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XIII.

Es war spät Frühling geworden. Doch nun, in den letzten Tagen des April 1789, war er sieghaft in die Gärten von Versailles eingezogen. Durch die hohen offenen Fenster streicht ein sanfter Wind, schon warm von Sommerahnungen und süß vom Dufte der Rosen, die noch in der Knospe schlummern. Mit dem Hauche von Wärme und Blumen fluten herein die seltsame Erregtheit, die Spannungen, der Freuderausch, der seinen Grund nicht kennt noch hat, die vagen Erwartungen und Beängstigungen, die der Lenz in die Herzen der Menschen trägt.

Marie-Antoinette steht mit der Prinzessin Lamballe am offenen Fenster ihres Boudoirs. Es ist das hübscheste Gemach im Palaste, das einzige, das ihr allein gehört, zu dem dieses aufdringliche Gespenst der Etikette keinen Zutritt hat. Die getäfelte Decke hängt tief, die Wände gürtet ein Paneel, das der Kamin und zwei große, in die Wand eingelassene Spiegel unterbrechen. Die kunstfertige Hand eines Meisterziseleurs hat um diese Spiegel einen Rosenstrauch geschlungen, dessen zartes Blattwerk sich auf der Holzverkleidung rings um das Zimmer fortschlingt, den Doppeladler Österreichs umringelt und die Embleme der Liebe behütet: Fesseln, Fackeln, pfeildurchbohrte Herzen.

Über dem Kamin hängt das Bild der Königin, das die Lebrun im Jahre zuvor gemalt hat.

In einem leichten weißen Morgengewande lehnt Marie-Antoinette am Fenster. Ihre Stirn ist ernst, in ihren schönen klaren Augen steht die Sorge.

»Mein Herz ist schwer«, bekennt sie der Freundin des sorgenlosen Glückes von einst. »Alle diese Dinge, die jetzt hereinstürzen, machen mich fast abergläubisch. Heut nacht saß ich lange wach in meinem Kabinett. Auf dem Tisch brannten vier Lichter. Plötzlich erlosch das eine. Von selbst. Kein Lufthauch ging. Ich zündete es wieder an. Da verlosch das zweite. Ich zündete es wieder an. Da ging das dritte aus. Ich dachte: wenn auch das vierte erlischt, so nehme ich es als ein böses Vorzeichen. Das vierte erlosch.«

Die Lamballe schüttelte den Kopf mit der hohen gepuderten Frisur.

»Ein Zufall«, suchte sie zu trösten.

Die Königin nickte langsam vor sich hin.

»Ich habe meine Ahnungen«, sagte sie leise.

»Sieh die Leute«, lachte die Lamballe, die trüben Gedanken Marie-Antoinettes zu scheuchen, und wies mit dem Kinn zum Fenster hinaus in den Park. »Wie sie einherstolzieren, diese Urväterfräcke, diese kurzen Soutanen der Dorfgeistlichen. Zu putzig!«

»Ich fürchte mich vor diesen Leuten.«

Die Königin erschauerte.

»Vor denen!« Die Lamballe lachte ausgelassen. »Vor diesen Spießern! Seit ich diese Herren Abgeordneten gesehen habe, diese gespreizten Wichtigkeiten, diese Provinzgewaltigen, ist meine Furcht vor der Nationalversammlung dahin. Da – sieh den kleinen dürren Herrn im blauen Frack mit den Messingknöpfen. Sieht er nicht aus wie ein Truthahn mit seinem würdevoll eingezogenen, zurückgelegten Kopfe?«

»Er ist mir schon gestern aufgefallen«, flüsterte die Königin. »Er geht immer allein – –«

Es war, als habe der kleine dürre Herr die Worte vernommen. Plötzlich hebt er den Kopf und blickt zu dem Fenster hinauf. Die Damen prallen zurück. Ein abgemagertes bleiches Fanatikergesicht mit starren stechenden Augen.

Marie-Antoinette preßt die Hand auf das Herz. »Hast du seine Augen gesehen? Er sieht aus wie das erbarmungslose Schicksal.« –

Der kleine Herr war der Abgeordnete von Arras, der unbedeutende Advokat Maximilien Robespierre. –

Seit einigen Tagen trafen die Deputierten in Versailles ein und vertrieben sich die Langeweile des Wartens auf die Eröffnung der Reichsstände im Frühlingsgarten des Schlosses.

Eine Schar schreitet auf den Einsamen zu. Ob der Herr Kollege sich ihnen anschließen wolle. Sie gingen hinaus nach Trianon. Der kleine Herr, der Abgeordnete von Arras, der unbekannte Advokat Maximilien Robespierre, folgt dem Zuge zu diesem Lieblingsaufenthalte der Königin, von dem er in der Ferne seiner Provinz so viele empörende Schauergeschichten gehört und gelesen hat.

Dort hatte die Österreicherin ja ihre geheimen Wollustorgien gefeiert und Millionen des Volkes verpraßt. Ein pflichtbewußter Vertreter des Volkes mußte diese Lasterstätte in Augenschein nehmen, um sich zu wappnen gegen dieses Weib, das Frankreichs Ruin geworden ist.

Enttäuscht standen die Herren vor dem schlichten Eisengitter, das den kleinen Hof abschloß. Sie hatten sich am Ende verlaufen? Dieses viereckige kleine Gebäude mit fünf Fenstern Front und zwei Stockwerken, dem jeder Herrschaftssitz ihrer Heimat den Rang ablief, konnte doch nicht das böse Märchenschloß sein, das Millionen und aber Millionen verschlungen hatte!

