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XVI. Kapitel.
Der letzte Akt.

Die Ereignisse und Ueberraschungen der bisherigen Verhandlungstage im Prozeß Montauban erregten bei der Londoner Bevölkerung ungeheueres Aufsehen. Nie bisher hatte ein Theater ein Drama zu bieten vermocht, das in seinen Auswirkungen denjenigen dieses Prozesses nahe gekommen wäre. So standen denn am voraussichtlich letzten Verhandlungstag dichtgedrängte Neugierige am Eingang zum Kriminalgerichtsgebäude. Obwohl die meisten von der Zwecklosigkeit ihres Wartens überzeugt sein mochten, hoffte doch der eine oder andere, daß es gerade ihm gelingen würde, einen Platz im Saal zu erhaschen. Die wenigen ausgegebenen Eintrittskarten befanden sich in den Händen des Hochadels der Hauptstadt, der Kreise, die am meisten auf die Entwicklung dieses Schauspiels gespannt sein mußten. Vornehme Damen, die sich sonst nie am Vormittag aus den Betten erhoben, standen heute schon in früher Morgenstunde und bei naßkaltem Westwind in Reih und Glied mit den Angehörigen weniger bemittelter Bevölkerungsschichten. Auch sie hofften auf einen glücklichen Zufall, der ihnen die Schlußszenen dieses Dramas zugänglich machen würde.

Ein beinahe tropfender, frostiger Nebel lag über Newgate Street. Vergeblich versuchten einige trübbrennende Laternen das winterliche Morgendunkel zu durchdringen. Alle Hände voll hatten die aufgebotenen Schutzleute zu tun, um in den dichtgedrängten Massen der Neugierigen Ordnung zu halten.

Als der Gerichtshof mit dem Schlag der neunten Stunde den Saal betrat, verstummte das Geraune und Geflüster. Auf der Zeugenbank saßen die Söhne und Töchter des Verstorbenen. Finster vor sich hinstarrend stand der Staatsanwalt auf seinem Platz. Die Zeugen kümmerten sich um die vielen auf sie gerichteten Augenpaare überhaupt nicht.

Nach den Bekundungen Boscombes schien die Staatsanwaltschaft selbst nicht mehr an eine Verurteilung zu glauben, denn der oberste Vertreter der Anklagebehörde saß eifrig schreibend auf seinem Platz.

Der älteste Sohn des Verstorbenen wurde zuerst aufgerufen. Sir John erwiderte die Verbeugung des Zeugen.

»Sie sind der älteste Sohn des verstorbenen Lord Montauban und gegenwärtig Inhaber des erblichen Titels?« fragte er höflich.

»Jawohl, Sir. Ich heiße Everard Montjoi Montauban.«

»Ist Ihnen die Angeklagte bekannt?«

Ohne Winifred einen Blick zu schenken, bejahte der Zeuge die Frage.

»Sie ist die zweite Gattin meines Vaters gewesen, Sir John.«

»Es wurde hier behauptet, daß die Kinder Lord Montaubans aus erster Ehe, also Sie, Mylord, und Ihre Geschwister, entschieden gegen eine zweite Ehe des Vaters gewesen seien. Ist es an dem?«

»Wir machten aus dieser Opposition kein Hehl, Sir. Wir hielten die Wahl unseres Vaters für einen Fehlgriff, denn wir konnten uns kaum denken, daß ein junges Mädchen Liebe für einen beinahe schon im biblischen Alter stehenden Greis empfinden könne. Wir hielten Lady Montauban für eine Mitgiftjägerin, so merkwürdig diese Bezeichnung auch klingen mag.«

»Sie wollen damit sagen, daß Ihre Stiefmutter Ihren Vater nur seines Geldes und einer später zu erwartenden materiellen Sicherstellung wegen heiratete, wie?«

»So war es«, bekräftigte der Zeuge.

