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XV. Kapitel.
Boscombe faßt einen Entschluß.

Am Abend des der Ermordung Haleys folgenden Tages hatte Boscombe Sir Malcolm, von Lersdorff und Hans-Lothar in die Amtsräume des Verteidigers bestellt. Dieses dringende Verlangen des Detektivs, sich über den bisherigen Verlauf des Prozesses auszusprechen, war den übrigen Teilnehmern an der Beratung nicht unwillkommen gewesen. Im allgemeinen herrschte zwar die Auffassung vor, daß es zu einem Freispruch kommen würde. Jedoch, und das war für Hans-Lothar ausschlaggebend, würde, solange die wirklichen Täter nicht gefunden und verurteilt waren, immer noch ein gewisser Verdacht an Lady Winifred hängen bleiben. Man konnte folgern, daß sie sich zwar nicht an der Ausführung des Verbrechens beteiligt, dieses jedoch mit vorbereiten geholfen habe. Daß diese Auffassung nicht abwegig war, bewies die Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft es bisher noch nicht der Mühe für wert gehalten hatte, die Anklage überhaupt fallen zu lassen. Nur das Geständnis eines der Täter konnte diese Lücke füllen. Auch in London pflegt man keinen zu hängen, man hätte ihn denn. Mit Ausnahme des Dieners Haley wußte man nichts vom gegenwärtigen Aufenthaltsort der Verdächtigen. Haley aber würde nie mehr den Mund zu einem Geständnis öffnen können. Seine Beseitigung deutete darauf hin, daß er seinem Mörder unbequem geworden war! Warum? Wahrscheinlich, weil er im Prozeß Montauban nicht dicht gehalten hatte. Boscombe machte sich die größten Vorwürfe, daß er Haley nicht eher festgesetzt hatte. Er hatte ihn nicht verhaften lassen, weil er immer noch gehofft hatte, Tim Haley würde ihn nicht nur auf Grootmans, sondern auch auf die Spuren Graves, des Mörders Macdonalds, führen und ihm die Handhabe geben, die wirklich Schuldigen vor ihre Richter zu schleppen. Zum Entschluß Boscombes, Haley vorläufig ungeschoren zu lassen, hatte auch die unvorhergesehene Lösung des Rätsels Macdonald beigetragen. Auf Wunsch des Detektivs hatte sich Scotland Yard bereit gefunden, die Auffindung der Leiche des Schauspielers vorläufig geheimzuhalten. Erst im Verlauf des Prozesses Montauban ließ man die Bombe platzen, da man wußte, daß die Publizität des Gerichtssaales genügen würde, um Graves wissen zu lassen, daß sein letztes Verbrechen, oder vielmehr das Opfer desselben, entdeckt worden war. Immer noch deuteten, darauf wies Boscombe die anderen Herren hin, verschiedene Indizienbeweise auf eine Blutschuld des Schauspielers. Daß Macdonald wirklich der Mörder Montaubans war, bezweifelte Boscombe. Er glaubte, daß allein die Tatsache der Anwesenheit Macdonalds in Holscombe erst den wirklichen Täter auf den Plan, Montauban zu beseitigen und den Schauspieler mit der Tat zu belasten, gebracht hatte. Warum hätte sich der harmlose Mensch – Macdonald genoß diesen Ruf – verleiten lassen sollen, eine Blutschuld auf sich zu laden? Die Ehe Winifreds war geschieden worden; er wußte, daß nicht das geringste zwischen den beiden jungen Leuten vorgekommen war, was überhaupt eine Scheidung rechtfertigen konnte. Daß Macdonald durch den Prozeß in England unmöglich geworden war, bot noch lange keine Erklärung für die Tat. Während sich Macdonald nachgewiesenermaßen in Holscombe aufhielt, mußte auch der wirkliche Mörder dort geweilt haben. Hier gab es Zusammenhänge, die man zwar vermuten, vorläufig aber nicht nachweisen konnte.

In seinen Ausführungen zeichnete Boscombe die bisher gemachten Feststellungen vor seinen Zuhörern auf. Wer hatte ein Interesse daran, Macdonald, und mit ihm Lady Winifred, mit dem Mord zu belasten? Graves? Grootman? Haley, Perth? Oder ein vorläufig noch Unbekannter? Und wenn das letztere der Fall war – wer war es, dem ein verfrühter Tod Lord Montaubans die größten Vorteile bringen konnte?

