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3.

Kaum rauscht im Frühjahr die Taiga, nehmen die Landstreicher die geflickten Brotsäcke auf den Rücken, holen ihre Blechkessel hervor, stecken das Messer in den Stiefelschaft und kriechen hinaus in die schöne Gotteswelt, aus schwarzgeräucherten Badestuben, verlassenen Hütten, Winterlagern, langhaarig, rauh und schwarz vom Ruß des langen nordischen Winters. Sie strecken ihre krummen Rücken, blinzeln in die Sonne, suchen im Blau des Himmels den weißen Schwanenzug, lauschen dem hastigen Schrei der aus dem Süden wiederkehrenden Vögel und zerstreuen sich, gehorsam dem Rufe der Taiga folgend, auf den Pfaden der wilden Tiere.

Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber bald wird sie sich hinter dem Gebirgskamm verstecken: noch zittern ihre letzten Strahlen auf den Wipfeln der Bäume. Noch kurze Zeit – sie verblassen in der grauen Weite des Abendhimmels und zerschmelzen. Still ist es hier unten, und dort, über der Taiga, läuft ein Windchen spazieren, rauscht in den Zweigen und treibt seinen Unsinn.

»Tulja, setz' Tee auf«, sagt in tiefem Baß ein breitschultriger kahlköpfiger Greis, der den Spitznamen Lechman führte.

»Wird gemacht«, antwortet ihm Tulja, ein dreißigjähriger Bursche, mit einem einfachen, runden, fleischigen Gesicht und dicken Lippen, räuspert sich und macht sich an einem Sacke zu schaffen.

Lechman ist ein robuster Kerl mit einem gelb-grauen riesigen Bart, der sich in Strähnen über die Brust hinabwälzt, einer Adlernase, einem unfreundlichen Blick und dichten mürrischen Brauen. Wenn er sich erhebt, sieht man erst, daß er einen Buckel hat, aber einen Wuchs hat der Alte und eine Stimme – wie eine Trompete … Ein richtiger Lechman ist er, ganz mit Moos bewachsen, ein vollendeter Waldmensch. Die beiden anderen, Anton und Iwan, flicken an ihrer Ausrüstung.

Iwan, oder, wie man ihn seines fröhlichen Wesens wegen nannte, Wanjka-Swistopljas, setzte Flecken auf eine Weiberjacke und spricht dazu:

»Das ist eine Uniform – eine feine Uniform!« und gackert wie ein Enterich, seinen zottigen, einem Kohlkopf gleichenden Kopf schüttelnd. Anton ist ein dürres Männchen, mit einem graumelierten Bart wie ein Besen, mit eingefallenen [Schläfen], und großen verträumten, schwarzumränderten Augen.

»So, so, Lieber«, – sagte Anton, »der Herrgott selber hat uns beide zusammengeführt …« und mit dem Birkenlöffel fischt er die Zwiebäcke aus der Holzschüssel.

»Der Herrgott … warum denn immer gleich der Herrgott?« krächzt Lechman. »Bei Dir ist alles der Herrgott. Wir haben uns getroffen, das ist alles!«

Wanjka Swistopljas ist satt gegessen. Er geht trockenes Reisig zusammenlesen: es dämmerte schon und das Feuer ist am Erlöschen. Tulja legte sich auf den Rücken, schnurrte vor sich hin, springt dann auf und verschwindet im Walde. Man hört ihn noch eine Weile pfeifen und Äste knacken.

Die Nacht rückt jetzt von allen Seiten heran und mit ihr die Kälte. Ein paar harzige Klötze werden ins Feuer geworfen. Die Flammenzungen lecken an den Klötzen – ob sie auch gut schmecken – aber, nachdem sie probiert haben, packen sie sie plötzlich, daß es knistert, und die Funken sprühen … Wärme und Licht verbreitend.

Anton liegt, den Rücken nach dem Feuer gewandt, blickt mit schläfrigen Augen vor sich hin und seufzt: »Gott allein weiß, ob ich mich bis zur Heimat hinschleppen werde!«

»Ist es weit?«

»Woronesch. Es gibt da so eine gute Stadt Woronesch, das ist meine Heimat.« In der Ferne schlug eine Axt, und es war zu hören, wie der von Wanjka bearbeitete Baum krachend auf die Erde fiel. Anton setzte sich näher zum Feuer. Sein trauriges, wächsernes Gesicht glänzte vor Schweiß, als ob es auftaute und in der Glut davonfloß.

