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V.

Die frühe Junisonne traf den ragenden Turm von Vincennes. Das graue verwitterte Gestein glänzte zart rosa wie Perlmutter. Die Gitter der engen Fenster leuchteten vergoldet. Das Dunkel der Zelle zerstäubte unter dem eindringenden Lichte.

Auf dem harten Lager wachte schon lange der Gefangene. Schmerzen peinigten ihn. Ein Nierenleiden, eine Entzündung der Augen.

Er hielt die Lider geschlossen. Er fürchtete, den jungen Tag zu sehen, diesen neuen Tag der ewig gleichen alten Gefangenschaft.

Seine Gedanken kreisten, wie Gedanken Schlafloser, sich ineinander zeugend, wirbeln. Er gedachte der Zeit, die hier im Turme aus dem blutenden Körper seines Lebens herausgerissen und auf den Verwesungshaufen ungenützter Stunden geworfen wurde, an alle die erdrosselten Tage der ihm vom Schicksal zugemessenen Frist dachte er und stöhnte.

Eine Welt im Kopfe, eine Prometheuskraft im Hirn – draußen die Not einer berstenden Welt, das Röcheln des Untergangs, laut, warnend, verzweifelt für den, der Ohren hatte, das gespenstige Krachen in den Fugen des alten Staates zu hören, und er, er, der sich zum Retter in dieser Katastrophe des Vaterlandes berufen fühlte, der sah, was anderen Augen verborgen blieb, der hörte, wo andere Ohren taub blieben, der die Stützen und Pfeiler kannte, die den erschütterten Bau halten und richten konnten, er lag seit Jahren gefesselt im Turme! Hörte im Winde den Sturm der Zeit gegen die Mauern ächzen, ballte tatenbrünstig die Fäuste und schlug sie wund an den stummen Wänden seines Gefängnisses.

Die Gedanken des Wachenden stoben weiter. Er gedachte der Hilferufe, mit denen er Paris, Versailles, halb Frankreich überschwemmte. Keine Antwort brachten die Hunderte seiner Briefe. Keiner der Großen, die er mit den letzten Worten der Verzweiflung ansprang, konnte oder wollte ihn aus den Klauen der Willkür reißen, die ihm die Brust zerfleischten. Er gedachte Sophies, des Vaters. Da gurgelte er auf in Haß und ohnmächtiger Wut. Jetzt hatte der Wüterich sein Ziel erreicht. Seine Familie vernichtet. Ihn hier eingeschlossen durch eine lettre de cachet. Durch eine zweite die Mutter ins Kloster St. Michel in Paris hinter Schloß und Riegel gebracht. Sophie im Dirnenhause des Fräuleins Douay in Paris eingekerkert. Louise von Cabris durch eine vierte lettre im Kloster zu Sisteron mundtot gemacht. Der Bruder Boniface nach Amerika abgeschoben. Er hatte sein Ziel erreicht, sein Weib und seine Brut zu vertilgen. Karoline, die harmlose Gebärmaschine, die allein in Freiheit lebte, hatte ihm die Worte des Vaters geschrieben: »Die Megäre und ihren ungeratenen Sohn mußte ich unschädlich machen und Louise, die Seele dieser Liga von Straßenräubern, die aus dem Holze geschnitzt sind, aus dem die ewig Verdammten gemacht sind.«

Er hatte sie alle in die Hölle der ewig Verdammten geschleudert.

Mirabeau öffnete die Augen und setzte sich im Bett aufrecht. Das unsaubere Hemd hing in Fetzen von den Schultern. Er blickte mit Augen, die Tränen blendeten, auf den Raum von zehn Fuß im Quadrat, der die Welt dieses Mannes geworden war, der in sich die Kraft fühlte, Welten aus den Angeln zu heben.

Dann packte ihn Energie. Er warf die leichte Decke zurück und sprang vom Lager. Übermut überkam ihn.

»Meine Welt,« er lachte ingrimmig, »meine Welt sollen diese zehn Fuß sein. Wille und Befehl des Menschenfreundes! Ich habe mir diese zehn Fuß und meine Welt etwas erweitert. Jawohl!« Er wusch sich plätschernd. Dabei brüllte er:

»Vater l'Avisé! He, holla, Vater l'Avisé!«

Nach kurzer Zeit rasselten draußen Schlüssel, das Schloß schnappte. Der alte Wärter trat mit der Frühstückssuppe ein.

»Guten Morgen, Herr Graf«, grüßte er und stellte den Topf auf den Tisch aus rohem Holze, der neben einer Bank, einem Stuhle, dem Bett und einem Brett voller Bücher die Innenarchitektur der Zelle bildete.

»Morgen, Alterchen, Sie sehen auch jeden Tag jünger aus«, scherzte Mirabeau und griff zur Hose.

»Sehen Sie nur, Alterchen,« jammerte er galgenhumoristisch, »bald kann ich nicht mehr aufstehen, weil ich nichts mehr anzuziehen habe. Jeder Landstreicher ist gegen mich eine festlich gekleidete Erscheinung. Ich habe wahrhaftig keine Hose mehr, keine Schuhe, keine Strümpfe, keinen Rock. Meine Tuchhose ist in Stücken, meine Barchenthose muß geweißt werden. Seit mehr als einem Jahre spaziere ich mit nackten Füßen in den geborstenen Schuhen. Das war mir gleich, Alterchen. Aber schau her, nun sind nicht nur die Sohlen der Strümpfe futsch, sondern auch die Beinstücke zum Henker. Was nun? Und da – der Tuchrock hängt in Fetzen, der zweite da drüben ist dreckiger als ein Wischlappen. Jeder Gefangene, der hier auf Rechnung des Königs hockt, hat alles Notwendige reichlich. Ich Unglücksmensch, für den der Vater zu sorgen hätte, lasse seit sechs Monaten aus meinen Buxen Dinge sehen, die es sehr überflüssig ist, zu zeigen, da keine Frauenzimmer hier sind.«

Der Alte grinste. »Na, na, Herr Graf. Frauenzimmer sehen Sie doch wohl genug.«

Er deutete mit dem Daumen in die Richtung, in der das Schloß Vincennes lag.

»Genug nennst du das?! Diese fossilen Weibsbilder! Diese tertiären Versteinerungen! Aus deiner siebzigjährigen Perspektive, Alterchen, mögen sie ja wie weibliche Geschlechtswesen aussehen. Aber aus meiner einunddreißigjährigen! – Nein, mein Lieber, dieses Genug ist nicht genug.«

Er fuhr behutsam in die Reste des schwarzen Tuchbeinkleides.

»Vorsichtig muß ich sein,« spottete er, »wenn ich heut nachmittag nicht vor den Damen des Schlosses erscheinen will wie Odysseus vor der Königstochter Nausikaa.«

»Die kenne ich nicht«, überlegte der Greis. »Die hat hier nie gesessen.«

Mirabeau lachte und sah auf den Wärter, der im schneeweißen Hemde, schwarzer Kniehose, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen, den Zopf sauber in schwarzes Band gewickelt, adrett und proper vor ihm stand.

Einige der letzten Fäden der Hose rissen, aller zarten Behandlung zum Trotze.

»Ech,« seufzte Mirabeau, »da geht sie hin. Ist das ein Leben – das ein Leben!«

»Nu – nu,« sänftigte l'Avisé, »der Herr Graf haben es doch noch ganz gut hier. Viel besser als alle die andern.«

»Natürlich habe ich es besser,« schalt der Herr Graf, »Menschen, wie ich, mein Alterchen, haben es immer besser. Weil sie mit ihrem Gehirn ihre Kerkermeister beherrschen – weil sie Hexenmeister des Geistes sind und diese kleinen Geister bezaubern.«

Der Alte nickte. »Da haben Sie recht, Herr Graf. Wie behext sind sie alle. Und tanzen nach Ihrer Pfeife. Selbst der Kommandant, Herr von Rougemont, wagt nicht, gegen Sie aufzutrumpfen.«

»Sprich nicht von diesem Wüterich!« schnauzte Mirabeau. »Diesem fanatischen, jähzornigen, tobsüchtigen Trunkenbold und Schürzenjäger. Diesem Helden der Grausamkeit gegen die Wehrlosen, der Härte gegen die Elenden, der Schwäche gegen die Schmeichler, der Katzbuckelei gegen die Großen. Ich weiß Dinge von ihm! Ich weiß, woher er die vierzigtausend Livres Jahreseinkommen bezieht. Unterschlagung von den Unterhaltungsgeldern der Gefangenen. Ich weiß Bescheid, mein Lieber. Er soll sich vor mir hüten, der Monsieur!«

Der Wärter schwieg ängstlich. Nach einer Weile wagte er: »Aber auch er sieht Ihnen doch manches durch die Finger, Herr Graf. In den bald fünfzig Jahren, die ich nun schon hier bin, hat kein Gefangener so viel Freiheiten gehabt. Und seit Herr von Rougemont Kommandant ist, gewiß keiner.«

»Das will ich ihm auch geraten haben«, knurrte Mirabeau und trat zum Tisch.

