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2.

Nasimowo – war ein großes, uraltes Taiga-Kirchdorf.

Gar nicht so weit von Kedrowka, es waren kaum hundert Werst, – das ist wirklich keine Entfernung, – aber das Leben war dort klarer. In Nasimowo lebten auch »zaristische Verbrecher, Politische«, Bücher gingen von Hand zu Hand, der eine und andere der Burschen konnte sogar lesen, ja es gab eine Schule.

In Nasimowo gab es eine steinerne Kirche mit einer großen Glocke, wenn sie schlug, dröhnte es lange nach, gab es einen Popen, gab es Kaufleute, es lag gar nicht so weit von der großen Heerstraße entfernt. Die Heerstraße führte schnurstraks in die Kreisstadt, siebenhundert Werst waren es nur!

Aber auch in Nasimowo war die Sünde zu Hause und außer ihr noch verschiedene andere faule Sachen.

Der Kaufmann Iwan Stepanowitsch Borodulin wohnte sogar in einem zweistöckigen Hause mit einem Gärtchen davor. Sein Haus war das beste im Dorf. Borodulin selbst war ein Mann in den besten Jahren, mit einem großen schwarzen Vollbart und vollen roten Backen, er trug das Haar ganz rund, über den Kopf geschnitten, hatte große weiße Zähne und wurde von den Weibern sehr geschätzt. Mit ihnen allen schäkerte Borodulin und er brüstete sich auch ganz offen damit: »Die Weiblichkeit ist mir ein Vergnügen«. Am besten gefiel ihm aber doch die Soldatenfrau Darja, mit der er ein ganz offenes Verhältnis hatte.

Die hübsche Darja lebte aber gleichzeitig mit einem kriminellen Verbannten, dem Ansiedler Fedenjka, und die Frau Fedenjkas, eine hiesige Bäuerin, lebte mit dem Kaufmann Afonja, die Frau Afonja's lebte gleich mit drei Burschen aus Nasimowo und mit einem gewissen Lapscha, die Frau des Lapscha aber, die fixe Sekletinja, hatte etwas mit dem verwitweten Popen. Der Pope begnügte sich aber nicht mit der Sekletinja, seiner Köchin, sondern stieg der siebenpudschweren Frau des Kaufmanns Borodulin nach, die in die Stadt gefahren war, ihren Kropf zu kurieren. So ging es rund im Kreise.

Iwan Stepanytsch Borodulin war ein geschickter Kaufmann: er hatte den ganzen Bezirk in seiner Wuchererfaust.

Der Dorfälteste von Kedrowka, Prow, der wirklich ein selbstherrlicher Bauer war, stand auch in der Schuld Borodulin's: Der Waldteufel hatte die bösen Geister aus der Taiga auf Kedrowka losgelassen und bis auf einen kleinen Rest war das ganze Vieh bei den Bauern durch eine Viehseuche eingegangen, so mußte er denn zum Kaufmann gehen, sich vor ihm verneigen und um Nachsicht bitten.

Lange quälte sich Prow: Anna, seine einzige Tochter tat ihm leid, aber sie mußte zu Borodulin in Dienst gehen. Zu Hause waren sie mit der Feldbestellung fertig, deshalb konnte man sie jetzt an Borodulin als Magd verdingen: so war gleich ein Teil der Schuld getilgt, und das war nicht zu verachten. Matrëna war tief bekümmert, in den Tagen vor der Trennung konnte sie ihre Tochter nicht genug anschauen. War es ein Wunder? Anna war die erste im ganzen Dorfe, und nicht nur im Dorf: geh hinaus, nicht eine war schöner und klüger in der ganzen Taiga, ja im ganzen russischen Reiche, – und nach wem war sie so geraten?

