, dann melden Sie sich bitte.«

Mit gleichmäßiger Stimme las er aus dem dicken Aktenband, den er vor sich liegen hatte, die Personalien der Angeklagten vor. Dann wandte er sich wieder an die ihm lautlos zuhörende Frau:

»Sie werden beschuldigt, Mitwisserin eines Verbrechens gegen das Leben Ihres am 17. Juni dieses Jahres von Ihnen geschiedenen Gatten gewesen zu sein. Weiter behält sich die Anklagebehörde einen weiteren Antrag vor, der Sie beschuldigt, Beihilfe zur Ermordung Ihres geschiedenen Gatten geleistet zu haben, beides Verbrechen, die unter Umständen ein Todesurteil zeitigen können. Was haben Sie dazu zu bemerken? Erkennen Sie sich schuldig oder nichtschuldig, Angeklagte?«

»Nichtschuldig, Mylord.«

»So treten wir in die Beweisaufnahme ein.«

Oberstaatsanwalt Sir John Ruskin, der eine der beiden Vertreter der Anklagebehörde, ein weißhaariger Herr anfang der Sechziger, erhob sich geschmeidig. Seine stahlharten Augen hielt er starr auf die Angeklagte gerichtet.

»Mylord! Meine Herren Geschworenen! Meine Herren Richter! Vor etwa zwei Jahren, genauer gesagt Ende 1930, lernte der uns wohl allen, wenigstens dem Namen nach, bekannte Lord Montauban, früher einer der führenden Industriellen dieses Landes, ein junges Mädchen kennen. Er begegnete ihr in einer Aktionärversammlung, die unter seinem Vorsitz stand. Die Frau, die heute eines schweren Verbrechens beschuldigt, vor uns steht, war jenes junge Mädchen, das einen Posten als Stenotypistin in eben der Gesellschaft versah, deren Haupt Lord Montauban gewesen war. Lord Montauban ließ sich von dem unschuldigen Aeußeren der jungen Dame blenden; jung über seine Jahre hinaus, lebte im greisenhaften Körper Lord Montaubans ein mutiges Herz. Das Mädchen imponierte ihm; schön, stattlich und von gutem Benehmen war es dem jungen Mädchen ein Leichtes, sich an Lord Montauban heranzumachen, nur ein Ziel im Auge, sich den Millionär untertänig zu machen, mit seiner Hilfe die sonst verschlossenen Gesellschaftskreise zu betreten, mit seinem Geld kühnste Träume erfüllt zu sehen. Wovon träumte wohl jenes junges Mädchen, nein, jedes junge Mädchen aus den Kreisen, denen die Angeklagte entstammt? Was ist wohl der wirkliche Grund, der junge Menschen statt an Orte, wo sie etwas lernen könnten, in Filmpaläste gehen läßt, um dort bestätigt zu finden, was sie sich nur in ihren kühnsten Träumen ausmalten: Die Möglichkeit, über ihre Sphäre hinauszuwachsen? Seit dem Krieg hat ein Taumel die Jugend ergriffen. Jeder trachtet, Dinge zu erreichen, die uns, die man als die ›Alten‹ bezeichnet, niemals auch nur in den Sinn kamen. Alle suchen sich zu bereichern. Nicht durch Arbeit, nein, spekulierend, stehlend, durch Betrug und Raub, ja durch Mord, wenn es sein muß. In diesem Fall, der heute hier zur Verhandlung steht, hat die Angeklagte ihr Ziel zur Abwechslung einmal durch Verkauf ihres Körpers zu erreichen versucht.«

Schneidend klangen die Worte des Anklägers durch den Saal. Die Geschworenen hielten ihre Blicke starr auf den Redner gerichtet. Einige der älteren unter ihnen nickten zustimmend, die jüngeren bückten, da auch sie sich getroffen fühlten, mißmutiger drein. Gegen die Jugend von heute richteten sich die Anklagen des Staatsanwalts. Er holte tief Atem. Dann fuhr er fort:

»In einer trüben Umgebung wächst die Angeklagte auf, verbringt sie ihre Kindheit. Unauslöschbar sind die Eindrücke, die der Vater, ein Trunkenbold, mit seinen Mißhandlungen der arbeitsamen Mutter bei ihr hinterläßt. Ein Sehnen lebte in ihr auf, sich selbst ein weicheres Bett zu schaffen, das Elend des elterlichen Hauses zu verlassen, um es nie wieder zu spüren und zu sehen. Was würde ein Mann getan haben, der sich in dieser Lage befand? Er würde vielleicht sein Ziel durch Arbeit und Studium zu erreichen gesucht haben. Ein zweiter begeht Verbrechen, ein dritter verliert den Mut und verläßt freiwillig die Welt. Aber zu allen diesen Dingen gehört eine Eigenschaft, mit der man alles durchsetzen kann. Hartnäckigkeit gehört dazu, und Mut, Mut, um sich mit der Hände ehrlicher Arbeit Raum zu schaffen, Mut, ein Verbrechen zu begehen und die Konsequenzen auf sich zu nehmen, Mut, freiwillig das Leben von sich zu werfen, um es mit etwas Unbekanntem, vielleicht Entsetzlichem zu vertauschen. Was aber tat die Angeklagte? Sie verkaufte sich an einen Mann, von dem sie erwarten konnte, daß er sie von seiner Gegenwart bald befreien und ihr die Früchte ihrer Aufopferung in den Schoß werfen würde. Sie betrachtete sich als Ware, für die Lord Montauban, ihrer Jugend wegen, den höchsten Kaufpreis, seinen Namen und seine Stellung, sein Vermögen zahlen sollte. Materialistisch bis auf die Knochen, bar jedes idealen Instinktes, ging die Angeklagte auf dieses ›Geschäft‹ ein. Glauben Sie, daß Liebe zu dem Siebzigjährigen mitgespielt hätte? Oder, abgesehen von Liebe, Ehrfurcht vor dem Alter, Respekt vor dem erfahrenen Greis? Keine Spur von all diesen Erwägungen, meine Herren. Reiner, nackter Egoismus war es, der die Angeklagte in diese Ehe trieb.«

