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VII. Kapitel.
Der Fischzug.

Pünktlich um ein Viertel vor elf fand sich Boscombe, von Hans-Lothar begleitet, am Fuß der Cannon-Street ein.

Hinter einem der sich die ganze Uferstraße hinziehenden mannshohen Dückdalben suchten und fanden die beiden Männer ein passendes Versteck. Knapp zwanzig Meter von ihnen entfernt lag zu ihren Füßen die kleine Motorbarkasse, die sich Boscombe für den heutigen Abend durch einen seiner zahlreichen Freunde besorgt hatte. Vor den aufkommenden Flutwellen gurgelte das schwarz-glänzende Wasser des Flusses, gierig gegen die Böschung leckend, als bäume es sich in ohnmächtigem Zorn gegen das Menschenwerk. Hin und wieder klangen vom Strom herauf warnende Sirenenrufe einlaufender Ueberseedampfer an das Gehör der beiden Männer. Im gelblichen Glanz der Bogenlampen von Cannon Street Station tauchten hin und wieder wandelnde Schatten, patrouillierende Polizisten und verspätete Passagiere auf. Ueber die nahe London Bridge ratterten Nachtomnibusse und hupten Taxameter, die Theaterbesucher nach Hause brachten. Auf dem Fluß glühten grüne, rote und weiße Lichter auf, Signale ausfahrender Fischerboote. Sonst lag die große Stadt und ihre Lebensader, die mächtige Themse, nach langem Tagwerk ruhend, wie ein schlafendes Monstrum da. Die Kaistraße, kaum ein Pfad zu nennen, war menschenleer. Etwa fünfzig Meter vom Versteck Boscombes und seines Begleiters entfernt lag eine Schaluppe vertäut, das Boot Graves, auf dem dieser seinen nächtlichen »Fischzug« ausführen wollte. Von den beiden erwarteten Fischern war noch nichts zu sehen, obwohl von St. Paul herüber eben schon der letzte Schlag der elften Nachtstunde verklungen war.

Leise stieß der ungeduldig werdende Deutsche seinen Begleiter an.

»Graves scheint Lunte gerochen zu haben, Boscombe«, sprach er seine Befürchtung aus. »Oder aber Wilkens hat uns zum Narren gehalten.«

»Werden Sie nicht ungeduldig«, flüsterte Boscombe. »In meinem Beruf muß man sich mit Geduld wappnen. Niemals wickeln sich die Dinge fahrplanmäßig ab. Wilkens hat mir sicher die Wahrheit berichtet.«

Von der Thames Street herüber klang das schleifende Geräusch über glattes Asphalt fahrender Pneumatiks. Näher und näher kam es.

»Hier kommen sie«, flüsterte der Detektiv. »Nun verhalten Sie sich mäuschenstill.«

Er hatte sich nicht getäuscht. An der Straßenmündung war ein offenes Auto aufgetaucht und knapp an der Uferböschung vor der vertäuten Schaluppe zum halten gekommen. Aus dem Wagen sprangen zwei Männer, deren unterdrückte Stimmen jetzt deutlich, wie durch ein Sprachrohr an die Ohren der Versteckten klangen.

»Los, Jonny, faß an. Wir haben nicht viel Zeit. Sobald die Kiste an Bord ist, bringe ich meinen Wagen dort hinüber zur Garage. Ihn auf der Straße stehen zu lassen, wage ich nicht. Irgendein neugieriger Bobby kann uns die ganze Tour vermasseln.«

Wilkens legte sich mit voller Kraft ins Zeug, als Graves jetzt den Wagenschlag öffnete. Eine beinahe quadratisch gebaute Kiste kam zum Vorschein. Sie schien schwer zu wiegen, denn die beiden Lauscher hörten die Träger heftig atmen.

»Los, Jonny«, kommandierte Graves. »Faß an, und an Bord damit. Dort liegt der Kahn. Hast du sie fest?«

»Ja«, stöhnte der Gefragte, dem der andere scheinbar die Hauptlast zu tragen gegeben hatte. »Verd... nochmal, das Ding ist aber schwer. Hast wohl Gold eingepackt, statt deiner Netze, wie?«

»Fasele nicht so viel. Zum Fragen hast du später Zeit genug. Eins, zwei, drei«, kommandierte Graves. »Nun langsam hier die Böschung hinunter; die Kiste rutscht ganz allein. Soooo!«

Aufatmend klang der letzte Ausruf, als sei mit der Landung der Last jede Befürchtung einer Störung durch dritte zerstoben.

