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VI. Kapitel.
Schatten.

Boscombe war nicht umsonst zum Spitznamen »Bulldogge« gekommen. Einmal in einen Fall verbissen, ließ er nicht los, bis er sich entweder selbst geschlagen geben mußte oder aber einen Schuldigen der Gerechtigkeit überliefern konnte. Seine hünenhafte Gestalt war in allen Teilen Londons bekannt. Nie machte er auch nur den geringsten Versuch, seine Persönlichkeit zu verbergen. Er ging die Verbrecher an wie ein Torero den Kampfstier.

Der Fall Montauban flößte ihm nicht allein des hohen Honorars wegen Interesse ein. Er liebte es, seiner früheren Behörde ein sicher geglaubtes Opfer aus den Zähnen zu reißen und ihr dadurch zu beweisen, welchen Fehler sie mit seiner vorzeitigen Entlassung begangen hatte. Daß er in Scotland Yard Feinde hatte, berührte ihn wenig. Wohl aber freute er sich der vielen Freunde, die ihm in der Zentrale verblieben waren. Ohne direkt indiskret zu fragen, erfuhr Boscombe doch alles, was »dort oben« vorging. Das große, rote Gebäude am Thames Embankment hatte ihn nie wieder in seinen Mauern gesehen, aber es gab wenig, was ihm von dem, was darin vorging, verborgen blieb. So war er auch lange vorher, ehe ihn Hans-Lothar betraute, genau unterrichtet, welches Material die Polizei gegen Lady Montauban ins Feld zu führen gedachte. Es genügte gerade, wie er sich selbst zugestand, um der Polizei unter günstigen Verhältnissen, gleichgültige Geschworene, skeptische Richter, zu einem leichten Sieg zu verhelfen. Boscombes Meinung war in allen Einzelheiten eine andere. Nicht mit Unrecht sagte er sich, daß Macdonald wohl kaum so dumm gewesen sein würde, nach allem Vorgefallenen einen Mord zu verüben und dann, Dummheit über Dummheit, zu flüchten. Die Erde barg kein Asyl für Mörder. Jedes Land würde einen solchen Verbrecher ausliefern. Geld zur Flucht hatte Macdonald ebenfalls nicht. Das wußte Boscombe, denn er hatte es sich angelegen sein lassen, mit aller ihm angeborenen Energie sich über die Verhältnisse des Verdächtigen zu unterrichten. Das Leben Macdonalds bot wenig des Interessanten. Der Mann war siebenundzwanzig Jahre alt, hatte eine dramaturgische Schulung wie viele seiner Kollegen durchgemacht und endlich, nach langem Suchen eine zweite Rolle im Covent Garden Theater zugewiesen erhalten. Seine männliche Schönheit, verbunden mit einem gewissen schauspielerischen Talent hatten ihm die Pforten der besseren Gesellschaft erschlossen. Vermögen besaß er so gut wie keines; er lebte von seiner nicht gerade übermäßig hohen Gage. Das Techtelmechtel mit Lady Montauban, wenn es diesen Namen wirklich verdiente, war harmlos. Davon war Boscombe so gut wie überzeugt. Nur der Klatsch konnte den Beziehungen zwischen den beiden jungen Menschen erhöhte Bedeutung zugeschrieben haben, der Klatsch und – – – Ja, so schloß Boscombe seine Mutmaßungen, der Klatsch und das Interesse irgendeines Menschen, dem daran gelegen sein mußte, zwischen dem greisenhaften Gatten und der jungen Gattin einen Keil zu treiben. Wer aber mochte dieses Interesse gehabt haben? Wenn man diesen Interessenten kannte, dann, dessen war sich Boscombe sicher, hatte man einen weiten Schritt zur Aufklärung dieses Verbrechens getan.

Drei Tage nach der Ueberweisung des Falles Montauban an das Schwurgericht, traf der Detektiv mit seinem Auftraggeber zusammen. Hans-Lothar sah man die Sorgen, die er sich um das Schicksal Winifreds machte, an.

»Haben Sie irgendwelche Spuren entdeckt, Mr. Boscombe?«

Der andere schüttelte den Kopf.

