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9.

Iwan Stepanytsch Borodulin ritt aus der Kreisstadt in das Heimatdorf Nasimowo. Den Urjädnik hatte er in der Kreisstadt nicht angetroffen: er war ausgeritten, drei Morde aufzuklären.

Borodulin wußte, daß der Dieb ein Bewohner von Nasimowo war und wahrscheinlich am ehesten einer von der – »Kriminalverbrecherbande«.

»So ein Lump, Teufel. Warte, der Kerl hat sich wahrscheinlich nach Kedrowka gewandt … Dort ist heute ja großer Betrieb zum Feiertag … Dort wird er sich wohl herumtreiben … Ich werde gleich hinreiten.«

Er tat das keineswegs aus Geiz: dreihundertfünfzig Rubel waren für ihn eine Kleinigkeit, er spuckte auf sie, ihretwegen wird sich Iwan Stepanytsch nicht beunruhigen.

Aber gestern, als er in der Taiga schlief, hatte er einen Traum: Anna erschien in einem ganz roten Kleide und sagte ihm: »Du wirst das Geld finden, – wenn Du!« Aber was das »wenn« bedeutete, hatte sie nicht gesagt.

So dachte Borodulin den ganzen Weg an sie und konnte sich nicht von ihr losreißen, immer dachte er an Anna, das schöne, kräftige Mädchen.

So reitet er immer weiter durch die Taiga ohne rechts und links zu sehen, alles verschwamm um ihn, aber plötzlich taucht in seiner Erinnerung sein kröpfiges ungeliebtes Eheweib auf. »No, Diawol!« peitscht Borodulin sein Pferd und sieht, wie rings die Taiga wie eine dichte Mauer um ihn aufwächst: dort kahle Baumstämme, dort erhob sich ein Ameisenhaufen am Fuß einer dunklen Tanne, die Mücken stechen und schwirren um ihn.

Da denkt der Kaufmann wieder an seine Geschäfte: er muß neues Land kaufen … Aber warum, wozu: wenn er starb, wem sollte er es hinterlassen? »Ech, ich müßte einen Sohn haben!« »Du wirst das Geld finden, – wenn Du« … – schleicht es sich ihm wieder in den Sinn; wieder sieht er Anna's blaue gedankenvolle Augen, wieder verschwimmt die Taiga rings um ihn und hüllt sich in graue Nebel, wieder verschwindet das Pferd, die Sonne, die Mücken. Und Borodulin fühlt, daß sein Herz ganz still wird, daß das Bild Anna's nicht mehr vor seinen Augen verschwindet und er stellt in froher Erregung fest, daß er ohne Anna nicht mehr leben kann.

»Aber das Eheweib? Kann man sie nicht totschlagen?«

»No, Diawol!« schreit er und peitscht wieder den unschuldigen Gaul.


Die Sonne hatte den Zenit überschritten als er nach Nasimowo kam.

Im Trab ritt er die Dorfstraße entlang, auf der ihm das Volk entgegenrennt.

»Komm rasch! … Anka … Anka!«

Borodulin galoppierte auf sein Haus zu.

Hinter ihm schreit es: »Anna ist erstickt … Anka … Anka!«

Kopfüber flog er vom Pferde und rannte dabei eine Alte um. »Fort!« schrie er und lief besinnungslos in das Haus.

Um das Bett drängte sich das Volk. Er stieß sie alle beiseite und blickte ängstlich auf das schreckensbleiche Gesicht Anna's: »Anjutuschka, meine liebe!«

»Du Lumpenpelz!« knurrt Darja durch die Zähne und dreht sich schnippisch auf ihren Absätzen.

»Verzeih, Iwan Stepanytsch … Ich hielt es nicht mehr aus … Die Sehnsucht frißt an mir … Verzeih, mein Täubchen!«

»Sie lebt ja noch!« zischt Darja wieder.

»Fort, Du Giftkröte!« stampft Borodulin mit dem Fuße auf, holte weit aus und klebte Darja eine Backpfeife. »Hinaus! Hinaus! Alle hinaus! … Sonst reiße ich Euch in Stücke!«

Die Menge stiebt auseinander, Darja voran. Als er Fenja sah, schlug er ihr ebenfalls eine runter. »Das habt Ihr verdient, Ihr Hündinnen, Du und Daschka! … Ihr konntet wohl nicht aufpassen … Die Seele müßte man Euch aus dem Leibe zerren!«

»Iwan Stepanytsch«, beschwor ihn Anna.

Borodulin atmete laut, schloß alle Türen, trat wieder zu Anna und setzte sich schwer auf einen Schemel. Wie im Fieber zuckte ihm der Kiefer, dröhnte es ihm im Kopf, versagte ihm die Stimme, alles wie im Traum. Er preßte die Fäuste auf die Schläfen, schloß die Augen und versuchte, sich in die Gewalt zu bekommen, aber plötzlich rang er nach Atem: die Augen quollen ihm hervor, die Hände griffen ins Leere, auf Stirn und Schläfen trat der Schweiß, während der Schemel unter seinen zitternden Beinen wegglitt. Aufstöhnend griff er an sein Herz, legte seinen Kopf auf Anna's Knie und stöhnte.

