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13.

Jemand klopfte ans Fenster: »Eh, Prow Michailytsch!«

Matrëna öffnete das Fenster: »Er ist nach Nasimowo geritten.«

»Ach, du lieber Gott!«, sagte zerstreut der lahme Semka, während die rings um ihn stehenden Bauern wie aus einem Munde riefen: »Nun, dann hilfts nichts, dann müssen wir seinen Gehilfen suchen, Obabka!«

»Der Gehilfe ist besoffen.«

»Wer ist besoffen?«, schreit plötzlich Obabok, der irgendwoher auftauchte: das eine Bein steckt in einem Filzstiefel, das andere war barfuß, das Hemd hatte den Gürtel verloren und hing nur noch in Fetzen über dem muskulösen Körper, die rechte Hand blutig, das Gesicht satanisch: »Wer ist besoffen?«, schreit Obabok noch einmal, schnieft und blickt hartnäckig auf die Erde.

»Man muß die Bauern bewaffnen: sie müssen die Landstreicher fangen, die hinter dem Viehhof sitzen … Semka, wieviele sind das?«, fragen die Bauern.

»Man muß sie fangen, muß sie greifen … Alle zusammen … Los!«, dröhnt Obabok, legt die Hand auf den Rücken und geht von den Bauern weg.

»Er hat gut rufen: Los! … Bewaffne sie doch, Du Teufel! … Zieh' Dich erst an … Du frierst ja!«, riefen ihm die Bauern nach.

»Lo-o-os!!«, schreit Obabok noch viel lauter.

»Halt einmal … Wer soll gehen?«

»Lo-o-os!!«

»Soll er doch zum Teufel gehen!«, brummen die Bauern unzufrieden.

Aber Obabok reißt eine Latte aus einem Zaune, schwingt sie, marschiert die Dorfstraße entlang und brüllt: »Wenn ich den Kerl bloß erwische … den Lumpen!! Mich einsperren?! Mich?! Ha-ha! Ich mache ihn kalt!! Bei Gott, ich mache ihn kalt!«

Die Bauern suchten die fünf Nüchternsten aus und die rückten, geführt von Semka, alle mit geladenen Gewehren bewaffnet, zum Viehhof.

Es war eine dumpfe, nördliche Nacht.


Die Hähne krähten schon zum zweiten Mal. Aber Matrëna konnte nicht schlafen, immer noch erwartet sie Prow. Es war ihr gar nicht gut: sie lag auf der Bank und stöhnte. Da sieht sie plötzlich, wie die Ofenklappe von selbst aufgeht, ein zottiger dicker Kerl, halb Mensch, halb Teufelstier, jedenfalls ein Wunderwesen, aus dem Loche herauskriecht, ein Messer schwingt und ruft: »Ich will dem Weibe das Herz herausschneiden.« Matrëna will schreien, aber sie hat keine Kraft, der Zottige sitzt schon auf ihr, preßt ihr die Kehle zu und sagt: »Wo ist Dein Herz, wo ist es? …«

»Die Landstreicher! Sie bringen die Landstreicher!«

Matrëna schrie auf, sprang auf ihre Füße, bekreuzigte sich, holte Atem und wandte sich zum Fenster. Auf einem Pferde reitet ein Mann und schreit durchs ganze Dorf: »Die Landstreicher! Sie bringen die Landstreicher!«

Im Osten war die Morgenröte hinaufgestiegen. Die Lieder auf dem Hügel waren verstummt und in den Büschen am Flußufer probten die ersten Vögel schüchtern ihre Stimmen.

Auf dem Dorfplatze hatte sich inzwischen das ganze Volk versammelt, das die fünf eben aus der Taiga hergebrachten Landstreicher mit einem lebenden, immer stärker werdenden Ring umschloß. Die trunkenen, schlaflosen Gesichter der feiernden Bauern waren mürrisch und verschlossen.

Alte und Junge waren sie müde, kräftige Männer und tanzfreudige Jugend, sie traten von einem Fuß auf den anderen, drängten sich nach vorn, unterhielten sich laut und leise, warfen den Landstreichern feindliche Worte zu und kicherten, hatten Mitleid mit ihnen und ballten die Fäuste, möchten ihnen sagen: »A, Ihr armen Kerle!« – und waren bereit, sich auf sie zu werfen und sie in Grund und Boden zu trampeln.