»War Ihnen irgend etwas zu Ohren gekommen, was Ihnen zu dieser Einschätzung der Beweggründe Ihrer Stiefmutter eine Handhabe geboten hatte?«

»Nein, durchaus nicht. Aber es war logisch, auf diesen Gedanken zu kommen.«

»Sie hielten also eine Ehe zwischen Ihrem Vater und der Angeklagten für nicht wünschenswert? Haben Sie irgendwelche Schritte getan, um Ihren Vater von seinem Plan abzubringen?«

»Wir Kinder setzten ihm gemeinschaftlich zu. Vater war keiner der Geduldigsten und drohte, uns hinauszuwerfen, wenn wir nicht aufhören würden, ihm in den Ohren zu liegen.«

»Ist Ihnen irgend etwas aus dem Vorleben Ihres Vaters bekannt? Ich meine damit, aus der Zeit, ehe er sich mit Lady Winifred vermählte?«

Der Zeuge errötete. Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich möchte diese Frage unbeantwortet lassen, Sir. Es steht mir, dem Sohn des Verstorbenen, dem gegenwärtigen Haupt meiner Familie, nicht an, mich hier über meinen Vater zu äußern.«

Die Antwort erregte eine Sensation. Sie bestätigte, trotz aller diplomatischen Floskeln voll und ganz die Beurteilung, die Boscombe dem Verstorbenen hatte angedeihen lassen.

Sir John schien es genau so aufzufassen, denn er meinte:

»Damit hätte sich Ihre Vernehmung wohl erledigt, Mylord. Nur eine Frage habe ich noch: Ist Ihnen bekannt, ob Ihr Vater irgendwelche persönlichen Feinde hatte?«

»Auch darüber vermag ich keine Auskunft zu geben, Sir.«

Der Zeuge wurde entlassen, und der zweite Sohn des Verstorbenen betrat die Zeugenbank. Auch bei ihm wurde von einer Vereidigung abgesehen.

»Ich heiße Charles Wawerley Grosvenor, bin vierunddreißig Jahre alt und der zweite Sohn meiner Eltern«, gab er auf Befragen Auskunft. Erst als Sir John die Frage an ihn stellte, ob er sich durch seine Enterbung zugunsten der Stiefmutter geschädigt fühlte, verriet der Zeuge einige Bewegung. Ohne der Angeklagten auch nur einen Blick zuzuwerfen, wies er mit einer Geste auf sie:

»Mit dem Augenblick, da jene ... Frau in meines Vaters Heim Einlaß fand, war es um den Familienfrieden geschehen, Sir. Wir Kinder hielten sie für eine Abenteurerin, die nur darauf aus war, sich durch die Ehe mit dem alten Mann vor allen künftigen Sorgen zu schützen. Es ist ihr das, obwohl mein Vater sicherlich kurz vor seinem Tod andere Pläne hegte, gelungen. Der Tod meines Vaters kam ihr sehr gelegen, Sir.«

Die unverhüllte Beschuldigung brachte den Verteidiger auf den Plan.

»Ich erhebe gegen eine Protokollierung dieses letzten Satzes Einspruch, Mylord«, wandte er sich an den Vorsitzenden. »Der Zeuge ist nicht gehalten worden, seinen Vermutungen Ausdruck zu geben, sondern wurde einzig und allein nach den ihm bekannten Tatsachen zu diesem Prozeß gefragt.«

Der Vorsitzende schien zu schwanken. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt:

»Der Zeuge wird nur das aussagen,« ordnete er an, »was er, würde er vereidigt werden, verantworten zu können glaubt.«

»Ich kann diese meine Ansicht verantworten, Mylord,« gab Grosvenor trotzig zurück.

»Sie wissen also, daß Ihre Stiefmutter an der Beseitigung Ihres Vaters beteiligt war, wie?« fragte der Staatsanwalt überrascht.

»Ja.«

Wie ein Paukenschlag klang das Wort durch die Stille des Saales. Ein Geschworener war überrascht aufgesprungen. Eifrig mit dem Vorsitzenden flüsternd, setzte er sich dann wieder.

Der Lordrichter war der einzige, der in dem entstehenden Lärm die Ruhe nicht verlor. Energisch mit der geballten Faust auf den Tisch schlagend, setzte er es durch, daß nach wenigen Augenblicken wieder Stille eintrat.