»Es ist Trianon«, bestätigt die trockene Stimme des Anwalts von Arras.

»Aha,« denkt man, »sie ist gerissen. Hinter diesen schlichten Mauern verbirgt sie die Mysterien der Lasterhöhle.«

Man tritt ein, neugierig, ein leichtes Gruseln und eine kleine Lüsternheit im Blute, die Stätte zu sehen, die die Lüste dieser Messalina geschaut hat. Ein alter Lakai übernimmt die Führung der Herren Abgeordneten. Einige schleichen befangen auf den Zehenspitzen in alter eingeborener Ehrfurcht vor der Luft der Großen dieser Welt, andere trampeln mit harten Sohlen, ihre Autorität und die neue Zeit zu bekunden.

Ja, aber was ist das? Die Einrichtung ist hübsch, ist stilvoll, zeigt überall die Spur einer geschmackvollen Frauenhand. Aber nicht einmal reich! Kein Luxus!

Dahinter steckt etwas. Man will sie, die Erwählten des Volkes, betrügen. »Hören Sie, Herr Kammerdiener, hier wird nichts verheimlicht! Wir sind das richtende Volk! Wir wollen alles sehen, alles! Hören Sie?«

Der alte Lakai hat gelernt, keine eigenen Gedanken, keine Empfindung, keine Verachtung zu verraten. Er zeigt wortlos alles. Das kleinste Kabinett, jeden Winkel.

Jetzt ist der Rundgang beendet.

»Nein, nein, nein, mein Lieber. Das, was wir eigentlich sehen wollen, das sind Sie uns schuldig geblieben. Nun keine Faxen gemacht, bitte! Wir sind das richtende Volk. Öffnen Sie mal endlich die Türen zu dem Salon, der mit Diamanten tapeziert ist, dem Salon mit den schwer goldenen Säulen, die von oben bis unten mit Saphiren und Rubinen besetzt sind, die glitzern vom Schweiß und Blut des Volkes.«

Der Alte zuckt nur stumm die Achseln.

»Spielen Sie keine Komödie, Bester. Wir lassen uns nicht düpieren. Wir sind Deputierte! Die Zeit der Irreführung des Volkes ist vorüber. Also los!«

Der Alte zuckt stumm die Achseln.

Die Volksvertreter werden böse. Sie haben doch von diesem Märchensalon in hundert Zeitungen, Broschüren, Pamphleten gelesen! Sie beratschlagen, sie suchen selbst, öffnen noch einmal jede Tür, klopfen die Wände ab nach dem dumpfen Laut der Geheimtüren.

Der alte Lakai steht dabei mit unbeweglichem Gesicht.

Endlich gehen sie, zornig, voll Rachedurst. Man hat ihnen das Wesentlichste vorenthalten, diesen Salon, in dessen Diamantenwänden sich die buhlerischen Lüste der Königin gespiegelt haben. Man wird es büßen, sie zu narren, sie, die Vertreter des souveränen Volkes! Man wird es blutig büßen!! –

Der 1. Mai ist der Auftakt der Versammlung. Noch herrscht das alte Regime mit seinem Prachtgepränge, seinem Schaubedürfnis.

Die Wappenherolde, der Wappenmarschall von Frankreich im violetten Prunkgewande mit goldgestickten Lilien durchziehen in langsamem weihevollem Schritte auf weißen Rossen die Gassen von Versailles. Vor ihnen reitet das Trompeterkorps des Großen Marstalls und eine Abteilung der Garde. An allen Straßenecken verkündet unter Posaunengeschmetter der Wappenmarschall die königliche Verordnung über die Eröffnung der Stände.

Am 4. Mai drängt sich ganz Paris in den Straßen von Versailles. Alle Plätze, alle Alleen der Gartenstadt sind schwarz von Menschen. Schon gestern abend sind sie herbeigezogen, haben trotz des leichten Sprühregens die Nacht im Freien verbracht, einen guten Platz zu behaupten. Gegen Morgen klärt es sich auf! Blauer Himmel, Frühlingssonne. Ein Fensterplatz kostet eine Stange Gold, die Balkone sind nur für Millionäre. Die Dächer drohen einzubrechen unter der Last der Schaulustigen. In der Nähe der Kirche Notre-Dame ist das Gedränge voller Gefahren. Von hier geht der Zug aus. Hier versammeln sich die Abgeordneten, die Kerze krampfhaft in der Hand.

Endlich, gegen 10 Uhr, kommt der Hof, das ganze königliche Haus im alten Glanze. Stallmeister, Pagen, Falkeniere, den Vogel auf der Faust, sprengen vor dem Galawagen. Links neben dem König sitzt der älteste Bruder, Monsieur, auf dem Rücksitz der jüngere, der Graf von Artois.

Mit der Königin fahren des Königs Schwestern. Ihr folgen alle Hofwagen. Die Pferde tragen stolzbewußt ihr kostbar schweres Silbergeschirr mit hohem Federschmuck.

Den ersten Wagen begrüßen stürmische Rufe: »Hoch der König!« Den zweiten empfängt eisiges Schweigen. Die Königin sinkt in sich zusammen. Vor dem Tore der Kirche verläßt die königliche Familie die Wagen, sich dem Zuge anzuschließen.

Den Weg bis zur Kirche des heiligen Ludwig säumen französische und schweizer Garden. Sie können die andrängende Menge kaum bändigen.

Die Spitze bildet der Dritte Stand. Gemessen, ihrer Würde voll, schreiten die Erwählten des Volkes dahin im kurzen Mantel aus Seide, weißer Musselinkrawatte, Dreispitz. Nur ein bretonischer Bauer hat sich seine Heimatstracht nicht nehmen lassen. Sein buntes Gewand sticht grell hervor.