Sir John machte unbedingt Eindruck, sowohl auf die Geschworenen, als auch auf die Zuhörer. Nur Mylord starrte gelangweilt vor sich hin. Er kannte die Walze, die Sir John eben vor den Geschworenen ablaufen ließ. Auch Sir Malcolm lächelte gelangweilt vor sich hin. Es würde ihm ein leichtes sein, dieses feine Gewebe zu zerreißen. Wenn Sir John nichts anderes in petto hatte als diese Stimmungslandschaft, dann sah es mit der Anklage schlimm aus. Anders wirkte Sir Johns Tirade auf Hans-Lothar und dessen Schwester. Beide sahen die Unglückliche schon verurteilt, sahen sie den Gang zum Galgen antreten, sahen ihr die Kappe über das bildschöne Gesicht gezogen, hörten die Falltür niederkrachen und den herrlichen Körper mit sich reißen.

»Man könnte sich damit abfinden, wenn die Angeklagte nur diesen, immerhin fragwürdigen Schritt in die Ehe mit einem Greis getan hätte.« Die Stimme Sir Johns klang wie Zephyr. Unendliche Wehmut prägte sich in seinen Worten aus, Traurigkeit ob der Verderbtheit der Welt im allgemeinen und der Angeklagten im besonderen. »Sie wollte sich verkaufen? Gut, das war ihre Sache. Daß die Gesellschaft, in die sich die neugebackene Lady eingedrängt hatte, derselben Meinung wie ich war, wird aus den Aussagen der von mir geladenen Zeugen klar und deutlich hervorgehen. Ich ...«

»Einen Augenblick, Sir John«, wurde er von Sir Malcolm unterbrochen, der sich dann erregt an den Vorsitzenden wandte: »Ich erhebe gegen diese Vorwegnahme späterer Zeugenaussagen Einspruch, Mylord. Der Herr Staatsanwalt trachtet auf diese Weise seine Zeugen schon von vornherein auf ihre Aussagen festzulegen.«

Sir Johns Gesicht lief hochrot an. Er kannte Sir Malcolm. Wenn dieser erst einmal anfing, Wortklauberei zu treiben, dann konnte sich die Staatsanwaltschaft auf etwas gefaßt machen.

»Der Herr Vertreter der Anklage wird in Zukunft unterlassen, etwa bevorstehende Zeugenaussagen zur Begründung seiner Ansichten heranzuziehen«, entschied der Lordrichter.

»Man wußte in der Gesellschaft«, fuhr Sir John fort, »was man von einer kaum zwanzigjährigen Frau zu halten hatte, die sich um materieller Vorteile willen und bar jedes anderen Gefühls mit einem Mann verheiratete, der gut und gern ihr Großvater sein konnte. Wie es kommen mußte, so kam es. Man kann sich noch so viele Illusionen über die Vorteile machen, die Geld und Geldeswert dem Leben zu bieten haben. Aber, kein Gold, kein noch so großes Bankkonto kann das Herz befriedigen, wenn ... ja, wenn es inmitten einer, wenn auch goldenen Wüste nur vegetieren soll. Die Angeklagte stellte sich alles wohl recht leicht vor. Du heiratest, so mochte sie sich gesagt haben, den alten Mann, bekommst von ihm, was du begehrst und dann suchst du dir eben etwas für dein Herz, holst dir einen netten Jungen heran, der dich für die Leere deiner Ehe entschädigt. Da taucht dieser Junge ganz von selbst auf. Ein bildhübscher, in allen Sätteln gerechter und auch vielversprechender Schauspieler, ein Mann mit guten Manieren, schmeichelnd und glattzüngig. Erst scherzhaft, dann mit zunehmendem Ernst entspinnt sich ein Geplänkel zwischen der unbefriedigten Frau und dem Manne. Leidenschaft entwickelt sich, vielleicht sogar Liebe, die Liebe, die die Frau vergeblich an der Seite des um so viele Jahre älteren Gatten suchte.«

Wieder erhob sich Sir Malcolm.

»Wir, die wir oft das Vergnügen haben, Sir John als Redner zu hören, sind an seine rhetorischen Uebertreibungen gewöhnt, Mylord. Nichtsdestoweniger möchte ich, um dem Gericht und den Herren Geschworenen ein falsches Charakterbild der Angeklagten zu ersparen, gegen die Aufführung unbewiesener Beweggründe, wie sie Sir John eben beliebte, energisch protestieren. Der Herr Staatsanwalt glaubt, es wagen zu dürfen, die Angeklagte einer Intrige, ja des Ehebruchs beschuldigen zu können. Weder die bisher bekannten Tatsachen, noch das Urteil des die Scheidung aussprechenden Gerichts lassen eine solche Folgerung zu.«

»Sir John wird sich darauf beschränken, nur eindeutig erwiesene Tatsachen zu erwähnen«, knarrte Sir Algernons Stimme.