»Nun warte hier an Bord, bis ich meinen Wagen untergebracht habe, Jonny, und lass' dich, wenn jemand kommen sollte, nicht ausfragen. Wir seien Fischer aus Passion, gibst du jedem, der dich fragt, zur Antwort. In fünf Minuten bin ich wieder bei dir.«

»Geh' nur schon«, empfahl ihm Wilkens.

Es dauerte bedeutend länger als die von Graves genannte Spanne, ehe er wiederkam. Von St. Paul her schlug es ein halb zwölf, als endlich die Schaluppe mit der schweren Kiste an Bord in den Fluß hinaus- und gegen die aufkommende Flut stromab zu fahren begann. Eng an das Ufer gedrückt, unsichtbar in dessen Schatten, folgte ihnen die Barkasse mit den beiden Verfolgern. Boscombe bediente das Steuer, während sich Hans-Lothar, nicht zum ersten Mal in seinem Leben, um den Motor kümmerte, der lautlos, mit Schalldämpfern versehen, seinen Dienst verrichtete.

Boscombe lockerte die in seiner Hüfttasche steckende Armeepistole. Er wußte, daß Graves auch vor einem Mord nicht haltmachen würde, wenn es um seine Sicherheit ging. Nur Hans-Lothar empfand das nächtliche Abenteuer als angenehmen Zeitvertreib. Es entsprach in allen seinen Phasen den vielfach von ihm verschlungenen Detektivgeschichten, zu denen nächtliche Verfolgungen zu Wasser und zu Lande ebenfalls das Gewürz gebildet hatten.

Die Verfolgung war aufgenommen, und für die beiden Spürer blieb nichts zu tun übrig, als die Entwicklung der nächtlichen Fahrt abzuwarten. Die verfolgte Schaluppe war von der Barkasse aus kaum sichtbar; sie fuhr in etwa einhundertfünfzig Metern Entfernung gemächlich stromab. Die Explosionen ihres Außenbordmotors klangen herüber wie Maschinengewehrfeuer. Minutenlang echoten sie von beiden Uferwänden wieder. Hin und wieder tauchten Polizeiboote auf, richteten auf die Verfolgten sekundenlang ihre Scheinwerfer und tauchten dann wieder im Dämmerdunkel der Flußoberfläche unter.

London Bridge wurde unterfahren und blieb zurück; das Zollhaus tauchte auf, lag einen Augenblick hell von seinen Bogenlampen bestrahlt vor Verfolgten und Verfolgern und versank wieder. St. Catherine's Docks, eine massige Perspektive, sandte den Lärm seiner nächtlichen Stauarbeiten herüber; das Geknatter der Kräne schwoll an, minderte sich und verschwand mit zunehmender Entfernung endlich ganz. Wie gebannt genoß Hans-Lothar, dem diese Erfahrung zum ersten Male in seinem Leben blühte und wahrscheinlich nie wieder blühen würde, die nächtliche Schönheit des Flusses, der leise murmelnd, mit der Flut stromauf dahinplätscherte.

Limehouse, das Chinesenviertel Londons wurde erreicht, und immer noch ging die Fahrt weiter. Die Häuser Rotherhithes hoben sich dunkel vom nächtlichen Horizont ab, als plötzlich das Geknatter des verfolgten Bootes erstarb. Das Ziel der nächtlichen Fischfahrt schien erreicht. Noch etwa hundert Meter weiter ließ Boscombe die Barkasse gegen die Flut dahingleiten, die Umdrehungen der Schiffsschraube auf ein Mindestmaß zurückführend, dann blieb er am großen Themseknie halten, die Verfolgten in etwa hundertfünfzig Metern vor sich quer über dem Fluß. Mit einem starken Nachtglas bewaffnet, beobachtete nun der Detektiv die auf der verfolgten Schaluppe getroffenen Vorbereitungen zum »Fischzug«. Zwischen Graves und seinem Helfershelfer schien eine lebhafte Auseinandersetzung in Gang gekommen zu sein, denn laute Gesprächsfetzen klangen hin und wieder an die Ohren der Lauschenden.