»Iwan Stepanytsch … Was ist mit Dir?« sprang Anna entsetzt auf.

»Du lebst … Nun, Annuschka … Du meine liebe …«, dann erhob er sich langsam, wankt, das Blut strömt in sein Gesicht und in seinen Augen malt sich Erstaunen und Entzücken, als ob er Anna zum ersten Male sieht. »Herr Gott, sie lebt … es ist ihr nichts geschehen«, flüsterte er mit zitternder Stimme. Dann beugte er sich lange über den Waschtisch, goß sich kaltes Wasser auf den Kopf, schöpfte tief Luft und klagte: »Ach, das ist das dumme Herz … beinahe wäre … Fu–u, ty … Eine dumme Sache …« Noch immer zitterten ihm die Füße und wankten die Knie.

»Nun, wie fühlst Du Dich?« fragte er schließlich, als er sich beruhigt hatte und ging wieder zu Anna. »Wie kam das? Solch ein Unheil, solch eine Schlechtigkeit. Aber wenn es Dir hier nicht gefällt, dann fahren wir zu Deinem Vater, nach Kedrowka!«

»Und hier … und dort …« murmelte Anna in Gedanken, ließ den Kopf hängen und blickte von unten zu Borodulin auf.

»Na, was ist denn?«

»Nur so. Irgend etwas … etwas, das … Andrej weiß es … Weiter niemand …« Sie hob den Kopf und trommelte mit der Faust auf das Knie. »Weiter niemand!«

»Was darf denn niemand wissen?«

»Ach, eben niemand.« Sie seufzte tief. »Ich kann es niemand anvertrauen«, fuhr Anna fort und lächelte plötzlich. »Nun, wollen wir gehen …«

»Ja, komm, Annuschka«, freute sich Iwan Stepanytsch und sie gingen zusammen nach oben.

»Sieh mal. Du kannst hier wohnen, über alles kannst Du verfügen«, sagte Iwan Stepanytsch zärtlich, aber wieder überfiel ihn in diesem Augenblick die Wut: »Schnaps!« brüllte er Fenja an. »Der Verwalter soll sofort herkommen!«

Der Verwalter kam.

»Daschka soll sofort herkommen!«

»Sofort«, sagte dieser und zog sich wieder zurück.

»Schlag' sie nicht, Iwan Stepanytsch. Tut es Dir nicht leid?«

Borodulin ging schwerfällig im Zimmer auf und ab und quietschte absichtlich mit den Stiefeln, während Anna am Tisch saß. Sie lächelte still vor sich hin, als ob sie irgendeinen nahen Menschen vor sich sähe, aber plötzlich wurde sie nachdenklich, ihr Blick war unsichtig, als ob ihre Augen ganz nach innen gerichtet waren, irgendworein versunken.

»Bringe um Gottes willen, meine Mutter zu mir … Ich habe solche Sehnsucht.«

»Laß gut sein, Annuschka, ich werde sie sofort holen«, stimmte Borodulin eilig zu.

»Aber bringe sie möglichst rasch hierher. Und wenn Du Andrej siehst, so schreibe mir sofort.«

»Annuschka!« blieb Borodulin wie angewurzelt stehen.

»Ach, wieder ist mir so schlecht … Mir schwindelt der Kopf.«

Sie stützt den Kopf in die Hand. Von der Seite her trafen sie die Strahlen der Sonne und Borodulin schien es, als ob ihr bleiches Gesicht mit den blonden Flachshaaren in einem Kranz von lauterem Golde säße.

Anna hob langsam den Blick zu Borodulin auf und sah ihn starr an. Ihre Augen begegneten sich. Borodulin war unruhig und öffnete fragend den Mund. Ihm war klar, daß Anna ihn gar nicht sah, sondern irgend etwas anderes, das nicht in ihm war, nicht draußen vor der Hütte, nicht in der Taiga, nicht in der ganzen Welt … Jetzt weitete sich ihr Blick, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, die Stirn legte sich in Falten und es war, als ob sie ganz angestrengt auf irgend etwas Fernes lauschte.

»Annuschka!« sagte Iwan Stepanytsch und trat auf sie zu. »Anna!«

Die zitterte, stieß dabei mit den Ellenbogen an den Tisch und versuchte zaghaft zu lächeln.

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte sie mit trauriger Stimme. »Nicht daran erinnern …«

»Was hast Du, Annuschka?« fragte er leise, versuchte seine Angst zu verbergen und beugte sich zu ihr herab.

»Ich möchte den ganzen Tag sitzen und weinen.«

»Worüber denn?«

»Aber worüber – weiß ich nicht mehr …«

Er nahm Anna bei den Schultern, drückte ihren Kopf an seine Brust und küßte ihren geraden glatten Scheitel.