»Nanu,« rief er verwundert, »Blumen? Blumen hast du brave Seele mir gebracht?! Warum? Weshalb? Ist heut Feiertag?«

Er nahm das Glas mit den Feldblumen und barg das Gesicht in den kühlen Blüten. Sie dufteten Sehnsucht und Freiheit.

L'Avisé nickte wichtig. »Jawohl, Herr Graf. Heut ist 'n Feiertag. Heut ist doch der siebente Juni.«

Mirabeau blickte ihn verständnislos an.

»Heut vor drei Jahren ist der Herr Graf doch zu uns gekommen.«

Das Glas klirrte auf den Tisch, als der Gefangene es brüsk niedersetzte.

»Drei Jahre!« flüsterte er und blickte empor zu dem vergitterten Fenster, in dem die Sonne stand. »Drei Jahre! Man vergißt hier die Zeit. Schwimmt in einer braunen Sauce, die einen erstickt.« Und plötzlich schrie er auf: »Drei Jahre meines Lebens gemordet! Drei Jahre dieses einmaligen Lebens gemordet!!« Tränen stürzten ihm in die Augen. Er sprang auf den verdutzten Wärter zu, packte ihn am Hemd über der alten eingeknickten Brust und rüttelte ihn: »Drei Jahre, l'Avisé, begreifen Sie, was das heißt! Drei Jahre meiner Jugend! Die Jahre von achtundzwanzig bis einunddreißig! Drei Jahre aus meinem Leben gefetzt! Begreifen Sie das! Drei unwiederbringlich vertane, – tote Jahre!!« Der Alte suchte sich zaghaft zu befreien. »Beruhigen Sie sich, Herr Graf. Sie sind noch jung. Sie können alles nachholen.«

»Nichts kann man nachholen. Nichts! Keine verlorene Sekunde. Was der Schlund der Ewigkeit verschlungen hat, ist verrauscht – für immer.«

Sein Griff lockerte sich, die Arme fielen schlaff hernieder.

»Drei Jahre – drei Jahre meines Lebens ohne Leben verronnen!«

Er brach matt auf den Bettrand nieder.

Der Alte wagte nicht, ihn zu stören. Gebrochen flüsterte Mirabeau vor sich hin: »Drei lange, lange Jahre meines kurzen Lebens! Meines Lebens, das nach Taten lechzt! Er will mich hier ersticken. Er will mich hier verkommen lassen. Verdorren.«

Grauen schüttelte ihn. Er sprang wieder empor.

»L'Avisé, wie lange leben Menschen hier? Wie lange verwest der Mensch hier, der am längsten da ist?!«

Der Alte überlegte umständlich. »Am längsten ist Herr Leprévot de Beaumont hier, der den Plan des Getreidemonopols verraten hat, den ›Pakt der Hungersnot‹, wie man ihn genannt hat. Der sitzt schon im elften Jahre.«

»Im elften – –! Und wie viele sind hier gestorben, Alter, – seit du hier bist?«

»Hm, das sind 'ne ganze Masse!«

»Er will mich hier umbringen, dieser Mörder! Dieser Lebensvernichter! Aber ich wehre mich! Ich wehre mich mit jedem Atemzuge. Wenn ich auch schon krank und morsch geworden bin, ich lasse mich nicht unterkriegen. Er kennt meine Lebenskräfte nicht, dieser Kindesmörder! Zum zweiten Male soll keiner unserer Familie hier elend verrecken!«

»Zum zweiten Male, Herr Graf? Hier ist noch keiner aus Ihrer werten Familie gestorben.«

»Doch. Der Marschall d'Ornano.« »D'Ornano? Kann mich nicht entsinnen. Und mein Gedächtnis –«

Mirabeau lachte in jähem Umschwunge. »Kannst dich nicht erinnern, Alterchen? Und ist erst ganz kurze Zeit her. Mein Urgroßvater heiratete die Tochter dieses Gefangenen. Unter Ludwig XIII. Ein gewisser d'Hélicourt war der Rougemont von damals. Ein ebensolcher Schurke. Die bleiben sich gleich zu allen Zeiten. Der arme Marschall hörte eines Tages Böllerschießen und erkundigte sich bei dem wilden Kommandanten nach dem Anlaß. ›Der Herzog von Orleans feiert seine Hochzeit mit dem Fräulein von Montpensier.‹ Der Marschall, mußt du wissen, war Erzieher des Herzogs, des Bruders des Königs, gewesen und hatte sich immer heftig dieser Heirat widersetzt, die der König wünschte, der Herzog aber verabscheute. Deshalb war er hierher geschickt. Froh rief er: ›Gott sei gelobt, Ihr werdet mich nicht mehr lange in Eurer Gewalt haben!‹ – ›Warum das?‹ entgegnete d'Hélicourt. ›Weil der Herzog vor der Einwilligung in diese Heirat die Zusage meiner Freilassung erhalten haben wird.‹ – ›Langsam, langsam,‹ grinste der Scherge des Tyrannen, ›er heiratet ohne Bedingung und ohne an Euch zu denken.‹ D'Ornano fällt verzweifelt in eine Krankheit und stirbt mit sechsundvierzig Jahren. Du siehst, mein Alter, wir haben uns nicht erst seit gestern über den Despotismus zu beklagen. Übrigens war der Schwiegervater des Marschalls der einzige von uns Mirabeaus, der je etwas vom Hofe erhalten hat: für ihn wurde Schloß Mirabeau zum Marquisate erhoben.«

Er sprach langsam und nachdenklich. Dann warf er das Haupt zurück, daß die dichte Mähne aufwallte, und rief: »Fort mit den trüben Gedanken. Handeln! Ich werde mich an den König selbst wenden. Sofort.«

Er setzte sich an den Tisch und rührte in der dicken Mehlsuppe. »Was gibt es Neues, Alter? Heraus mit dem Journal von Vincennes!«

Allmorgendlich mußte l'Avisé berichten. »Gestern abend haben sie noch einen eingeliefert«, erzählte er gleichgültig.

»So?« fragte Mirabeau interessiert, während er die erkaltete Paste widerwillig hinunterwürgte, »wer ist es?«

»Ein Sieur Goupil. Er soll Polizeiinspektor in Paris gewesen sein. Und irgendeine Unvorsichtigkeit begangen haben. Genaues weiß ich nicht.«

»Ich will ihn sehen«, rief der Gefangene. Jedes neue Gesicht war in der Abgeschlossenheit und der Langenweile des Turmes ein Ereignis, ein Hauch der Welt dort draußen. »Sorg dafür, Alterchen, daß er mit mir zusammen in den Wällen spazierengeht. Sorg dafür.«

L'Avisé versprach es.

Mirabeau schob das halbleere Gefäß von sich. Ihn schauderte. »Nimm das Zeug fort. Ich kann es nicht mehr sehen. Und denk an den Sieur Goupil.«

Der Alte nickte, nahm den Topf und ging.

Mirabeau blickte lange sinnend auf die Blumen. Dann griff er das Glas mit beiden Händen und preßte sein Gesicht tief in den Duft des freien Feldes. Mit einem Ruck stellte er es wieder hin. Seine schwammigen Züge wurden scharf und hart vor Energie. Jetzt mußte das Letzte gewagt werden. Er nahm einen Bogen aus der Tischlade, tauchte überlegend den Gänsekiel in die Tinte und schrieb in mutigen Zügen:

»Im Schloßturm zu Vincennes, d. 7. Juni 1780.