»Frag' nicht ... Kiste muß über ... Faß ...«

»Du kannst doch Fische nicht mit 'ner Kiste fangen ... nimm doch wenigstens die Ne ...«

Mehr war nicht zu hören, denn die beiden auf der Schaluppe hatten ihre Stimmen gedämpft.

Erregt beobachteten Boscombe und Hans-Lothar durch ihre Nachtrohre das Treiben der beiden schattenhaften Gestalten. Wilkens schien sich nun der erhabeneren Ruhe seines Brotgebers gefügt zu haben, denn die Auseinandersetzungen hatten aufgehört. Mit vereinten Kräften schleppten die Männer auf der Schaluppe die schwere Kiste an die Reeling; einen Augenblick lang ruhte sie auf dem Geländer, dann klatschte sie lärmend auf dem dunkel dahinströmenden Wasser auf und versank. Im selben Augenblick blitzte ein Scheinwerfer auf, ruhte einige Sekunden auf den heftig atmenden Fischern und verlosch dann wieder. Das in der Nähe haltende Polizeiboot war durch das Aufklatschen der Kiste aufmerksam geworden und leuchtete den Flußabschnitt ab. Als aber alles still blieb, brachen die Beamten ihre Beobachtungen ab. Das Polizeiboot entfernte sich, ohne sich weiter um Verfolgte und Verfolger zu kümmern.

Wenige Minuten später hatte auch die Schaluppe ihre Nase wieder stromauf gerichtet. Sie arbeitete sich, die aufkommende Flut benützend, immer schneller Londonwärts.

Ihr Motorengeräusch war kaum verklungen, als die lauernde Barkasse Boscombes wie ein Pfeil auf den Versenkungsort der Kiste zuschoß. Der Detektiv, der den Strom sehr gut kannte, hatte sich die Oertlichkeit genau eingeprägt und vermochte sie nun ohne weiteres wiederzufinden. Zu beiden Seiten des Flusses unterstützten zahlreiche Landmarken das Beginnen Boscombes.

»Was mögen die beiden wohl versenkt haben?« fragte Hans-Lothar, der darauf brannte, die Meinung seines schweigsamen Begleiters kennen zu lernen.

»Ist das wirklich so schwer zu erraten? Den Ruf Graves' kennen wir ja doch. Bisher kam er stets wegen Körperverletzungen, teilweise mit Todeserfolg, mit den Strafgesetzen in Konflikt. Wir wissen, daß er der Schwager Lord Montaubans war. Es bedarf wohl kaum eines Zweifels, was er mit der Beseitigung jener Kiste bezweckte. Wie aber sollen wir uns verhalten? Das ist jetzt die Frage. Sollen wir die Polizei gleich benachrichtigen, oder sind Sie, wie ich, der Ansicht, daß demjenigen, den Graves eben mit jener Kiste versenkte, eine kleine Verzögerung nichts mehr schaden würde?«

»Sie glauben also nicht, daß Graves Raubgut verbergen wollte, wie?«

»Nein. Befände sich Raubgut in jener Kiste, so würde dessen Wiederbergung zu viel Aufsehen erregen. Die Kiste soll dort bleiben, wo sie ist. Was sie enthält, darüber besteht kein Zweifel: die Leiche Macdonalds. Wahrscheinlich hat Graves wieder einmal sein Messer zu locker sitzen gehabt. Möglich auch, daß er Macdonald nur mit dem Ziel seiner Beseitigung im Auge in sein Haus bestellte.

