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1.

Kedrowka – ist ein Dorf in der Taiga. Alles in ihm war eigenartig; auch seine Wahrheit war eine besondere, seine Sünden waren besondere, und die Menschen in ihm waren besonders. Es war in ihm keine Weitläufigkeit: ringsum Wald, die Taiga wuchs von allen Seiten herein, verdeckte das Licht und ließ nur ein kleines Stückchen Himmel frei.

Das Dorf zählte nur dreißig Häuser, aber der Friedhof hinter dem Anger war groß, er hätte für ein ansehnliches Städtchen ausgereicht.

Wann Kedrowka das Licht der Welt erblickt hatte, wußte niemand. Nur Großvater Nasar, der schon ins zweite Jahrhundert hineinlebte, und den ganzen Tag hinter dem Ofen saß, erzählte, mühsam die ungelenke Zunge bewegend: »Damals, als Peter noch als Zar diente, ist unser Dorf entstanden. Mein Großvater, Ysot Kedrow, sein Haupt ruhe sanft, ist aus der Verbannung geflohen und hat sich hier angesiedelt. So ist das ganze Dorf, mit Gottes Segen, von unserem Stamme ausgegangen.

Land gab es in Kedrowka gar wenig: hie und da, an steilen Abhängen und zwischen tiefen Schluchten, am Flusse entlang, dann dort, auf dem Berge, der seine Glatze über die Taiga reckte. Aber die Bauern waren gar nicht so sehr auf das Land erpicht: die Taiga schenkte ihnen vieles andere: das Eichhörnchen, den Zobel, den Bären und die Nuß. Mit der Zeit jedoch war die Jagdbeute zurückgegangen, das Brot war teurer geworden, und so hatte das Beil in die Taiga eindringen müssen, tiefe Kahlschläge in ihr Inneres schneidend.

Die Taiga krachte, stöhnte, nahm den Streit mit den Menschen auf: hetzte Bären in seine Behausungen, schreckte ihn mit Waldteufeln. Aber der Mensch blieb standhaft, ertrug das alles und siegte schließlich doch über die Taiga. Und dort, wo noch vor nicht langer Zeit Bäume zum Himmel strebten, breiteten sich jetzt die grünen Teppiche lustiger Weiden aus.

So lebte Kedrowka sein einsames Leben Tag für Tag, Jahr für Jahr. Jahrzehnte vergingen.

Die Greise baten um einen stillen Tod und starben gottergeben in der Hoffnung, daß dann, jenseits des Grabes, alles Gute und Lichte beginnen würde, nach dem das Herz sich schmerzhaft sehnte.

Die Greise liebten es, sich gegenseitig ihr Leid über ihre Söhne und Enkel zu klagen, daß diese ganz andere Wege gehen, nicht mehr dem Willen der Väter untertan bleiben wollten und niemanden anerkannten – weder Gott, noch Teufel.

»Wir folgten Gott in allen Dingen!«, zürnten sie der Jugend, »aber Ihr? … Ech, Ihr Ruchlosen!«

Aber auch die Greise und Greisinnen folgten Gott nicht mehr so recht. Wie sollten sie auch: es ging etwas um im Volke! Einer war bereit, dem anderen die Gurgel zu durchbeißen. Warum?, fragten sie sich. Aber niemand konnte es erklären. Bei der Soldatenfrau Afimja war ein Kalb krepiert – die Nachbarn hatten sich gar noch darüber gefreut. Petrucha Teterew war am Delirium gestorben, Akulina war von ihrem Mann verlassen worden, während sie mit ihrem vierten Kinde ging – die Leute freuten sich. Jakows Söhnchen hatte sich an der Grütze verschluckt und war erstickt, man freute sich darüber. Es sah zwar zunächst so aus, als ob sich Mitleid in ihren Herzen regen wollte, wie wenn jemand ein Licht anbrennt und damit die Seele erhellt, so warm und angenehm, aber dann kam der Teufel mit seinem schwarzen Maule und blies das Lichtlein aus und zerstampfte es mit seinem Pferdefuß. Da wurde es mit einem Male dunkel in der Seele, etwas kaltes und feindseliges machte sich in ihr breit – dann zog man über die Frau des Obabok her, zischelnd und mit den Augen rollend: »Diese Hündin, sie hat es nicht anders verdient«. Und warum war die arbeitsame Frau des Säufers Obabok eine Hündin, wem hatte sie etwas zu Leide getan, – tut es ihr nicht weh, ist es nicht kränkend für sie? Niemand legte sich diese Frage vor, weil es wirklich jedem so schien, als ob diese stille Frau des Säufers Obabok tatsächlich überflüssig wäre und außerdem alle beleidigt hätte, daß sie daran schuld wäre, daß so viele Leute im Dorfe wohnten, daß alle durch sie, die Hündin, so schlecht lebten, Hunger litten, ungewaschen herumliefen, so unsäglich niedergedrückt waren durch all' die Not, daß sie so vertierte Menschen waren, von allen vergessen und verlassen, wie junge blinde Katzen, die man über den Zaun geworfen hatte. So stand ein jeder zu allen anderen, so standen alle zu jedem einzelnen.