»Einer Verbindung mit der Geliebten steht der alte Lord im Weg. Wer zuerst den Gedanken faßte, ihn zu beseitigen, weiß ich nicht. Meine Erfahrungen aber als Staatsanwalt lassen es mir zweifelsfrei erscheinen, daß es die Frau war, die zuerst mit dem entsetzlichen Plan zu spielen begann. Sie wird gefolgert haben: Wenn dein Mann stirbt, bist du frei und wirst Geld genug haben, um deinen Wünschen und deiner Sehnsucht entsprechend, deine Zukunft formen zu können. Vielleicht, mag sie weiter gefolgert haben, half ihr ein gütiges Schicksal. Daß die Angeklagte zu diesen Erwägungen fähig war und ist, werden die Herren Geschworenen aus den Aussagen meiner verschiedenen Zeugen entnehmen können. Sie werden manches aufklären, was dem Gerichtshof noch unklar erscheint.«

Sir John setzte sich unvermittelt, um seinem Kollegen, Mr. Whitney Steadney, das Rednerpult freizugeben. Der zweite Staatsanwalt war ein Herr in jüngeren Jahren. Aber er war wegen seiner unabweisbaren Logik bekannt und gefürchtet.

»Ich habe den Ausführungen meines Kollegen, Sir John, nur wenig hinzuzufügen«, begann er schneidend. »Die Anklagebehörde war sich der ungeheuren Verantwortung bewußt, als sie, ohne den Hauptschuldigen gefaßt zu haben, diese Anklage gegen ein Mitglied der Adelsgesellschaft erhob. Die weiteren Ereignisse aber rechtfertigen den Verdacht, den man, nicht nur in unseren Kreisen, sondern auch in den weitesten des Volkes gegen die heute als Angeklagte vor uns stehende Frau hegte. Die Staatsanwaltschaft behält sich vor, am Schluß der Beweisaufnahme nochmals zu plädieren, um auch den hartnäckigsten Zweifler von Lady Montaubans Schuld zu überzeugen. Wenn Mylord gestatten,« er verbeugte sich gegen den Richtertisch, »will ich jetzt den ersten meiner Zeugen aufrufen lassen. Mr. Tim Haley!«

»Hier! Sir!« antwortete eine Stimme aus der Zeugenschar.

»Treten Sie hierher, Mr. Haley. Und die übrigen Zeugen warten solange draußen auf dem Gang«, bestimmte der Vorsitzende. »Sind Sie bereit, hier nach bestem Wissen und Gewissen auszusagen, Mr. Haley, und gegebenenfalls Ihre Aussagen als wahrheitsgemäß zu beschwören? Ich mache Sie gleichzeitig auf die strafrechtlichen Folgen einer, wenn auch nur fahrlässigen Eidesverletzung aufmerksam. Strafen von einem Jahr Gefängnis bis unbeschränkte Zuchthausstrafen stehen auf dieses Verbrechen.«

»Ich werde alles nach bestem Wissen und Gewissen aussagen«, bekräftigte der Zeuge.

»Dann sprechen Sie mir die Eidesformel nach.«

Nach der Vereidigung erhob sich Sir John.

»Sie waren der Kammerdiener Lord Montaubans, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir.«

»Sie haben die Stellung schon seit mehreren Jahren inne?«

»Jawohl, Sir, seit 1917, seit mein Herr sich völlig von den Geschäften zurückgezogen hat.«

»War mit ihm gut auszukommen?«

»Er war eine Seele von einem Menschen.«

»Irgendwelche Streitigkeiten hatten Sie mit ihm nie?«

»Nein, Sir. Lord Montauban behandelte die Dienerschaft und auch mich außerordentlich höflich.«

»Wissen Sie etwas aus der – hm – zweiten Brautzeit des Verstorbenen zu berichten?«

»Lord Montauban kam vor etwa zwei Jahren, kurz ehe er sich mit Lady Winifred verlobte, eines Abends nach Hause und zwar in bester Laune. Er lachte und scherzte mit mir herum, und als ich meine Verwunderung aussprach, daß er, der doch sonst so ernst und unnahbar war, sich in so guter Stimmung befände, erwiderte er mir: ›Ja, mein lieber Haley, ich bin doch noch kein solcher Friedhofskandidat, wie Ihr alle glaubt, nicht zum wenigsten meine Kinder. Ich habe mich heute abend verlobt.‹ Auf meinen etwas verwunderten Glückwunsch, fügte er hinzu: ›Nicht etwa eine alte Schraube‹ – mit Verlaub, Sir, diesen Ausdruck gebrauchte er –, ›sondern mit einem blitzblanken, netten, jungen Mädelchen.‹ Es war nicht meine Sache, irgendwelche Bedenken zu äußern.«

»Wie führte sich Lady Montauban im Hause ein?«

»Sie war zu uns allen sehr nett.«

»Sie war also bei der Dienerschaft beliebt?«

Der Diener zuckte verlegen die Achseln.