Sire, ich bin ein Franzose, jung und unglücklich – lauter Ansprüche, die Eure Majestät interessieren müssen. Ich leugne meine Verirrungen nicht, aber Verbrechen waren es nicht. Warum sperrt man mich ein, ohne mich zu verurteilen, ohne meine Verteidigung zu hören? Müßte man ohne Fehl sein, um seine Freiheit zu bewahren, so ist es nur allzu wahr, Sire, daß alle Ihre Untertanen im Kerker wären. Sire, ich flehe Ihre Gnade an, weil ich mir Fehler vorzuwerfen habe; ich appelliere an Ihre Gerechtigkeit, weil ich keines Verbrechens schuldig bin, und weil es furchtbar ist, Jugendverirrungen gleich verruchten Freveltaten zu ahnden. Geruhen Sie, Sire, mich vor meinen Verfolgern zu retten, die mir zu viel Böses getan haben, um mich nicht zu hassen, und denen mein Untergang allzu vorteilhaft erscheint, als daß sie aufhören könnten, darauf hinzuarbeiten. Lassen Sie einen Strahl königlicher Gnade auf einen Unglücklichen von einunddreißig Jahren fallen, der, voll edlen Strebens, bei lebendigem Leibe dem Grab überantwortet, langsamen Schrittes die Verdorrung der Sinne nahen sieht und hinter ihr die Verzweiflung und die Verblödung. Und das mitten in der Blüte der Jahre.«

Er schloß mit dem Verzweiflungsschrei:

»Ich kann dieses Elend nicht länger ertragen! Ich kann es nicht. Sire, lassen Sie mich die Sonne sehen, im Freien atmen, geben Sie mir Menschen, denen ich ins Antlitz schauen kann!«

Rot und erhitzt vor Erregung durchlas er das Schriftstück. Da klopfte es. Der »Arzt, Apotheker und Barbier« des Gefängnisses François Fontelliau machte seine Morgenvisite.

»Morgen, Graf,« rief der schlanke fröhliche Mann mit dem ungepuderten wallenden braunen Haare, »wie befinden wir uns heute? Holla, ganz rote Backen haben wir! Doch kein Fieber!«

»Doch, Doktor, Freiheitsfieber.« Der Gefangene wies auf den Brief und erzählte seinen Inhalt.

»Der wird seine Wirkung tun,« versicherte der Arzt, ein großer Optimist mit wackerem Herzen; »passen Sie auf, in vier Wochen sind Sie frei. Den Schritt hätten Sie schon vor drei Jahren tun sollen. Na, nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Auf das Nächstliegende verfällt man immer zuletzt.«

Er schlug Schaum. Der Graf setzte sich zum Rasieren nieder. Während Fontelliau ihn einseifte und schabte, plauderte er. »Wissen Sie schon, daß Ihr Urteil ergangen ist? Noch nicht? Nun, dann wird der Kommandant es Ihnen heute bringen. Er erzählte es gestern abend in der Messe.«

Mirabeau konnte nicht sprechen, das Messer saß ihm grade an der Kehle.

»Ein famoses Urteil hat der Bezirksrichter von Pontarlier in dem von Herrn von Monnier gegen Sie und seine Gemahlin angestrengten Prozeß erlassen. Sie sind ›des Raubs und der Verführung überführt, zum Tode durch das Beil, außerdem zu einer Geldstrafe von fünftausend Livres und zu einem Schadenersatz von vierzigtausend Livres‹ verurteilt. Aber Herr Graf –! Sind Sie des Teufels! Fast hätte ich das Todesurteil vollstreckt!«

Mirabeau war, ohne auf das Rasiermesser zu achten, aufgesprungen. »Eine Infamie!« schnaubte er. »Des Raubes überführt! Was habe ich geraubt? Und Sophie? Welchen Kannibalismus hat dieser bestochene Blutrichter gegen Frau von Monnier ausgespien?«

»Die Marquise von Monnier ist wegen Ehebruchs verurteilt worden, auf Lebenszeit in einer Besserungsanstalt zu Besançon eingeschlossen, daselbst geschoren und wie eine öffentliche Dirne gebrandmarkt zu werden.«

Mirabeau stand bewegungslos, das Gesicht voller Seifenschaum.

»Hm,« sagte er endlich gelassen, »lange genug haben sie zu diesem ergötzlichen Urteil gebraucht. Nur gut, daß diese Gerichtssprüche nicht so ernst gemeint sind. Meine Hinrichtung wird wohl in effigie erfolgen?«

»Sie ist bereits vom Henker vollzogen worden.«

»Na, dann rasieren Sie weiter, Doktor. Diese Tragikomödie wollen wir uns nicht zu Herzen nehmen. Obwohl es eine reichlich unverschämte Geschichte ist, lache ich doch darüber. Das steht fest: die Vollstreckung eines nicht entehrenden Urteils entehrt nur den Besessenen, der sie betrieben hat. Jedenfalls geht der Streich, der die Puppe im Namen des Geächteten trifft, nicht ans Leben, und mein Nacken sitzt noch recht fest auf meinen Schultern. Kommen Sie, verschönern Sie diesen enthaupteten Schädel.«

Fontelliau lachte und strich neuen Schaum mit dem Pinsel auf.

Beim Abschied trug der Gefangene ihm viele Komplimente an die »junge Schönheit« in seinem Hause auf. Fontelliau versprach, seiner Tochter die Grüße zu bestellen.

Als der Arzt gegangen war, schritt Mirabeau in dem engen Raume auf und nieder. Das unsinnige Urteil hatte ihn doch heftiger erregt, als sein Stolz dem Bader verraten wollte.

Den in Vergessen verblichenen Tagen von Pontarlier hatte es neues Leben eingehaucht, dieser Zeit des ersten Findens, der Flucht aus dem Schlosse Dijon, der Vereinigung mit Sophie in Verrières, des Entkommens nach Holland. Länger als drei Jahre lag alles dies nun schon zurück! Wundersam schön, gebenedeit und voller Frieden schien dem Gefangenen diese Vergangenheit von Pontarlier und Amsterdam. Die glücklichsten Tage seines bewegten Lebens dünkten sie ihn, diese Tage gemeinsamer Arbeit, gemeinsamen Strebens, gemeinsamer Liebe in der großen emsigen holländischen Hauptstadt.

Die Stirn tief gebeugt, ging er von Wand zu Wand und ließ die lind beglückten Tage des Amsterdamer Idylls durch seine schmerzliche Erinnerung schreiten.

Die zehntausend Livres und der Erlös des Schmuckes, Sophies »Mitgebringe«, waren bald vertan. Er verstand im Besitze nicht zu sparen, und die Geliebte war lebensfremd. Sie ging auf in der Trautheit dieses »Ehelebens«. Als die Not vor der Tür stand, stürzte Mirabeau sich in die Arbeit. Er übersetzte aus dem Englischen, das er ohne Lehrer ebenso flott gelernt hatte wie die fünf anderen Sprachen, die er beherrschte. Von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends saß er am Schreibtisch. Eine Stunde Musik gab ihm die nötige Erholung. Sophie, im Überfluß erzogen und verwöhnt, war nie so heiter, so mutig, so gleichmäßig froh und hingebend als in dieser Zeit der Armut. Sie machte ihm Auszüge, sie las, malte, gab italienische Stunden, korrigierte die Druckbogen und breitete über das Arbeitszimmer die Schönheit und Milde ihres erblühenden, aufquellenden Weibtums. Ihre unwandelbare Sanftmut und der unversiegbare Born ihrer Empfindungen verlieh diesen Tagen der Kargheit eine unerschöpfliche Fülle seelischen Reichtums.

Es waren Zeiten reinen Glückes der Liebe und des Zusammengehörens zweier strebender Menschen.

Zu den Übersetzungen gesellte sich eigene Produktion. Er schrieb einen Essay über die »Internationale Organisation der Freimaurerei« und einen zornigen »Rat an die Hessen«. Mit dem jetzt gereiften Schwunge seiner Beredsamkeit, seines Freiheitsdranges, seiner eingeborenen Empörung gegen jede Vergewaltigung erhob er gegen den schimpflichen Menschenhandel Protest, mit dem der Landgraf von Hessen seine versiegten Kassen füllte.