»Ich bin kein Fakir«, gab er mit ziemlicher Grobheit zurück. »Würden Sie«, setzte er dann sanfter hinzu, »dreihundert Pfund zur Ausschreibung einer Belohnung aufbringen können?«

»Jeden Betrag, wenn er dazu dient, die Schuldlosigkeit Lady Montaubans zu erweisen«, versicherte der Gefragte.

»Lesen Sie, Herr von Weiße.«

Boscombe schob seinem Besucher ein Blatt Papier zu.

»Dreihundert Pfund Belohnung
demjenigen Chauffeur, der am Abend des 27. Juni in der Mervyn Street einen jungen Mann, Ende der zwanziger Jahre, als Fahrgast annahm. Glattrasiert, etwas über Mittelgröße, nervöses Benehmen. Zu melden: Boscombe, 145 Bishopsgate.«

Hans-Lothar starrte sein Gegenüber an:

»Sie haben eine Spur entdeckt?« fragte er verhalten.

»Nicht gerade eine Spur, sondern nur den Schatten einer solchen«, bestätigte Boscombe. »Ich sagte mir, daß, gleichgültig ob Macdonald das Verbrechen begangen hat oder nicht, er sich nach dem Mord irgendwo aufgehalten haben muß. Hat er das Verbrechen begangen, dann mußte er so schnell wie möglich Schottland zu verlassen suchen und wieder in London untertauchen. War er unbeteiligt, kann er auch dann London nicht verlassen haben. Damit rechnete ich, als ich seine Wirtin aufsuchte, um die würdige Dame auszuholen. Erst wollte sie nicht mit der Sprache heraus. Sie wisse nur wenig, und das wenige habe sie bereits dem Yard mitgeteilt. Endlich aber kam doch noch einiges Wissenswerte zum Vorschein. Am Nachmittag des 27. Juni sei Macdonald gegen halb sechs höchst aufgeregt nach Hause gekommen, habe sich sofort umgekleidet und ein Auto verlangt. Dann habe er sich des längeren, von ihr verabschiedet, was sonst keineswegs üblich bei ihm war. Als sie ihn daraufhin nach seinen Plänen für den Abend fragte, teilte er ihr mit, daß er einen wichtigen Besuch zu machen habe. ›Um Gottes willen,‹ fügte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr hinzu, ›schon halb sieben. Ich muß mich beeilen. Es wird schon irgendwo eine Taxe zu bekommen sein. Gute Nacht, Frau O'Donnell.‹ Macdonald verließ das Haus. Er verschwand. Die Wirtin Macdonalds gab mir auch einige andere Einzelheiten aus dem täglichen Dasein des Gesuchten zum besten, die mir bei meinen Nachforschungen sehr zustatten kommen werden. Soweit ich unterrichtet bin, hat kein Mensch ihn wiedergesehen.«

»Und die Wirtin hat von dieser Besprechung nichts der Polizei mitgeteilt?«

»Nein. Sie hatte es satt, sich von den ›Bullen‹, wie sie die Vertreter der öffentlichen Sicherheit bezeichnete, ausfragen zu lassen«, lachte Boscombe. »Da Macdonald seine Absicht, sich ein Auto zu nehmen, äußerte, schrieb ich dieses Inserat aus, das morgen in allen Londoner Zeitungen an sichtbarer Stelle erscheinen wird. Wenn irgend etwas Erfolg verspricht, dann ist es diese Belohnung von dreihundert Pfund.«

»Sie haben recht, Mr. Boscombe, und ich danke Ihnen. Hier haben Sie einen Scheck für die Summe. Wenn Sie wieder Geld brauchen, sagen Sie es mir.«

Der Erfolg des Ausschreibens der Belohnung war verblüffend. Am nächsten Tag hatte Boscombe alle Hände voll zu tun, ein halbes Dutzend Chauffeure zu überzeugen, daß die Leute, die sie angeblich in der Mervyn Street aufgenommen hatten, mit dem gesuchten Macdonald nicht identisch waren. Endlich kam der letzte der wartenden Taxileute an die Reihe. Er war ein intelligent aussehender Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren.

»Sie sind Mr. Boscombe?« fragte er, als er das Büro betrat. »Der Mann, der die dreihundert Eier Belohnung ausgeschrieben hat? Nun, ich glaube, ich werde sie von hier mit fortnehmen. Ich habe jenen jungen Mann gefahren.«

»Das behaupteten die sechs, die vor Ihnen hier dieses Zimmer in der Hoffnung auf dreihundert Pfund betraten, ebenfalls«, erwiderte skeptisch der Spender des Vermögens.

