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XII.

Das Volk von Aix flutete in den Theatersaal. Mirabeau, sein Mirabeau, der Kandidat des Dritten Standes, der Vertreter des Volkes, der Held des berühmten Prozesses von 1783 hielt seine erste Wahlrede.

Aus den Ortschaften des Wahlkreises zogen sie heran, die Bauern, die Winzer, die Olivenpflanzer; die Kleinbürger der Stadt strömten in dichten Scharen, den Mann zu hören, der ihre Stimme führen wollte in der großen Nationalversammlung der Freiheit zu Paris; ihn zu sehen, dessen Verheißung zu vernehmen, der für sie sprechen und kämpfen wollte, jetzt, da endlich der Tag angebrochen war, an dem das Volk teilhaben sollte an der Regierung, da es die Verwaltung seiner Geschicke den Privilegierten entreißen und in die eigenen Hände nehmen wollte.

Hoho, sie kannten ihn noch wohl von Anno 1783 her. Wißt ihr noch, wie er damals kühn und höhnisch den parteiischen Richtern zu Leibe ging! Ob ich es noch weiß! Und wie er den eitlen Maître Portalis abstach! Hoho! Ob ich es noch weiß!! Wie er sprach! Wie Feuer brannten seine Worte. Der versteht's. Der ist unser Mann! Aber, aber, ein Graf! Ich habe kein rechtes Vertrauen. Blut ist Blut. »Unsinn, Claparoux! Der! Der hat mehr Gefühl für das Volk als mancher von uns. Ja – du – da gibt's manchen reichen Bürger, der von dem lernen könnte. Der ist, trotz seiner Abstammung, ein echter Volksmann. Komm, Alter, komm nur, höre ihn. Dann urteile.«

Sie kamen, sie drängten heran, füllten den weiten Saal bis auf den letzten Platz, standen in den Gängen, in den Türen, säumten die Ränge, hingen wie Bienentrauben in den Galerien. Männer und Frauen, Greise und Unmündige, den Mann zu hören, der bereit war, für die jungen Rechte des Volkes zu kämpfen.

Doch auch etliche von den beiden anderen Parteien, vom Adel und der Geistlichkeit, kamen, dem gefährlichen Gegner ins Auge zu schauen, kamen, obwohl sie sich unter dieser heftigen, spott- und tatbereiten provenzalischen Menge nicht allzu behaglich fühlten. Doch sie wollten dem Gegner in die glühenden Augen schauen.

Und eine Frau kam, dicht verschleiert. Seine Frau.

Emilies Leben war still geworden, seitdem der »siegreiche« Ausgang ihres Scheidungsprozesses sie von dem Liebesthrone zu Tourves gestürzt hatte. Die Neigung zu Alexander Gallifet, die immer nur an ihre Begehrlichkeit, nie an ihr Gemüt gerührt hatte, war verdämmert. Die Jahre der Einsamkeit hatten sie gefestigt und seelisch vertieft. Das leise ironische Lächeln spielte noch immer um den hübschen, einst so lebenshungrigen Mund. Doch es war fast – fast ein wenig wehmütig geworden. Die Tage der Leere im stumm gewordenen Hause des Vaters, das nicht mehr rauschte im Schwall verschwenderischer Festgelage – der Marquis de Marignane war nun ein betagter Greis, dem die Geliebte, Madame de Croze, nur noch warme Umschläge um die gichtischen Knöchel schlang –, diese stummen Tage waren nicht spurlos an Emilie vorübergeglitten. Die Jugend war zerronnen, des Lebens Höhe fast überschritten. Stunden der Einkehr strichen durch ihre versonnenen stillen Abende. Und leise Sehnsucht kam und die Erinnerung an junge Tage des Glückes. Mirabeau hatte ihr mit Recht einst die alte Wahrheit geschrieben, daß keiner Frau der Mann gleichgültig wird, der ihr das erste Glück des Weibes gegeben hat. Sie lebte viele Stunden innigen Gedenkens an ihn, an ihr totes Kind und grübelte, wie alle lebensenttäuschten Menschen darüber grübeln, was ihnen dieses kurze einmalige Leben schuldig geblieben ist, warum das Glück gerade sie, von allen Menschen gerade sie, nicht gesegnet habe, und wie anders alles hätte werden können, wenn – ja wenn – –!

