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8.

Ein Schuß krachte.

Hopp-o-o-o-pp … – hörte man einen fernen Schall.

»Da brüllt ein Eingeborener,« meinte Lechman.

»Ist das nicht ganz der Teufel, Großväterchen?«, flüsterte Tulja, die Hände auf der Erde gestützt und bereit, jeden Augenblick aufzuspringen. »Bei uns seinerzeit in Rußland …«

Es wurde hell. Nebel hüllten die ganze Taiga ein und die Landstreicher erschienen einander in dem undeutlichen Halbdunkel des Morgens als graue aschebedeckte Riesenvögel.

Irgendwo rief ängstlich ein Kuckuck, über den Landstreichern sprang ein Eichhörnchen in den Ästen eines Baumes umher: die dürren Nadeln fielen herab und blieben in dem Bart Lechman's haften.

»Wir würden wohl gut tun, einen Schuß abzugeben,« riet er Tulja.

Dieser nahm sein Gewehr, schüttete Pulver in die Pfanne, rieb den feuchtgewordenen Feuerstein trocken und legte frischen Zunder ein. Der Hahn knackte, aber es folgte keine Explosion. Er spannte ihn nochmals, wieder ging das Gewehr nicht los. Da ließ er es sein. Riß den Mund bis zu den Ohren auf, steckte vier Finger in den Mund und zerriß die Luft mit einem so wilden Waldespfiff, daß es Anton schien, als ob der Nebel zitterte. Der Kuckuck schwieg sofort, das Eichhörnchen sprang von der Lärche in einen Reisighaufen und verkroch sich darin, die Rute ausgestreckt.

Die Landstreicher lachten, aber wurden plötzlich still: »Brüder … Halt!«

»Komm nur hierher,« riefen die Landstreicher und erhoben sich von der Erde.

Zweige knisterten, Reisig raschelte, immer näher, immer näher, wieder erschallte ein Ruf, schon fast neben ihnen, und plötzlich wuchs aus der nebligen Dämmerung ein Mensch vor ihnen auf:

»Brüder!«

Ein unsäglich abgerissener, hochgewachsener aber doch zusammengekrümmter Mensch stand vor den Landstreichern, schwankte und zuckte fröstelnd mit den Schultern.

»Brüder!«, sagte er nochmals, ließ sich auf die Erde nieder und legte seine Flinte neben sich. Seine spitzen Schulterknochen standen fast eben so hoch wie sein Schädel. Das Gesicht machte einen völlig erschöpften Eindruck, nur seine schwarzen Augen brannten darin.

Wanjka hatte Angst vor diesen Augen, er verbarg sich hinter Lechman, während Tulja seufzte und dann murmelte: »Nun, bekreuzige Dich wenigstens.«

Lechman fuhr ihn an: »Schüre das Feuer!«

»Großväterchen!«

»Was wünschen Sie, mein Lieber? Was bist Du denn für ein Kerl?«, fragte dieser und setzte sich neben den Ankömmling.

Dieser ergriff die Hand Lechman's, lehnte sich mit der Stirn an seine Schulter und konnte vor Erregung kaum die Worte hervorbringen: »Auf ein Haar wäre ich krepiert, Brüder … Viel fehlte nicht.«

Anton kniet schon vor ihm und strich ihm das Haar und redete ihm gut zu: »Ni-tsche-wo … Ist Dir's so schlimm ergangen?«


Der Nebel begann zu steigen. Er verflüchtete sich zu gleichförmigen Wolken, die niedrig daherzogen. Nur in den Mulden, in denen es besonders feucht war, blieb er wie weiße Milch lange stehen.