»Das ist ja entsetzlich«, stöhnte Hans-Lothar. »Wie aber, wenn Macdonald noch gar nicht tot war, als ihn Graves in die Kiste zwang und ins Wasser warf?«

»Darüber brauchen wir uns jetzt, glaube ich, keine Sorgen mehr zu machen. Graves wird Macdonald, ehe er ihn in die Kiste verpackte, getötet haben. Der Fall liegt nun ziemlich klar für mich. Man beschuldigt Macdonald, seinen Feind, Montauban, ermordet zu haben. Kurz nach der Tat verschwindet der angebliche Mörder spurlos vom Erdboden. Wir aber wissen, daß Macdonald sich am 27. Juni nach einem Haus am Kings Square begibt, das Graves bewohnt. Von jenem Augenblick an ist Macdonald verschwunden. Sie werden morgen früh, wenn wir die Kiste heben lassen, meine Mutmaßungen vollauf bestätigt finden. Nein, Graves hat Macdonald bestimmt nicht lebend versenkt. Wer weiß, was zwischen den beiden vorgegangen ist, ehe sich Graves an dem Schauspieler vergriff. Sicherlich aber hat er ihm schon vor der Versenkung den Gnadenstoß versetzt.«

»Wollen Sie nicht der Polizei von dem Vorfall Kenntnis geben?«

»Sobald wir an Land sind, mache ich der Polizei Mitteilung. Sie soll entscheiden, ob man die Kiste noch heute oder erst morgen bei Tageslicht heben wird. Ich kann mich in die Lage Graves recht gut versetzen. Solange Macdonald verschwunden bleibt, bestehen die Verdachtsmomente gegen Lady Montauban unvermindert weiter. Ergriffe man aber den angeblichen Mörder, so würde mit der Legende von der Schuld Macdonalds und Lady Montaubans schnell genug aufgeräumt werden. Hätte Macdonald beweisen können, daß er als Mörder unmöglich in Frage kam, dann bestand für Graves die Gefahr, daß die Polizei ihre Nachforschungen von neuem aufnehmen würde. Was dann herauskam, mochte wohl Graves als wichtig genug angesehen haben, um auch vor einem weiteren Mord nicht zurückzuschrecken. Mit dem Verschwinden Macdonalds mußte die Beschuldigung gegen Lady Montauban mangels ausreichender Beweise in sich zusammenbrechen. Gewiß, verhandelt würde gegen sie werden, aber sicherlich ohne jedes positive Resultat. Ich halte Graves für den Mörder. Ob er allein, aus eigenem Antrieb die Tat vollbracht, oder sie mit Komplizen besprochen und mit ihrer Hilfe verübt hat, muß die Zukunft lehren. Um den Leichnam seines Opfers zu beseitigen, hat er sich angeblich der Fischerei in die Arme geworfen. Zum letzten entscheidenden Schritt, der Versenkung der Leiche, brauchte er einen ahnungslosen Helfer. Deshalb nahm er sich Wilkens.«

»Das muß ein entsetzlicher Mensch sein, dieser Graves«, meinte Hans-Lothar bedrückt vor so viel Schlechtigkeit.

»Ist er auch! Doch, Achtung, wir sind angekommen. Ich muß Sie auf später vertrösten. Jetzt haben wir anderes zu tun, als uns über den Hergang der Ermordung Macdonalds zu unterhalten. Halten Sie fest; nun werfen Sie die Leine über jenen Pfosten dort. Gut.« Er sprang an Land und blickte sich sorgsam um. Von der Schaluppe Graves' war diesmal am Fuß der Cannon Street keine Spur zu entdecken. Die beiden »Fischer« mußten sich einen anderen Landungsplatz gesucht haben.

Fünf Minuten später war Boscombe mit dem Kommissar der Flußpolizeiwache Cannon Street in eifriger Konferenz begriffen. Ausführlich schilderte er ihm die Ergebnisse der nächtlichen Streiffahrt. Immer erstaunter wurde der Beamte. Endlich sagte er:

»Wenn sich alles, wie Sie es mir schilderten, so verhält, Boscombe, dann haben Sie ein Meisterwerk vollbracht, und Anerkennung vom Chef ist Ihnen sicher. Wer weiß, ob nicht ...« Er vollendete den Satz nicht, aber Boscombe wußte, was der andere, der ihm immer wohlgesinnt gewesen war, meinte.

Am nächsten Morgen sollte ein Polizeitaucher den Flußgrund an dem Ort abfischen, an dem Graves seine verdächtige Last abgeladen hatte.


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