Dieser edle Landesvater hatte Soldaten wie Vieh an England verkauft, das sie als Kanonenfutter gegen die um ihre Freiheit ringende Union nach Amerika schickte. Drohend und prophetisch rief er über die Lande hin: »Wenn die souveräne Macht in Willkür und Tyrannei ausartet, wenn sie das erste Menschenrecht, zu leben, bedroht, zu dessen Schutz sie berufen ist, wenn sie den Vertrag bricht, der ihre Rechte aufstellte und begrenzte, so wird die Auflehnung zur Pflicht und darf nicht mehr Empörung genannt werden.« – Donnergrollen des kommenden Weltengewitters.

Zugleich mit dieser politischen Warnungsschrift entsproßte seinem universellen wirbelnden Hirne das Beste, was von Franzosen zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts über Musik geschrieben worden ist. Dem Werk gab er den originellen Namen: »Den Titel mag der Leser selbst bestimmen«. Er verteidigte die Instrumentalmusik gegen Oper und Lied, »denn sie ist und bleibt der Hauptgegenstand des Komponisten, die Grundlage seiner Kunst und das Hauptbetätigungsfeld für sein Talent«. Glückliche Wendungen sprudeln in ihm auf: »Die Melodie besitzt die Fähigkeit, alles, sogar das Schweigen, zum Ausdruck zu bringen«. Er fügt eine Kritik der Konzertbesucher bei, die, wie alles Große, zeit- und raumlose Bedeutung hat: »Man geht in Amsterdam ins Konzert, weil diejenigen, denen an der Musik nichts gelegen ist, schöne und liebenswürdige Damen bewundern können; weil diejenigen von den letzteren, die von der Kunst der Töne nichts verstehen, wenigstens Gelegenheit haben, gesehen zu werden, und weil gesehen zu werden von großem Werte ist, wenn man sicher ist, oder wenn man glaubt und hofft, dieser Aufmerksamkeit würdig zu sein.«

Wie hatte Sophie, die schlichte feine Sophie, deren Seele Musik, deren Geist Harmonie, deren kleinste Bewegung Rhythmus war, über diese boshafte Stelle gelächelt, als er sie ihr vorlas!

Daran dachte er heute und an ihre kluge Warnung, als er seine leidenschaftliche schriftstellerische Kraft in den Kampf gegen den Vater schleuderte. Hätte er doch damals auf ihre mahnenden Worte gehört! Wie anders hätte sein und ihr Leben sich gestaltet! Doch die Not sprach. Geistige Arbeit, Schriftstellerei brachte zu allen Zeiten ein knappes Brot. Der vierzehnstündige Arbeitstag bannte nicht die drängendsten Sorgen. Er wandte sich um Hilfe an die Mutter, die im Genusse ihres großen Vermögens lebte. Sie antwortete: »Hilf mir gegen den Vater, so sende ich Dir, was Du brauchst.« Die Versuchung war lockend, der Grimm des eigenen Hasses gegen den Vergifter seines Lebens warf ihn der Verführung hin. Er schrieb ein dampfendes Pamphlet gegen den Vater, sandte es nach Paris, veröffentlichte es in holländischen Zeitungen.

Da schlug der Menschenfreund von neuem zu. Er hatte gejubelt, als der Sohn Frankreich verließ, war froh, den »Lumpen« endgültig los zu sein. Jetzt scheuchte ihn der unvermutete Angriff empor. Er verband sich mit dem greisen Monnier, mit der Familie Ruffei. Die holländische Regierung willigte in die Auslieferung. Ohne jede Warnung wurde am 14. Mai 1777 das Liebespaar verhaftet. Sophie übersah sofort die Schrecken der Lage, griff ein Messer. Die Wunde war leicht, der Polizeibeamte war hurtig zugesprungen.

Mirabeau dachte an die einzelnen Phasen dieser Schmerzensfahrt nach Paris. Der gebrochene Blick Sophies. Diese Augen einer todwunden verzweifelten Kreatur. Dann der Abschied! Ihre Schreie, die ihm noch heute, nach drei langen Jahren der Einkerkerung, im Ohre gellten. Nach drei langen leeren vergeudeten Jahren!

Voll Weh gedachte er dieser Frau, die man in ein Pariser Dirnenhaus geworfen hatte. Dort gebar sie ein Mädchen. Seine Tochter. Man hatte das Kind von der Mutter gerissen, es einer Ziehfrau überantwortet, bei der es starb. »Alle meine Kinder sterben«, dachte er bitter. Auch der kleine Gogo war kürzlich Krämpfen erlegen. Oh, er wußte, daß man der Mutter die Nachricht gebracht hatte, als sie auf der Bühne zu Tourves Komödie spielte. Er wußte dies und wußte vieles von ihrem lockeren Leben, von ihrer Liebelei mit dem Grafen Alexander Gallifet. Er wußte manches! Sie sollte sich hüten, wenn er seine Ketten zerbrach! Wie ein angeschossener Eber würde er in diese Tändelei des Liebeshofes hineinwettern!

Der Haß gegen Emilie ward zum Mutterboden einer überquellenden Zärtlichkeit gegen Sophie. Sie war jetzt gefangen im Dirnenkloster zu Gien. Er trat schnell zum Tische, um an sie einen dieser Briefe zu schreiben, die geheime Boten zwischen ihnen beförderten. Oft schrieb er diese langen Ergüsse aus Langerweile, aus Gewohnheit, aus Pflichtgefühl. Denn die Liebe, die in den Tagen von Amsterdam wieder hell aufgelodert war, hatten die langen drei Jahre der Trennung erstickt. Nicht Liebe diktierte ihm mehr diese schwelenden brünstigen Worte, sondern – – Es ist oft schwer zu sagen, was Männer bewegt, durch Jahre hindurch einer Frau mit dem lebensrot geschminkten Leichnam einer toten Liebe die Komödie des Lebens vorzugaukeln. Feigheit, Schonung, Furcht vor Szenen, Gewöhnung, Mitleid. Es ist ein verworrener Komplex von Gefühlen.

Doch heute führte erinnerungswarme Innigkeit den Kiel.

»Liebe, süße Mimi! Heut sind es drei Jahre, daß ich in diesem Turme der Wiedervereinigung mit Dir entgegenhoffe. Ich bin der Verzweiflung heute näher als je. Meine einzige Freundin, zu wissen, daß die Geliebte leidet, ohnmächtig sein und ihr nicht helfen können, nicht einmal sie trösten, sich die Schuld an ihrem Elend zuschreiben müssen, das ist der furchtbarste Zustand der menschlichen Einbildungskraft, und in ihm schmachtet Dein Gabriel! ... Es gibt Augenblicke, wo ich fast fähig bin zu wünschen, Du möchtest mich opfern. Wahrlich, wenn ich glauben könnte, daß Dein Glück an die Sekunde geknüpft wäre, in der Du mich vergäßest, würde ich mich augenblicklich der Ruhe Deiner Seele darbringen. Aber ich weiß wohl, daß für Sophie kein Glück mehr ist ohne den Gatten. Wir werden auch eine Zufluchtsstätte finden, und müßten wir in der tiefsten Wüste wohnen, in unbekannten Wäldern Herden hüten, bis ans Ende der Welt oder sonstwohin gehen, wo man die köstliche Freiheit der Liebe genießen darf. Ach, meine Freundin, wir sind ja jünger als unsere Feinde, und in unsrer Liebe und unsrem Sehnen hartnäckig wie sie in ihrem Haß und in ihrem Verfolgungswahnsinn. Wenn sie mich nicht für immer begraben haben, wenn mein allzu geschwächter Leib diese grausame Sklaverei überwinden kann, dann ist das Glück für uns doch noch nicht unwiederbringlich verloren, und es winkt uns am Ende des Weges, den ich jetzt gehe – aber, ach, wie lang ist dieser Weg! Meine liebe, liebe Freundin, wenn je wir uns wiedersehen, werden wir dann nicht tausend Gründe haben, uns noch stärker als vorher zu lieben? Was haben wir nicht alles überstanden, wie viele Tränen werden wir trocknen müssen! Wieviel Dank wird Dein Geliebter Dir für alles abstatten müssen! Seine ganze Liebe hattest Du schon, aber seiner Achtung –«

Hier platzte Vater l'Avisé, der Wärter, in die Zelle.