Man kennt nur einen aus dieser schwarzen Schar, nur einer trägt einen berühmten Namen. Seine Abenteuer, seine wilde Vergangenheit, seine Werke, seine tumultuöse Wahl in der Provence haben ihn zum Legendenhelden geweiht. Die Kerze in seiner Hand ist erloschen. Er überragt alle um Haupteslänge. Er allein wird mit Vivatrufen begrüßt, vom Händeklatschen geleitet.

Eine Dame auf einem Balkone zeigt auf ihn. Es ist Madame de Staël, die Tochter des Ministers Necker. »Sehen Sie dort,« sagt sie zu ihrem Nachbar, »dieser große Mann. Das ist Mirabeau. Es ist schwer, den Blick von ihm zu wenden, nachdem man ihn einmal bemerkt hat. Und man muß ihn bemerken! Seine Größe, sein üppiger Haarwuchs macht ihn vor allen anderen kenntlich. Es scheint, als sei es die Quelle seiner Kraft wie bei Simson. Gerade seine Häßlichkeit verleiht seinem Gesicht den faszinierenden Ausdruck. Seine ganze Person ist gleichsam die Verkörperung einer regel- und schrankenlosen Gewalt, jedoch einer solchen, wie man sie sich gern bei einem Volkstribun vorstellt.« –

Es folgt der Adel. Die Menge schweigt feindselig, trotz des anmutigen Anblicks, den die goldgestickten Mäntel, die Federhüte à la Heinrich IV. bieten. Nur einer von ihnen erntet Beifall. Der Herzog von Orleans, der sich geweigert hat, mit dem Hofe zu schreiten.

Dann wallfahrtet die Geistlichkeit, der Zweite Stand, im Festornate, die Priester durch die Königliche Musikkapelle von den Bischöfen gesondert.

Jetzt kommt der König, Rock und Mantel aus goldgestickter schwarzer Seide, die Kerze in der Hand, umzingelt von den höchsten Beamten der Krone. Etwas hinter ihm schreitet die Königin im violetten Oberkleide, weißem Rocke mit Silberpaille, im Haar eine Reiherfeder, ein diamantenbesetztes Band um die Stirn geschlungen.

So wälzt sich der Zug im Frühlingssonnenschein durch die Rue Dauphine, über die Place d'Armes und die Rue de Satory bis zur Kirche des heiligen Ludwig.

Auf der Place d'Armes wirft die Königin im Schreiten einen raschen Blick hinauf zu dem Balkon des kleinen Marstalls. Dort kauert ein Kind, in Kissen vergraben, und blickt aus hohlen todgeweihten Augen auf den glitzernden Zug. Die Blicke von Mutter und Kind begegnen sich und lächeln sich zu. Eine Träne glänzt in Marie-Antoinettes Augen. Sie wischt sie hastig fort. Sie weiß, dieses Kind der Sorgen, der Kronprinz, hat noch Tage zu leben. Aber sie ist Königin, sie darf nicht an ihren Mutterschmerz denken, sie ist heute Königin, wie sie es noch niemals war. Heute gilt es, die Würde des wankenden Thrones zu wahren wie nie zuvor. Für den zweiten Sohn, der einst die Krone von ihr fordern wird. Sie wirft den Kopf mit der Reiherfeder empor und schreitet dahin, ganz hoheitsvolle Majestät, ganz Maria-Theresias Tochter, unter den feindseligen Blicken ihres Volkes.

Am folgenden Tage, dem 5. Mai, wird die Versammlung feierlich eröffnet. Im großen Saale des Hotel des Menus tagt sie. Unter einem gewaltigen Baldachin sitzt der König, zu seiner Linken, etwas tiefer, die Königin.

Auf der Galerie die Damen, in der neuen Mode, die Rose Bertin erfunden hat, der »Toilette der Reichsstände«.

Zu Füßen des Königs der Ministertisch, rechts des Saales die Geistlichkeit, links der Adel, im Hintergrunde die dunkle Masse des Dritten Standes. Rings um den Saal das Volk, über zweitausend Gaffer.

Der König erhebt sich. Man reißt die Hüte vom Kopf. Er spricht stockend, mit schwacher, unsicherer Stimme. Verheißt Gerechtigkeit und Wohlwollen. Dann hält Necker seine große Eröffnungsrede. Er will es allen recht machen und verstimmt alle. Bald klatscht der Adel Beifall. Dann schweigt der Dritte Stand in dumpfem Zorne. Bald jubeln die Bürger, und der Adel grollt.

Marie-Antoinette lächelt konventionell. Doch ihre Gedanken lächeln nicht. Ihre Augen wandern an dem dunklen Menschenwall des Dritten Standes hin, suchen, diese Stirnen zu durchschauen, hinter denen ihr Geschick schlummert und das ihres Mannes und ihrer Kinder. –

Schon am nächsten Tage brach der Zwist aus. Die beiden andern Stände weigerten sich, mit dem Dritten Stande zusammen zu beraten. Da zogen die Bürger ins Ballhaus, leisteten den berühmten Schwur, sich nicht zu trennen, ehe sie Frankreich eine neue Verfassung gegeben hätten, und konstituierten sich allein als die Nationalversammlung. Und damit hatte die »Revolution« begonnen. Denn bisher war alles gesetzmäßig und unter dem Patronate der königlichen Regierung geschehen.