»Das gerade nicht, Sir. Da sie, wie wir wußten, aus unseren Kreisen stammte, legte man ihr jedes Wort, das sie sprach, auf die Goldwage. Der passive Widerstand gegen sie ging manchmal so weit, daß man gerade das Gegenteil von dem tat, was sie anordnete.«

»Hatte Lord Montauban von diesem Zustand eine Ahnung?«

»Doch wohl, denn ich hörte selbst einmal, daß sich seine Gattin bei ihm über ein Stubenmädchen beschwerte.«

»Und was erwiderte Ihr Herr?«

»Lady Winifred habe sich sicherlich im Ton vergriffen, als sie der Sünderin Vorhaltungen gemacht hätte.«

»Die Angeklagte fand also bei ihrem Gatten keine Unterstützung?«

»In dieser Beziehung nicht.«

»War die Hausherrin sonst nett zum Personal?«

»Ich wüßte keinen Grund zur Beschwerde.«

»Was wissen Sie von Mr. Macdonald?«

»Er gehörte schon vor der zweiten Heirat Lord Montaubans zu den Gästen des Hauses. Mein Herr verkehrte gern in Bohemekreisen, wo er, wie er sich ausdrückte, seine Jugend wiedergewann.«

»Gehörten auch noch andere Schauspieler zu den ständigen Gästen im Haus Ihres Herrn?«

»Ja, Mr. Morgan, Mr. Hyde und verschiedene andere Herren und auch Damen. Mr. Macdonald aber kam ständig und regelmäßig einige Male in jeder Woche.«

»Aus diesem Grund wurde er wohl auch zur Hochzeitsfeier eingeladen?«

»Jawohl, Sir. Mein Herr ging mit mir die Einladungsliste durch. Als er auf Mr. Macdonald stieß, meinte er, daß man den Herrn doch wohl auch zum Essen einladen müsse. Es geschah dann auch.«

»Als nun die neue Hausherrin einzog, kam dann Mr. Macdonald immer noch regelmäßig mehrere Male in der Woche?«

»Anfänglich, das heißt bis etwa drei Monate nach der Rückkehr des neuvermählten Paares seltener. Dann aber setzten seine wöchentlich mehrmaligen Besuche regelmäßig wieder ein.«

»War bei diesen Besuchen des Schauspielers Ihr Herr immer anwesend?«

»Selten. Er ging meist gegen acht Uhr in seinen Klub; gegen elf Uhr, nachdem Mr. Macdonald schon gegangen war, kam Lord Montauban wieder nach Hause.«

»Wie verbrachten Ihre Herrin und der Besucher die Abende?«

»Mr. Macdonald las ihr aus seinen Rollen vor; gegen neun Uhr wurde gespeist, was bis gegen zehn dauerte. Dann blieb Mr. Macdonald noch eine halbe oder ganze Stunde bei der Herrin im Salon und ging fort, noch ehe, wie ich schon bemerkte, Lord Montauban kam.«

»Glauben Sie, daß Mr. Macdonald einen besonderen Grund hatte, seine Besuche nicht bis zur Heimkehr des Hausherrn auszudehnen?«

»Nein, Sir, darüber kann ich nichts aussagen.«

»Sie haben bei einer früheren Vernehmung ausgesagt, daß kurz nach der Scheidung Ihr Herr mit Mr. Macdonald nach Hause kam, obwohl ihm doch bekannt sein mußte, welche Rolle der Mann in seiner Ehe gespielt hatte. Haben Sie Gelegenheit gehabt, etwas über die Gründe dieses Besuches zu erfahren?«

»Nur aus dem Mund dritter, Sir.«

»Erzählen Sie.«

Sir Malcolm sprang auf.

»Ich erhebe dagegen Einspruch, Mylord, daß der Zeuge Haley gehalten werden soll, hier als eigene Aussage zu bringen, was er nur von dritten, unverantwortlichen Personen erfahren hat.«

»Der Zeuge wird sich auf Aussagen beschränken, die er aus eigener Kenntnis der Dinge zu machen imstande ist. Was er von dritter Stelle erfahren hat, soll er unerwähnt lassen.«

»Ich werde auch jene Dritte den Zeugenstand betreten lassen, Mylord«, schnarrte Sir John.

»Dann werden wir ja hören, was sie auszusagen haben«, vertröstete ihn Mylord.

»Sie können also aus eigenem Wissen über die Gründe, die Mr. Macdonald veranlaßten, Ihren Herrn zu besuchen, nichts aussagen?« mischte sich der zweite Staatsanwalt ins Verhör.

»Einige Worte aus ihren Gesprächen konnte ich erhaschen, Sir«, versetzte, ein wenig verlegen, Haley.

»Sie lauschten?« fuhr Sir Malcolm dazwischen.

»Zufällig, Sir«, gab der Zeuge zu.

»Was hörten Sie?« fragte Mr. Steadney.