»Kommen Sie, Herr Graf!« rief er, »die Gefangenen spazieren in den Wällen. Der Sieur Goupil ist unter ihnen.«

Damit lief er wieder hinaus zu seinen Pflichten.

Mirabeau warf die eng beschriebenen Bogen in die Tischlade, ergriff seinen grünlich vermodernden, arg durchlöcherten Zweimaster und eilte hinaus.

Auf einer breiten Ausbuchtung des Walles, der den Turm umschirmte, ergingen sich die Gefangenen. Eine Stunde des Vormittags war der Bewegung in der Luft vergönnt. Unterhaltung war bei strenger Strafe verboten. Doch die Gefängnisregeln galten nicht für den Grafen Mirabeau.

Er stellte sich am Rande des mit spärlichem niedergetretenem Rasen bewachsenen Rundes auf, um dessen Peripherie die Insassen des Turmes schritten, und grüßte mit flüchtigem Nicken die alten Bekannten. Da wandelte der Marquis de Sade, der sanguinische Verfasser der »Justine«, trotzig, wild und verbissen. Die Wärter fürchteten ihn wie die Pest und gingen nur ohne Waffen in seine Zelle, aus Furcht, er könnte sie ihnen entreißen und gegen sie richten. Mirabeau war er widerwärtig. Der Marquis aber haßte den Grafen ob der ungerechten Bevorzugung, die er genoß. Hinter ihm kam der Marquis de Beauvau, ein Mann von vierzig, der über die Freuden seiner Bigamie hier trauerte. Ihm folgte der Graf de Whyte de Malleville mit tänzelnden Schritten. Der Wahnsinn hatte ihn hier umnachtet. Mit lappiger, viel zu weit gewordener Haut, den Kopf mit dem wirren ergrauten Haar gebeugt, den Blick zu Boden gerichtet, schlich hinter ihm der ehemalige Präsident im Staatsrate Baudouin, Seigneur und Baron du Guémadeuc, dessen Millionenkonkurs die Elite des Adels und der Beamtenschaft in seinen Strudel mitgerissen hatte. Hinter ihm geisterte ein Knochengespenst, der unglückliche Leprévôt de Beaumont, der seit elf Jahren diese eine Stunde frische Luft in seine alten Lungen sog. Als letzter kam, noch taumelnd zwischen Neugier und Entsetzen, der junge Sieur Goupil.

Mirabeau ließ diesen Zug der Ausgestoßenen einer üppigen, schmarotzenden, leichtlebigen Gesellschaft, diese Verlorenen, Hoffenden, vom unbeherrschten Willen des Trägers der despotischen Macht Frankreichs Geschlagenen an sich vorüberkreisen.

Als Goupil wieder an ihm vorüberschwankte, schloß er sich ihm an.

Die andern hoben unwillig die Köpfe. Neid züngelte in ihren leeren Augen empor, dann trotteten sie weiter, Empörung, erstickte Raserei, Verblödung, Stumpfsinn oder Ergebung in ihr Los im Herzen, je nach Anlage und Charakter.

Der Wärter, der im Innern des Kreises patrouillierte, erhob gegen Mirabeaus Eigenmächtigkeit keinen Einspruch. Er wußte, daß der Graf unter hoher Begünstigung stand.

Goupil, stutzerhaft gekleidet, blieb überrascht und erfreut über die Ansprache stehen. Sein Gemüt war übervoll von Verzweiflung und Jammer über das Mißgeschick der letzten Wochen. Er war aus großer Höhe, in die ihn eine unerwartete Gunst des Schicksals erhoben hatte, jählings gestürzt.

Während er an Mirabeaus Seite die Runde um das Rondell machte, beutelte er mitteilsam sein überlastetes Herz aus.

»Ich war Polizeiinspektor unter dem Polizeipräsidenten Le Noir«, erzählte er. »Meine Spezialfunktion bestand darin, in Paris, der Provinz, dem Auslande alle Drucksachen, Bibliotheken, Druckereien zu überwachen und alle Schriften gegen die Großen zu unterdrücken. Man erkannte meinen Eifer und meine Findigkeit wohlwollend an. Ich heiratete. Das ward mein Unglück.«

Er seufzte, Mirabeau lächelte: »Ein Unglück, so alt wie die Ehe. Erzählen Sie weiter.«

Goupil warf einen raschen Seitenblick aus seinen stechenden, arglistigen Augen auf seinen Begleiter und fuhr fort: »Sie ist schön, klug, eine Klasse für sich. Sie wurde der Prinzessin Lamballe vorgestellt, erwarb bald ihre Freundschaft. Die Lamballe ward mein Verderben. Sie überredete meine Frau, neugierig wie die Weiber sind, ihr heimlich alle die Papiere vorzulegen, die ich unterdrückte.«

»Aha,« grinste Mirabeau, »ich verstehe. Das mag eine pikante Kost gewesen sein. Und Sie, Sieur, Sie wußten hiervon natürlich nichts?«

»Bei Gott, ich hatte keine Ahnung.«

Er legte die Plebejerhand auf die Herzgegend und suchte treuherzig dreinzublicken. Die Wirkung lohnte die Anstrengung nicht.

»Weiter!« befahl Mirabeau, wie ein Vorgesetzter.

»Die Lamballe wollte sich meiner Frau erkenntlich zeigen und ihr bei Hofe die ihrer Bildung und Schönheit angemessene Stelle verschaffen. Da glaubte ich – es war eine Dummheit – ich gestehe es ein – vielleicht sogar mehr – eine Narretei der Liebe – ich glaubte, die Augen der Königin durch einen Meisterstreich auf mich und mein Weib lenken zu müssen. Sie, Herr Graf, werden mich verstehen.«

»Weiter!«

»Ich hörte von einem gemeinen Pamphlet gegen die Königin, das eben die Presse verlassen sollte und geeignet war, ihren Ruf zu untergraben. In Yverdun ermittelte ich die Presse, auf der es gedruckt wurde. Ich faßte dort noch zwei Druckbogen voller unerhörter Verleumdungen. Der Rest war schon nach Holland abgegangen. Um das Erscheinen zu verhindern, mußte ich dorthin reisen. Man gab mir dreitausend Livres Reisespesen. Ich hatte Erfolg, erwischte das ganze Manuskript. Le Noir gab mir aus Anerkennung als Lohn meiner Intelligenz und meines Eifers noch tausend Louis. Marie-Antoinette war außer sich vor Freude und Dankbarkeit. Sie wußte nicht, wie sie mich hinlänglich fördern sollte. Ich sollte Generalvisiteur der Post werden. Baron d'Ogny, der die Stelle innehatte, sollte meinetwegen kurzerhand entlassen werden. Der Minister Maurepas hatte schon seine Zustimmung erteilt, die Ernennung war unterzeichnet – da brach das Unglück über mich herein.«

Er konnte vor Bewegung nicht weitersprechen.

»Nun?« forderte Mirabeau die Pointe der Erzählung.

»Sie werden es nicht glauben, Herr Graf,« sprach Goupil mit falschen Tränen in der Stimme, »eine solche Gemeinheit hat keinen ehrlichen Mann getroffen, solange die Welt steht. Einer meiner Kollegen bei der Polizei, ein elendes Individuum, neidisch auf meinen Erfolg, eine falsche Spionenseele, zeigte mich an und beschwor, daß ich selbst – ich selbst! – staunen Sie, Herr Graf! – – jenes Pamphlet verfaßt hätte!«

Mirabeau lachte laut und herzlos. »Ein famoses Bubenstück!«

»Nicht wahr?« rief Goupil beistimmend, ohne des Grafen Ironie zu bemerken. Er ahnte nicht, der Biedermann, daß seine Galgenphysiognomie seine Worte verräterisch kommentierte. »Man warf meine Frau und mich in die Bastille. Gestern brachte man mich hierher. Was sagen Sie dazu?«

Ein Husten erschütterte seine Brust. »Krank bin ich geworden von all den Aufregungen«, keuchte er und preßte das Taschentuch an die Lippen. Rot von schaumigem Blut zog er es zurück. Als er wieder sprechen konnte, flüsterte er zwischen den blutgefärbten Zähnen: »Aber der Lamballe werde ich es eintränken. Verraten werde ich dieses Weib, das mich und meine Frau auf diese unseligen Wege gelockt hat. Sie soll auch in die Bastille zu meiner Frau!«

»Sie scheinen mir nicht ganz logisch, Herr«, warf Mirabeau ein. »Was hat die Prinzessin Lamballe mit Ihrem Pamphlet zu schaffen?«

Goupil wollte erwidern. Doch wieder rüttelte ihn ein krampfhafter Hustenanfall. Er taumelte zu Boden. Der Wärter pfiff, andere Aufseher eilten herbei, trugen den Kranken hinweg.