Die Landstreicher fühlten das auch. Nicht umsonst machten sie so demütige Gesichter. Nur der alte Lechman konnte seine Empörung nicht unterdrücken, mit gerunzelter Stirn saß er auf einem Baumstamm und blickte die Bauern finster an.

Sogar Andrej, der Politische, hatte sich nicht mehr in der Gewalt. Seine entzündeten Augen schienen gierig jemand in der Menge zu suchen. Mit halboffenem Munde, nach Atem ringend und die vertrockneten Lippen mit der Zunge netzend, murmelte er in einem fort: »Ich habe gar nichts mit Euch zu tun … Hört Ihr? …Ich gehe Euch gar nichts an!« Aber niemand achtet auf ihn.

»Hört Ihr? Wo ist der Dorfälteste? Wo ist sein Gehilfe?«

»Laß sie, mein Lieber«, flüstert ihm Anton leise zu, »die Kerle sind ja so besoffen, es hat keinen Zweck.«

Der alte gottesfürchtige Ustin steht näher an den Landstreichern, er redet ihnen freundlich zu: »Kinder, wir sind gar nicht so böse Kerle … wir … wie Ihr denkt.«

»Wieso seid Ihr eben nicht böse«, antwortet ihnen Lechman wütend. »Frag' mal unseren Kameraden,« sagte er und zeigte auf Anton. »Weshalb hat der Bauer ihm eins auf's Ohr gegeben, daß ihm das Trommelfell geplatzt ist? Ist das etwa verständig?«

»Deshalb, weil Ihr solche gemeinen Frevler seid«, antwortete voll Empörung eine Frau im roten Tuch.

»Frevler?«, erhöhte Lechman seine Stimme. »Was haben wir an Dir denn gefrevelt, Tantchen? … Sag' es!«

»Ihr kriecht jetzt einmal dort hinein«, unterbricht ihn Ustin, »dort in die Räucherkammer, dort werdet Ihr mit Gott schlafen, so lange die Bauern noch am Feiern sind, und dann werdet Ihr wieder herausgelassen. Keschka, schließ die Zelle auf!« Und sich zu den Frauen wendend, fährt er fort: »Und Ihr, Weiber, bringt den Männern was zu Fressen … Milch, oder so etwas.«

»Nun, meinetwegen«, antwortete die Frau im roten Tuch und ging fort.

»Keschka, mach' die Räucherkammer auf!«, kommandierte Ustin von neuem. »Kinder, kriecht mit Gott hinein!«

»Unsinn, Alter, Du hast gar kein Recht dazu!«, schreit Andrej und droht Ustin mit dem Finger. »Ich bin kein Landstreicher, verstanden?«

Das Volk begann auseinanderzugehen. Der blödsinnige Glöckner Timocha blickte auf den roten Morgenhimmel, überlegte sich eine Weile, kratzte sich am Rücken und ging dann zur Kapelle »die Stunde zu schlagen.«

Anton versuchte weiterhin, Andrej zu beruhigen. »Es hat keinen Zweck, Andrejuschka … Morgen früh … Laß' sie erst mal ausschlafen und nüchtern werden.«

Ustin und der Wächter Keschka machten sich an der Zelle zu schaffen.

»So, Kinder, jetzt geht hinein … Es hat doch keinen Zweck.« Keschka brachte ein Licht aus dem Gemeindehaus. Die Frau im roten Tuch brachte zwei Krüge Milch und Eier und Brot.

»So ist's recht«, lobte sie Ustin und legte die Hände auf den Rücken.

Timocha schlug aus Begeisterung dreimal auf die Glocke.

Ustin blickte zum Hügel hinauf, wo die Kapelle stand und sagte wiederum: »So ist's recht!«

Die Landstreicher berieten untereinander und gingen schließlich in die Zelle.

Wanjka Swistopljas machte sich sofort über die Milch und trank sie zur Hälfte aus. Aber Andrej, der Politische, wollte immer noch nicht hineingehen: »Laßt mich frei … Ich bin ein Politischer!«

»Ein Politischer?! Ha-ha … Schon möglich … Es hat schon immer solche Politiker gegeben … Den ganzen Weg hat er uns die Ohren vollgequasselt, Du Skelett … Du bist wahrscheinlich ausgerissen? A?!«, erklärte auf einmal die Wache, die mit ihrem Gewehr vor der Zelle stand.