»Ich werde den Saal bei einer Wiederholung dieses die Würde des Gerichts verletzenden Lärmes räumen lassen. Wir befinden uns hier in keinem Theater, wo Beifalls- oder Mißfallenskundgebungen zum Programm gehören mögen. Sir John, bitte setzen Sie das Verhör des Zeugen fort.«

»Sie bejahten meine Frage, ob Sie irgendwelche Beweise für Ihre Behauptung von der Schuld der Angeklagten hätten? Darf ich Sie bitten, mir diese zu nennen?«

Der Zeuge atmete hoch auf. Seine innere Erregung verriet sich durch das etwas gerötete Gesicht.

»Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, daß ich, ebenso wie meine Geschwister, diese Heirat für einen übereilten Schritt meines Vaters hielt«, begann er. »Letzten Endes mußten wir uns damit abfinden. Mein Bruder, das jetzige Haupt unserer Familie, hatte nichts zu fürchten. Er war und blieb Fideikommiss- und Titelerbe. Anders verhielt es sich bei uns Nachgeborenen. Nach englischem Recht hat nur der Erstgeborene Anspruch auf irgendwelche testamentarische Zuwendungen von seiten des Vaters. Die Zweit- und Nachgeborenen können, wie wohl allgemein bekannt ist, mit dem sprichwörtlichen Penny abgefunden werden. Unsere Stiefmutter,« er zögerte, ehe er das Wort aussprach, »war vom ersten Tag an Luft für uns. Wir verkehrten zwar in meines Vaters Haus – aber nur, um ihn nicht zu betrüben. Es dauerte auch gar nicht lange, bis Lady Montauban diese ihr von uns bewiesene Nichtachtung bemerkte. Von jenem Augenblick an hetzte sie Vater gegen uns auf.«

»Schlossen Sie das aus dem Benehmen Ihres Vaters, oder haben Sie irgendwelche anderen Anhaltspunkte, um uns das zu beweisen?«

»Vater machte uns oft Vorwürfe, Sir John, daß wir seine Frau so links liegen ließen«, gab der Zeuge zurück.

»Teilte er Ihnen dabei mit, daß er diese Kenntnis Ihrer Nichtachtung von Lady Winifred bezog?«

»Nein. Er machte uns einfach darauf aufmerksam, daß, wenn wir ihr nicht höflicher gegenüberträten, er uns auf andere Art und Weise kirre machen würde.«

»Was glaubten Sie, aus dieser Drohung schließen zu können?«

»Daß er uns enterben würde, wie es ja auch tatsächlich geschah.«

»Und hinter dieser Enterbung witterten Sie den Einfluß Ihrer Stiefmutter?«

»Jawohl. Ich bin mir dessen sicher, daß sie es war, der wir alles Elend in unserer Familie zu verdanken hatten.«

»Wußten Sie denn damals schon, daß Sie enterbt worden waren?«

»Ich wußte, daß Vater ein neues Testament gemacht hatte.«

»Von wem erfuhren Sie das?«

»Ich möchte diese Frage unbeantwortet lassen, Sir John, da ich dem Betreffenden strengste Diskretion versprochen habe.«

»Meines Erachtens kann doch nur einer der Beigezogenen gewußt haben, welche testamentarischen Verfügungen Ihr Vater getroffen hatte«, hielt ihm Sir John, nicht unlogisch, vor.

Der Zeuge zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, wer außerdem von den Bestimmungen des Testaments Kenntnis erhalten hat.«

»Sie wußten also, daß Sie enterbt waren. Behielten Sie das für sich oder teilten Sie es auch Ihren Geschwistern mit?«

»Ich behielt es für mich.«

»Warum schwiegen Sie?«

»Um den Keil zwischen Vater und meinen Geschwistern nicht noch tiefer zu treiben.«

»Sehr edel von Ihnen«, meinte Sir John. »Waren Sie der einzige, der so scharf gegen die zweite Lady Montauban opponierte, oder war dasselbe auch bei Ihren Geschwistern der Fall. Vom jetzigen Lord Montauban wissen wir, daß er der Sache mehr oder weniger gleichgültig gegenüberstand, nachdem er das Nutzlose irgendeines Versuches einer Beeinflussung Ihres Vaters eingesehen hatte. Wie aber verhält es sich mit Ihren anderen Geschwistern?«