»Ich weiß, Sie haben mir draußen alles erzählt. Aber, Sir,« setzte er ernsthaft hinzu, »ich bin der richtige.«

»Schießen Sie los.«

»Und das Geld?« fragte mißtrauisch der Chauffeur.

»Ist Ihnen sicher, sobald Sie mich überzeugt haben, daß Sie es zu beanspruchen haben.«

Achselzuckend, als wäre er sich dessen noch immer nicht ganz sicher, zog sich der Mann einen Stuhl herbei und nahm breitspurig Platz.

»Der siebenundzwanzigste Juni war doch der Tag, an dem in Pentonville Musgrave hingerichtet wurde, der Mörder des Dienstmädchens Taylor, nicht wahr?« begann er. Als Boscombe nach einem Blick in ein Notizbuch überrascht nickte, fuhr der andere fort: »Ich hatte an dem Tag vier Fuhren nach Pentonville, die mir achtzehn Schilling einbrachten. Um ein Uhr ging ich zum Lunch, den ich mir angesichts der guten Trinkgelder des Tages bei Lyons in der Marble Arch leistete. Um zwei Uhr hatte ich gegessen. Dann kam eine Flaute bis gegen sechs. Gegen sechs Uhr dreißig – ich hörte es von der Kirche schlagen – fuhr ich langsam die Mervyn Street entlang, um, wenn ich auf dem Heimweg nichts erwische, einzufahren. Vor der Nummer dreiundzwanzig wurde ich angerufen. Ein ziemlich aufgeregter junger Mann wollte wissen, ob ich frei sei. Als ich bejahte, sprang er ohne ein weiteres Wort in den Wagen. ›Wohin wollen Sie, Sir?‹ ›Fahren Sie, so rasch Ihre alte Karrete uns fahren kann, nach der Baker Street U-Bahn.‹ ›Wollen Sie von dort weiter, Sir? Das Geschäft war heute nicht besonders‹, log ich, ›und wenn Sie weiter wollen, würde ich Sie billig fahren.‹ Er starrte mich an. ›Ich will nach Kings Square neunzehn. Was verlangen Sie bis dorthin?‹ ›Sieben Schilling, Sir, von hier aus.‹ ›Gut, fahren Sie.‹«

»Wie sah der Herr aus?«

»Genau so, wie Sie ihn beschrieben. Er hatte eine Aktenmappe unterm Arm, die er, während er mich anrief, erregt hin und her baumeln ließ.«

»Wie war er gekleidet?«

»Er hatte einen grauen Stetson auf, sah damit wie ein Maler aus. Außerdem trug er Knickerbockers von einer merkwürdigen braunen Farbe, ähnlich wie Milchkakao. Braune Schuhe und eine himmelblaue Kravatte vollendeten den merkwürdigen Aufzug.«

»Warten Sie.« Boscombe hatte bei seinem Besuch bei Mrs. O'Donnell ein Telefon auf der Diele des Hauses hängen sehen. Nun suchte er die Anschlußnummer.

»Mayfair neunundachtzig-neun-neun-sieben«, verlangte er von der Zentrale.

Bald darauf meldete sich die Wirtin Macdonalds.

»Hier ist Boscombe, der Detektiv, der vor einigen Tagen bei Ihnen wegen Mr. Macdonald vorsprach. Können Sie sich erinnern, wie Ihr verschwundener Mieter an jenem Abend des siebenundzwanzigsten gekleidet war?« Nach kurzer Ueberlegung schien sich die Frau zu einer Auskunft entschlossen zu haben. Die von ihr gelieferte Beschreibung stimmte in allen Punkten mit der vom Taxichauffeur gegebenen überein. Der Mann hatte sich seine dreihundert Pfund verdient. Boscombe hängte mit kurzem Dank ab und suchte den Scheck aus seinem Schreibtischfach heraus.