»Lord Montauban machte seinem Besucher Vorwürfe, daß er sein Vertrauen mißbraucht habe.«

»Und was erwiderte der Gast?«

»Er brauche sich Lady Montauban gegenüber keinerlei Vorwürfe zu machen. Ihr Verkehr hätte sich in den besten Formen abgespielt. Was man auch immer behaupte, fuhr Mr. Macdonald fort, weder er noch Lady Winifred hätten Veranlassung gegeben, daß es zur Scheidung kam.«

»Was antwortete ihr Herr darauf?«

»Er wollte natürlich nicht glauben, was ihm Mr. Macdonald erzählte, aber der andere blieb auf seinen Aeußerungen bestehen.«

»Verlief die Unterredung irgendwie stürmisch?«

»Nur anfänglich. Später trennten sich die Herren im besten Einvernehmen.«

»Wie lange dauerte der Besuch?«

»Einige Stunden.«

»Sonst haben Sie nichts zu berichten?«

»Nein, Sir.«

»Ich gebe den Zeugen zum Kreuzverhör durch den Herrn Verteidiger frei.«

Sir Malcolm erhob sich wie ein zum Sprung bereiter Löwe. Er hatte mit diesem Zeugen, der sich als ein so vorzüglicher Horcher erwiesen hatte, verschiedene Hühnchen zu rupfen.

Der Diener musterte den Verteidiger mit mißtrauischen Blicken. Er schien von ihm nichts Gutes zu erwarten. Schon die erste Frage Sir Malcolms bewies Tim Haley, daß seine Befürchtungen berechtigt waren.

»Welchen Beruf übten Sie aus, Herr Zeuge, ehe Sie von Lord Montauban als Diener engagiert wurden?«

»W–e–l–ch–e–n Beruf ich ausübte?« wiederholte stotternd und verlegen der Gefragte.

»Ja, so lautete meine Frage.«

»Ich war im Feld.«

»Bis wann und von wann ab?«

»Ich wurde 1917 als Invalide entlassen und trat daraufhin sofort die Stelle bei Lord Montauban an.«

»Wann wurden Sie eingezogen?«

»Am 19. September 1914. Ich wurde im März fünfzehn mit der sogenannten ›Kitchener Armee‹ nach Flandern gesandt.«

»Zogen Sie sich beim Militär irgendeine Strafe zu?«

»Nur disziplinare, Sir.«

»Sie sind also unbestraft, wie?«

Der Zeuge antwortete nicht.

»Ich meine natürlich unbestraft beim Militär, Herr Zeuge.«

»Ich wurde beim Militär mit alleiniger Ausnahme einer disziplinaren Haft nicht bestraft.«

»Und vor Ihrem Eintritt zum Militär?«

Der zweite Staatsanwalt erhob sich auf einen Wink seines vorgesetzten Kollegen:

»Ich widerspreche dieser Art von Kreuzverhör, Mylord«, wandte er sich an den Vorsitzenden. »Das Vorleben des Herrn Zeugen hat mit dem hier zur Verhandlung gelangenden Fall nicht das geringste zu tun.«

Sir Malcolm lächelte boshaft.

»Ich weiß nicht, inwieweit die Herren Vertreter der Anklagebehörde über das Vorleben des Zeugen unterrichtet sind«, gab er scharf zurück. »Mich, als Verteidiger Lady Montaubans, interessiert es jedenfalls, die Glaubwürdigkeit des Zeugen Haley hier erhärtet zu sehen. Ich bitte, Mylord, den Einspruch des Herrn zweiten Staatsanwalts zurückzuweisen.«

Der Vorsitzende hatte seine Entscheidung im Augenblick getroffen.

»Soweit sich die Fragen des Herrn Verteidigers darauf beschränken, uns über die Glaubwürdigkeit des Herrn Belastungszeugen aufzuklären, sehe ich in ihnen nichts, was zu beanstanden wäre. Bitte, Herr Zeuge, beantworten Sie die Fragen Sir Malcolms.«

»Vor meinem Eintritt zum Militär,« bequemte sich nun Tim Haley zu antworten, »verbüßte ich eine – – Strafe.« Er zögerte, als suche er einen minder anzüglichen Ausdruck.

»Sie verbüßten eine Strafe? Welcher Art?« bohrte der andere weiter in der offenen Wunde des Zeugen.

»Gefängnis, Sir.«

»Wie lange?«

»Ein Jahr.«

»Warum?«

»Ich brauchte damals Geld. Ein Bekannter von mir hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Ich erfuhr dies und ersuchte ihn um ein Darlehen. Dann ...«

»Also wegen Erpressung«, unterbrach ihn Sir Malcolm, das Kind beim rechten Namen nennend.

»Der mich verurteilende Richter bezeichnete es so«, gab der Zeuge widerwillig zu.

»Das war Ihr einziger Konflikt mit den Strafgesetzen?«

»N–e–i–n.«

»Nun?«

»Zwei Jahre vorher wurde ich zum erstenmal verurteilt.«

»Wie lange?«

»Neun Monate.«

»Dreiviertel Jahr als erste Strafe? Sie müssen sich eines ziemlich schweren Vergehens schuldig gemacht haben. Was war es denn?«

»Wegen einer ähnlichen Sache wie zwei Jahre später.«

»Also wegen Erpressung?«

»Jawohl, Sir«, erwiderte trotzig der Zeuge, der nun, nachdem die Katze aus dem Sack war, gleichgültig wurde.

Triumphierend wandte der Verteidiger sich an die Geschworenen.