Aber auch Anna ist kein reines Glück beschieden. Irgend etwas stimmt sie traurig … irgend etwas fehlt ihr … Irgend woher kommt es plötzlich gekrochen, verstohlen, und packt dich, wie ein hinterlistiger Hund … Als ob sie nicht eine Hiesige, eine aus der Taiga wäre, als ob sie vielmehr aus dem kristallklaren Quell entstammte, der aus der Taiga dem Flüßchen zufloß, aus dem Flüßchen in den Strom, aus dem Strom ins Meer, durch die ganze schöne Welt, – traurig ist Anna. Sie weiß selbst nicht, warum, aber es ist ihr traurig zu Mute … Kam es vom Leben? War das denn das Leben? Ja, es schien doch das Leben zu sein …

Früher, hieß es, sollte es besser gewesen sein, aber jetzt – schau dich rings um – es war alles widerlich, – dachte Anna kummervoll. – Die Menschen hier waren gar keine Menschen, sie krochen aus irgendwelchem Winkel, zottige Trolle, stießen sich mit ihren Nasen, quälten sich durch das irdische Leben, und fuhren schließlich als morsche Klötze in die Erde … Aber aus der Taiga kriechen neue … So rollt es unaufhörlich: aus der Taiga auf den Friedhof, unter die Kreuze. Das war das Leben.

Am meisten härmte sich Anna im Herbste, wenn sich die Zugvögel für die Winterreise sammelten. Da entriß sich ihrem wunden Herzen mancher Schrei: Kranich, lieber, nimm Du meine Seele mit … bring sie weit fort von hier …

Und mit niemandem konnte sie hier ein gescheites Wort, mit niemandem einen höheren Gedanken austauschen. Mit Ustin etwa? Nein, Ustin – war ein Greis, sein Sinnen geht nur auf das Religiöse. Und dann liebt er die Taiga! Mit Keschka? Keschka ist eine dunkle Seele, eine Seele ohne Sterne. Mit dem Vater? Der Vater hat ein schwieliges Herz: arbeite, schaffe für zwei, aber nichts weiter … Vielleicht mit der Moschna, dem Geldsack … Moschna ist eine alte erfahrene Frau: sie kennt viele Märchen, Erzählungen und Geschichten. Beim knisternden Kienspan ihr zuzuhören war unterhaltsam: mit ihren Händen spinnt sie den Flachs, aber ihre Seele flattert über die Taiga …

Anna war noch nie aus Kedrowka herausgekommen, und als sie nach Nasimowo kam – war ihre Sehnsucht nur noch größer geworden. Es wäre wohl zu einem Unglück gekommen, wenn sie hier nicht Andrej getroffen hätte – und so hatte sich alles gewandt.

Eines Tages hatte sie Borodulin auf die runde Schulter geklopft: »Geh' mal, Anka, lauf' zu Andrej, dem Politischen, weißt Du? Er soll kommen unseren Diwan polstern!«

Anna kehrte ganz verändert zurück.

»Nun?« fragte Iwan Stepanytsch, mit seinem Rechenbrett klappernd.

»Er wird kommen,« antwortete sie und ein Lächeln spielte kaum merklich um ihre Mundwinkel.

So hatte es angefangen. Zum ersten Male war Anna solch einem Menschen begegnet. Es war für ihn wirklich kein Spaß hier zu sitzen: er war Lehrer, hatte Kinder gelehrt … Und war ein hübscher Mensch … Irgendetwas stand in seinem Gesicht, in den Augen hatte er … so etwas … sie konnte sich kaum trennen. Und als Andrej zum Polstern kam, geriet sie außer sich, beinahe hätte sie den Samowar ohne Wasser aufgestellt. Beim Tischdecken zerschlug sie ein Teeglas, und als sie Andrej half die Nägel einschlagen, zitterten ihr die Hände.

Andrej, der schon das zweite Jahr in der Taiga saß, grämte sich nicht weniger als Anna. Er sehnte sich nach den weiten Steppen des Don, in deren Dienst er sein Leben gestellt hatte, sehnte sich nach den schmutzigen Kleinen, die ihm weinend durch die ganze Staniza nachgelaufen waren, als ihn schnurrbärtige Gendarmen verhaftet und abgeführt hatten.