»Sie kümmerten sich wenig darum, sondern überließen es mir, ihre Interessen wahrzunehmen.«

»In welcher Form gedachten Sie das zu tun?«

»Indem ich Vater bewies, welche Schlange er ins Haus genommen hatte.«

»Sie mißtrauten also der zweiten Gattin Ihres Vaters?«

»Gründe genug hatte ich dazu. Schon die Tatsache, daß ein im blühendsten Alter stehendes Mädchen einen dem Grab nahen Greis heiratet, ist, wenn Geld dabei die Rolle spielt, abstoßend und vielsagend. Außerdem aber kamen mir die Vorgänge am Hochzeitsabend zu Ohren. Der Schauspieler Macdonald schien meiner Frau Stiefmutter näher zu stehen als der neuangetraute Gatte.«

Sein Hohn war so deutlich ausgeprägt, daß jeder im Saal den unsäglichen Haß zu fühlen meinte, den dieser Zeuge gegen die Frau hegte, die ihm bei seinen materiellen Plänen in die Quere gekommen war. Aber er hatte zu dick aufgetragen. Seine letzte Bemerkung war, wie er sofort feststellen konnte, ein Fehler gewesen. Sir Malcolm sprang auf.

»Ich möchte den Zeugen ersuchen, den letzten Satz näher zu erläutern. Ich kann mir nicht denken, daß er hier nur Klatsch wiedergeben wollte.«

Es war so still im Saal geworden, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können. Die Spannung war bei sämtlichen Anwesenden aufs höchste gestiegen. Hatte Sir Malcolms Frage die Quelle freigelegt, aus der die Flut von Verleumdungen stammte, die zu dieser Anklage gegen Lady Winifred geführt hatte?

»Es ist kein Klatsch, den ich hier vorbringen werde, Sir Malcolm«, gab der Zeuge zurück. »Mein Vater war mit jener Frau dort,« er wies auf die Angeklagte, die bleich, aber vollkommen ruhig der kommenden Enthüllungen harrte, »kaum drei Monate verheiratet, als ich bei Gelegenheit einer im väterlichen Haus stattfindenden Gesellschaft Zeuge einer Liebeserklärung Macdonalds wurde.«

»Es handelte sich nicht um den berühmten Kniefall, der hier schon mehrfach erwähnt wurde, wie?« Die Frage des Verteidigers klang scharf, als wolle er dem Zeugen ins Gedächtnis zurückrufen, was hier für die Angeklagte auf dem Spiel stand. »Wir haben verschiedentlich erwähnen hören, daß Macdonald ein leidenschaftlicher Schauspieler gewesen sei und jede Gelegenheit benützt habe, seine Talente zu zeigen. Dabei mag es wohl zu Situationen gekommen sein, die bei nicht unterrichteten Zuschauern die Vermutung erweckten, es handele sich nicht um eine Probe des schauspielerischen Talents Macdonalds, sondern um eine wirkliche Liebesszene. Meinen Sie das?«

»Nein, Sir Malcolm. Der von ihnen angedeutete Fall ist mir bekannt. Ich habe ihm niemals große Bedeutung zugemessen. Ich beziehe mich auf eine Szene, die sich, wie ich schon sagte, drei Monate nach der Trauung zutrug.«

»Bitte schildern Sie, was Sie beobachteten«, ermutigte der erste Staatsanwalt seinen Kronzeugen.

»Der Zeuge wird sich auf die Wiedergabe derjenigen Beobachtungen beschränken müssen, die er mit eigenen Augen gemacht hat. Alle Zuträgereien müssen unerwähnt bleiben«, warf der Vorsitzende ein.

Grosvenor verbeugte sich höflich.