Schon sehr bald zeigte es sich, wer das Hirn, das Haupt und das schlagende Herz der Versammlung war, die sich jetzt selbstherrlich zur Schicksalsgebieterin Frankreichs erhoben hatte. Kaum hatte der Dritte Stand sich in diesem Ballspielhause der alten, lustigen, galanten Zeit zum ernsten Spiele mit Menschen- und Volksgeschicken vereinigt, erschien der Zeremonienmeister des Königs, Herr von Brégé, und befahl der Versammlung, auseinanderzugehen. Der Zeremonienmeister! Noch handelte es sich für den ahnungslosen Hof um eine Frage der Zeremonie!

Da erhob, ehe die andern sich noch gefaßt hatten, Mirabeau zum ersten Male seine Stimme und schleuderte dem verdutzten Sendboten des Königs die Worte ins Gesicht:

»Wir haben die Absichten vernommen, die man dem Könige eingeflüstert hat, aber Sie, mein Herr, der Sie weder sein Organ bei der Nationalversammlung sein können, Sie, der Sie hier weder Sitz noch Stimme noch das Recht zu sprechen haben, Sie sind nicht der Mann, der königliche Befehle zu überbringen hat. Sagen Sie dem, der Sie gesandt hat, daß wir hier sind kraft des Willens der Nation und daß uns nur die Gewalt der Bajonette von hier vertreiben wird.«

Er stand da, das Löwenhaupt zurückgeworfen, den Arm drohend ausgestreckt, die Gottheit des empörten Volksgeistes. Seine Augen glühten wie heiße Lava.

Alles horchte auf, starrte auf den kühnen Mann, ahnte den Führer.

Der König sammelt hastig rings um Versailles Truppen aus fremden Söldnern, bedroht mit ihnen die Versammlung. Eine Deputation soll den König auffordern, diese Truppen zu entfernen. Mirabeau ruft der Abordnung zu:

»Sagen Sie dem König, daß die fremden Horden, die uns umlagern, gestern den Besuch der Prinzen und Prinzessinnen, der Günstlinge und Favoritinnen, ihre Schmeicheleien, Ermunterungen und Geschenke erhalten haben! Sagen Sie ihm, daß diese fremden Trabanten, voll von Geld und Wein, die ganze Nacht hindurch in ihren frevlerischen Gesängen die Knechtung Frankreichs verkündigt und in ihren rohen Gebeten die Vernichtung der Nationalversammlung erfleht haben. Sagen Sie ihm, daß in seinem eigenen Palaste die Höflinge unter den Klängen einer barbarischen Musik sich im Tanz geschwungen haben, und daß sich genau so die Eröffnungsszene der Bartholomäusnacht abgespielt hat!

»Haben Sie in der Geschichte der Völker gelesen, wie die Revolutionen begonnen haben, wie sie ins Werk gesetzt worden sind? Haben Sie beobachtet, durch welch unselige Verkettung von Umständen die weisesten Geister über die Grenzen der Mäßigung hinausgedrängt worden sind, und durch welch schrecklichen Trieb ein bedrängtes Volk sich oft zu Ausschreitungen hinreißen ließ, vor denen es früher beim bloßen Gedanken daran zurückgeschreckt wäre? Werden die Truppen nicht zurückgezogen, kommt es zum Kampfe, dann werden die Leidenschaften des Volkes geweckt. Dann reißen die Dämme. Dann steigt aus der Gasse die Diktatur des Pöbels auf, die jede politische Freiheit ebensosehr gefährdet, wie die Verschwörungen der Feinde. Die Gesellschaft würde sich bald auflösen, wenn die Menge sich an das Blutvergießen und die Unordnung gewöhnt. Statt der Freiheit entgegenzugehen, würde das Volk rasch in den Abgrund der Knechtschaft versinken. Denn nur zu oft führt die Gefahr wieder zur absoluten Herrschaft zurück, und inmitten der Greuel der Anarchie erscheint gerade der Despot als der Retter!«

Diese Worte über die weiße Garde der Reaktion begründeten seine Stellung in der Nationalversammlung. Der Mut, die Wucht, die Empörung, der Schwung seiner Worte hoben ihn zu unbestrittener Führung empor, schufen auch hier seine unerschütterliche Popularität. Keiner der anderen, nicht der Abbé Sieyès, der große Theoretiker der Revolution, nicht Robespierre, nicht Barnave waren ihm an Klugheit, Wissen, Erfahrung gewachsen. An Gewalt der Rede überragte er sie wie ein Bergesriese seinen Gebirgsstock. Jeder der Abgeordneten fühlte die kochende Kraft dieses Mannes. Ihm wurde sogleich aufgetragen, eine Adresse an den König zu entwerfen. Er hatte die Zügel der Herrschaft über die Nationalversammlung ergriffen. Er hatte erreicht, was der Traum seiner Jugend und seiner Mannesjahre gewesen war: Leiter des Volkes zu werden.

Der König hörte nicht auf seine Warnung. Die Folge war am 14. Juli der Sturm auf die Bastille. Erst die Gewalt mußte abtrotzen, was Mirabeaus Worte der Weisheit nicht erreichen konnten. Am 15. Juli erschien Ludwig XVI. in der Nationalversammlung. Mit stockender Stimme sprach er zu den finster dreinblickenden Volksvertretern: »Ich weiß, daß man ungerechten Argwohn unter Sie gesät hat. Ich weiß, daß man gewagt hat, die Meinung zu äußern, Ihre persönliche Sicherheit sei gefährdet. Muß ich Sie wirklich erst über diese argen Gerüchte beruhigen, die mein Ihnen allen bekannter Charakter von vornherein Lügen strafen müßte?«

Murren ward laut.