Mirabeau blickte ihm sinnend nach. Sein kluges, sprunghaft erraffendes Gehirn arbeitete. Holla, war das nicht ein Fingerzeig! Die Lamballe in Gefahr! Sie, nach der Gräfin Polignac die mächtigste Frau am Hofe durch ihre lesbische Freundschaft zur Königin! Wahrhaftig, ein Fingerzeig des Schicksals! Die Möglichkeit, ihr einen Dienst zu erweisen, dämmerte auf. Diesen Schurken Goupil bearbeiten, über die Indiskretion der Lamballe zu schweigen! Sich Dankbarkeit ertrotzen! Dienst gegen Dienst!

Federnd in der Triebkraft seines Entschlusses, eilte er in den Turm. Gleich der Prinzessin schreiben, nichts aufschieben! Zusammen mit dem Gesuch bei dem König mußte der Brief bei der Prinzessin eintreffen. Sie sollte die Königin zu seinen Gunsten stimmen. Neue Aussichten – neue Möglichkeiten! Der Herr segne diesen Schurken, den das Glück ihm in den Weg geweht hatte!

Er stürmte durch den engen Korridor. Da packte eine Hand seinen flatternden Rockschoß – der Stoff zerfaserte, riß. Und eine Stimme rief: »Wohin so eilig, Graf? Wartet die Freiheit?«

Mirabeau blieb stehen, erkannte den Polizeileutnant Boucher und erwiderte lachend: »Die Freiheit in Person noch nicht. Ich halte aber, wie Sie den Fetzen meines Rockes, einen Fetzen ihres erhabenen Gewandes in meiner Faust.«

Während sie zusammen der Zelle Mirabeaus zuschritten, erzählte der Graf dem Polizeileutnant seinen neuen Plan. Vor Boucher hatte er kein Geheimnis. Boucher war sein Jünger, sein Adept. Dieser kluge, kunstsinnige, wissensbegeisterte Mann war Gehilfe des Polizeipräsidenten Le Noir, als dessen Vertreter ihm die Aufsicht über das Staatsgefängnis oblag. Mirabeaus überlegener Geist, die Vielfältigkeit seiner Interessen hatten diesen »Schergen«, wie der Gefangene ihn scherzhaft nannte, vom ersten Tage an in seelische Hörigkeit geschlagen. Ihm verdankte der Graf seine ungewöhnliche Ausnahmestellung im Turme. Er wohnte in Paris. Doch der Dienst und vor allem das Verlangen nach freundschaftlicher Aussprache mit seinem Meister führten ihn oft ins nahe Vincennes.

Boucher billigte Mirabeaus Plan. Was hätte er nicht an seinem Abgott gebilligt! »Sehr gut, lieber Freund, ganz ausgezeichnet. Schreiben Sie sofort. Schreiben Sie mit dem Ihnen allein verliehenen Feuer, mit Ihrer unwiderstehlichen Überzeugungskraft. Ich nehme den Brief dann gleich mit.«

Sie traten in die Zelle.

»Ich habe noch einige andere Briefe für Sie zur Bestellung. Muß nachher noch einen schreiben.«

Boucher drohte lächelnd. »An Julie?! Wenn das Sophie wüßte!«

»Sie weiß es eben nicht«, lachte Mirabeau. »Das Nichtwissen ist oft das Leben.«

»Sie sind ein Schlimmer«, schalt Boucher bewundernd. »Aber man begreift, daß eine geistige und physische Kraft, wie die Ihre, nach besonderen Gesetzen lebt. Wer Sie sind, habe ich erst so recht aus Ihrer letzten Arbeit gesehen. In einem Zuge habe ich sie gelesen.«

Er zog das Manuskript aus der Tasche und legte es ganz sanft und ehrfürchtig auf den Tisch.

»Wie hat es Ihnen gefallen?« fragte Mirabeau siegesgewiß.

»Großartig, lieber Freund. Ganz großartig. Ich kenne, wie Sie wissen, Ihren früheren Essay über den Despotismus. Aber –«

»Schweigen Sie von diesem kindlichen Gestammel«, unterbrach der Graf heftig. »Ich bedaure das Buch schmerzlich. Es ist abscheulich. Eine Menge Einzelheiten machen kein Buch. Es ist ein Flickwerk aus Lumpen, die ohne Ordnung zusammengenäht sind und alle die Gebrechen unserer Zeit aufweisen. Es fehlt am Plan, an der Form, der Genauigkeit und der Methode.«

»Nun, nun, nun«, rief Boucher besänftigend. »Sie urteilen hart. Aber der Meister dieser neuen ›Haftbefehle und die Staatsgefängnisse‹ hat ein Recht, über jenes erste Buch den Stab zu brechen. Hier ist ein Meisterwerk.«

Er berührte das Manuskript andächtig, als wäre es eine Hostie.

Mirabeau lachte grimmig auf. »Der Stoff ist mir ja einigermaßen geläufig.«

»Leider, leider, lieber Freund. Die Tränen sind mir aufgestiegen bei der Lektüre, daß solch ein Mann in dieser gärenden Zeit hinter Mauern gefesselt sitzt, statt das Werden dort draußen zu meistern. Männer, wie Sie, tun uns dort draußen bitter not.«

Mirabeau ballte die Fäuste, daß die Knöchel knackten. Boucher nahm das Manuskript mit zaghaften Fingern wieder empor. »Diese kraftvolle und entschiedene Sprache«, lobte er demütig. »Und manches berührt geradezu prophetisch. So hier die Stelle.« Er blätterte, fand und las:

»›In jedem Staat, wo die Bürger keinen Anteil an der Gesetzgebung haben in Form einer aus der freien Wahl des größten Teiles der Nation hervorgegangenen Volksvertretung, gibt es keine öffentliche Freiheit und kann es keine geben.‹ Und hier: ›Das Recht der Souveränität beruht einzig und unabänderlich auf dem Volke, der Herrscher ist nichts als der erste Diener dieses Volkes.‹ Herrlich, herrlich! Wer wagt, das heute zu denken, geschweige denn auszusprechen! Das Buch wird unerhörtes Aufsehen machen, wenn es erscheint. Ich werde sofort die nötigen Schritte tun. Es reißt Binden von den Augen. In diesem Werke, lieber Freund, liegt die Vorahnung der Rolle, die Sie spielen werden, wenn der Tag der neuen Zeit anbricht – –«

»und ich bis dahin hier nicht vermodert bin. Drei Jahre bin ich heute hier, Boucher, drei Jahre! Und draußen brodelt unterirdisch die Revolution! Ich höre ihr Grollen. Sie ruft mich. Und ich sitze gefesselt hier, krank, zermürbt von den rasenden Kräften in mir, die brachliegen. Retten Sie mich, Sie mein guter Engel, retten Sie mich!«

Er fiel überwältigt von dem rasenden Schmerze seiner Gebundenheit vor dem fassungslosen Manne auf die Knie.

Boucher suchte ihn aufzurichten.