»Aber, meine Herren, ich sage nochmals in allem Ernst … Laßt mich frei!«

»Hier gibts keine Herren«, verwiesen ihn die Bauern streng, »aber wenn wir etwas befehlen, dann wird's auch gemacht.«

»Ich möchte Anna«, verlangte Andrej aufgeregt. »Die Jungfrau Anna …«

»Bei uns kannst Du Annas haben, so viel Du willst«, witzelten die Bauern.

Der alte Ustin wollte nun endlich schlafen, und auch den andern ward es über.

»Keschka, nimm ihn! … Kinder, faßt an!«

Sie packten Andrej.

»Halt!«

»Keschka, faß zu!«

»Komm doch, Andrej, der Teufel soll sie alle holen«, dröhnte Lechman in seinem Baß.

»Auf keinen Fall!«, riß sich Andrej aus den kräftigen Armen los. »Ihr Teufel, Ihr Tölpel! .. Holt die Mutter von Anna … Ihren Vater … Den Starosten!«

»Keschka, schließ zu!«

»Ihr werdet es zu verantworten haben, Ihr Holzköpfe!«, stemmte sich Andrej gegen die hinter ihm zugeschlagene Tür.

»Hast Du sie richtig zugemacht?«, fragte Ustin.

»Auch eine Mücke kann nicht hinauskriechen«, antwortete der Wächter Keschka vergnügt.

»So, Kinder, jetzt geht nach Haus!«, befahl Ustin, dem es Spaß machte, die Leute zu kommandieren. Dabei zeigte er mit der Hand rings in die Runde.

Matrëna lag auf ihrem Bett und dachte an Anna, an Prow, ob ihn in der Taiga nicht ein wildes Tier angefallen habe. Sie wollte so gern schlafen, aber der Schlaf kam nicht, und im Zimmer wurde es schon wieder hell. Sie stand auf, verhängte das Fenster und legte sich wieder. Da hört Matrëna, im Wasser plätschert irgend etwas. Sind es die Kühe, die durch die Furt kommen? Das war doch nicht deren Zeit.

Sie dachte hieran, daran, aber ihr Kopf war müde, sie konnte keine klaren Gedanken fassen, sie verwirrten sich und flossen dahin, wie Wasser über die Steine des Baches … Aber sie spürt doch: draußen wiehert ein Pferd, und ein Mensch redet. Sie denkt erst, es sei ein Traum, wieder derselbe Traum, das zottige Ungeheuer, das aus dem Ofenloch herauskriecht, aber jetzt klopft es.

»He, Matrëna Larionowna!«

Sie sprang auf, richtete ihr Hemd, strich die dichten Haare zurück und steckte den Kopf zum Fenster hinaus.

»Ach«, fuhr sie zusammen und erschreckte: »Jetzt ist Anna tot.«

»Mach' auf, rasch, laß mich ein!«

Mit Mühe findet sie die Tür. Ganz in Gedanken läuft sie zum Hoftor.

Der Fremde tritt, das Pferd am Zügel, ein: »Ich bin unterwegs krank geworden … Augenblicklich ist mir aber besser.«

»Iwan Stepanytsch! … Wo ist Prow? Was ist mit Anna?«

Borodulin führte sein Pferd in den Stall. »Kannst Du mir Heu geben?«

»Wie geht's meiner Tochter?!«, schreit Matrëna ganz außer sich.

»Mir haben sie Geld gestohlen, deshalb bin ich hergeritten!« sagte Borodulin, ohne auf ihr Geschrei zu hören.

»A?!«

»Geld, Geld haben sie mir gestohlen!«

Matrëna zitterten die Beine so, daß sie sich auf die Stufen setzen mußte: »Da war er nun wirklich, der zottige Teufel … Jetzt war er gekommen, ihr das Herz herauszuschneiden«.

Der Hahn schlug mit den Flügeln und krähte. Tausend andere Hähne antworteten. Vor ihren Augen erlosch das Licht.