Der König schrak zusammen. Zaghaft fuhr er fort:

»Ich vertraue mich Ihnen an. Ich will eins sein mit meiner Nation, und im Vertrauen auf die Liebe und Treue meiner Untertanen habe ich den Truppen den Befehl gegeben, sich von Paris und Versailles zurückzuziehen.«

Es war ein vollkommener Sieg der Mirabeauschen Politik. Seine Stellung an der Spitze der Versammlung war gefestigt.

Seit diesem Tage lebte keine Debatte ohne sein Wort, geschah nichts von Bedeutung, das nicht den Stempel seiner Gegenwart trug. Seine Kräfte rasten. Bald war er in der Sitzung, bald im Ausschuß, bald in den Klubs, bald arbeitete er daheim mit seinen zahlreichen Gehilfen und Mitarbeitern, die die Konzepte der Reden für ihn entwarfen, redigierte seine Zeitung, das »Journal des Etats Généraux«. Der »Athlet der Liebe« ward zum »Herkules der Revolution«.

Jetzt galt es, die wichtigste Reform zu schaffen, die der Steuern. Das Defizit mußte getilgt werden. Necker hatte Rettung in einer Anleihe gesucht. Sie war gescheitert. Da schlug am 27. September der Finanzminister eine freiwillige und patriotische Steuer in Höhe von einem Viertel des Vermögens und Einkommens vor.

Die Nationalversammlung zögerte. Necker war Mirabeaus Feind. Er war es, der Montmorin zu abschlägiger Antwort veranlaßt, als Mirabeau 1788 um eine Staatsstellung, dann um Hilfe bei der Wahl gebeten hatte. Doch heute, an diesem denkwürdigen 27. September, führte Mirabeau Neckers Gesetzentwurf gegen die ganze widerstrebende kapitalistische Versammlung zum Siege. Er allein setzte das Reichsnotopfer von 1789 durch.

Dreimal an diesem Tage betrat er die Tribüne. Zuerst verwarf er die zwecklosen Schmähreden gegen die Finanzmänner, die Geschäftsleute, die Bankiers. »Die Staatseinnahmen sind erschöpft, die Kassen leer, die Volkskraft erlahmt. Hoffen wir auf bessere Zeiten, erheben wir den Vorschlag des Finanzministers zum Beschluß, in der Überzeugung, daß dieses Gesetz, unterstützt von den natürlichen Hilfsquellen des schönsten Reiches der Welt und dem glühenden Eifer einer Versammlung, die so erhabene Beispiele gegeben hat und noch geben wird, den Bedürfnissen und Verhältnissen der Gegenwart gewachsen sein wird!«

Andere sprachen heftig gegen die Vorlage.

Wieder stand Mirabeau am Rednerpult. Er beschwor die Kollegen, jeden Groll, jedes Mißtrauen, jeden Haß vor dem Altar des Volkswohles abzulegen und den Neckerschen Vorschlag anzunehmen zum Besten des Vaterlandes.

Die Gegner trotzten und widerstrebten. Die Besitzenden, die in großer Zahl unter diesen Anwälten, Grundbesitzern, reichen Kaufleuten, diesen angesehensten Bürgern ihrer Sprengel saßen, scheuten ihr Opfer, hüteten ihren Geldsack.

Da betrat Mirabeau zum dritten Male die Tribüne. Gelassen fragte er: »Haben Sie einen Plan, der an Stelle des ministeriellen Vorschlages treten kann?«

Ein Zwischenruf: »Ja!«

Er bittet um diesen Vorschlag.

Der Zwischenrufer verstummt.

Da beschwört der Redner: »Meine Freunde, hören Sie ein Wort; ein einziges Wort!«

Alles lauscht, aufgescheucht, in gespannter Erwartung. Jetzt wirft er ihnen das Wort entgegen, das in blasser Feigheit hier noch keiner auszusprechen gewagt hat, das aber endlich einmal gesagt werden muß.

»Ich rufe Ihnen das infame Wort – ›Staatsbankrott‹ entgegen!«

Alles beugt in lautloser angstvoller Stille das Haupt.

Jetzt schlägt der Redner mit den Keulen seiner gewaltsamen Beredsamkeit drein.

»Ja, meine Herren, wir stehen am Rande des entsetzlichsten Abgrundes, den zwei Jahrhunderte des Raubes und der Brandschatzung gegraben haben. Diesen Abgrund gilt es für uns auszufüllen. Wohlan!« – Er hebt ein Blatt empor und schwingt es über sein gewaltiges Haupt wie eine Flagge – »hier habe ich das Verzeichnis der französischen Reichen, der Grundbesitzer. Ihr wollt nicht alle euer Opfer bringen? Gut, so wählet unter den Reichsten, damit weniger Bürger geopfert werden. Aber wählt! Denn muß nicht ein kleines Häuflein zugrunde gehen, damit die Masse des Volkes gerettet werde? Stoßet zu und schlachtet sie ohne Erbarmen, diese unglücklichen Opfer, stürzet sie in den Abgrund, und er wird sich schließen. Wie? Ihr bebt vor Entsetzen zurück?! Oh, die ängstlichen und kleingläubigen Gemüter! Ist der Bankrott nicht tausendmal schlimmer, ein Verbrechen, das viele Millionen von Bürgern zum wildesten Aufruhr treiben muß?! Ihr stoischen Betrachter des unabsehbaren Jammers, den diese Katastrophe über Frankreich ausspeien wird! Ihr herzlosen Egoisten, die ihr meinet, daß diese Krampfausbrüche der Verzweiflung und des Elends vorübergehen werden, wie so viele andere, und um so schneller, je heftiger sie sind, seid ihr dessen so sicher, daß so viele brotlose Menschen euch ruhig die Bissen gönnen werden, die ihr selbst weiter ungeschmälert prassen wollt? Nein! Ihr werdet zugrunde gehen, und in dem allgemeinen Brand, vor dessen Entfachung ihr nicht zurückschreckt, wird der Verlust eurer Ehre euch nicht einen einzigen der verabscheuungswürdigen Genüsse retten, auf die ihr heut nicht freiwillig und opferfreudig verzichten wollt.«