»Ich bin kein gewöhnlicher Mensch, Alterchen … Ich bin von geistlichem Stande: eines Dorfpsalmisten Sohn«, begann er mit monotoner, dumpfer Stimme. »Aus dem Seminar hat man mich, weißt Du, hinausgejagt: ich lernte ohne Fleiß, auch den geistigen Getränken war ich sehr ergeben. Mein Vater hatte eine kinderreiche Familie, er schleppte sein elendes Leben hin. Jetzt ließ er mich nicht mehr unter seine Augen, und so lebte ich denn von dieser Zeit an für mich allein. Nun, denke ich, man muß sich irgendwie betätigen … Im Beruf eines Schreibers ist bei mir nichts Rechtes herausgekommen, auch war es mir nicht nach Geschmack … Es zog mich in die Felder und Wälder und auf die Landstraßen, alte Klöster zu besichtigen … Ich alter Sünder liebte diese sehr. Und schon dachte ich daran, Mönch zu werden: es gibt solche sonderbare Klöster – z. B. Sarow's Einsiedelei, ach, Du Mutter Gottes: ringsum Wälder, Flüsse, – direkt ein Paradies! Es zog mich hin zur Gottheit, es zog mich stark. Aber alles sollte anders kommen. Ich wurde, Alterchen, ein Maler, und dann beobachtete ich die Mönche, und wurde ein Heiligenmaler, aber dann zog es mich wieder durch das weite Rußland, und ich begann von Dorf zu Dorf zu ziehen.« Anton wackelte mit dem Kopf, schmatzte, zuckte die eckigen Schultern und seufzte. »Ich befreundete mich damals in der Vorstadt mit einer Popentochter … Nu, natürlich, Frühling, Nachtigallen, Wohlgerüche … Ich selbst war in der Zeit ein richtiger Geck: hatte eine Uhr, trug eine Samtjacke, setzte einen Hut auf und dergleichen. Mit einem Wort, um die Sünde zu verdecken, verheiratete uns Vater Nikifor etwas plötzlich … Da lebte ich, kann man sagen, in vollem Glück: meine Frau war von bemerkenswerter Schönheit, man hätte sie malen können; Arbeit hatte ich, so viel ich wollte – selbst aus anderen Bezirken wurde sie hergebracht. Oh, ich lebte damals gut mit Nataschinka! So wäre es auch weitergegangen, wenn nicht eine Sünde geschehen wäre und die Leute mich für mein einfaches Gemüt zertreten hätten …«

»Ja, der Mensch ist zu so etwas fähig«, meinte Lechman.

Durch das Gehölz drängte sich Wanjka Swistopljas, hinter sich trockene Äste über den Erdboden schleifend.

»Fünf Jahre meines Lebens waren süß. Und dann … geschah es … Ich erneuerte damals die Kirche in einem Dorfe. Eine herrliche Kirche, von Gutsbesitzern in alten Zeiten ganz kostbar ausgeschmückt. Nun ja. Im Dorf war zu der Zeit gerade Jahrmarkt. Das Volk kam in dichten Scharen angerückt. Nun, anfangs ging es gut: ich begann also zu grundieren, die Urväter in der oberen Galerie und bis diese trockneten – frischte ich die Evangelisten auf. Ich lebte auch in der Kirche, in einer Ecke: ich kam, weißt Du, abends, wenn ich genug auf dem Bazar herumspaziert war, man schloß mich über Nacht ein, und kaum ward es hell – war ich schon wieder bei der Arbeit … Und da, Lieber, da hat mich das Leben eingeklemmt.«

»Getrunken hast Du wohl?« fragte Lechman.