»Und diesen Zeugen, der bereits zweimal wegen Erpressung vorbestraft ist, bringt uns der Herr Staatsanwalt hierher, um Zeugnis gegen eine unbescholtene Frau abzulegen.«

Der Obmann der Geschworenen machte sich eifrig Notizen. Aber auch Sir Algernon konnte sich eines leisen Lächelns über die Geschicklichkeit Sir Malcolms nicht erwehren. Nur die beiden Staatsanwälte machten, als sie bei diesem ihrem Hauptzeugen die Felle davonschwimmen sahen, ein süßsaures Gesicht. Aber Sir Malcolm hatte noch lange nicht seine Reserven sämtlich ins Feld geführt. Er wandte sich an den Zeugen, der den neuen Angriff mit einer aus Trotz und Verlegenheit gemischten Miene erwartete.

»Sie waren also, ehe Sie ins Feld zogen, zweimal wegen Erpressung vorbestraft und hatten beide Strafen verbüßt, wie?«

»Jawohl, bis auf den letzten Tag.«

»In welcher Anstalt saßen Sie Ihre Strafen ab?«

»Beide in Wormwood Scrubbs, Sir.«

»Welche Arbeit wurde Ihnen zugewiesen?«

»Ich war in der Bücherei.«

»Sie haben sich gut geführt?«

»Jawohl, Sir«, erwiderte freudig der Gefragte.

»Wurden demzufolge gut behandelt?«

»Ich hatte über nichts zu klagen.«

»Das erklärt auch, warum Sie sofort nach Ihrer Entlassung aus der Armee, und ehe Sie Ihren Posten bei Lord Montauban antraten, sich wiederum straffällig machten, und zwar, wie ich hier betonen möchte, wegen erneuter Erpressung. Stimmt das?«

»Ja–a.«

»Was bekamen Sie diesmal?«

»Achtzehn Monate, Sir.«

»Die Sie wo verbüßten?«

»In Dorchester.«

»So, also begingen Sie die strafbare Handlung diesmal nicht in London, wie?«

»Nein.«

»Wie kamen Sie nach Dorchester?«

Der Zeuge antwortete nicht.

»Ich frage Sie, wie Sie nach Dorchester kamen?«

Hilfesuchend blickte der Zeuge zu den beiden Staatsanwälten hinüber. Aber diese saßen über ihre Akten gebeugt und konnten oder wollten ihm nicht helfen.

»Nun?« klang die Stimme Sir Malcolms schneidend durch den Saal.

»Ich war von London aus hinüber gefahren«, gab Haley endlich Auskunft.

»Um die Erpressung zu begehen.«

»Ja.«

Der Verteidiger wandte sich an die Geschworenen:

»Ich habe den Straffall, der dem Zeugen die letzten achtzehn Monate eingebracht hatte, eingehendst studiert, meine Herren. Ich werde mit Ihrer Erlaubnis, Mylord,« er verbeugte sich gegen den Vorsitzenden, »gerade auf diese letzte Strafsache Haleys ausführlicher eingehen.«

Der Lordrichter nickte.

»Sie fuhren nach Dorchester, um dort eine Erpressung zu begehen, nicht wahr?« fuhr Sir Malcolm fort, den Zeugen zu foltern. »Wer sollte denn damals Ihr Opfer werden?«

Der Zeuge schwieg.

»Beantworten Sie die Frage, Herr Zeuge«, knarrte die Stimme des Vorsitzenden durch die im Saal herrschende Spannung.

»Ich – ich – – ich – – –«

»Nun«, trieb ihn der Verteidiger an.

»Ich wollte einen meiner Offiziere aus dem Feld aufsuchen.«

»So? Wie hieß denn der Offizier?«

»Oberleutnant Tremayne.«

»So? Oberleutnant Tremayne? Was wußten Sie denn von ihm, um daraufhin Erpressungen auszuüben?«

»Das sage ich nicht.«

»Sie werden die Fragen des Herrn Verteidigers beantworten«, mahnte Sir Algernon.

Haley machte den Eindruck einer zum letzten Kampf in die Ecke getriebenen Ratte. Ein krankhaftes Grinsen verzerrte sein Gesicht. Er war leichenblaß geworden. Jetzt erst schien ihm die Ahnung aufzugehen, daß jener entsetzliche Mensch, Sir Malcolm, doch wohl besser über ihn, den Zeugen, unterrichtet war, als er geglaubt hatte.

»Oberleutnant Tremayne war im Feld mein Kompagnieführer und ...«

»Nun?«

»Hatte sich bei einem Angriff auf die Deutschen versteckt.«

»Sie erpreßten ihn also der Feigheit eines Augenblicks wegen, wie?«

Der andere nickte verstört.