Da hatte Iwan Besrodnyj vorigen Winter sechs Füchse in seiner Falle gefangen, heuer stand der Roggen bei Petrucha Sujew recht gut; anderen hatte ihn der Hagel zerschlagen, aber bei Sujew stand er dicht wie eine Mauer. Die beiden Glücklichen wurden gehaßt, der Teufel ist mit ihnen, sagten die anderen. Die Witwe Lukerja eröffnete einen Krämerladen und verdiente ganz schönes Geld dabei – da zündeten sie ihren Speicher an. Onkel Ysot ließ das Trinken sein: »So ein Unsinn, Alter, willst wohl gar in den Himmel klettern?« höhnten die Bauern und ließen ihn nicht in Ruhe, bis er wieder zu trinken begann, noch toller als zuvor, bis der Schnaps ihm Leib und Seele verbrannte.

Die Kedrower konnten es gar nicht leiden, wenn sich jemand vor dem anderen hervortat: »Besser willst Du sein als die anderen? Nein, nein, halt, tritt zurück.«

So lebten sie in Haß und Schadenfreude, lebten das stumpfe Leben der wilden Tiere, ohne Überlegung und Protest, ohne Verständnis für Gut und Böse, ohne Weisheit, ohne einen Ausweg, – lebten einfach um zu essen, zu trinken, zu saufen, Kinder zu zeugen, sich im Rausche Hände und Füße zu erfrieren, sich gegenseitig die Zähne auszuschlagen, sich wieder zu vertragen, zu weinen, zu hungern, zu fluchen, über den Popen zu schimpfen und häßliche Histörchen über ihn zu erzählen, aber doch in die Beichte zu ihm zu gehen, ihm mürrisch ausweichend und ihn doch wieder am Rocksaum ziehend, damit Gott endlich Regen schicke.

Die Männer prügelten ihre Weiber schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen. Schlugen sie, ohne daß sie einen Grund hatten, einfach aus Bosheit, um ihr Mütchen zu kühlen, aus Ärger über das unnütze Leben. Dann wieder hatten sie Mitleid mit ihnen, küßten sie und weinten miteinander, es verging ein Tag, es verging eine Woche – und dann gab es wieder dieselbe Prügeln, und man hörte das Heulen der Weiber, bald aus dieser, bald aus jener Hütte. Wenn die Männer sich in die Taiga auf Jagd oder Holzschlag begaben, ließen sich die Weiber gar oft mit den zurückgebliebenen jungen Burschen ein, wie sie ihnen gerade in den Weg liefen, selbst mit einem vorüberziehenden Landstreicher oder dem lebenslustigen Popen, oder mit Politisch-Verbannten, aber sie taten das gar nicht mal aus Ausschweifung, sondern nur aus Bosheit, um sich an ihren rohen Männern zu rächen, ihnen weh zu tun.

Wenn Steschka dem Hirten Sidorka in den Armen lag, wußte sie ganz genau, daß ihre Basen alles, ja sogar mit Übertreibungen ihrem Manne wiedererzählen würden, sogar Dinge erzählen würden, die gar nicht geschehen waren, wußte es ganz genau und tat es mutwillig, vielleicht nur deshalb, daß ihr Mann raste, sie tyrannisierte, ihr Vorwürfe machte, sie verprügelte, daß sie blutig und zerschlagen hinaus auf die Straße rennen und in die Welt hinausschreien konnte: »Ich laufe davon, Du abgefeimter Betrüger, ich bleibe nicht mehr bei Dir, Du Säufer, ich gehe zu Petrowan, dem Schlosser, dem kaiserlichen Verbrecher, ich gehe!«

Kinder gebaren sie ohne große Schmerzen und ohne besondere Vorbereitung, wo es gerade kam: im Walde oder auf dem Felde, ganz gleich. Kinder hatten sie alle in großer Zahl: »Los, Mawrucha, ni-tsche-wo, auf eins kommt es nicht an!«

Das Leben des Dorfes Kedrowka teilte sich – seit Menschengedenken war es so gewesen – in zwei Teile: eine Lichtseite und eine Schattenseite.