»Hier haben Sie Ihren Scheck, mein Lieber. Sie haben sich ihn ehrlich verdient. Nun aber werden Sie noch etwas für das Geld leisten müssen.«

»Was Sie wollen, Sir«, erwiderte freudestrahlend der andere. »Jetzt kann ich mir meinen eigenen Wagen kaufen. Vielen, vielen Dank. Und noch etwas, Sir, jener Herr hat in meinem Wagen etwas vergessen.« Er zog einen Briefumschlag aus der Tasche und reichte ihn seinem Wohltäter. »Diesen Brief ließ er auf dem Polster liegen, Sir.«

Wie ein Habicht stürzte sich Boscombe auf den Umschlag. Er enthielt nur ein mit wenigen Zeilen beschriebenes Papier:

»Sie werden in Ihrem und im Interesse der bekannten Dame gut tun, meiner Aufforderung, bei mir vorzusprechen, Folge zu leisten.«

Der Bogen trug keine Unterschrift.

»Was soll ich für Sie tun, Sir?« riß die Stimme des dankbaren Chauffeurs den in tiefes Nachdenken versunkenen Detektiv aus seinem Sinnen.

»Ach so. Sie müssen mich nach dem Kings Square fahren, zum Haus, wohin Sie jenen Mann brachten.«

»Ist gemacht, Sir, ich warte unten auf Sie.«

Wenige Minuten später ratterte der alte Wagen mit seinem Gratisfahrgast bereits dem Nordosten Londons, dem Kings Sqare zu.

Der Platz lag, als Boscombe einige Häuser von der No. 19 entfernt ausstieg, bereits im abendlichen Halbdunkel, doch war das Gebäude, das Macdonald so kurz vor seinem Verschwinden aufgesucht hatte, noch gut zu erkennen. Es war eines der alten Backsteinhäuser, wie sie in jener Gegend der englischen Metropole zu tausenden zu finden sind. Die sandbestreuten, blitzsauberen Granitstufen führten zur messingbeschlagenen, eichenen Haustür empor, von deren Füllung sich ein altmodischer englischer Klopfer neben einer modernen Klingel abhob. Die Front des Gebäudes bot einen ziemlich düsteren Anblick, da sie weder die gewohnten Nischen, noch irgendeinen Vorsprung aufwies. Die Vorhänge sämtlicher Fenster des ersten Stockes des zweistöckigen Gebäudes waren vorgezogen, während der zweite Stock zwei erleuchtete Fenster aufwies. Mit einigen Sprüngen war Boscombe zur Haustür geeilt. Ein einziges Schild aus blitzblankem Messing verriet, daß das Haus nur eine Partei beherbergte. Als Boscombe den Namen derselben las, pfiff er überrascht vor sich hin. Dann bestieg er wieder seinen Wagen und ließ sich von dem dankbaren Chauffeur ins Stadtinnere bringen. An der Chancery Lane verließ er den Wagen.

Im »Bären und Jäger«, einer obskuren Kneipe in Brushfield Street, einer Seitenstraße der Commercial Street, im Osten Londons, herrschte um die zehnte Stunde dieses ereignisreichen Tages lebhaftes Treiben. Meist waren es beurlaubte Schiffsmannschaften, die in diesem Lokal Abwechslung von ihrem eintönigen Bordleben suchten und fanden. Der Clou des Lokals schienen zwei einarmige Bandonionspieler zu sein, die »siamese twins«. Der eine hatte nur noch den rechten, der zweite den linken Arm. Der mit dem rechten hatte sich das Bandonion über die Brust gehängt und gab nun, unterstützt von der linken Hand seines Genossen, die schönsten Schlager der Saison zum besten. Ein jedes Stück der beiden Künstler wurde von den Anwesenden mit tobendem Beifall belohnt. Die vollen Gläser, von wohltätigen Gästen gespendet, nahmen vor den beiden gar kein Ende. Sie waren auch schon ziemlich angeheitert, was aber ihrer musikalischen Fertigkeit keinen Abbruch zu tun schien. Sie setzten das Konzert beinahe pausenlos fort.

In der Nähe des Büfetts saß Boscombe, wie gewöhnlich in seiner vollen Glorie und leicht erkennbar. Verschiedene der Anwesenden, die mit ihm früher einmal »beruflich« in Berührung gekommen waren, hatten ihn lebhaft und herzlich begrüßt. Boscombe, gradlinig und offen wie er war, schien hier ziemlich beliebt zu sein. Nur ein einsam an einem Tisch in der Nähe der Tür sitzender Mann, dessen graues Haar auf ein Alter Ende der Fünfzig hinwies, hatte sich diesem Begrüßungschorus nicht angeschlossen. Hin und wieder warf er Boscombe finstere Blicke zu, als beherberge er wenig freundschaftliche Gefühle für den ehemaligen Kriminalbeamten.