»Ja, ich sündiger Mensch begann zu trinken … Jemand, der wie ein Schauspieler aussah und glattrasiert ging, scharwenzelte immer um mich herum … Mit dem zusammen … bin ich … Man fand mich am zweiten Tage … Schämst Du Dich denn gar nicht, Anton Iwanowitsch? – schrie mich der Kirchenvorsteher an. – Und das Geld hast Du alles versoffen? – Verzeihen Sie, – sagte ich, – ich habe es in der Tat vertrunken. Ich hatte nämlich als Vorschuß zweihundert Rubel für Bronze und Farben genommen. Der Vorsteher schlug mir eine ins Gesicht! Mir wurde gar bitter zu Mute, ich weinte … mehr vor Schande, weil ich bei allen geachtet war. An allem war der Rasierte schuld: er hatte von mir, dem Betrunkenen, das Geld herausgelockt und war verschwunden. Er, der Spitzbube, war auch zu mir in die Kirche gekommen, hatte sich für die Ikonen interessiert, sich als Kenner ausgegeben – er verstand auch wirklich etwas davon … Nun gut … Sie legten mich zur Ernüchterung in die Oblatenbäckerei und schickten nach meiner Frau, weil sie wußten, daß ich meine Frau wie einen Gott verehrte.« Anton blinzelte mit den Augen, nahm seine schirmlose Mütze ab und wischte mit dem Ärmel die schweißperlende Stirn und die eingefallenen Schläfen ab. »Und plötzlich drang nachts das Volk zu mir ein, renkte mir die Arme aus und schleppte mich ins Gericht. Na-nu! Erst verstand ich garnichts, dann hörte ich unterwegs: die Kirche sei beraubt worden, das Kränzlein mit den Edelsteinen ist vom Gottesbild abgenommen worden, das Altarkreuz und der Kelch für die heiligen Sakramente sind verschwunden und die Sammelbüchse ist geleert worden. Ich erstarrte. Ich wehre mich – ich weiß von nichts. Leibesvisitation. Als sie meine Weste ausschütteten, fielen zwei Fünfer aus Katharinas Zeiten und eine silberne Medaille heraus: Nun, es stimmt also doch! – schreit der Vorsteher. – Das ist ja meine Medaille … Hier sind noch die Zeichen daran. Ich persönlich habe sie in die Büchse hineingesteckt! – Das wurde mein Verderben.«

»Ha!« krächzte Lechman. »Das hatte gewiß der Rasierte getan.«

»Ich sollte es gewesen sein? … Ich sollte an Gottes Haus Hand gelegt haben. Nein, solch' ein Mensch bin ich nicht. Und so bin ich ins Netz gegangen wie eine Wachtel … Und niemand konnte mich verteidigen: der ältere Bruder war in die geistliche Akademie studieren gefahren, der Vater war gestorben, Väterchen Nikifor war gestorben … So bin ich also unter die Räder gekommen.«

»Und was wurde mit dem Rasierten?« fragten gleichzeitig Lechman und Wanjka. »Warum hast Du ihn nicht hineingelegt?«

»Ja, wie denn … Siehst Du jetzt, was für einer ich bin?« öffnete Anton die Arme und lächelte. »Ich bin ein Stiller, ein Ungeschickter … Alles drückte auf mich! Irgend etwas rollte direkt auf mich zu … Nun … mit einem Wort, ich winkte ab; es war mir, glaube ich, bei der Geburt so vorbestimmt.«

Anton blickte trübe zur Seite, suchte sich abzulenken und sagte zerstreut: »Natürlich erklärte ich das mit dem Rasierten, natürlich … Suche aber den Wind im Felde … Er war verschwunden, wie ins Wasser gefallen! Aber bei mir hatte man – die Medaille gefunden.«

Lechman und Wanjka Swistopljas hörten aufmerksam zu. Die Stimme Anton's bebte, seine eingefallenen Wangen röteten sich. Mit seinen dünnen Fingern zupfte er erregt in seinem Bärtchen und nickte dazu mit seiner Entennase. »Als ich nach Sibirien kam, begann ich zu trinken. Ein richtiger Trinker wurde ich. Dadurch habe ich meine Gesundheit verloren. Bis zum Delirium habe ich, mein Lieber, gesoffen, ich flog in der Stube durch die Luft. Es war, als ob ich mich vom Boden aufhebe, zusammen mit der Hütte, und auf und davon fliege.« Wanjka Swistopljas lachte herzlich und fuhr mit der flachen Hand von unten nach oben über sein stupsnasiges Frauengesicht.

»Das gibt's!« rief er lustig und stemmte seine Hände in die Seiten. »Ich habe auch mal getrunken, da haben mich die Teufel in die Hölle gelassen … durch den Schornstein. Mit einer Kröte wollten sie mich verheiraten, aber dann jagten sie mich wieder hinweg.«

»Und nun, meine Lieben«, begann Anton aufs neue, »so lebte ich denn in Not und Elend elf Jahre lang. Und es zog mich so sehr nach dem heimatlichen Ort, daß ich es Euch gar nicht beschreiben kann. Ich träumte allnächtlich von Frau und Tochter, ich hörte ihre Stimmen! Da sitzt man in der Taiga am Flüßchen, nachts und hört plötzlich: Anto-o-schah! Man springt auf, bekreuzigt sich, aber kaum hat man es vergessen – tönt es wieder: An-to-o-scha!« Anton fuhr zusammen und bekreuzigte sich.