Durch die verschlafenen Baumwipfel fielen hier und da erste Sonnenstrahlen. Nachdem sie den Nebel mild zerstreut hatten, fielen sie auf den riesigen Stamm der weitgeschwungenen Zeder, unter der die Landstreicher lagen. Dann ergoß sich das Himmelsgold über den ganzen Wald und ließ das Reisig, an dem die Diamanten des Nebeltaues funkelten, gold und silbern aufblitzen. Mit allen Augen starrte die Taiga in das Licht, reckte ihre tausend Köpfe hoch, begrüßte die Sonne und wispelt ein geheimes grünes Flüstern in Freudentränen aufgelöst. Der goldene Segen ließ sich auf die Erde hinab und wärmte die Taiga. Singt Vögel, kriecht aus Euren Löchern und Höhlen Ihr Ungeziefer und Gewürm, – wärmt Euch in der Sonne: die Sonne hat das Dunkel verschlungen. Und Du, alter Bär, kriege aus Deinem Dickicht und ergehe Dich im Wald: sieh dort hüpft der frische Bach, dort trägt die Biene süßen Honig in den alten hohlen Stamm. Singt Vögel, freut Euch, lobpreist die helle Sonne. Selbst Du, Herr des Waldes, gräme Dich nicht und geh' lieber in Deinen Sumpf schlafen; über der Taiga wird die Sonne lange nicht untergehen.

Unter einer Fichte, noch im Halbdunkel verbeugt sich Anton in seinem Morgengebet einmal über das andere, selig zu dem kleinen kupfernen Heiligenbilde hinblickend, das er an den Stamm der Fichte aufgestellt hatte. Lechman und Tulja waschen sich noch am Bach, während Wanjka den Tee bereitet.

Alle waren munter geworden, drängten sich an den Kessel und waren in der Morgensonne förmlich aufgeblüht. Auch der Ankömmling war aufgelebt. Er lächelte vor sich hin, trank eine Tasse Tee mit Zwieback nach der anderen: eine ganze Woche lang hatte er nicht gegessen, vor drei Tagen hatte er ein Eichhörnchen erlegt, aber es hatte nicht geschmeckt, die Seele nahm die Speise nicht an, das Pulver war ihm ausgegangen, die Streichhölzer waren alle geworden und ohne Feuer drohte der Tod.

Die Landstreicher fragten ihn nicht, es war ihnen unangenehm. Er begann ihnen zu erzählen, wie er sich im zeitigen Frühjahr von Hause aufgemacht hatte. Oft genug war er in der Taiga herumgestreift, die Taiga war ihm bekannt: Entweder war er nach der Sonne gegangen oder nach irgendwelchen Zeichen. Nach zwei Wochen, als er wieder heimkehren wollte, kletterte er auf einer vom Sturm gestürzten Lärche über den Fluß, rutschte aus und fiel hinein. Das Wasser brannte ihm wie Feuer, stach ihn wie Nadeln und nachts überfiel ihn abwechselnd Kälte und Hitze. Er hatte sich heftig erkältet, kam zum Liegen, wie lange er im Fieber ohne Besinnung gewesen war, wußte er nicht. Als er wieder zu Besinnung kam, fühlte er im ganzen Leibe große Schwäche, sein klares Denken war geschwunden und auch der Geruchssinn hatte ihn plötzlich verlassen. Damit hatte es angefangen. So wanderte er von Tag zu Tag weiter, aber er konnte sich nicht recht orientieren und ging immer im Kreise neben dem Flusse umher. Schließlich fand er den Übergang über den Fluß, suchte sich dieselbe vom Sturm geworfene Lärche aus, kroch auf allen Vieren ganz vorsichtig hinüber, ging und ging – nichts als Taiga. Eine Stelle ähnelte der anderen zum Verzweifeln: Laubwald, Tannen, Fichten, Kiefern, Zedern, und darüber grauer Himmel. Die Sonne zeigte sich während der ganzen Zeit nicht; die ganze Woche herrschte schlechtes Wetter, die Frühlingsregen hatten begonnen. Was war da zu tun? Er ging in der einen Richtung, er ging in der anderen, nichts zu finden, er fühlt, daß er sich wieder vollständig verlaufen hat. Er blickt sich um, da ist er wieder bei jener verfluchten Lärche angelangt. Hol' sie der Kuckuck! Er setzt sich unter eine Tanne, die Tränen tropfen ihm aus den Augen. Drei Patronen waren ihm noch geblieben. Ech, denkt er, ein Schuß in den Mund und Schluß. Ich stelle es mir aber vor: da sitze ich jung und kräftig und ringsum rauschen die Fichten, singen die Vögel, blühen die Blumen … und dann ein Krach … Nein, denke ich, es war noch zu früh.