»Ich würde mich niemals zum Sprachrohr unbewiesenen Klatsches machen lassen, Mylord, Der Fall, den ich erwähnen will, liegt sehr einfach und läßt nur einen eindeutigen Schluß zu. Etwa drei Monate, nachdem mein Vater seine zweite Ehe geschlossen hatte, fand in seinem Haus ein Empfang statt. Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich darum, irgendeinen Jahrestag zu feiern, der mit der früheren geschäftlichen Tätigkeit Vaters zusammenhing. Die Gesellschaftsräume waren gefüllt. Es herrschte ein fürchterliches Gedränge. Die sommerliche Hitze trug dazu bei, den Aufenthalt im großen Saal so ungemütlich wie möglich zu machen. Wie viele andere Gäste suchte auch ich in die frische Luft zu entkommen. Nach der Aufhebung der Tafel trat ich auf die Veranda hinaus, die einen ziemlich freien Ausblick auf den großen Park gewährt. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit durch ein Paar erregt, das auf einem Seitenwege dahinschritt. Die Gestalt der Dame erschien mir merkwürdig bekannt. Hätte ich nicht bestimmt gewußt, daß die Gattin meines Vaters an seiner Seite inmitten der Gesellschaft weilte, würde ich darauf geschworen haben, daß sie es war, die sich dort im Park im zärtlichsten tête à tête mit ihrem Liebhaber erging, Um mich zu vergewissern, schwang ich mich über die Balustrade der Veranda, ließ mich unhörbar auf ein Beet niederfallen und eilte, jeden Schatten benützend, den beiden nach. Um ihre Gesichtszüge zu erkennen, suchte ich ihnen den Weg abzuschneiden, was mir endlich in der Nähe eines dort stehenden kleinen Sommerhäuschens gelang. Ich verbarg mich hinter einem Rhododendronstrauch, bis ich ihre Schritte hörte. Obwohl der Himmel ziemlich bewölkt war – es hatte am Nachmittag heftig geregnet – herrschte immer noch genügend Zwielicht, um mir ein Erkennen der Herankommenden zu ermöglichen. Sie schienen keinen Lauscher zu fürchten, denn ihre Unterhaltung war laut. Ich konnte jedes Wort verstehen, das sie sprachen.«

»Sie erkannten die beiden?« fragte Sir John triumphierend.

»Jawohl, Sir. Ich erkannte sowohl Macdonald, den ich seit Jahren persönlich kannte, als auch meine Stiefmutter. Sie trug ein schwarzes Abendkleid, dasselbe, das sie am Abend der Trauung getragen hatte.«

»Eine Täuschung Ihrerseits ist völlig ausgeschlossen?«

»Vollkommen, Sir. Ich war so überrascht, daß ich im ersten Augenblick nicht wußte, ob ich mich sehen lassen sollte oder nicht. Nach reiflicher Ueberlegung, während welcher Zeit das Paar keine drei Schritte vor mir stehen geblieben war, entschloß ich mich, die Entwicklung der Dinge abzuwarten.«

»Sie beschlossen also, den Horcher an der Wand zu spielen?« fragte Sir Malcolm, dem die Aussagen dieses Zeugen mehr als nur eine unangenehme Ueberraschung bedeuteten.

»Nicht in irgendeiner schlimmen Absicht, Sir Malcolm. Ich rechnete wahrscheinlich – obwohl ich es heute nicht mehr fest behaupten kann – damit, daß vielleicht Lady Winifred meiner Dienste bedürfe, um sich etwaiger Zudringlichkeiten des als überspannt geltenden Macdonald zu erwehren.«

»Sehr lobenswert«, meinte ironisch der Verteidiger. »Aber dasselbe hätten sie vermeiden, bezw. Sie hätten ihm vorbeugen können, wenn Sie sich sofort gezeigt und dadurch auf den Schutz hingewiesen hätten, dessen sich Lady Winifred durch Ihre Gegenwart erfreuen durfte.«

»Daran dachte ich in jenem Augenblick nicht. Die beiden blieben also knapp vor meinem Versteck stehen. So wurde ich Zeuge ihrer Unterhaltung. Jedes Wort hörte ich deutlich. Kein Irrtum war möglich.«

»Schildern Sie uns, was Sie erlauschten, Herr Zeuge«, forderte Sir John den Zeugen auf.