»Um das Verhör dieses Zeugen nicht zu lange auszudehnen, Mylord und meine Herren Geschworenen,« wandte sich nun der Verteidiger an jene, »will ich das Gedächtnis dieses Herrn Haley ein wenig unterstützen und die Vorgeschichte dieses letzten Konfliktes des Zeugen mit den Strafgesetzen selbst erzählen. Haley wurde, wie er richtig aussagte, 1917 entlassen. Kurz vorher hatte er an der Somme einen Sturmangriff gegen die Deutschen mitgemacht. Er kam mit einer Schußwunde in der linken Hand aus dem Gefecht zurück. Da die Wundränder Brandspuren aufwiesen, glaubte man ihm seine Geschichte, daß er durch einen Gewehrschuß verwundet worden sei, nicht, sondern klagte ihn der Selbstverstümmlung an. Er berief sich auf das Zeugnis seines Kompagnieführers, eben jenes Oberleutnants Tremayne, der denn auch die Aussagen Haleys bestätigte. Kurz darauf wurde er entlassen. In der Gerichtsverhandlung, die im Jahre 1918 gegen ihn wegen Erpressung stattfand, versucht an seinem früheren Kompagnieführer, drehte dieser den Spieß um und zeigte ihn an. Während des Augenblicks, da Haley angeblich vor dem Feind verwundet worden war, hatte sich Oberleutnant Tremayne, der kurz vorher einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, vor dem Sturmangriff versteckt, hatte diesen also gar nicht mitgemacht. Die Aussage des Kompagnieführers, daß er Zeuge gewesen sei, als Haley verwundet worden wäre, beruhte also auf Unwahrheit. Das wußte Haley. Aus diesem Wissen heraus versuchte er Oberleutnant Tremayne zu erpressen. Dieser aber, der selbst unvermögend war, sah voraus, wie es kommen würde, wenn er jenem Gesellen dort nachgab. Er zeigte ihn an. Nach der Verurteilung Haleys jagte sich Oberleutnant Tremayne aus uns nur allzu verständlichen Gründen eine Kugel durch den Kopf.«

Ein Rauschen ging durch den Saal, sofort vom Vorsitzenden unterdrückt. Aber Sir Malcolm war mit dem Zeugen noch nicht fertig. Er holte zu den letzten, vernichtenden Schlägen aus.

»Kennen Sie den jetzigen Lord, den ältesten Sohn Ihres verstorbenen Herrn?« klang es wie ein Schuß durch den Saal.

»Jawohl, Sir.«

»Kannten Sie den jetzigen Lord Montauban, ehe Sie von dessen Vater als Diener engagiert wurden?«

»Nein – – ja, Sir.«

Man hätte eine Stecknadel im Saal zu Boden fallen hören können, so still wurde es nach dieser in zögerndem, beinahe ängstlichem Ton gegebenen Antwort des Zeugen.

Durch die hohen, mit künstlerisch ausgeführten Glasmalereien bedeckten Fenster huschte ein verspäteter herbstlicher Sonnenstrahl ins Gemach. Vom Richtertisch aus wanderte er langsam bis zur Anklagebank hinüber und zauberte flimmerndes Gold auf das bleiche Gesicht der Angeklagten.

»Sie kannten also den jetzigen Lord schon seit längerer Zeit, wie?«

»Jawohl.«

»Wo und wann lernten Sie ihn kennen?«

Verstohlene Blicke huschten zur Zeugenbank, die jetzt noch leer war, auf der aber binnen kurzem der Mann Platz nehmen sollte, von dem hier in so merkwürdiger Verbindung die Rede war. Der junge Lord Montauban aber saß in dem für die Zeugen reservierten Zimmer und las gemächlich seine Zeitung, ohne eine Ahnung, was sieh indessen im Saal zutrug.

»Ich lernte ihn – – hm – – kennen, als ich das erste Mal vor Gericht stand.« Der Mann mochte in diesen Augenblicken die Hölle auf Erden durchmachen. Seine Augen flackerten in dem todbleichen Gesicht, als verzehre ihn eine innere Glut. Hilflos blickte er nach allen Seiten, ob sich ihm nicht ein Weg zum Entkommen vor dieser schrecklichen Stimme böte.

»Sie kannten also den Herrn seit 1911?«

»Jawohl.«

»Unter welchen Umständen lernten Sie, der Sie als Angeklagter vor Gericht standen, den ältesten Sohn Ihres späteren Herrn kennen?«

»Der junge Herr hatte sich erboten, für mich Bürgschaft zu leisten.«

»Für Sie, den Fremden?«

Der andere nickte.

»Ich war ihm nicht mehr fremd.«

»Wieso?«

»Wir hatten uns des öfteren in Nachtlokalen getroffen.«

»Die er als Gast besuchte, nicht wahr? Und Sie?«

»Ich war dort Kellner.«

»Schlossen Sie auch noch mit anderen Gästen des Lokals Bekanntschaft der Art, daß jene für Sie Bürgschaft geleistet hätten?«

»Einige wenige, Sir, aber mit dem jungen Herrn war ich besonders bekannt.«

»Standen Sie vielleicht zu ihm in irgendwelchen finanziellen Beziehungen?«

»Ich hatte ihm des öfteren, wenn er ›blank‹ war, Geld geliehen.«

»Bekamen Sie es zurück?«

»Meist schon wenige Tage später. Der junge Herr hatte immer Geld; nur wenn der Poker, zu dem er sich meist mit einigen seiner Freunde zusammenfand, besonders verlustreich für ihn ausging, griff er auf mich zurück.«

»Wie hoch beliefen sich wohl die Summen, die Sie ihm liehen?«

»Von drei bis fünfzig Pfund.«

»Waren Sie denn so gut mit Geld versehen, um derartige Summen auszuleihen?«

»Ich verdiente gut.«

»Ich stelle fest, Mylord und meine Herren Geschworenen,« richtete nun Sir Malcolm seine Worte an den Gerichtshof, »daß der Zeuge Haley zur Zeit, als Lord Montauban ermordet wurde, bei dem Verstorbenen etwa fünfzehn Jahre im Dienst war, und ich weise ferner darauf hin, daß er den jetzigen Lord Montauban, den ältesten Sohn des Ermordeten, bereits über zwanzig Jahre kannte, als das bedauerliche Verbrechen sich ereignete. Da es nahe am Mittag ist, stelle ich den Antrag, Mylord, die Verhandlung bis zum Nachmittag zu vertagen. Um den Zeugen Haley, mit dem ich noch lange nicht fertig bin, davor zu schützen, sich von dritten Personen in seinen weiteren Aussagen beeinflussen zu lassen, bitte ich, Mylord, den Zeugen bis zum Wiederbeginn der Verhandlung unter gerichtliche Aufsicht zu stellen.«