»Mir ist es gut bei Dir, Iwan Stepanytsch«, flüsterte Anna. – »Aber die Sehnsucht macht mir so zu schaffen«. Borodulin sah, wie Tränen aus den Augen tropften. Er seufzte, seine Gedanken gerieten durcheinander und er wußte nicht, was er tun sollte.

»Drauf spucken, spucken!« sagte Anna plötzlich vergnügt, mit ganz veränderter Stimme. »Erst habe ich verloren, dann habe ich wieder gefunden … Verbrenne alles. Alles wird wieder neu werden … Einfach verbrennen!«

Bei diesen Worten ward Iwan Stepanytsch unheimlich zu Mute und doch sehr viel vergnügter. Mit zitternder schweißbedeckter Hand zog er sein Taschentuch hervor und wischte Anna vorsichtig die Tränen ab. Er hätte zu gern etwas aufmunterndes gesagt, daß auf einmal Anna der alte klare Verstand hervorgekommen wäre. So begnügte er sich nur damit, ihr den Kopf zu streicheln, die Schultern, den Rücken und dabei fühlte er wie ihm gleich einer Welle heißen Blutes eine zärtliche, väterliche Liebe zu Anna durchblutete.

»Verbrenne, verbrenne!« wiederholte Anna im Flüstertone. Aber er hörte es nicht, so voll war er von seinen eigenen geheimnisvollen frohen Empfindungen.

Jetzt wußte er, wie es werden sollte! Er hatte sich entschlossen und so würde es auch werden! Er würde Anna an sich fesseln, würde sie vor mißgünstigen Augen, vor dem Gerede der Leute bewahren und würde sie ausheilen … »Mein Mädchen, Du mein liebes Kind … Annuschka!«

»Aber was wird aus meinem Kindchen, Iwan Stepanytsch?« fragte Anna, die diese Worte aufgriff. »Sieh mal, wenn ich das Kind habe, dann …«

»Aber Anna, denke doch nicht daran … Ich habe Kinder gern, wir werden es großziehen … Was ist denn schon dabei … bringe es nur ruhig zur Welt.«

Anna dachte nach und meinte dann: »Du bist wirklich gut zu mir.«

Ihre Stimme war leise. Freude und Kraft waren schon längst aus ihr gewichen.

»Was ich Dir sagen möchte, mein Täubchen: denke einfach nicht an all das, spucke darauf. Andrejuschka? Pfui, Teufel! Spuck' hin und tritt es aus. Wenn er Dich wirklich geliebt hätte, hätte er dann so an Dir gehandelt? Hätte er sich einfach davongemacht? Ein Bube, weiter nichts … Vielleicht ist er umgekommen? – Es hätte ihm nichts geschadet. Sei er verflucht, der Hund!« fuhr Borodulin heftig fort und griff sich wieder an das Herz.

Anna hörte zu, den Kopf tief gesenkt. Der Kaufmann saß neben ihr auf dem Divan. Vor dem Fenster ging ab und zu Volk vorüber: An dem Hause blieben sie meistens stehen und lauschten gespannt, aber der Kaufmann sprach so leise, daß es nur Anna hören konnte.

»Und jetzt werde ich meine Angelegenheit erst mal zu Ende bringen und dann fahren wir nach Irkutsk zu dem Priester Innokentij. Du wirst eine Stadt kennen lernen und viele Leute sehen. Ich kann – Dir – sa–gen … Lebe einfach in den Tag und denke an nichts anderes … Ja, ja … Der Heilige wird Dich schon auskurieren, wird Dich schon wieder froh machen … weißt Du, wie in der Kirche gesungen wird: ›Eine Freude unverhofft‹ … Ja – ja – ja …«

Als er die Köchin sah, sagte der Kaufmann freundlich: »Fenjuschka … Paß mir gut auf Anna auf … Ich vertraue sie Deinen Händen an. Hast Du es verstanden? Ich werde Dir auch Stoff für ein Wollkleid abschneiden.«

Sie aßen zu Dritt. Nach zwei Tellern Kohlsuppe ging Iwan Stepanytsch faulen Schrittes auf die Straße hinaus. Er fühlte sich gar nicht wohl. Sollte er die Reise nicht bis morgen verschieben? Er blickte zum Himmel, – wenn doch irgendwo eine Regenwolke stände, – aber der Himmel war blank und die Sonne schien hell.

»Nun, dann werde ich zu Deiner Mutter reiten«, sagte er kurz entschlossen zu Anna und zog den Falben aus dem Stall. »Also paß gut auf, Iljucha … Hast Du verstanden?« drohte er dem Verwalter mit der großen, dunkelbehaarten Faust.

»Mit Gott!« sagte Iljucha und schielte ängstlich zu dem Kaufmann hin.

»Auf Wiedersehen!« rief Borodulin und gab dem Pferde die Peitsche.

Der Verwalter und Fenja wechselten spöttisch erstaunte Blicke, als Anna mit der Schürze winkte und etwas Sinnloses sagte.


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