Endlich richtete Boscombe eine Frage an ihn:

»Warum so traurig, Jonny? Haben sie dir wieder eine Tour vermasselt?«

Der andere nickte finster.

»Ihr verd... Blinker habt ja weiter nichts zu tun, als unsereinem das Leben schwer zu machen«, klagte er.

»Du sprichst von ›ihr‹? Ich bin doch seit langem nicht mehr bei deinen ›Freunden‹.«

»Weiß ich; Sie haben mir ja selbst meinen letzten Knast versorgt, Boscombe. Nicht, daß ich Ihnen das übelgenommen hätte«, setzte er großmütig hinzu. »Das war eben Ihr Beruf, und Sie haben ihn immer auf anständige Weise ausgeführt. Aber die anderen Halunken dort droben«, er wies in die Richtung nach Scotland Yard. »Nicht einen Augenblick lassen sie einen in Frieden.«

»Komm, Jonny Wilkens, setz dich mit hierher. Wenn ich auch kein großes Gehalt mehr beziehe, zu einem Glas für einen alten Kunden langt's schon noch bei mir.«

»Jonny« kam. Er schien sich selbst nach Gesellschaft gesehnt zu haben.

»Was haben Sie dir denn angetan?« wollte Boscombe den Grund der Verdrießlichkeit seines Gastes wissen.

Der andere zögerte mit der Antwort. Dann aber überkam ihn der Aerger.

»Ich habe meinen letzten Knast, drei Jahre, treu und redlich abgesessen«, brach er los. »Können die Gesellen einen dann nicht in Ruhe lassen? Nein, einmal ein Dieb, immer ein Dieb. Gestern abend kam ich aus einem Haus am Kings Square, und schon hatte mich so ein verd... Plattfußindianer, ein Bulle, am Hals.«

Boscombe stutzte, als er hörte, wo Jonny Wilkens sich befunden hatte, als er aufgegriffen worden war.

»Nun, und? Eingesperrt können sie dich doch nicht haben, sonst wärest du doch nicht hier«, ermunterte ihn Boscombe zu weiterem Vertrauen.

»Haben sie auch nicht, aber mitgenommen haben sie mich zur Wache. Wollten wissen, was ich in der ›Neunzehn‹ gemacht hätte. Als ich ihnen sagte, sie möchten dort anfragen, haben sie's getan und mußten mich natürlich laufen lassen. Schöne Wut hatte der Inspektor«, setzte er besser gelaunt hinzu, als er sich des Mißmutes der Beamten erinnerte, mit dem sie ihn der Freiheit wiedergaben.

Boscombe wußte, wie diese »Herrschaften« auszupumpen waren.

»Nun, was hast du denn in der ›Neunzehn‹ gemacht, Jonny? Klinken geputzt?« (Gebettelt.)

Der andere war beleidigt.

»Sowas mache ich nicht«, verwahrte er sich gegen den Verdacht. »Ich suchte einen Freund auf.«

»Donnerwetter, du hast aber vornehme Freunde. Kings Square ist doch ein ziemlich teueres Quartier.«

»Ja, Graves hat auch Geld. Woher, das weiß ich allerdings nicht. Aber Eddy war immer helle. Er hat ja auch reiche Verwandte.«

Graves?! Beinahe hätte sich Boscombe durch eine ungeschickte Frage verraten. Im letzten Augenblick noch hielt er sie zurück und gab sich den Anschein, als interessierten ihn die Mitteilungen Jonnys gar nicht. Das war die beste Methode den anderen auszuholen. Jener ließ mit weiteren Mitteilungen auch nicht lange auf sich warten.

»Ich kenne Graves schon viele Jahre. Wir haben in Dartmoor zusammen in der Buchbinderei gearbeitet.«

»Graves? Ist er denn auch ein Ganove? Ich habe noch nie von ihm gehört?«

»Er ist auch nicht in meinem Fach tätig gewesen. Er ist ein Rotgänger, ein Totschläger.«

»Wie kommst du zu solcher Gesellschaft?« verwunderte sich Boscombe, der Wilkens als Feigling kennen gelernt hatte.