»Guten Tag, Andrej!« schaute Anna eines Tages bei ihm herein.

Andrej hob den Kopf, schüttelte die in die Stirn hängende Haarsträhne zurück und kniff die lebhaften, scharfblickenden Augen ein wenig zusammen. »A … eine Bekannte!« sagte er gedehnt. »Nun, guten Tag, mein schöner Falke. Was führt Dich zu mir?«

»Denke nicht falsch von mir,« lächelte Anna verlegen. »Ich gräme mich hier gar sehr, Andrejuschka … Ich möchte nach Hause … schreib' mir doch ein Briefchen an meinen Vater, ich glaube, der Gehilfe des Dorfschulzen fährt in den nächsten Tagen nach Kedrowka … Es ist hier zu langweilig!«

Anna lehnte sich an die Hobelbank und ließ den Kopf hängen. »Du sagst, langweilig? Ja, Anna, es ist nicht gerade lustig hier … Nun, also wollen wir mal anfangen!« Er schrieb, sie beobachtete neugierig sein trauriges, junges Gesicht mit der hohen Stirn und den schwarzen Augen. Seine Brauen waren dicht, von dem Schnurrbart kaum ein Anflug zu sehen, in den Schultern war er breit, seine Hände dagegen fast jungfräulich. »Du, man sieht es. Du bist ein Adliger … Wie schön … Du bist«.

Von der Zeit an machte sich Anna bei jeder Gelegenheit frei um zu Andrej zu gehen: »Irgend etwas zog mich zu Dir«.

»Möchtest Du Schreiben und Lesen lernen?« fragte er sie einmal.

Sie klatschte vor Schreck in die Hände und ihre Augen füllten sich mit Tränen wie Blumen mit Tau: »Andrej, Andrejuschka … Täubchen!«

Tage um Tage vergingen. Starker Frost trat ein. Anna fühlte sich jetzt ganz merkwürdig: sah sie Andrej einen Tag lang nicht – überfiel sie eine große Einsamkeit, kam sie aber zu ihm – wollte sie nicht fort von ihm, und so blieb sie bis zum ersten Hahnenschrei bei ihm sitzen. Andrej holte dann ein Buch hervor, sie setzen sich näher an den Ofen und verkürzen sich so die lange Nacht. Im Winter ist es in der Hütte kalt, wenn der Sturm losheult, weht er den Schnee so hoch in die Stubenecke, daß man ihn fortschaufeln kann. Andrej liest von fremden Menschen, von fremden Ländern, vom Himmel, von der Sonne.

»Lies mal etwas von der Wahrheit!« Auch von der Wahrheit liest Andrej. Es ist gut ihm zuzuhören: etwas Helles, Neues strömt in die Seele; die Taiga verschwimmt, und Anna steht schon über ihr, wie auf einem hohen Berge. Die Welt muß doch schön sein! Andrej liest mit ganz besonderer Wärme, manchmal bricht er an einer Stelle ab und redet viel, viel, seine Stimme klingt zärtlich, seine Rede ist gewandt, er fängt mit dem Einfachen an und führt sie so weit, daß man den Atem anhalten muß.

»Ja, wie ist das denn, Andrej? Ist es wirklich wahr?« hebt Anna die feinen Braunen.

»Ja, es ist richtig. Nur ihr Bauern, ihr habt die Augen verbunden.«

Einmal saß Anna abends bei Andrej. Sie nähte ein Hemd und summte leise ein Liedchen:

Leuchtet doch der Mond noch immer,
Wenn nicht mit demselben Schimmer,
Wie in frühren Zeiten …

Andrej ging in großen Schritten aus einer Ecke in die andere.

