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X. Kapitel.
Fortsetzung der Zeugenvernehmung.

Punkt zwei Uhr eröffnete Sir Algernon Flaherty erneut die Verhandlung. Der Andrang des Publikums war beinahe noch stärker geworden, denn die Vernehmungstechnik Sir Malcolms war zu bekannt, um aus seiner bisherigen Befragung Haleys nicht schließen zu können, daß noch weitere Ueberraschungen in dieser Beziehung bevorstanden.

In Begleitung zweier Gerichtsdiener betrat kurz nach der Angeklagten der Zeuge Haley wieder den Saal. Er hatte kaum seinen Platz eingenommen, als erneut das Trommelfeuer der Fragen Sir Malcolms auf ihn niederzuprasseln begann.

»Kannten Sie den Schwager Ihres verstorbenen Herrn?«

»Jawohl, Sir. Mr. Graves war mir bekannt.«

»Seit wann kannten Sie ihn?«

»Seit 1911.«

»Also seit der Zeit Ihrer ersten Straffälligkeit?«

»Jawohl, ich lernte ihn in Wormwood Scrubbs kennen, wo er ebenfalls eine Strafe zu verbüßen hatte.«

»Weswegen?«

»Schwere Körperverletzung.«

»An wem begangen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Schildern Sie bitte den Hergang Ihrer Bekanntschaft mit Graves.«

»Ich lernte ihn in der Bücherei kennen. Er war auf der Abteilung Kalfaktor.«

»Kalfaktor,« wandte sich Sir Malcolm erklärend an die Geschworenen, »ist der Gefangene, der jeweils eine Abteilung zu betreuen und mit Essen zu versehen hat. Er genießt gewissermaßen eine Vertrauensstellung.« Dann, sich wieder dem Zeugen widmend, fügte er hinzu: »Sie lernten Graves in Wormwood Scrubbs kennen. Fiel er Ihnen da irgendwie auf?«

»Er hatte mir immer mehr Essen gebracht, als mir zustand. Dafür verlangte er von mir Lesestoff, wie er ihn sich wünschte.«

»So, also ein Fall von ›Eine Hand wäscht die andere‹, wie?«

»Ja.«

»Beschränkte sich Ihre Bekanntschaft nur auf die Gefängniszeit?«

»Nein, ich traf ihn oft im Haus Lord Montaubans.«

»Wußte Ihr Herr von dieser Freundschaft seines Schwagers mit Ihnen?«

»Nein, die beiden Herren sprachen fast nie miteinander.«

»Damals lebte die erste Gattin Lord Montaubans noch, wie?«

»Jawohl, sie war die einzige, die noch große Stücke von ihrem Bruder hielt und ihn auch dauernd mit Geld unterstützte.«

»Wußte der Gatte davon?«

»Ja, er hatte ständige Auseinandersetzungen mit seiner Frau, weil diese, wie er behauptete, die Faulheit ihres Bruders unterstützte.«

»Nach dem Tod Lady Montaubans hörten die Besuche Graves' auf, wie?«

»Nicht sofort. Erst vor einigen Jahren, kurz vor der zweiten Verheiratung meines Herrn verbot ihm dieser sein Haus.«

»Warum?«

»Ich weiß das nicht mehr so genau. Es handelte sich, wie ich mich erinnern zu können glaube, auch um Geldsachen.«

Wieder wandte sich Sir Malcolm an die Geschworenen.

»Wir haben hier gehört, daß Haley nicht nur mit dem ältesten Sohn des Hauses, mit dem gegenwärtigen Titelinhaber, persönlich bekannt war, sondern daß ihn eine gleiche Freundschaft in vielleicht noch intimerem Umfange mit einem zweiten Verwandten Lord Montaubans, dem Schwager desselben, verband. Diese Intimität erklärt uns vielleicht auch die Gründe, warum der Zeuge Haley den Horcher spielte, als die Beziehungen zwischen Lord Montauban und seiner zweiten Gattin gespannter wurden. Hat irgend jemand Sie beauftragt, Lady Winifred, die jetzt hier als Angeklagte weilende zweite Gattin ihres Herrn, zu beobachten und zu belauschen?«

Für Haley kam es jetzt, wie er sich sagen mußte, nur darauf an, sich aus dieser Sintflut von verfänglichen Fragen so gut wie irgend möglich herauszuwinden. Er war, wie alle Erpresser, im Herzen ein Feigling und suchte nur seine Haut zu wahren.