Anton hatte die Brauen zusammengezogen, bekreuzigte sich abergläubisch und blickt den Ankömmling mitleidig an.

Immer höher stieg die Sonne. Der Nebel wich und das hellgrüne lebendige Meer der Taiga verschlang auf's neue die Menschen, die dort am Feuer saßen.

Die Grütze brodelte kräftig, es gab ein gutes Mal.

»Nun, Kameraden, was sollen wir?« fragte Lechman, der seinen Löffel sauber abgeleckt hatte und nun in den Stiefelschaft steckte. »Wollen wir weiterziehen?«

»Ich kann nicht, ich bin müde!«

»Nun, dann eben nicht!« rief Lechman vergnügt. »Dann wollen wir uns heute mal ausruhen … Kinder, wir haben ja doch keine Eile!«

Wanjka pfiff sich einen Tanz und nahm sodann das Angelgerät. Der Ankömmling streckte sich der Länge nach auf die Erde, verschränkte die Hand unter dem Nacken und blickte gen Himmel. Der alte Lechman flocht einen Korb aus jungen Weidenruten, während sich Anton neben ihn setzte und seine Mütze flickte.

Tulja hatte sich an der gestohlenen Grütze so dick gefressen, daß sich sein Bauch wie eine Trommel wölbte. Selbstzufrieden kroch er jetzt zu dem Ankömmling und fragte ihn mit verstohlenem Lächeln: »Bist Du verheiratet, lieber Freund?«

»Ja, ich bin's.«

»Und zu welchen gehörst Du?«

Der warf einen prüfenden Blick auf ihn und sagte dann: »Ich gehöre zu den Politischen.«

Tulja wackelte zur Antwort mit dem Kopfe, zog die Brauen hoch, kniff dann seine Augen zusammen, holte tief Luft, spitzte die Lippen und begann wichtig: »Ich, aber ich, gehöre zu den … zu den … ich bin ein Russe … Haptschi … haptschi … ich. Tfu!«

»Pfui, Teufel, so hör doch auf!« schrie ihn der Alte an.

»Haptschi! Eine Mücke … Mücke in der Nase … Also ein Politischer?«

»Ja!«

»Nun, ja, dann bist Du ja mein Landsmann …« schloß er ganz außer Atem und begann aufs neue unter allgemeinem Gelächter der anderen auf unglaublich komische Art zu nießen: er wand sich wie ein Wurm auf der Erde, schüttelte rasend den Kopf, verdrehte die Augen zu Lechman hin und drohte ihm, puterrot im Gesicht, verschmitzt mit der Faust.

Dann sprang er plötzlich auf: »Ach, verflucht!« und rannte Hals über Kopf in den Busch.

Lechman legte sich auf die Seite und schickte ihm ein dröhnendes Gelächter nach: »Das ist ein Kerl, der Tulja, solch ein richtiger Russe!«

»Sagt mal, wo befinden wir uns hier eben, in welcher Gegend?« erkundigte sich der Ankömmling.

»Na, so etwa drei bis vier Tagemärsche von Kedrowka entfernt«, antwortete Lechman.

»Was?« fuhr dieser auf und stemmte seine Ellenbogen in die Erde: »Von welchem Kedrowka?«

»Von welchem … Es gibt nur ein Kedrowka hier in dieser Gegend … bei Nasimowka …«

Der Ankömmling sprang auf, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und starrte Lechman unverwandt an.

»Uch, ty Diawol!« durchzitterte plötzlich ein verzweifelter Ruf aus dem Walde die Stille der Taiga. – »Ole–le–o–o! … Uch, ty! Väterchen, rasch die Flinte! … Ein Bär, bei Christus ein Bär! Uch ty, Diawol! Ole–le–o–o!«

Lechman sprang aufgeregt empor, griff nach seiner Flinte und stürzte gebückt zu Wanjka, während Tulja von der anderen Seite in das Gebüsch kroch.