»Ich konnte es nicht länger aushalten, machte mich also auf den Weg. Ich ging nicht zu viel und nicht zu wenig, ich ging, wenn ich die Wahrheit sagen soll, genau zwei Jahre. Ich kam in Woronesch abends an. Als ich noch im Gefängnis saß, hatte ich erfahren, daß Nataschinka mit unserer Tochter in die Stadt gezogen war … Ich übernachtete im Wirtshaus, ging morgens in die Kathedrale, stand ganz hinten, in der Nähe der Bettler, dachte: in der Stadt kennt einer den anderen besser. Und richtig: ich erfuhr von ihnen, daß mein Bruder, Pawel Iwanytsch, Witwer geworden, zur Zeit am geistlichen Seminar als Professor tätig war und sogar Hoffnung hatte, Bischof zu werden.«

»O-o-o …«, sagte Wanjka gedehnt. »Bischof? Tüchtiger Bursche!«

»Ja. Aber von meiner Natascha war nichts zu hören, nichts zu sehen: als ob es eine solche gar nicht in der Stadt gäbe. Dann dachte ich wieder über den Bruder nach: Ehre und Lob dem Herrn, sich auf solch ein Amt vorzubereiten, war gut. Ein solcher Mensch hat fast den Rang eines Engels und er muß eine stille Seele besitzen. Ich kehrte abends in mein Gasthaus zurück. Nagte an einem Kalatsch, trank Tee, betete still zu Gott und legte mich schlafen. Plötzlich träumt mir in der Nacht, als ob ich mich mutterseelenallein in einer Kapelle befände, auf den Knien liegend und mich vor Gott verneigend. Und vor dem Bilde der Mutter Gottes brennt eine einzige winzige Kerze. Sie brennt, aber gibt kein Licht. Da plötzlich flammt ein heller Schein auf. Ich war wie geblendet, fiel auf die Seite, mit dem Kopf auf den Fußboden und höre eine harte Stimme: »Gehe, Kind Gottes, alles wird Dir gezeigt werden!« Da, Brüder, springe ich auf, schaue mich um – es ist heller Morgen. Ich zittere vor Aufregung, klappere mit den Zähnen, beginne mich flink anzuziehen, komme kaum in meine Hosen.«

»Gy-y-y«, sagte zähnefletschend Wanjka, aber Lechman stieß ihn schweigend in die Seite und nickte mit dem Kopfe zu Anton hin: »Nun und?«

»Also. Ich bespritze mich mit Weihwasser und fühlte in mir solchen Mut, daß es mir schien, ich könnte alles ertragen. Ging geradewegs zum ›Seminar‹. ›Ist Pawel Iwanowitsch zu Hause?‹ – ›Kommen Sie wegen der Holzlieferung? Gehen Sie nach oben, dritte Tür rechts.‹ Ich gehe, lächle, meine Seele hüpft, wie wird es werden? Ich will meiner Seele zurufen: ›Komme zur Vernunft, kehre um!‹ Aber sie antwortet: ›Gehe, alles wird Dir gezeigt werden.‹ Ich öffne vorsichtig die Tür, blicke hinein: in der Tat, – da sitzt er in seiner schwarzen Uniform und trinkt Tee. Gehe lieber nicht, denke ich, aber die Seele ruft: Geh! – und stößt mich ins Zimmer. Bei Gott!«

»Fein«, sagte der Alte und glättet die Ringelsträhnen seines Bartes.