»Er hat mir geschrieben, ich solle ihm bei etwas behilflich sein.«

»So?« fragte interesselos der Detektiv, obwohl ihm das Herz höher zu schlagen begann. »Nimm dich in acht, Jonny, daß du nicht mal in Graves' Gesellschaft den famosen Morgenspaziergang zum Galgen antreten mußt. Mit ›Rotgängern‹ zu arbeiten ist für deinesgleichen nicht ratsam.«

Dem andern sah die Angst aus den Augen.

»Diesmal hat meine Hilfe für Eddy mit ›Rotgehen‹ nichts zu tun, Mr. Boscombe«, verteidigte er sich. »Graves hat ein Motorboot gekauft und fährt jeden Abend fischen. Dabei sollte ich ihm helfen, die Netze auszulegen.«

Boscombe war starr vor Verwunderung. Graves war unter die Jünger Petris gegangen? So etwas war noch nicht da gewesen. Ein Mann, der viele Jahre im Zuchthaus gesessen hatte, weil ihm sein Nächster nicht heilig war, sollte eine so zahme Beschäftigung versuchen. Ausgeschlossen. Da steckte etwas dahinter, was das Licht des Tages zu scheuen hatte, wenn auch Jonny Wilkens davon keine Ahnung haben mochte.

»Er will wohl einen Großfischerei-Betrieb einrichten, wie?«

»Nein, das nicht. Was er eigentlich ausgeheckt, weiß ich nicht. Er schleppt jeden Abend eine Menge Netze mit auf die Themse hinaus, bei deren Auslage ich ihm helfen soll.«

»Hat er denn schon etwas gefangen?«

»Nee.« Jonny lachte. »Heute abend soll's wieder hinausgehen. Ich bekomme jedesmal zwei Pfund als Arbeitslohn.«

»Soviel ist ihm deine Tätigkeit wert?« verwunderte sich Boscombe, dessen Verdacht reger wurde.

»Muß doch, sonst zahlte er sie ja nicht. Er hat eben einen Fimmel, und da kann man nichts gegen machen.«

Sein Gastgeber war davon gar nicht so überzeugt. Diese neueste Leidenschaft Graves' sollte etwas verbergen, was zu wissen Boscombe auf's höchste interessierte. Er beschloß, sich der Mitarbeit Jonnys zu versichern, ohne von dem Zweck, den er im Auge hatte, mehr zu verraten, als notwendig war.

»Wo hat denn Graves diese Fischerei gepachtet?«

»Auf der Themse.«

»Er kann doch nicht die ganze Themse abfischen.«

»Tut er doch auch nicht. Sein Boot hat er am Fuß der Cannon Street liegen, wo auch die Netze aufbewahrt sind. Jeden Abend, den wir draußen zubringen, schleppt er eine große, schwere Kiste mit, in der er, wie er sagt, seine Beute nach Hause schaffen will. Bis jetzt sah es damit recht ›mau‹ aus. Das erste Mal fingen wir überhaupt nichts. Wir hatten alle Hände voll zu tun, die leere Kiste ins Auto zu transportieren, als wir zu Graves zurückfuhren. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß es doch unsinnig sei, so eine Last mitzuschleppen, aber er fuhr mich an: ›Ich sollte meine Meinung für mich behalten. Ich bekäme nicht fürs Reden, sondern für meine Hilfe beim Tragen der Kiste bezahlt.‹ Dann fragte er mich, ob ich schwimmen könne, und als ich verneinte, lachte er und meinte, ich solle es schleunigst lernen. Eines schönen Tages könnte doch sein Motorboot umkippen und ich müßte elendiglich ersaufen. Solche Witze macht Eddy Graves.«

Was mochte wohl dieser seltsame Fischer mit dem Herumschleppen der Kiste bezwecken. Boscombe beschloß, diesen merkwürdigen Fischzug bei nächster Gelegenheit zu verfolgen und zu beobachten.

»Wann wollt ihr denn wieder hinaus?« erkundigte er sich.

»Morgen abend um elf.«

Der Detektiv wußte genug. Sein zufälliger Aufenthalt im »Bären und Jäger« versprach Früchte zu tragen. Jonny Wilkens hielt vielleicht den Anfang des Fadens in der Hand, der dieses Labyrinth um die Ermordung Lord Montaubans entwirrte.


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