Auf alle scheint er stets gerecht,
Ob fromm sie immer oder schlecht …

»Anna!«, blieb Andrej stehen und nahm ihre Hand. – »Du singst schön, Anna, Du hast so viele Tränen in der Stimme … so viel Kummer.«

Das Mädchen nagte ihren Nähfaden durch, legte die Arbeit bei Seite und sagte: »Mein Väterchen und mein Mütterchen singen besser. Manchmal, an einem Feiertage, wenn sie etwas getrunken haben, setzen sie sich gegenüber, stoßen sich gegenseitig an, singen und … Ja, dann muß man unbedingt weinen.«

»Warum denn?« fragte Andrej und strich ihr über den Kopf.

»Ich weiß es selber nicht … Schwer wird einem … Als ob einen jemand riefe.«

»Nun, nun,« sagte Andrej und ließ sich neben Anna nieder. Die blickte vor sich hin, schien an irgendetwas zu denken, auf eine innere Stimme zu hören.

»Oder nachts … Manchmal kann man nicht schlafen, – Mütterchen und Väterchen schnarchen. Dann geh ich zum Fluß und setze mich ans Wasser … Die Nächte im Sommer sind so hell, und die Vögel im Faulbeerbusch singen die ganze Nacht hindurch … Man sitzt und denkt … Ach, denkt man, wäre man doch ein Riese, könnte man ein Riesenbeil zur Hand nehmen und damit die ganze Taiga niederlegen … Oder wenigstens einen geraden Weg durchhauen direkt in die weite Welt hinein.«

Andrej hob das Stemmeisen vom Fußboden auf, nahm ein angefrorenes Fläschchen mit Politur vom Fensterbrett und stellte es auf den Fußboden, Anna warf ein paar Holzscheite in das eiserne Öfchen.

»Andrejuschka, höre mal … Ich wollte Dir schon immer etwas sagen. Ja, weißt Du … Es ist nicht schön … das Leben … man lebt und doch ist es so, als ob man garnicht lebte, so als ob …«

Andrej warf den Schopf zurück und schritt auf und ab.

»Das Leben … Ja, was ist das auch für ein Leben?« sagte er, mit den Achseln zuckend. »Fressen, Schlafen, Prügeln, Totschlagen … Etwas wildes, tierisches!«

»Och, mein Täubchen … Schlimmer noch als tierisch … Lebe erst mal eine Zeit bei uns in Kedrowka … Es ist geradezu unheimlich!«

Andrej zupfte an seinem schwarzen Kittel, trat zur Hobelbank und begann zu arbeiten.

»Es ist wirklich ganz schlimm: Armut, Hader, Totschlag.«

Anna saß, den Kopf über ihre Näharbeit gebeugt. »Zum Beispiel Fedot, der Kaufmann,« fuhr sie leise fort, »der plünderte einst zwei Tungusen aus, und damit man es nicht erfuhr, gab er ihnen drei Flaschen Branntwein mit auf den Weg. Nun, sie betranken sich in der Taiga, es herrschte ein furchtbarer Frost und sie erfroren natürlich. Aber unsere Bauern – was taten sie? Für zwei Eimer Branntwein kaufte Fedot das ganze Dorf.«

Ein Hobelspan flog unter Andrej's Hand zischend vom Balken und fiel geringelt zu seinen Füßen. Er roch nach Harz.

»Und dann kommt es vor, daß sich die Burschen gegenseitig bei den Mädchen Hilfe bringen. Hast Du davon schon etwas gehört?«

»Ja, es ist eine schreckliche Sitte. Eine ganz schmutzige Gemeinheit.«

Andrej legte den Hobel weg. Auf seinem Gesicht malte sich Bitterkeit. Er schloß die Augen halb und hörte, sich in den Hüften wiegend, Anna zu.

»Wenn sie merken, daß bei einem Mädchen was zu machen ist, dann locken sie es durch Betrug hinter das Dorf und dann stürzt die ganze Horde darüber her … Tfu! … Eine Schande. Jesus Christus … Nicht nur junge Burschen kommen gekrochen, auch sogar verheiratete Männer … Auch Greise finden sich ein … Das Mädchen brüllt, als ob man ihm die Gelenke auseinanderreißt … Ein Mädchen haben sie so zu Tode gequält: sie wurde geisteskrank, hat sich vom Fels in den Fluß gestürzt … Der Grund war allein der, sie wollte nicht einen Mann ohne Nase heiraten.«

Anna riß sich von der Arbeit los und starrte die Wand an, wie im Starrkrampf. Andrej ging mit großen Schritten, die Hände auf dem Rücken, aus einer Ecke in die andere, redete auf Anna ein, aber sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Flamme im Ofen knisterte und prasselte, draußen von der Straße aber hörte man Schimpfen: anscheinend war eine Messerstecherei im Gange.