›Wie konnten Sie‹, begann Grosvenor das Gespräch zwischen den beiden Belauschten wiederzugeben, ›sich mit einem Mann verheiraten, der schon mit einem Fuß im Grabe steht, Mylady,‹ fragte Macdonald. ›Ihr Gatte ist nicht nur ein gebrechlicher Greis, sondern auch ein herz- und gewissenloser Mensch; Egoismus ist der Trieb aller seiner Handlungen.‹ Lady Montauban antwortete eine Zeitlang nichts. Dann seufzte sie auf: ›Ich mußte seinen Antrag annehmen. Sie wissen ja gar nicht, Harry, aus welcher Hölle ich herauswollte. Der Vater dauernd betrunken, die Mutter in ihrer Sorge um die zahlreiche Kinderschar sich aufreibend. Die Stelle, die ich innehatte, gab mir zwar Brot, aber nicht die geringste Aussicht auf Vorwärtskommen. Ich war jung, dürstete nach Lebensfreude, wollte es endlich zu etwas bringen, meinen Platz im Leben einnehmen. Glauben Sie ja nicht, mein Freund, daß ich nicht einen harten Kampf mit mir selbst auszufechten hatte, ehe ich mich dazu entschloß, die Werbung meines späteren Gatten anzunehmen.‹

›Sie haben sich verkauft, Winifred!‹ schrie der andere beinahe auf.

›Nur meinen Körper, Harry, nicht aber meine Seele. Mein Herz gehört noch mir.‹

›Ich liebe Sie, Winifred, mehr als mein Leben. Als ich Sie an Ihrem Hochzeitsabend im Brautkleid vor mir sah, glaubte ich, man risse mir das Herz aus der Brust. Mit Mühe beherrschte ich mich soweit, um wenigstens nach außen hin meine Gefühle zu verbergen. Was es mir an Selbstüberwindung, welche Kämpfe es mich kostete, ahnen Sie ja gar nicht.‹

›Sie müssen sich beherrschen, Harry. Ich habe den Schritt nun einmal getan. Nichts läßt sich mehr ändern.‹

Macdonald lachte laut auf. Mir fuhr, als ich mir sagte, unter welchen Umständen er diese Heiterkeit verriet, ein Schauder über den Rücken.

›Es läßt sich nichts mehr ändern, sagst du? Ueberlaß es mir, Winifred, diesen gordischen Knoten zu durchhauen. Dein Mann ist alt. Er hat höchstenfalls noch fünf, zehn Jahre zu leben. In einem solchen Alter kann dem Gesündesten etwas passieren. Versprich mir, wenn deinem Mann irgendein Unheil zustoßen sollte, daß du mein werden willst. Ich bete dich an, Geliebte.‹

Er warf sich ihr zu Füßen. Sie hob ihn sanft auf. Als er sie an sich reißen wollte, wehrte sie ihm nur lässig.

›Sei vorsichtig, Harry. Wir können von der Veranda aus beobachtet werden. Komm morgen nachmittag zu mir. Mein Mann wird eine Sitzung haben, und wir werden allein sein.‹

›Heißen Dank, Winifred. Ich komme.‹

»Die beiden«, fuhr der Zeuge fort, »entfernten sich tiefer in den Park hinein und waren bald aus meiner Hörweite. Ich aber blieb wie vom Schlag getroffen in meinem Versteck. Ich hatte zwar geahnt, daß zwischen meiner Stiefmutter und dem Schauspieler sich irgend etwas anspann, aber daß die beiden in ihren sündhaften Beziehungen schon so weit fortgeschritten waren, ahnte ich nicht.«

Die klare Aussage Grosvenors hatte die der Lady Winifred bisher so günstige Stimmung im Gerichtssaal ins Gegenteil umschlagen lassen. Daß sie sich von ihrem alten Gatten abgewendet hatte und ihr Herz einem Jüngeren schenkte, nahm ihr niemand übel. Die unverhüllten Andeutungen jedoch, mit der ihr Macdonald das baldige Ableben Lord Montaubans angekündigt hatte, ohne einen Widerspruch von ihren Lippen auszulösen, raubte ihr jedwede Sympathie. Das ging aus den Mienen der Geschworenen und des Vorsitzenden deutlich hervor. Die der Angeklagten zugeworfenen Blicke kündeten ihr wenig Gutes.