»Der jetzige Lord Montauban, wie auch Mr. Graves versprachen mir Geld, wenn ich sie von allem, was zwischen der zweiten Gattin und meinem Herrn vorkam, auf dem laufenden hielt.«

»Sie betätigten sich also im Auftrag der beiden Herren als Spion?«

Der Zeuge antwortete nicht.

»Nannten Ihnen die Herren irgendwelche Gründe für ihr Verlangen?«

»Mr. Graves meinte, es ließe sich vielleicht aus irgendeiner Unvorsichtigkeit der Hausherrin Gold schlagen. Der junge Herr aber nannte sie eine Erbschleicherin, der man so schnell wie möglich das Handwerk legen müsse.«

»Wußten Ihre Auftraggeber voneinander und von diesen, zwar aus verschiedenen Beweggründen herrührenden, aber immerhin dasselbe bezweckenden, doppelten Aufträgen an Sie.«

»Nein, im Gegenteil. Beide ersuchten mich, ja reinen Mund zu halten und niemandem etwas merken zu lassen.«

»Sie marschierten also getrennt, um vereint zu schlagen, wie?«

»Ich habe nicht verstanden.«

»Ist auch nebensächlich. Es war nur eine Bemerkung von mir, die dem Gerichtshof diese erbärmliche Intrige klar und deutlich machen sollte. War Ihnen die Angeklagte jemals zu nahe getreten?«

»Nein, Sir.«

»Sie wurden also gut von ihr behandelt?«

»Jawohl. Ich hatte nur wenig mit ihr zu tun, da ich speziell für den persönlichen Dienst bei dem Herrn bestimmt war.«

»Sie waren ihr also nicht irgendwie feindlich gesinnt, sondern handelten nur aus Geldgier?«

Wieder blieb der Zeuge stumm.

»Ich habe den Zeugen nichts mehr zu fragen, Mylord und meine Herren Geschworenen. Ich glaube aber, seine Aussagen sprechen Bände.«

Man war allgemein gespannt, wie wohl der Ankläger dieses Zerpflücken der ersten Blume seines Zeugenbuketts aufnehmen würde. Aber auch das anzügliche Husten Sir Algernons brachte die beiden Staatsanwälte nicht wieder auf den Plan. Sie schienen von diesem ihrem Zeugen genug zu haben.

»Der Zeuge ist entlassen«, verkündete der Vorsitzende, ohne auch nur einen Blick auf Haley zu werfen.

Von der Staatsanwaltschaft waren noch einige Hausangestellte als Zeugen geladen worden, um über im Haus umgehende Klatschereien, die sich sämtlich mit den Verhältnissen in der jungen Ehe befaßten, vernommen zu werden. Nicht ein einziges Mal stellte Sir Malcolm eine Frage. Sie alle wurden ohne Kreuzverhör entlassen.

Inzwischen war es fünf geworden, und der Richter hatte schon verschiedentlich nervös auf seine Uhr geschaut. Jetzt erhob er sich:

»Die bisherige Zeugenvernehmung hat nichts ergeben, was den Verdacht gegen die Angeklagte zu verstärken geeignet wäre. Im Gegenteil, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen der Anklagebehörde ist auf das schwerste erschüttert worden. Ich habe mich entschlossen, die Angeklagte gegen eine Sicherheitsleistung von zweitausendfünfhundert Pfund bis zum Abschluß der Verhandlung mit der Untersuchungshaft zu verschonen. Die Verhandlung ist auf morgen vormittag neun Uhr vertagt.«

Sprach's und verließ, ohne sich um die Ausrufe des Erstaunens und das vereinzelte schüchterne Beifallsklatschen aus dem Zuhörerraum zu kümmern, mit Richtern und Geschworenen den Saal.

Eine halbe Stunde darauf hatte Sir Malcolm im Auftrag Hans-Lothars mit seinem Namen für die Summe von zweitausendfünfhundert Pfund gebürgt. Zehn Minuten später sank Lady Montauban dem sie an der Gefängnispforte allein erwartenden Hans-Lothar in die weitgeöffneten Arme.


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