»Komm, wir wollen in die Hütte gehen. Was ist denn mit Dir los?«, beugt sich Borodulin über sie. »Anka läßt Dich schön grüßen … Prow Michailytsch habe ich unterwegs getroffen … Es geht ihnen beiden, Gottlob, gut.«

Vor Matrënas Augen wurde es auf einmal wieder Tag. Der Hahn krähte von neuem, aber die tausend anderen Hähne antworteten diesmal nicht. »Wer hat Dir das Geld gestohlen?«, fragte Matrëna mühsam, kaum daß ihr die Zunge gehorchte.

»Ich weiß es nicht!«

»Geh, aber hast Du mich erschreckt.«

Sie geht voran, groß und stattlich, und die Stufen quietschen unter ihren Schritten.

»Ganz wie die Mutter«, denkt Borodulin an Anna, und geht die Stufen hinauf.

»Wie geht es unserer Tochter?«

»Danke, durch Gottes Hilfe gut.«

Ganz rot vor Aufregung erzählte jetzt der Kaufmann von Anna, von sich selbst, von seinem neuen Leben, versprach das Blaue vom Himmel herunter, machte Scherze und witzige Bemerkungen, schwur bei Gott und bat um Verzeihung.

»Ist das nicht doch ein Traum?« – denkt Matrëna.

»Sag mal, Gott mit Dir, bist Du etwa besoffen?« Der frohe Schreck in ihren Augen erlosch, ihr Atem ging kurz und abgerissen, ein Schauer überlief sie.

»Ech, Matrëna Larionowna … Wenn ich könnte, würde ich ein großes Messer nehmen, mir das Herz herausschneiden und Dir zeigen: Da sieh! Ich kann ohne Anna nicht leben … Kannst Du es nicht verstehen?« Der Kaufmann ging schwankend und stotternd im Zimmer herum, und sein Gesicht ward bald rot, bald weiß.

»Matrënuschka, ich muß mich hinlegen … In der Taiga wurde ich krank, lag ohne Besinnung und weiß nicht, wann Prow weggeritten ist. Als ich vor Kälte erwachte, war ich ganz erstarrt, da sehe ich Zweige auf dem Wege, und ein Zweig war angebunden und zeigte mir die Richtung. Ich saß auf und ritt, wie der Zweig zeigte … Aber … Jetzt kann ich wirklich … nicht mehr … Ich werde mich aufs Bett legen … Ich muß erst mal schlafen.«

»Geh doch lieber in die Scheune, ich werde Dir zwei Pelze hinbringen. Denn hier …« Sie wurde verlegen. »Sieh mal, ich bin allein … Wenn Prow da wäre … wäre es etwas anderes  … Bei uns hängen die Leute schnell etwas an … Geh lieber, Väterchen!«

Als Borodulin in der Scheune unter dem Pelz lag, fragte er alles mögliche: war jetzt jemand aus Nasimowo hergekommen? Nein, aber sie hatten einige Landstreicher gefangen, Gott weiß, woher sie waren. Der Traum hatte es Anna gezeigt: »Du wirst das Geld finden, wenn Du«, was aber geschehen mußte, das wußte er nicht. Hatte es Anna nicht ihr Schutzengel gezeigt, man mußte jemand deswegen fragen, vielleicht den Priester? He, er hatte nicht mal die Messe abhalten können, Ustin hatte sie lesen müssen, aber der Pope hatte mit den Mädchen auf der Wiese »Dritten abschlagen« gespielt, beinahe wäre er mit den Burschen wegen Tanjka in ein Handgemenge geraten, man mußte sich beim Erzbischof beschweren. Was war das für ein Seelsorger. Pfui!

»Nun, schlaf' Iwan Stepanytsch … Also mit dem Mädchen ist wirklich nichts los, mit Anka? Was die zusammengelogen hat, die Giftkröte, die Awdocha … Cholëra!«

»Ja, ein Luder ist Deine Awdocha, weiter nichts. Ein ganz gemeines Aas!«

Matrëna schlug die Scheunentür zu, ging in die Hütte, setzte sich an das Fenster, aber ward doch nicht froh. Wenn der Kaufmann auch noch so schön erzählt und gesprochen hatte, das Herz tat ihr immer noch weh!


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