Man zittert, man blickt geduckt, voller Schrecken heimlich auf den Nachbar, die Hände werden unruhig, man schabt auf dem Sitz hin und her, man sucht sich aus den furchtbaren Fängen des furchtbaren Redners zu befreien. Vergeblich. Er schlägt weiter ein auf die gebeugten Köpfe der geizig an ihren Besitz Geklammerten:

»Glaubt ja nicht, eine weitere Frist zu erhalten! Das Unglück gewährt sie niemals. Wie, meine Herren, anläßlich einer lächerlichen Unruhe im Palais Royal, eines kindischen Aufstandes, dem nie eine Bedeutung zukam außer in der Einbildung einiger Schwachköpfe, haben Sie unlängst die wahnwitzigen Worte vernommen: ›Catilina steht vor den Toren von Rom, und man berät noch!‹ Und doch war sicherlich weit und breit kein Catilina zu sehen, keine Gefahr, kein Rom. Heute aber, heute, meine Herren, steht die Gefahr vor den Toren! Heute ist der Staatsbankrott da, der scheußliche Staatsbankrott. Er droht, Sie, Ihr Eigentum und Ihre Ehre zu verschlingen – und Sie beraten noch?!«

Da stob die Versammlung von den Sitzen empor, als wenn sich plötzlich vor ihr der Abgrund aufgetan hätte, der nach seinen Opfern lechzte. Man schreit nach der Abstimmung, man will dem Ungeheuer, das die Zähne fletscht, entrinnen, man will dem Minotaur den Tribut darbringen, darbringen durch die Abgabe seiner Stimme.

Man stimmt ab, man stimmt in gespenstischer Furcht dem Vorschlag Neckers zu. Man bewilligt das Reichsnotopfer. Die Galerien sind erst erstarrt in Grauen und Entsetzen. Dann weicht die Lähmung. Sie brüllen Beifall. Unter den Zuschauern ist die Tochter des Ministers, Frau von Staël. Sie ruft in dem Sturme dem Grafen La Marck zu, der neben ihr steht und klatscht: »Er hat meinem Vater und dem Vaterlande den Sieg erkämpft. Ich bin hingerissen und begeistert von dieser eindrucksvollen Stimme, diesem Gebärdenspiel, dieser beißenden Ironie und dieser wunderbaren Lebenskraft. Ich muß an die Worte des Äschines über Demosthenes denken: ›Was wäre es erst, wenn ihr das Ungeheuer gesehen hättet?!‹«

La Marck nickt, grüßt und eilt davon. Er muß dem Bekannten, dem er im Jahre zuvor bei dem Prinzen von Poix, dem Gouverneur von Versailles, begegnet ist, die Hand zum Danke drücken. Als er auf die Straße gelangt, tritt Mirabeau, heiß und erschöpft von der Gewalt der Worte, aus dem Ballhaus. Die Menge umringt ihn, küßt ihm die Hände, den Rock. Er wehrt ab, geht durch das Spalier des dankbaren Volkes auf seinen Wagen zu. Graf La Marck erreicht ihn, als er gerade einsteigt. Mirabeau lächelt überrascht. Er hat damals Gefallen gefunden an diesem geraden ernsten deutschen Edelmanne.

»Ah, mein verehrter Herr Graf! Sie hier?«

La Marck lächelt. »Ich wollte mir gestatten, Herr Graf, Ihnen meine Glückwünsche zu Ihrem schönen Erfolge auszusprechen. Vielleicht haben Sie heute das Defizit umgebracht.«

»Hoffentlich. Aber wollen wir nicht ein wenig plaudern? Ich fahre nach Paris. Begleiten Sie mich?«

»Gern.«

La Marck springt in den Wagen. Die Pferde ziehen an. Das Volk jubelt seinem Abgott nach.

»Ich habe Sie lange nicht gesehen«, beginnt Mirabeau die Unterhaltung.

»Ich gehöre zu dem Ersten Stande«, bedeutet La Marck.

Mirabeau stutzt. »Wie – Sie als Ausländer sind Mitglied des Reichstags?«

La Marck nickt. »Ich bin Abgeordneter von Quesnay für den Adel. Man betrachtet mich nicht als Ausländer. Ich lebe ja auch seit meinem siebzehnten Jahre in Frankreich.«

Er erzählte von seinem Leben.

Aus dem reichsunmittelbaren Hause der Fürsten von Arenberg geboren, war er keiner fremden Macht untertan, obwohl seine Vorfahren in Österreichs Diensten gestanden hatten. Sein Vater war ein bewundernder Verehrer Maria-Theresias gewesen. Er hatte den Sohn mit der jungen Erzherzogin Marie-Antoinette nach Paris gesandt. Der junge Fürst, der den Titel »Graf de la Marck« führte, ward von Ludwig XV. mit Auszeichnung aufgenommen und der Hofhaltung der Dauphine beigesellt. Er ward Gast der Hochzeitsfeierlichkeiten und der vielen Feste der glücklichen Tage der jungen Dauphine und Königin.