»Freund, Freund, wir arbeiten. Ihre Helfer arbeiten. Sie dürfen nicht verzagen! Nur Mut – Mut, liebster Freund.«

Der Gefangene sprang auf. »Ja – Sie arbeiten. Aber mein Vater arbeitet auch.«

»Ich gehe heute noch zu Le Noir. Er ist Ihnen sehr gewogen.«

»Er ist mir gewogen, und viele Große sind mir günstig, und doch geschieht nichts!«

»Wir werden Sie befreien, Freund. Es geht nur langsam, denn die Freunde Ihres Vaters sind auch sehr mächtig.«

»Und inzwischen verkomme ich! Man möchte sich den Stirnkasten an den Wänden dort zerschellen, daß in diesem Frankreich des sinkenden Jahrhunderts das Leben eines Menschen von diesem Ränkekampf der Großen abhängt.«

Er fiel erschöpft auf das Bett. Boucher nickte traurig vor sich hin. »Es ist Zeit, daß Gesetz und Recht den Despotismus ablöst. Und das Tragischste dabei ist, daß der König ein gutmütiger, wohlwollender Mann ist. Das Herkommen aber ist stärker als er.«

Mirabeau hob den Kopf. »Wir, Boucher, wir, der alte Adel Frankreichs, wir tragen die Schuld am Despotismus. Wir, die wir am grimmigsten unter ihm leiden. Nur in einem dunklen, niederen Stand kann man sich den Bösewichtern und Königen entziehen. Der Adel, der immer die Pflanzschule aller Trabanten des Despotismus war und sein wird, hat in den Verbrechen des Despotismus seine Strafe gefunden. Anstifter der Willkür, sind wir ihre ersten Opfer, und das ist nur gerecht. Das habe ich in jenem Werke zu zeigen versucht, und ich fürchte, das ist der letzte Tribut, den ich meinem Lande darbringen kann.«

Boucher wollte beruhigend widersprechen, doch Mirabeau fuhr, den Blick ins Weite gerichtet, fort:

»Wohin führte uns doch dieses wahnsinnige Geschäft, das wir übernommen haben? Wir zählen nur noch auf unseren Einfluß, um uns vor den Gesetzen zu bewahren, und die Gesetze können uns nicht mehr vor dem Einfluß bewahren. Da sie keine Gewalt mehr gegen uns haben, weshalb sollten sie welche für uns besitzen? Arme, arme Menschheit, aus dir selbst erwachsen alle deine Leiden ...!«

Er schwieg, schwer atmend. Boucher suchte seinen trüben Gedanken eine andere Richtung zu geben.

»Und Ihr Roman, lieber Freund? Wie weit ist der?«

Eifervoll schnellte Mirabeau vom Bett empor. Seine Stimmung schlug, wie so oft, jäh um.

Seine Züge, die das Leid und die Arbeit der letzten Jahre vergeistigt und veredelt hatte, verzogen sich jetzt zu einer geilen Faunfratze.

»Meine ›Bekehrung‹?« grinste er. »Ha, hören Sie, was ich gestern schrieb.« Er kramte die Blätter aus der unerschöpflichen Lade des Tisches hervor und las unerhörte Schlüpfrigkeiten.

Boucher wiegte den gepuderten Kopf.

»Sowas sollten Sie nicht schreiben, Freund, das ist Ihrer unwürdig«, wagte er linden Tadel.

»Unsinn. Das bringt Geld, sollen Sie mal sehen! Sowas verschlingt die liebe Plebs auf den Höhen der Menschheit. Ich bringe Porträts. Alle Arten Frauen, alle Stände ziehen vorbei. Der Gedanke ist verrückt, aber die Einzelheiten reizend. Vorbeidefiliert sind schon die Generalpächterin, die Prüde, die Betschwester, die Präsidentin, die Hure, die Hofdame, die Alte. Dazu kommen Stiche, freie und hübsche natürlich. Ich sage Ihnen, ich werde damit ein Vermögen verdienen. Zuletzt mache ich einen Abstecher in die Hölle, wo ich mit Proserpina schlafe. Es wird eine ganz neuartige Tollheit.« »Hm«, machte Boucher. »Schreiben Sie es. Es bringt Sie auf muntere Gedanken. Ob Sie es später veröffentlichen, kann ja immer noch entschieden werden.« Er stand auf. »Jetzt habe ich noch einiges Dienstliche mit dem Kommandanten zu erledigen. Inzwischen schreiben Sie wohl die beiden Briefe, die ich mitnehmen, soll.«

Damit ging er.

Gleich darauf brachte Vater l'Avisé das Diner. Es war nicht die allgemeine Kost. Die Damen des Schlosses Vincennes hatten ihre Gründe, für das körperliche Gedeihen des Gefangenen im Turme zu sorgen.

Der Brief an die Prinzessin Lamballe war bald geschrieben. Dann schritt Mirabeau zu der Lieblingsbeschäftigung des Tages, dem Schreiben an Julie Dauvers.

Seltsam, wie die Regungen der Dichterseele, war dieser Briefwechsel. Heimat des schaffenden Geistes, ist Traum und Phantasie, die Wirklichkeit bleibt ihm ewig die Fremde. Das wahre Leben tötet die Liebe der Dichter, weil es der schaffenden Phantasie die Daseinsmöglichkeit raubt. Poeten lieben nur ihre Traumgesichte. Sie sprechen gern hinein in das Dunkel, sie zittern, wenn sie die Stimme hören, ohne den Körper zu sehen, aus dem sie tönt. Welche Möglichkeiten dann für die schwelgende Einbildungskraft! Mit welchen überirdischen Gaben kann die Schöpfergnade dann die Fremde, Niegeschaute krönen! Alle Märchenschätze seiner Sehnsucht kann der Schwärmer ihr darbringen, sie in seinen Himmel erheben, sie zur Gottheit weihen. Es ist dies eine alte traurige Geschichte von der Liebe der Dichter. Sie lieben am tiefsten die Frauen, die sie nie gesehen haben, die ihnen aus der Ferne schreiben, wenn Geist und Schönheit in ihren Worten lebt.

Gabriel Mirabeau beging diese Dichterliebe. Baudouin, der bankrotte Präsident des Staatsrates, sein Bagnogefährte, hatte ihm zufällig bei einem Gespräche den Namen des Mädchens genannt. Sie war die Geliebte seines früheren Sekretärs Paul-Pierre de la Fage. Von diesem jungen Menschen, der seine rechte Hand in allerlei windigen Spekulationen gewesen, sprach der Millionenkonkursifex mit liebevoller Hingabe der Erinnerung. In Wahrheit war er – wie sein Herr – ein zweifelhafter Ehrenmann, das Vorbild der Lebejünglinge des Café de la Régence und des Palais Royal, die höchste Verkörperung der brüchigen Existenzen dieser brüchigen Zeit. Seine Liebschaften weihten ihn zum Häuptling der Modegecken von 1780. Er hatte Sophie Arnould, die große Sängerin der Pariser Oper, mit dem Prinzen d'Hénin, den sie spöttisch den Zwergprinzen nannte, die reizende Tänzerin der Oper Marie-Madeleine Guimard mit dem Bischof von Orleans geteilt. Er hatte die Erstlinge der Rose Bertin gepflückt, dieser mächtigsten Frau Frankreichs, der genialen Modekünstlerin, die täglich stundenlang in Marie-Antoinettes kleinem Salon mit der Königin beriet, tüftelte, entwarf, dieser ersten Ministerin der Schönheit, der intimen Beraterin des königlichen Scharmes.

La Fage war in den Augen der jungen Lebewelt Muster und unerreichtes Vorbild.

Seine Geliebte war mit fünfzehn Jahren Julie Dauvers geworden.

Mirabeaus rege Phantasie wob um dieses Mädchen das Märchengewand der Liebe. Dieser hübsche, gutgewachsene, von dunklem Einkommen elegant ausstaffierte, gewerbsmäßige Tugendbrecher hatte das junge unerfahrene schöne Kind aus guter Familie verführt. Ihr Vater war Hofzahnarzt. Die höchste Aristokratie, die Gräfin d'Artois, die Schwägerin des Königs, und seine Tanten verklärten seinen Patientenkreis. Das arme Kind war betölpelt, betrogen worden, hing seine junge ahnungslose Seele an einen Unwürdigen, einen Schurken, einen Spieler, mit Herzen und Schicksalen. Leicht erforschte er von Baudouin ihre Adresse. Und dann schrieb er ihr. Warmblütig und hingebend, wie Dichter der gefährdeten Unschuld schreiben. Sie antwortete, klug, gebildet, sehr intelligent. Er deutete vorsichtig an, daß sie für einen La Fage zu schade sei, sie, mit ihrem Wissen, ihrem Zartgefühl, ihrer großen Seele. Sie erwiderte, auch sie habe Ähnliches bereits empfunden, das Ziel ihres Ehrgeizes sei, an den Hof zu gelangen, Ehrendame Marie-Antoinettes zu werden, eine Stellung, die allein ihres Geistes und Taktes würdig wäre. Mirabeau überraschte dieses Geständnis keineswegs. Es gab im Frankreich jener Tage keine, durch Schönheit, Bildung oder Geist ausgezeichnete Frau, der eine andere Sehnsucht im Busen brannte, als an den Hof der strahlenden jungen Königin zu dringen. Versailles war nicht von dieser Welt. Versailles war der Himmel und das alleinseligmachende Reich der Gläubigen. Und jede Begabung rang inbrünstig im Gebete, einzugehen in dieses selige Himmelreich.