Geriet das Korn, gelang das Waidwerk – dann wurde es hell in ihrem Herzen. Dann gingen sie froh und zufrieden einher, die Mütze auf's Ohr geschoben, die Weiber kleideten sich in grellbunte Sarafane und trugen modische Halbschuhe. Vergessen war die Not; eben war sie noch dagewesen, kaum war sie vom Hofe gewichen, ihr Schritt war noch nicht verhallt draußen vor dem Tor, aber schon hatte man sie vergessen und lebte so, als ob sie niemals wiederkehren könnte. Es gab gut zu essen, man lud sich gegenseitig zum Tee ein, schaffte sich neue Kleider an, solche, die man wirklich brauchte, aber auch solche, die man eigentlich nicht brauchte, bloß so, zum Prahlen, kaufte sich zweireihige Ziehharmonikas, und ergab sich dem Trunke. Alle tranken, die kleinen Kinder, die kaum dem Lutscher entwachsen waren, nicht ausgenommen.

Alle Gesichter wurden lustig, wurden hell und freundlich, die eisige Bosheit ihrer Seelen taute auf, alte Kränkungen gerieten in Vergessenheit, langjährige Feinde schlossen bei einer Flasche Schnaps Frieden, fielen einander in die Arme, küßten sich versoffenen Auges, schworen sich, Brüder zu sein bis ins Grab, und krochen zur Bekräftigung dieser Worte auf die Straße und nahmen Erde in den Mund.

Es vergeht ein Jahr, es vergeht ein zweites. Die Männer merken es schon im Frühjahr, daß es dieses Jahr keine Eichhörnchen geben würde. Das war schlimm: »Der Teufel hat mit dem Waldgeist Karten gespielt, und der Waldgeist hat die ganzen Eichhörnchen verspielt.« Dafür wird das Korn geraten, wie es im Halme steht, eine Freude es anzusehen!

Aber plötzlich erschien mitten im Sommer ein schrecklicher Gast: ein Frühreif, ein zweiter folgte, die Ernte war hin!

Da begannen denn die schwarzen Tage der Schattenseite.

Sie war ausdauernd und zähe und mit einem Jahre war es nicht geschafft: »Warte zwei oder auch drei Jahre – mit ihm, mit Gott, kannst Du nicht rechten!«

Da kam ganz allmählich, so unmerklich, wie der Tag in den Abend übergeht, das Böse und überschwemmte nach und nach das ganze Dorf. Von allen Seiten, aus Sümpfen und Schluchten zog es heran, zusammen mit den Nebelschwaden, unhörbar, wie eine Schlange kroch es in die Hütten, umnebelte allen die Köpfe, nagte an allen Herzen und legte sich wie ein knurrender, bissiger Hund auf die Türschwellen. Durch das ganze Dorf, von Hof zu Hof, zogen sich dann unsichtbare Teufelsfäden. Wer hat sie gesponnen? Natürlich der Feind der Menschen. Ein übler Geruch stand in der Luft, alles sah trostlos und düster aus. Man hörte kein frohes Lachen mehr, wurde einmal eine Lache angeschlagen, dann grollte das Böse in ihr; man hörte kein freies, heiteres Lied: wurde doch mal eins angestimmt, dann klang es wie Leichengesang; keine zärtliche Mädchenstimme flüstert: »Ach, Du, Wanjka, liebes graues Auge«, man hört nur Seufzer einer kummervollen Brust.

Die Gesichter werden finster, die Augen stechen hungrig und gierig, der Mund formt sich geizig, im Herzen nagt quälender Schmerz. Man möchte am liebsten jemanden beißen, stechen, zerreißen, beschimpfen, aus der Welt schaffen. Ein andermal wieder will man – woher mag dieser plötzliche Wunsch kommen? – sich mitten auf die Straße stellen und jedem sagen: »Kinderchen! Nun wollen wir uns zusammenschließen, wollen uns dem Schicksal entgegenstemmen – vielleicht wird es nachgeben?« Aber wie und wo? Wer weiß es? »Kinderchen, kehrt das Unterste nach oben!« Man kann sich die Kehlen wundschreien. Die Taiga wird den Ruf widerhallen lassen und lachen.

Da ist Spirka, der Soldat aus Pitjer, aus St. Petersburg, gekommen, ist heimgekehrt aus der großen Stadt, Spiridon Pawlytsch Ikonnikow heißt er mit vollem Namen. Hat den Leuten unerhörte Sachen erzählt: was für Städte es draußen gibt, und was für Leute darin leben, und welch' eine Fülle von Licht die Nächte erleuchtet …

Dann ist er wieder abgerückt, der Ruchlose, wollte nicht zu Hause bleiben: »Kann man denn hier leben … Bin ich denn ein Tier, was?« Prahlte … prahlte … und rückte schließlich ab. Treibt sich jetzt wahrscheinlich irgendwo herum, sucht ein leichtes Leben, der Hundesohn … der Taugenichts.

So und anders schimpften sie auf den Soldaten Spirka, daß er ihnen den Mund wässrig gemacht, daß er mit dem Finger in den Himmel gezeigt hatte, dorthin, wo die Sonne nicht unterging, wo alles viel besser war als hier. Aber wenn sie auch schimpften, so dachten sie im Stillen doch oft an seine Reden und seufzten dabei.


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