Als La Marck seine Erzählung beendet hatte, fragte Mirabeau nachdenklich: »Sie haben also gute Beziehungen zur Königin?«

»Die allerbesten, fast freundschaftliche, darf ich wohl sagen. Weshalb?«

»O, nichts. Graf, was sagen Sie zu dem Gang der Ereignisse?«

»Ich bin sehr beunruhigt und sehr unzufrieden.«

»Mit mir?«

»Mit Ihnen und mit vielen anderen.«

»Ja, lieber Graf, dann fangen Sie mit Ihrer Unzufriedenheit aber vor allem bei denen im Schlosse an. Die tragen die Schuld. Das Staatsschiff wird vom heftigsten Sturm gepeitscht, und niemand steht am Steuer.«

»Weil Sie die Macht an sich gerissen haben, Sie und die Nationalversammlung.«

»Aber warum habe ich es getan? Warum, Graf La Marck? Weil im Schlosse und in den Ministerien die krasseste Unfähigkeit umgeht. Ich habe Necker heute herausgehauen. Nicht aus Neigung für ihn, wahrhaftig nicht! Er, wie seine Kollegen sind den Forderungen dieser stürmischen Zeit in keiner Weise gewachsen. Ohne jede Vorbereitung, ohne festen Plan, ohne die geringste Voraussicht sind sie in die Gefahren der Nationalversammlung hineingetaumelt. Und doch wußten sie seit fast einem Jahre, daß sie käme. Ich selbst, Herr Graf, bin im September vorigen Jahres bei Montmorin gewesen und habe ihm wörtlich alles prophezeit, was jetzt eingetreten ist. Ich habe ihm einen Plan, eine Verfassung angeboten. Ich habe ihm auseinandergesetzt, daß die Regierung über fünf bis sechs zuverlässige Leute in der Versammlung verfügen müsse, um sie zu beherrschen. Necker hat mich zurückgewiesen.«

La Marck wiegte leise den Kopf mit dem schönen ruhigen selbstsicheren Aristokratengesicht. Er begriff den Minister, der diesen Mann mit dem berüchtigten Leumund zurückgewiesen hatte. Doch ihn, den Menschen, interessierte dieser problematische, geniale Mann.

»Eins ist klar,« fuhr Mirabeau lebhaft fort, »die Monarchie geht steuerlos, wie sie auf den Wellen der Revolution, die wir nun doch einmal haben, einhertreibt, ernsten Gefahren entgegen. Mir scheint es fraglich, ob sie samt dem Monarchen die heranbrausenden Stürme überleben wird, oder ob nicht die Fehler, die schon gemacht sind, samt denen, die man unfehlbar noch machen wird, das Königshaus stürzen werden.«

La Marck wandte sich ihm brüsk zu.

»So schwarz sehen Sie?!«

»Sehr schwarz. Diese unfähigen Minister untergraben das Ansehen der Monarchie von Tag zu Tag verderblicher. Der König ist kein großer Geist, wie Sie wissen.« – Er lächelte.

La Marck stimmte traurig bei. »Leider, leider. Die Vorsehung hat sich geirrt, als sie ihn in einer so schweren Zeit auf Frankreichs Thron setzte. Wenn man mit ihm über seine Angelegenheiten und seine Lage spricht, scheint es oft, als verhandele man mit ihm Dinge, die den Kaiser von China angehen!«

Mirabeau lachte. »Nun also. Der einzige Mann am ganzen Hofe ist die Königin.«

»Ich danke Ihnen für dieses Wort«, sagte La Marck warm.

»Sie also muß handeln«, entschied Mirabeau.

»Aber wie?« fragte La Marck aufmerksam.

»Ich werde ganz offen mit Ihnen sprechen. Was ich will, ist ein demokratisches Königtum.«

»Eine königliche Demokratie«, scherzte La Marck.

»Meinetwegen auch so. Zur Verwirklichung meines Planes bedarf ich sowohl der Mitwirkung des Volkes wie der des Königtums. Ich kann mein Ziel nur erreichen, wenn ich weder die Rechte des einen noch die des anderen preisgebe. Bisher kann ich, kraft der Stellung, die ich mir in der Nationalversammlung errungen habe, nur die Rechte des Volkes wahrnehmen.«

»Das tun Sie wahrhaftig. Sehr zum Nachteil des Königtums«, bestätigte La Marck.

»Ist das meine Schuld? Habe ich nicht etliche Monate vor dem Zusammentritt der Stände mich dem Minister des Königs angeboten, das Königtum gleichzeitig vor den Anschlägen der Aristokratie und den Auswüchsen der Demokratie zu schützen?! Man hat mich nicht gewollt.«

Er schwieg. La Marck sann, sah den Mann neben sich von der Seite prüfend an. Was plante er? Verfolgte dieses Gespräch eine bestimmte Absicht? Warum hatte er ihn vorhin nach seinen Beziehungen zur Königin, diesem »einzigen Manne am Hofe des Königs« gefragt? Ob er es wagen sollte, einen Schritt für diese geliebte, verehrte Frau zu tun?

Sie fuhren jetzt durch die Porte Maillot in Paris ein. Die Gelegenheit, die vielleicht nie wiederkehrte, verrann. Kühn tat er den Schritt. »Graf Mirabeau,« fragte er, »würden Sie auch heute noch bereit sein, der Mann der Regierung in der Nationalversammlung zu werden?«

Mirabeau sah dem klugen deutschen Manne fest in die Augen.