»Ich vertage die Verhandlung bis 14 Uhr. Der Zeuge Haley ist bis zum Wiederbeginn der Verhandlung ständig von zwei Gerichtsdienern zu begleiten. Sie sollen verhindern, daß sich der Zeuge mit irgend jemand während der Pause unterhält.«

Mylord ergriff sein Barett und stand auf. Sämtliche Anwesenden erhoben sich, als der Gerichtshof den Saal verließ. Dann aber setzte ein Raunen und Rauschen unter den Zuhörern ein, das erst durch die gebieterischen Ordnungsrufe der Herolde langsam zum Abebben gebracht wurde.

Hans-Lothar und Liddy erwarteten den Verteidiger vor der Tür und streckten ihm beglückwünschend die Hände hin. Lächelnd drückte sie Sir Malcolm.

»Wir wollen unsere Hoffnungen nicht zu hoch schrauben,« lachte er, »aber ich glaube, es ist mir gelungen, eine erste Bresche in den Panzer der Anklagebehörde zu schlagen. Wenn Freund Haley am Nachmittag nicht versagt, glaube ich, auf einen Freispruch, zumindest mangels Beweisen rechnen zu können.«

Hans-Lothar schüttelte bedenklich den Kopf.

»Ich glaube kaum, daß Lady Winifred mit einem solchen Losspruch gedient sein würde. Ihr Ruf wäre, spricht man sie mangels Beweisen frei, wohl für immer zerstört. Und von diesem ihrem Ruf hängt nicht nur für sie, sondern auch für mich viel ab. Niemals würde mein Vater sein Einverständnis zu meiner Ehe mit ihr geben, wenn ich ihn nicht auf das bestimmteste von der Schuldlosigkeit Lady Winifreds überzeugen könnte. Schon der Scheidungsprozeß dürfte mir Schwierigkeiten bei den Eltern machen. Nun noch ein Freispruch, weil man ihr nichts nachweisen konnte? Unmöglich.«

»Ein solcher Freispruch würde einen dicken Strich durch Hans-Lothars Absicht, Lady Winifred zu seiner Gattin zu machen, ziehen«, stimmte Liddy dem Bruder bei.

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Sir Malcolm. »Wenn nichts Unvorhergesehenes eintritt, glaube ich an einen vollen Losspruch. Schade, daß man Graves noch nicht ergriffen hat. Er würde, davon bin ich fest überzeugt, die dichten Schleier, die jetzt noch über den Tod seines Schwagers gebreitet liegen, lüften können.«

»Ich habe noch nicht erfahren, was eigentlich Wilkens ausgesagt hat«, warf Hans-Lothar ein.

»Nicht viel mehr, als wir schon wissen, Herr von Weiße,« erwiderte der Anwalt. »Wilkens wiederholte, daß er von Graves bestimmt worden sei, bei dessen Fischzügen hilfreiche Hand zu leihen. In der Kiste, die den Körper Macdonalds barg, sollten, wie Graves Wilkens erklärte, Netze und Fischreusen verpackt gewesen sein. Erst an Bord der Schaluppe habe er zu vermuten begonnen, was in der Kiste sei. Da aber war es wie er vorgibt, für ihn zu spät, noch irgend etwas gegen Graves zu unternehmen. Er habe aber, so sagt Wilkens weiter aus – und ich habe keinen Grund, an der Wahrheit dieser Aussagen zu zweifeln –, Graves gleich gesagt, daß die ›Sache‹ wohl schief gehen würde. Er befürchtete, von seiner Geldgier ganz zu schweigen, daß er von Graves, weigerte er sich, dessen Anordnungen Folge zu leisten, genau so wie Macdonald behandelt werden würde.«

»Halten Sie Graves auch für den Mörder seines Schwagers?« fragte Liddy, während sie gemeinschaftlich dem Lunchroom zuschritten.

»Offen gestanden, nein. Er hätte von Montaubans Tod keinen Vorteil gehabt. Daß er aber weiß, wer der Mörder ist, das bezweifele ich keinen Augenblick.

»Glauben Sie, daß der jetzige Lord Montauban seine Hand bei der Ermordung des Vaters im Spiel gehabt hat?«

»Nein, bestimmt nicht, obwohl meine Fragestellung an den Zeugen Haley manchen auf diese Vermutung gebracht haben mag. Lord Montauban ist von jemandem ermordet worden, den zu schützen sowohl der Sohn, als auch der Schwager des Toten alle Ursache haben müssen.«

»Hm. Dunkel ist der Rede Sinn,« meinte Hans-Lothar, als sie eben das Restaurant betraten, das sie auf Vorschlag Sir Malcolms aufgesucht hatten.

»Es wird sich noch alles aufklären. Bedauerlich aber,« fügte der Anwalt hinzu, »daß wir Graves nicht als Zeugen vernehmen können. Von ihm hätten wir bestimmt allerlei erfahren können.«


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