»Ich hielt unsere heutige Zusammenkunft für ratsam, meine Herren. Die Lage verlangt gebieterisch eine Aussprache. Sie, Sir Malcolm, werden am ehesten in der Lage sein, die juristischen Auswirkungen meiner Ausführungen zu erkennen. Deshalb machte ich von Ihrer liebenswürdigen Einladung, die Versammlung hier stattfinden zu lassen, Gebrauch.«

Nun fuhr Boscombe fort, in großen Strichen die Lage zu umreißen, wie sie sich ihm nach den bisherigen Ermittlungen darstellte. Er kam auf die Anfangsstadien des Falles Montauban zu sprechen, wiederholte, wie man die Leiche des greisen Lords entdeckte, welche Folgerungen man aus der zeitlich mit der Entdeckung zusammenfallenden Reise Lady Winifreds gezogen hatte, erwähnte die Gründe, die die Staatsanwaltschaft zu ihren Maßnahmen gegen die geschiedene Gattin veranlaßt haben mochten und schloß endlich mit dem Hinweis auf die gegenwärtige Lage. Inzwischen seien Macdonald und Haley ermordet worden. Im Fall des Schauspielers bestände hinsichtlich des Täters wohl kaum ein Zweifel. War der Mörder Macdonalds der gleiche, der Haley und Montauban auf dem Gewissen hatte? Hatte Macdonald gewußt, wer der Mörder Montaubans war, und mußte er deshalb sterben? Bestätigte nicht Haleys Beseitigung diesen Verdacht? Hatte der Täter auf sein bewährtes Mittel zurückgegriffen, Mitwisser stumm zu machen? Wenn ja, dann war Graves der Mörder Montaubans und Haleys.

»Ich bin nicht dieser Meinung. Graves hat unstreitig Macdonald auf dem Gewissen. Mit der Ermordung Montaubans und Haleys hat er bestimmt nichts zu tun gehabt. Von beiden Verbrechen hätte er keinerlei Vorteile gehabt. War Grootman der Täter? Im Fall Montauban bestimmt nicht. Zweifelhaft wäre dies nur im Fall Haley. Wo halten sich die gesuchten Herren auf? In London. Warum? Die Polizei ist von mir gewarnt. Flughäfen, Bahnhöfe, Automobilunternehmen sind auf dem »qui vive«. Das Land ist zu dicht besiedelt. Privatflugzeug? Nein, es ist unmöglich, etwa heimlich Flugzeuge starten zu lassen. Würde irgendwo nächtlicherweile ein Luftfahrzeug beobachtet worden sein, wäre es den lokalen Autoritäten zu Ohren gekommen und auf diesem Weg zur Kenntnis Scotland Yards gelangt. Nichts dergleichen ist bisher gemeldet worden. Boote? Nein, Sir Malcolm, auch an eine Flucht über den Kanal glaube ich nicht. Seit dem Weltkrieg sind die Küsten Englands zu gut bewacht, um auch nur einem Kahn Landung oder Entkommen zu ermöglichen. Infolge der neuen Schutzzölle hat man die Beamten vielfach verstärkt aufgestellt. Man beobachtet alle Landungsstellen, um den Schmuggel zu verhindern. Hätte man ein Boot bemerkt, würde es gemeldet worden sein. Die beiden befinden sich bestimmt noch in London. Sie zu finden, muß unsere nächste Aufgabe sein. Ich habe mir diesbezüglich bereits einen kleinen Plan ausgedacht, zu dessen Ausführung ich allerdings Ihrer Mithilfe, meine Herren, bedarf.«

Boscombe stärkte sich durch einen Schluck des ausgezeichneten Rheinweins, den Sir Malcolm seinen Gästen vorgesetzt hatte. Der Detektiv war nun bereit, die auf ihn etwa hereinstürmenden Fragen zu beantworten und seinen Plan bekannt zu geben. Der erste, der sich an ihn wandte, war der Baron, der seit seiner Ankunft in England bisher nur für Liddy Augen gehabt, nun aber endlich auch sein Interesse für die künftige Schwägerin erwachen fühlte.

»Ich bin der Meinung, daß wir vor allen Dingen für einen Freispruch der Angeklagten zu sorgen haben. Herr von Weiße,« er nickte seinem künftigen Schwager freundlich zu, »wird sich bestimmt nicht daran stoßen, ob hier in England noch irgendwelche Zweifel an Lady Winifreds Schuldlosigkeit bestehen. Er wird seine künftige Gattin nach Deutschland bringen, und meinen Landsleuten wird es gleichgültig sein, ob man hier an Lady Winifred zweifelt oder nicht. Ein Freispruch, unter solchen Umständen gefällt, wird keinen Menschen an Frau von Weiße zweifeln lassen.«

»Er ist aber noch gar nicht so sicher«, versetzte Boscombe. »Nach englischem Gesetz darf der Gerichtshof die Verhandlung gegen einen Angeklagten solange vertagen, bis die übrigen Beschuldigten gleichfalls vor Gericht gestellt werden können, bezw. neue, ausschlaggebende Zeugen herangeholt worden sind.«

»Mr. Boscombe hat recht, Herr Baron«, pflichtete der Anwalt bei. »Wenn auch bei uns keine Zweifel an der Schuldlosigkeit Lady Montaubans bestehen mögen – einen ausschlaggebenden Einfluß übt dieser Glaube auf die Entscheidungen eines Schwurgerichts nicht aus. Nehmen Sie den Fall an, es erfolge eine Verurteilung. Wir hätten dann in relativ kurzer Zeit dem Apellationsgericht die neuen wichtigen Unschuldsbeweise für Lady Winifred beizubringen. Gelingt uns dies nicht rechtzeitig, dann wird das Urteil rechtskräftig.«

»Ich darf es auch nicht riskieren, Gerhard,« wandte sich Hans-Lothar an den künftigen Schwager, »meinen Eltern eine Schwiegertochter zu bringen, an der auch nur ein Tadel hängengeblieben ist.«

Nun wandte sich die Diskussion dem Plan Boscombes zu.