»Ja«, sagte er hart. »Machen Sie doch, daß man auf dem Schlosse wisse, daß ich mehr für als wider sie bin. Ich will Minister werden. Ich kann es nur – solange die Monarchie besteht – mit Hilfe des Königs.«

»Ist das Ihre einzige Bedingung?«

Aus dieser zufälligen Frage quoll dem Grafen Mirabeau ein jäher Gedanke. Blitzschnell, wie sein fieberhaftes Gehirn arbeitete, sah er eine Gelegenheit – griff zu – nutzte sie. Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er heiser: »Wir wollen offen sprechen. Ich bin in Not. Mein Vater ist zwar am 10. August gestorben. Ich habe noch keinen Blick auf seine Erbschaft werfen können. Und schon fangen meine Verwandten Prozesse mit mir an. Es wird lange dauern, ehe ich von diesem Nachlasse etwas ziehen kann. Mein Gehalt als Abgeordneter reicht kaum für meine dringendsten Notwendigkeiten, ganz abgesehen davon, daß meine umfassende Tätigkeit Mitarbeiter beansprucht, die ich bezahlen muß. Kurz und gut, mir fehlt es am ersten Taler.«

La Marck griff in die Tasche und zog eine Rolle mit fünfzig Louisdor heraus.

»Darf ich Ihnen dies anbieten?«

Mirabeau lächelte bedrückt. »Ich weiß nicht, wann ich es Ihnen wiedergeben kann.«

»Wenn das Ihr einziges Bedenken ist, nehmen Sie.« Er hielt ihm die Rolle hin. Mirabeau nahm sie und stammelte überschwenglich seinen Dank.

La Marck wehte mit der Hand seine hervorquellenden Worte beiseite. »Lassen Sie doch, lieber Graf. Ich schätze mich glücklich, auf diese Weise zur Unabhängigkeit Ihrer Talente beitragen zu dürfen.«

Mirabeau faßte seine Hand. »Ich versichere Sie, daß ich in meinem Leben noch niemand angetroffen habe, der sich so wahrhaft als meinen Freund erwiesen hat.«

La Marck war gerührt und verwundert über die Innigkeit dieses starken Mannes, der fast zum Kinde ward.

Ein wenig Scham war in diesem Erstaunen. Er hatte ihm das Geld nicht nur aus Freundschaft geboten, er verfolgte Pläne, zu deren Gelingen er diesen Beherrscher der Nationalversammlung an sich ketten und sich verpflichten mußte. Er lenkte daher das Gespräch zu seinem Ausgangspunkte zurück.

»Sie sagten,« bemerkte er, »daß Sie noch heute der Vertrauensmann des Hofes werden würden. Stellen Sie außer der Anwartschaft auf einen Ministerposten noch andere Bedingungen?«

»Ich wollte offen sprechen. Ja, ich muß noch andere Bedingungen stellen. Ich muß es. Ich bin jetzt vierzig Jahre. Nie habe ich während meines ganzen Lebens eine Stunde genossen, die frei gewesen wäre von materieller Sorge. Ich will endlich einmal aufatmen. Ich will endlich einmal meinen von der politischen Arbeit ermüdeten Kopf abends auf mein Kissen niederlegen, ohne ihn dann noch mit der Frage zu quälen, wovon ich am Ersten die Miete bezahlen, wovon ich morgen den Hunger meines kleinen Coco, meines Kindes stillen soll.«

»Verstehe ich Sie recht,« griff La Marck taktvoll ein, »so verlangen Sie vom Hofe eine pekuniäre Unterstützung?«

Mirabeau nickte. »Verstehen Sie mich nicht falsch –«

»Nein, nein,« fiel La Marck ein, »Sie haben vollkommen recht. Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.«

Der Wagen hielt vor Mirabeaus Haus in der Chaussee d'Antin, der Wohnung, die noch Yet-Lies fleißig sorgende Hand eingerichtet hatte.

»Ich bin am Ziel«, sagte Mirabeau scheu. Des Grafen letzte Worte schienen ihm nicht frei von Verachtung.

»Ich spreche, sobald ich Gelegenheit finde, mit der Königin«, versicherte La Marck. »Sie hören dann von mir.«

»Ich danke Ihnen. Auch für das andere.«

»Aber lassen Sie doch!«

»Fahren Sie weiter?«

»Ja, bitte. Ich wohne dicht bei den Champs-Elysées, Hotel Charost, Rue Faubourg St.-Honoré.«

Sie verabschiedeten sich, Mirabeau nannte dem Kutscher die Adresse und ging schnell ins Haus.

In ihm war eine physische Übelkeit. Er wußte, er hatte ruchlos gehandelt. Er hatte das Angebot getan, sich der Monarchie zu verkaufen. Er schämte sich vor den offenen, geraden, harten blauen Augen des Grafen. Aber, hol's der Teufel, man mußte leben! Verriet er seine Ideen? Seine Ziele? Nein. Er war immer Monarchist gewesen. Er hatte immer für ein demokratisches Königtum gekämpft. War es denn ein Verrat, wenn er sich diesen Kampf bezahlen ließ?! »Verrat, nein,« sagte seine unbestechliche Klugheit, »aber eine Gemeinheit ist es! Eine Gemeinheit, wie so viele in deinem Leben!«

Er warf nach seiner Gewohnheit den Kopf zurück.

»Im Grunde«, dachte er, »ist's in dieser Welt eine große Dummheit, kein Schurke zu sein. Seien wir es mit Bewußtsein und Mut!« Damit trat er in das Zimmer, in dem seine Sekretäre und Gehilfen Dumont, Duroveray, Pellenc und Reybaz arbeiteten. –

La Marck fuhr in tiefen bitteren Gedanken über den Karussellplatz, der bald Revolutionsplatz heißen sollte.

»Schade,« dachte er, »daß so oft dort so viel Schatten ist, wo so viel Licht leuchtet.«


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