»Zurück, Väterchen! .. Dort ist der Bär!«

Als alles still geworden war, warf Tulja feuchtes Laub ins Feuer um die Mücken zu verjagen und begann Anton umständlich eine Lügengeschichte zu erzählen: »Weißt Du, wie ich mich davonmachte, von unseren Leuten, von uns Russen, Eisenbahnern, bin ich an den Amur gegangen. Dort haben wir eine Strecke durch den Wald gehauen und Schienen gelegt … Und denke mal, Anton, dort haben wir einmal sechzig Bären auf einmal in ein Dorf gejagt … Nun, die Bauern haben sie dort, die Täubchen, hübsch eingeseift. Die Bauern sind von vorne auf sie losgegangen und wir haben, versteht sich, von hinten ordentlich nachgedrängt … Du sollst mal sehen, wie die mit dem Kopfe wackelten … und wie sie durcheinanderrollten … Das Pelzwerk flog nur so durch die Luft … Manche gingen mit dem Beil los, manche sogar mit der Schießmaschine … Weißt Du, es gibt so eine Schießmaschine, die die Ingenieure erfunden haben … Wie ein Sieb wurden die Bären durchlöchert!«

Andrej, der Politische, lag auf dem Rücken, blickte unverwandt gen Himmel und lauschte auf das feine Rauschen des Gezweiges: »So nah nach Kedrowka?«

Viel hatte Andrej in dieser Zeit denken müssen und viel durchgemacht.

»Annotschka,« flüstert Andrej und sah vor sich ein paar blaue Augen, die ihn so traurig und vorwurfsvoll anblickten, daß ihm das Herz stehen blieb und seine Lippen vor Erregung zitterten.

Und wieder dachte Andrej und konnte sich nicht von dem Gedanken losreißen: es raschelte neben ihm, flüsterte, zieht ihn in die Ferne, drängt ihn aufzuspringen, rasch, keine Zeit verlieren …

Und wieder kreisen in ihm frohe Gedanken, klatschen freudig in die Hände und läuten mit Schellen und Glocken. Alles Schreckliche ist überstanden, vor ihm liegt die frohe Arbeit, vor ihm sind Anna's strahlende Augen und ihre seltsame Seele, diese neue seltsame Seele, wie sie bei anderen nicht zu finden war.

»Also, Du sagst Du bist ein Politischer … Aber erzähle uns mal, sei so gut, was sind denn das für Leute, diese Politischen?« fragt nach einer Weile Lechman. »Ich hatte schon mal einen Bekannten, der war auch so was wie Du. Seid Ihr etwa eine Bande, Ihr Politischen?«

Andrej konnte sich sofort nicht aus seinem Traume losreißen. Verständnislos blickte er Lechman an: Lechman flickt einen Korb, Wanjka und Tulja fingen einen Ringkampf an und prügelten sich im Scherz.

»Wofür sind sie denn, beispielsweise, wofür stehen sie ein, an wen glauben sie?«

»Für das Volk stehen sie ein, für die Wahrheit kämpfen sie!« Lechman legte die Hände auf die Knie, blickte Andrej lange aufmerksam an und sagte dann: »So–so–so … Es wird schon richtig sein: ich höre das nicht zum ersten Mal … Das ist eine gute Sache.«

Die Sonne ging hinter der Taiga unter. Dämmerung schwamm über das Land.

Als am Himmel die ersten bleichen Sterne schimmerten, erzählte Wanjka, auf dem Bauche liegend, ein Märchen:

»Also, wißt Ihr, damals lebte die Zarin-Schlange, eine wunderschöne Königin … und zu ihr kam ein Bauer, der hieß mit Namen Borma, der war ausgegangen die Wahrheit zu suchen … Also schön … Da ging er und ging, ging … Und plötzlich sprang aus dem Wald der schreckliche Opletaj, der hatte nur einen Arm und nur ein Bein … ›A-a, die Wahrheit suchst Du?!‹ – fragte er ihn und schon sprang er ihn an, packt ihn am Schopf und beißt ihn in den Nacken und saugt ihm das Blut aus.«

Andrej kämpft mit dem Schlaf, aber die Augen fallen ihm zu. Alles verschwimmt um ihn und wird still.

»Wer bist Du? – Ich bin der schreckliche Opletaj, mit einem Arm und mit einem Bein.«

Andrej drehte sich mit dem Gesicht zur Zeder und fällt in tiefen Schlaf.


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