Plötzlich – Sir Malcolm wollte sich eben erheben, um diesen wichtigen Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen – trat ein Gerichtsdiener an ihn heran und reichte ihm einen Brief. Mit einer Verbeugung gegen den Vorsitzenden bat der Verteidiger, diesen Brief lesen zu dürfen. Ein Nicken Sir Algernoons gewährte ihm die Erlaubnis. Es war ein langes Schreiben. Sein Inhalt schien Sir Malcolm zu erfreuen, denn als er den Bogen endlich zusammenfaltete, lächelte er.

»Ich habe an den Zeugen keine Fragen zu richten, Mylord«, wandte er sich an den Vorsitzenden.

»Sie wollen den Zeugen ohne Kreuzverhör entlassen?« fragte der andere, ohne seine Verwunderung zu verbergen. War der Verteidiger wahnsinnig geworden? Diesen Zeugen, dessen Aussagen seiner Mandantin bestimmt den Hals brechen würden, ließ er unangefochten aus dem Saal? Hielt er die hier an die Oeffentlichkeit gebrachten Tatsachen selbst für so schlüssig, daß er sich die Mühe sparen wollte, sie zu zerpflücken? Ließ er Lady Winifred unverteidigt in den Händen des öffentlichen Anklägers, es ihm überlassend, zu tun und lassen, was er wollte?

Auch im Zuhörerraum wollte die Verwunderung über dieses merkwürdige Gebahren eines Verteidigers kein Ende nehmen. Hans-Lothar, Liddy und Baron von Lersdorff suchten vergeblich durch aufgeregte Gesten Sir Malcolm an seine Pflicht zu erinnern. Er schenkte ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ohne den Zeugen weiter zu beachten, setzte er sich wieder hin und studierte eifrig seine Akten.

Die Frage des Vorsitzenden erwiderte er nach einigen Augenblicken durch Stellen eines Antrags:

»Ich habe keinerlei Fragen an den Zeugen Grosvenor zu richten, Mylord, möchte aber, um mit der durch seine Aussagen neugeschaffenen Lage meiner Mandantin fertig zu werden, um Vertagung bis heute nachmittag bitten.«

»Ich widerspreche diesem Antrag, Mylord«, sprang Sir John auf.

»Eine Vertagung kann meines Ermessens keinerlei der Angeklagten günstigen Zweck erfüllen. Wir haben nur noch drei Zeugen für die Staatsanwaltschaft zu vernehmen. Falls Sir Malcolm irgendwelche Ueberraschungen für den Gerichtshof in der Tasche haben sollte, kann er sie auch jetzt springen lassen. Ich will nach den Aussagen des letzten Zeugen gern auf weitere Belastungszeugen verzichten.«

Dieser Verzicht Sir Johns kündete wenig Gutes. Er mußte seinen Sieg so gut wie in der Tasche glauben, sonst hätte er wohl kaum auf weitere Zeugenaussagen, die seine Stellung vielleicht stärken konnten, verzichtet. Aber Sir Malcolm ließ sich über seine Pläne nicht ausholen.

»Ich bedarf dieser kurzen Vertagung, Mylord, um meine Verteidigung nach der Aussage Mr. Grosvenors auf eine ganz andere Basis zu stellen. Ich bitte nochmals, die Verhandlung bis zum Nachmittag auszusetzen.«

Der Vorsitzende warf einen Blick auf seine Uhr.

»Es ist jetzt elf Uhr. In einer Stunde hätte ich die Verhandlung doch für die Frühstückspause unterbrechen müssen. Ich setze den Wiederbeginn der Verhandlung auf vierzehn Uhr fest.«

Erregt unterhielten sich die Zuhörer, als der Gerichtshof den Saal verlassen hatte. Keiner wagte es, seinen Platz aufzugeben. Sie alle wollten lieber hungrig ausharren, als den Schlußakt des Dramas versäumen. Daß der Nachmittag interessant werden würde, daran zweifelte im Saal niemand mehr.


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