»Andrejuschka, wirst Du lange hierbleiben?«

»Ich weiß es nicht … Vielleicht mein ganzes Leben,« sagte er mit tonloser Stimme. Er trat an das niedrige Fensterchen und schaute gebückt auf die schneebedeckte, vom Mondlicht hell überflutete Straße hinaus.

»Begleite mich nach Hause … Ich muß gehen …« seufzte Anna.

»Bleib' noch ein Weilchen!« Er setzte sich zu ihr und versank in Nachdenken. Anna schmiegte sich an ihn und blickte ihm forschend in die Augen. In ihnen stand Trauer, ja, so schien es ihr – Tränen.

»Es ist zum Ersticken, Anna, es ist scheußlich … Man muß irgendetwas unternehmen … bloß, damit es erträglicher wird. Man muß versuchen, das Leben besser einrichten, Anna!« Seine Stimme versagte. »Oho-ho … Das ist leicht gesagt. Aber, versuch's nur mal … Und wenn es nicht gelingt, dann fliehe ich!« sprang Andrej auf, durchmaß mit raschen Schritten das Zimmer und umklammerte seine Handgelenke. »Ich fliehe, wohin die Augen sehen … Nach Amerika! … Zum Teufel! Zum Satan!«

»Andrejuschka, und ich mit Dir!«

»Du auch?« faßte er ihre ausgestreckte Hand, strahlte vor Freude und hob sie von der Bank auf.

»Ich bin einverstanden«, flüsterte Anna zitternd. Aber dann, gerade als ob sie sich jetzt erst an etwas erinnerte, hob sie verwundert die Augenbrauen. »Halt, Andrej … Und wie soll es hier werden? Du sagst ja selbst: es herrscht hier Dunkel, Unwissenheit … Warum dann fliehen? Laß Dein Licht doch hier leuchten. Und wenn Du auch nur wenig Licht bringst, so ist das auch schon gut … Und sei es auch nur mit einem Kienspan, einem einfachen.«

Andrej lächelte: »Wenn die Sonne aufgeht, ist es in der ganzen Welt hell … auch ohne Kienspan … Mit einem Male. Und die Sonne ist dort, Anna, hinter der Taiga.«

»Mein Lieber … mein heiß Ersehnter … Du selbst bist ja die Sonne!«

Nachdem er Anna nach Hause gebracht hatte, konnte Andrej bis zum Morgen keinen Schlaf finden. Er holte die Landkarte hervor und betrachtete sie lange. Ja, natürlich, es ging … Zum Frühjahr würde er mit Anna zur Lena ziehen, zu dem schönen breiten Fluß … Die Spuren waren einfach zu erklären: als ob Mann und Frau zu den Goldsuchern gingen. Die Lena entlang dann mit dem Dampfer … Nun, sie fliehen zusammen … Und was weiter? Nein, er muß es allein tun, ganz allein.

»Ein schöner Traum!« entfährt es ihm und seine Lippen verziehen sich zu einem bitteren Lächeln. – Ein Traum! – er wirft die Karte auf den Fußboden und geht auf und ab, bis er zum Umfallen müde ist.