»›Brüderchen‹, rufe ich. Er wendet sich um, als ob er sich verbrannt hat und fährt auf: ›Anton!‹ – seine Augen werden rund, er fuchtelt mit den Armen, zischt: ›Wie konntest Du … wie hast Du es gewagt?‹ – Ich falle vor ihm nieder, krieche zu ihm und heule: ›Brüderchen, mein Bruder!‹ Aber er steht starr wie eine Bildsäule: ›Hast Du Dir das gar nicht überlegt? Was willst Du hier? Bist Du geflohen?‹ – ›Ich möchte meine Frau, Nataschinka, sehen und Ljubotschka …‹ ›Nataschka ist gestorben.‹ – ›Wie?‹ Er wand sich, sann nach: ›Sie lebt hier mit jemand … mit einem Gutsbesitzer … läßt sich von ihm aushalten!‹ … Ich stand schon auf den Beinen, hatte mich vom Fußboden erhoben. Die Luft blieb mir weg, der Kopf schwindelte. Ich erholte mich jedoch und hielt mich an der Wand fest. – ›Und Ljubotschka, ich möchte nur einen einzigen Blick auf Ljubotschka werfen!‹ … Stehe da, warte auf Antwort, ringe die Hände, das Gesicht – ich fühle es – zuckt, das Kinn zuckt, Tränen laufen mir über die Backen und alles tanzt mir vor den Augen. Und der Bruder läuft im Zimmer umher wie eine Maus in der Falle. Dann bleibt er stehen und blickt mich scheel an. – ›Gut,‹ – spricht er, – ›warte.‹ – Ergreift die Mütze mit der Kokarde und holt einen Schlüssel hervor: ›Ich,‹ – sagt er, – ›werde Dich einschließen, damit das Dienstmädchen …‹ Da setzte ich mich auf einen Stuhl, sitze und denke … ech, Natascha, Natascha!« Anton schwieg und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Lechman klopfte ihn auf den krummen Rücken: »Spuck' aus … Das hat keinen Zweck … Nimm das Herz in die Zähne.«

»Ach, Lieber, es tut weh … Glaub' mir, es ist schwer.«

»Nun, erzähle, wie war die Begegnung mit der Tochter?«

»Ech-che-che – … Begegnung! Ich bin ihr so begegnet, daß ich bis zu meinem Tode an diese Stunde denken werde … Eine böse Stunde war das, Kinderchen. Es ist richtig in der Schrift gesagt: ›Die Feinde der Menschen sind seine Angehörigen.‹ So kam es auch heraus«.

»Hat sie Dich nicht als Vater anerkannt?«

»Nicht das war die Hauptsache, mein Lieber … Höre nur, ich werde es erzählen … Nun, ich warte, warte, denke bei mir: wovon werden wir mit der Tochter sprechen? In Gedanken war ich schon dabei, mich mit meiner Tochter zu treffen, und meine Frau aufzuspüren, dort heimlich zu bleiben, ohne Meldung eine Woche lang, und dann zurück. Aber, meine Lieben, als ich damals auf meinem Stuhle saß, begriff ich, daß es für mich kein Zurück gab, daß ich nicht nach Sibirien zurückkehren konnte, mich nicht würde trennen können von meiner Tochter und von meiner Heimat, daß ich einfach nicht die Kraft dazu haben würde. Denke so, aber denke auch wieder – nein, das kann nicht sein. Aber plötzlich kocht in mir die Wut. Ach Du, verfluchte Seele, – flüstere ich mir selbst zu, – wohin hast Du mich geführt, wohin? In meinen Untergang, Seele, hast Du mich geführt … Alles kam plötzlich an die Oberfläche geschwommen, alles, alles, Kinderchen: Das Leben, alle Süße meiner vergangenen glücklichen Tage, meine Freunde, meine Bekannten, die Liebkosungen meiner Natascha … Meine ganze Seele drehte sich in mir um. Was soll nun weiter werden, denke ich … Zurück? Sei verflucht, meine Seele!«

»Es gibt doch gar keine Seele«, konnte sich Wanjka nicht verkneifen zu bemerken.

»Pfui, Waldteufel!« spuckte der Alte vor ihm aus.

Anton bewegte seine Ellbogen und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Und solche Gedanken kamen mir, daß es einfach unerträglich war. Ich verstand sie gar nicht, konnte sie gar nicht fassen, sie summten um mich wie Bienen oder wie Schnee, der um mich wirbelte. Sie begannen zu sticheln: Drücke Dich, solange Du noch allein bist! … Schlag' den Bruder tot und nimm ihm das Geld ab … Geh zu den Mönchen … Schlag Deine Frau tot … Nein schlag' den Liebhaber tot und nimm die Tochter mit … Dann wurde alles still, wie mit dem Besen fortgekehrt, und ich hörte nur eine Stimme in mir: Es wird Dir gezeigt werden. Plötzlich: kling – kling! Die Tür öffnet sich: voran mein Bruder, hinter ihm zwei Gendarme und der Kommissar. Ich springe auf, aber der liebe Bruder streckt die Hand aus und sagt: Hier ist er!«

»A–a–a, der Schurke!« zischte der Alte und seine Finger krampften sich zusammen.