»Zwei Fragen gilt es zu beantworten, meine Herren«, begann der Detektiv. »Die eine ist schon zufriedenstellend erledigt: Die beiden Flüchtlinge haben England bezw. London bestimmt noch nicht verlassen können, befinden sich also noch in Reichweite der englischen Polizei. Die zweite Frage ist die: Wo werden die beiden zu finden sein?«

»Es wird schwer halten, darauf eine zufriedenstellende Antwort zu finden«, meinte Hans-Lothar mutlos.

»Nicht so schwer, wie Sie denken, Herr von Weiße. Sowohl Graves als auch Grootman sind der Polizei bekannt; beiden hat man verschiedentlich schon das Handwerk legen müssen, was natürlich nicht ohne nähere Bekanntschaft mit beiden gelingen konnte. Scotland Yard kennt unsere Freunde.«

»Und welche Folgerungen ziehen Sie daraus?« wollte von Lersdorff wissen.

Boscombe lachte.

»Wenn irgendwo ein Diebstahl begangen wird,« fragte er, »wo wird man wohl den Täter nicht suchen?«

Die drei Herren starrten ihn an.

»Nun? Sind Sie stumm geworden? Ich fragte, wo man den Dieb wohl nicht suchen wird? Wo die Tat verübt wurde, nicht wahr? Jeder, der sich mit der Frage beschäftigt hat, wird antworten: Der Dieb wird so viel wie möglich Entfernung vom Tatort zu gewinnen suchen, schon ehe die Nachforschungen beginnen. Auf Punkt A. hat B. einen Diebstahl begangen. Ich weiß nicht, wo man ihn suchen würde, aber wo man ihn nicht vermuten würde, wäre bestimmt auf Punkt A., nicht wahr, denn niemand wird an eine derartige Frechheit glauben wollen. Wo wird sich also der kluge Dieb B. hinwenden? Nirgendwohin; er wird in A. bleiben. Bekanntlich können viele Leute – auch die Beamten von Scotland Yard bilden davon keine Ausnahme – zwar kilometerweit, nicht aber über ihre Nasenspitze hinweg sehen. Damit würde ich rechnen, wenn ich von der Polizei gesucht würde. Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich Verbrecher meist in der Nähe der Polizeizentralen ansiedeln. Nicht, weil sie für ihren Gegner, die Polizei, viel Interesse haben, sondern weil sie ganz richtig vermuten, daß sie dort am sichersten sein würden, weil niemand sie dort sucht.«

»Sie haben nicht unrecht«, erwiderte Sir Malcolm. »Wie aber verhält es sich mit Ihrem Plan?«

»Er steht zu dieser Binsenwahrheit in innigster Beziehung, meine Herren. Ich beabsichtige, die beiden Flüchtlinge dort zu suchen, wo man sie am wenigsten vermutet: Graves dort, wo ihn Wilkens besuchte und wo, wie ich kaum mehr bezweifle, Macdonald ermordet wurde, und Grootman nahe dem Schauplatz der Ermordung Haleys,«

»Wenn nun beide zusammen wohnen?« warf Hans-Lothar ein. »Was dann?«

»Dann fange ich beide in einem Schlupfwinkel. Beobachten aber werde ich beide Oertlichkeiten.«

»Ich glaube, Sie haben recht, Boscombe«, meinte der Baron. »Wie nun aber, wenn Sie sich täuschen und die beiden doch weit entfernt vom Schauplatz ihrer Niederträchtigkeiten abwarten, bis Gras über ihre Verbrechen gewachsen sein wird?«

»Natürlich lasse ich auch diese Möglichkeit nicht aus den Augen. Ich kann dabei auf die Hilfe der Behörden rechnen, die ein großes Interesse daran haben, sich von einem Privatdetektiv nicht aus dem Feld schlagen zu lassen. Meine ›Freunde‹«, er betonte das Wort ironisch, »in Scotland Yard würden es sich nie verzeihen, wenn ich ihnen zuvorkäme. Den übrigen Teil Englands zu beobachten, können wir ruhig der Polizei überlassen.«

»Wie wollen Sie denn die Suche durchführen?«

Boscombe senkte die Stimme und begann, beinahe im Flüsterton, die einzelnen Fäden seiner Pläne aufzudecken.

Als sich die Herren trennten, nahmen besonders Hans-Lothar und der Baron die Gewißheit mit sich, daß sich das Schicksal der künftigen Frau von Weiße bei Boscombe in den besten Händen befände.

Der Detektiv aber begann noch in dieser Nacht, die Schlingen auszulegen, in denen sich die beiden Gesuchten, Grootman und Graves, fangen sollten.


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