In Andrej wuchs mit jedem Tage ein Neues: bald lockte ihn die Taiga mit ihrem rätselhaften Rauschen, ein einfaches Leben gemeinsam mit Anna und ein hartnäckiger Kampf mit Unwissenheit und Finsternis, bald winkte ihm die Freiheit und sein Herz warf sich ihr entgegen. Freiheit … das schöne Wort. Was nun also? Ein Nest in der Taiga bauen oder mit den Schwänen auffliegen und über's Meer ziehen? Aber da kam an einem Feiertagmorgen Anna zu ihm. Ohne ihn zu begrüßen, ließ sie sich auf die Bank nieder. Andrej war mit dem Ausstopfen eines Eichhörnchens beschäftigt.

»Was ist mit Dir?«

Anna antwortete nicht, sondern seufzte nur.

»Hat Borodulin Dir etwas angetan?«

Anna saß vorübergebeugt da.

»Was hast Du?« trat Andrej zu ihr und nahm ihre zitternden kalten Hände.

»Andrejuschka … mein Falke … ich bin … schwanger«, flüsterte Anna, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend.

»So … so, so …« sagte Andrej gedehnt, versuchte seine Gedanken zu sammeln und fühlte dabei, wie sich sein Herz umdrehte. – »Das ist ja ausgezeichnet … Das ist wirklich gut … Sehr gut … Nun …«

Anna ging völlig getröstet von dannen. Sie ging nicht, sondern sie lief. Hell schien die Sonne. Der Schnee blendete die Augen. Es taute.

Andrej schrieb dem Freunde einen langen Brief: »Freund. Jetzt ist alles klar: ich bleibe in der Taiga. Ob auf lange – wird das Leben zeigen, aber, es scheint, auf lange … Ich werde nach Möglichkeit die Qual der Taiga zu vertreiben suchen. Du lächelst? Kleinigkeit, sagst Du? Nun, was … Es steht halt in den Sternen geschrieben, wie hier ein Kaufmann sagt. Aber der Fall ist jetzt eingetreten. Erinnerst Du Dich, ich schrieb Dir mal von meiner Freundin? Ich habe mich vom ersten Begegnen an zu ihr hingezogen gefühlt, und je länger, desto stärker. Und sie bedeutet für mich hier, in der Taiga, – alles. Und heute hat sie mir offenbart.«

Andrej brummte der Kopf, die Zeilen tanzten ihm vor den Augen. Er tauchte die Feder ein und überlas das Geschriebene noch einmal: »Nein, nicht so … Nicht das … Wozu? Man muß es anders machen«, sagte er und zerriß den Brief.

Der Frühling war gekommen. Die Taiga rauchte, schwenkte ihre Weihrauchkessel, war erfüllt von fröhlichem Summen und schaute mit weit ausgebreiteten Armen inbrünstig der Sonne entgegen.

Andrej liebte es im Frühjahr in die Taiga zu gehen, auf eine Woche oder zwei, um sich nach Herzenslust sattzutrinken an dem Harzgeruch nach dem langen achtmonatigen Sitzen in den engen vier Wänden. In den Nächten, wenn Anna nicht bei ihm war, trat er auf die Straße hinaus und horchte gespannt auf das deutlich wahrnehmbare Geschnatter der Wildgänse: Ga–ga … Gagaga … Ga-ga … Gagaga … Hoch oben, zwischen der Taiga und dem stillen Sternhimmel zogen Schar auf Schar unaufhörlich die Wildgänse nach Norden.

Andrej fühlte, wie alles Leben in ihm in wilden Pulsen schlug. Er fuhr sehnsüchtig mit den Augen über den Himmel, aber außer den aus der hellblauen Dämmerung blinkenden Sternen konnte er nichts erkennen: »Ich muß mich aufmachen!« Und gar bald, an einem schönen, warmen Abend, umarmte er Anna zärtlich: »Ich gehe in die Taiga, Annotschka … Dort ist es schön!«

»Was hast Du denn nur von der Taiga?«

»Das verstehst Du nicht, Annotschka … Ich kehre bald zurück!«

Der Morgen kam. Andrej nahm Vorräte mit, warf das Gewehr über die Schulter, nahm Abschied und schritt munter das Dorf entlang.

»Verirr' Dich nicht, paß' auf … Leb' wohl … Leb-wo-o-ohl!«


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