Wanjka spuckte in die Faust und drohte mit ihr: »So, so! … Das ist ein Bruder … Ich würde ihm an Deiner Stelle eins in die Zähne und vor den Kopf gegeben haben … Ich würde ihn!«

Lechman stand auf, krächzte, schob seine aus Lappen zusammengeflickte Mütze auf den Hinterkopf, nahm die Axt und begann mit starken Schlägen den neben dem Feuer liegenden Stobben zu zerhacken. Es wollte ihm aber nicht gelingen ihn kleinzukriegen, er wurde zornig, schimpfte die Axt, schalt Wanjka, schalt diesen Teufelsstobben, verwünschte ihn, schleuderte die Axt ins Dunkel und verschwand. Anton seufzte. Wanjka Swistopljas gab eine Unflätigkeit nach der anderen von sich. In der Ferne hörte man zwei Stimmen: eine zornige, Lechman, und eine schuldbewußte, Tulja. Lechman schrie grob und mit erhobener Stimme. Tulja antwortete schüchtern und leise. »Daß Dich, Du Dickhäutiger … Noch viel zu wenig hast Du, Du Teufel!«

»Sind wir denn nicht bald in Kedrowka?«

»Nicht bald? Ich hätte nicht gedacht, daß Du so heimtückisch wärest!«

Sie kamen an's Ziel.

»So, teilt den Zwieback aus und gießt die Graupen ab … Wozu noch Pulver, Werkzeuge? … Teu-fel noch mal!«

Tulja ließ am Feuer den Sack mit den in der Winterhütte gestohlenen Sachen nieder und stand mit einem schuldbewußten lächelnden Gesichte daneben.

»Ich habe es zu verantworten.«

»Du, Geschöpf? Du allein?« knurrte Lechman. »Du verstänkerst nur unsere Fährte … Man wird uns fangen und wird uns allen die Köpfe abreißen!«

Tulja fachte das Feuer frisch an, nahm den Sack, hob ihn auf, als ob er sein Gewicht versuchte, warf ihn ärgerlich zur Seite und setzte sich.

»Bei uns in Rußland«, wollte er beginnen, aber Lechman unterbrach ihn barsch: »Brüder, wir wollen schlafen: es ist schon Nacht!«

Ringsum war alles dunkel und still. Die Kälte war intensiver geworden. Die Landstreicher froren an ihren Rücken.

»Aber bei uns in Rußland … Dyk … Ist es so …« versuchte Tulja auf's neue ein Gespräch, indem er mit seinen Schweinsäuglein zu Lechman hinüberschielte.

»Du Schlappmaul!« schnitt ihm der Alte das Wort ab und machte sich sein Lager aus Reisig.


Lechman erhebt sich, holt ein paar mal tief Atem, reibt seinen alten, steifen Rücken, sinnt nach. Lechman spinnt seine Gedanken, Taiga-Gedanken.

Still ist es in der Taiga, gestorben scheint sie. Die bösen Geister haben sie mit einem Zauberkreis umgeben, behext haben sie die Geister mit einem grünen Schlaf. Schlafe, Taiga, schlafe … Schlafe, Väterchen-Bär, schlafe. Herbduftende Dämmerung, wache über der Taiga: erhebe Dich bis zum Himmel, ergieße Dich über sie, bedecke alle Wege und Stege, verlösche alle Feuer.

Die Taiga rührt sich nicht. Schon gestern abend hat sich der Wind in den Ästen verfangen, jetzt schlummert er. Bald wird der Herr der Taiga sich erheben – weiße Nebel, schwebt hervor, – bald wird der Herr der Taiga aus dem moosbedeckten Sumpf emporsteigen. Uhu, Nachtvogel, rufe, Eule, schreie, – der Herr der Taiga sucht schon seine Laterne … Getier des Waldes, fliegendes, laufendes, kriechendes Geschöpf, versteck Dich in Deinen Höhlen: der Herr kommt, der Herr ist streng … Breitet Euch aus, weiße Nebel, breitet Euch aus … Mensch, halte Deine Augen verschlossen: der Herr ist schrecklich, er wird Dich blenden, wenn Du ihn erblickst, es wird Dich um den Verstand bringen, schlafe fester … Still, still: der Herr reckt sich schon, der Herr bricht mit seiner scharfen Kralle ein Fünkchen vom goldenen Monde … Oh, still: der Herr greift nach seiner Keule …

»Gogogogogo-oo-o-o-o …«

»Wer ist das? Du, Alter!« – reckte Wanjka seinen langen Hals wie eine Gans.

Die Landstreicher schliefen einen festen Schlaf.


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