Er liebte sie nun schon, seine Liriette. Diesen zarten Kosenamen hatte seine Phantasie ihr ersonnen. Seine Einbildungskraft versetzte Berge für die Geliebte seines Wahnes. Sie wollte an den Hof? Nichts leichter! Er hatte doch seine Beziehungen, seine mächtigen Freunde! Der arme Teufel, der im Vincenner Turme gebrochen trauerte, ohnmächtig an seinen Fesseln zerrte, ward zum gewaltigen Förderer und Beschützer. O – er würde sie emporheben zum Glanze, mit den Zauberschlüsseln seiner Macht die Pforten des Versailler Himmels für seine geliebte Liriette sprengen! Dichtermärchen kennen keine Hindernisse.

Heute schrieb er:

»Meine Liriette, Du fragst nach Sophies Stellung zu mir, die alle Welt kennt. Ach, ich wußte es damals, wie ich es heute weiß, daß es die größte Dummheit meines Lebens war, sie zu entführen. Aber durfte ich damals undankbar oder kleinmütig vor ihr erscheinen? Durfte ich das Unheil sie verschlingen lassen, zumal ich wußte, wie es sie treffen würde? So mußt Du meine Lage von damals betrachten, und dann wirst Du erkennen, daß nicht sie, sondern ich es war, den ich opferte. Es war damals keine Frage des Zartgefühls, es ging um Leben und Tod. Ich wählte für sie – das Leben. So geht es mir immer, meine liebste, zärtliche, traute Freundin: ich bin sehr klug, wenn ich für andere urteile, und sehr töricht, wenn ich mein Geschick entscheide.

Und nun zu Dir. Ich sehe einen sehr guten Weg für Deine Wünsche.«

Seine Schöpfergabe wob die Eindrücke des Tages zu verhängnisvollen dichterischen Wirklichkeiten. »Ich kenne eine sehr einflußreiche Dame bei Hofe, die Deine Sache, wenn ich es verlange, schnell zum Ziele führen wird: die Prinzessin Lamballe. Ich besitze etwa vier- bis fünfhundert Briefe von ihr. I ch habe sie in allen möglichen Situationen gesehen. In allen!! Du verstehst, nicht wahr? Aber gib mir Dein heiliges Ehrenwort, daß Du zu keinem, hörst Du, zu keinem Menschen hierüber sprichst! Keinem, auch La Fage nicht, darfst Du diesen Brief zeigen! Ich verlasse mich auf Dich.«

Heiß von den Ausgeburten seiner Phantasie schloß er den Brief.

Nachdem Boucher die Post geholt hatte, machte Mirabeau, so gut es ging (es ging nicht gut), Toilette, um die Damen im Schlosse zu besuchen. Im zerschlissenen Rocke, mit skandalöser Hose, ohne Strümpfe, klaffenden Schuhen, mit zerfetzter schmutziger Wäsche, ein schäbiger Bettler, schritt er hinüber ins nahe Schloß, ein begehrter Liebhaber.

Das Schloß Vincennes, etwa eine Viertelstunde Wegs vom Turme entfernt, war eine königliche Residenz, deren Räume verarmten Mitgliedern großer Familien als Gnadenasyl überwiesen wurden. Nur Witwen wohnten hier zu Mirabeaus Zeit: eine Tante der Frau von Montessou; die Schwägerin des Turmkommandanten, Frau von Ruault; die Gräfin Sparre und Lady Barrimore, die ehemalige Geliebte des Herzogs von Lauzun. Jede dieser Damen streifte in der Nähe des kanonischen Alters dahin und gierte danach, die letzten Brosamen von der Liebestafel des Lebens zu haschen. Der einzige Mann, der in der Einsamkeit von Vincennes als Freudenbringer gelten konnte, war der abgerissene Graf des Turmes. Sie teilten ihn unter sich, ohne Neid und Eifersucht. Not lehrt, sich bescheiden. Er kam täglich, sang ihnen mit seiner geschulten prächtigen Stimme melancholische Romanzen und zog sich dann mit der Erkorenen des Tages in die Einsamkeit zurück. Sein Motiv war wohl nicht die reine wahre Liebe. Er erfüllte die Erwartungen der alternden Damen, weil es immerhin weibliche Wesen waren und sein Athletenkörper die Frau nicht entbehren konnte. Venusgestalten aber gingen im Bezirk von Vincennes nicht um. Und dann! Diese Damen hatten die besten Beziehungen zum Hofe. Der Vater der Ruault war Pagengouverneur des Herzogs von Orleans gewesen, die Schwägerin der Herzogin von Chartres war ihre Freundin; die Gräfin Sparre und die englische Lady verfügten über noch mächtigere Beziehungen. Die Damen arbeiteten an seiner Befreiung. Ob allzu großer Eifer ihren Interessen entsprach, ist fraglich. Doch eine Liebe ist der andern wert. Erlösungshoffnungen fordern Opfer.

Mirabeau brachte sie dar.

Die Begünstigte des Tages war heute die Gräfin Sparre. Doch kaum hatte sie sich mit dem leicht bekleideten Liebsten diskret zurückgezogen, da pochte es schmetternd gegen die Tür ihres Gemaches. Erschreckt richtete sie ihre Kleidung. Mirabeau hatte wenig zu ordnen.

»Wer ist da?« rief sie unwillig.

»Öffnen Sie sofort«, befahl die wohlbekannte Schnarrstimme Herrn von Rougemonts, des Turmkommandanten.

Seinem starren Pflichtgefühl war das Treiben im Schlosse nachgerade zu stark geworden. Er wollte endlich einmal ein Exempel statuieren. Er fühlte, daß Mirabeau und die Damen ihn vor seinen Untergebenen zum Popanz erniedrigten.

»Ich bin jetzt nicht zu sprechen!« gab die Gräfin zurück. Mirabeau soufflierte ihr die Antwort.

»Wenn Sie nicht sofort öffnen,« drohte Rougemont, »laß ich die Tür einrennen.«

Die Sparre warf dem Grafen einen verzweifelt fragenden Blick zu. Er schüttelte den Kopf und flüsterte: »Tun Sie, was Sie für recht halten. Die Folgen werden Sie treffen!«

Sie rief es hinaus.

Da krachte die Tür ins Zimmer. Durch die klaffende Öffnung drang der Kommandant mit drei bewaffneten Füsilieren.

»Mein Herr,« zeterte die Gräfin empört, »was erlauben Sie sich! In das Zimmer einer Dame mit Gewalt einzudringen!«

»Ich tue meine Pflicht!« knurrte Rougemont, ein alter knorriger Haudegen, und gab den Soldaten ein Zeichen.

Sie packten Mirabeau.

»Herr Kommandant,« brüllte der, »das werden Sie büßen!«

Den Füsilieren fehlte das Verständnis für erhabene Proteste. Sie führten den Grafen hurtig ab.

Die Gräfin ließ den Apparat ihrer Beziehungen spielen. Der Minister Amelot, dessen Pflicht darin bestand, die Skandalgeschichten der Großen zu verhüten und zu ersticken, wies den Polizeipräsidenten Le Noir an, seinen Untergebenen Rougemont streng zurechtzuweisen. Le Noir beauftragte seinen Polizeileutnant Boucher mit dieser Mission. Rougemont wurde hart angefahren, mit Entlassung bedroht – ein Ruheposten mit einem Einkommen von vierzigtausend Livres war in Gefahr! –, ihm ging der Befehl zu, der Gräfin und seinem Gefangenen Abbitte zu leisten und jede fernere Einmischung in die Geheimnisse des Schlosses zu unterlassen.

Der Kanossagang in Mirabeaus Zelle ward dem alten Offizier nicht leicht. Aber was tut man nicht alles für ein Einkommen von vierzigtausend Livres, selbst wenn es zum größten Teile durch Unterschlagung der Gefangenenrationen erworben werden muß!


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