Mirabeau kam nach Aix zur Wahl und erfüllte die Stadt und alle Gemüter mit dem Tumult des Sturmes, der er war. Die heitere sorglose Stadt wirbelte in Kämpfen für und wider ihn. Emilies Kreisen des Adels war dieser Mann der Abtrünnige, der Apostat, das schwarze Schaf in der weißen Herde. Ihr Frauenherz nahm für ihn Partei. Unbedingt.

Sie hörte, daß er sich dem Adel, seiner angestammten Partei, zugesellen wollte. Sie hörte, daß die Aristokratie ihn zurückstieß, weil sein Wappen besudelt, sein Ruf befleckt, seine Vergangenheit eine Kette von Unsauberkeiten war. Sie war empört. Und jubelte, als sie vernahm, daß er den Standesgenossen, die ihn verschmähten, hochmütig den Rücken kehrte und der Mann des Volkes wurde.

Sie stand an seiner Seite mit ihrem Gefühl und ihrer Hoffnung. –

Mirabeau betrat die Bühne. Ging mit den ihm eigenen, der Schwere seines Körpers spottenden, schnellen energischen Bewegungen zum Rednerpult. Der Saal bebte unter dem dröhnenden Beifall der Menge. Die Wände sangen wie Trommelfelle.

Er warf das Haupt zurück, die Mähne flatterte. Er begann zu sprechen. Lautlose Stille. Die tönende Stimme füllte den Raum, stieg zum Donnergeroll, ebbte nieder zu leisem eindringlichem Flüstern.

Zum ersten Male sprach er als politischer Redner. Er sprach, wie nie zuvor ein Mensch in Frankreich von den unverbrüchlichen Rechten des Volkes gesprochen hatte. Seine Worte werden nicht verlöschen, solange Freiheitsflamme in Menschenherzen brennt. Er ward die lebendige Stimme des rechtlosen Dritten Standes. Er ward das Grollen seiner Empörung und Entrüstung. Er ward das Brausen der Revolution.

»Ich spreche zu euch, ihr Brüder«, rief er. »Aber Europa horcht aufmerksam auf. Dem Wohle des Volkes, das alles ist, mit dessen Schicksal ich das meinige verknüpft habe, will ich dienen in der kommenden Versammlung, der das Recht der Steuerbewilligung zustehen muß, das Recht, die persönliche Freiheit der Bürger zu schützen und den Grundsatz der Pressefreiheit aufzustellen, der die einzige und heilige Garantie aller übrigen Rechte ist. Sie muß ferner die Verantwortlichkeit der Minister aussprechen, in der ich die alleinige Grundlage der unwandelbaren Achtung vor der Macht des Thrones erblicke. Freiheit ohne Gleichheit ist nichts als ein Köder. Daher müssen alle Vorrechte schwinden. Denn so nützlich sie gegen die Könige waren, so verabscheuungswürdig sind sie gegen die Nationen. Die gesetzgebende Gewalt kommt der Nation zu, an deren Spitze der König steht. In der befreiten und freiheitlichen Monarchie erblicke ich den Schutz für die Rechte des Volkes und seine Souveränität.«

Er dachte nicht an die Republik, sein Ziel war und blieb das Volkskönigtum.

Er sprach vom König: »Dieser Fürst will das Wohl seines Volkes. Stellt man ihn mitten in die Korruption und das Laster hinein, so wird er zu schwach sein, sie zu tilgen. Aber daran beteiligen wird er sich nicht, aus Furcht, Böses zu tun. Nicht der König ist unser Feind, unsere Feinde sind der Adel, die Privilegierten, die meinen, die in jedem Lande meinen, die Erde sei allein für sie geschaffen, für sie als die Herren, für die andern als ihre Knechte. In allen Ländern und zu allen Zeiten haben die Aristokraten die Freunde des Volkes mit unversöhnlichem Hasse verfolgt. Und wenn durch irgendeine Fügung des Schicksals aus ihrer Mitte ein Anwalt des Volksrechtes erstand, so verfolgten sie ihn am grausamsten, gierig, wie sie waren, durch die Wahl ihres Opfers Schrecken einzuflößen. So endete der letzte der Gracchen durch die Hand der Patrizier. Aber vom tödlichen Streich getroffen, warf er den Staub in seiner Hand gen Himmel, die Rachegötter zu Zeugen anrufend. Und aus diesem Staub erstand Marius, der große Marius, der aber weniger groß war durch die Vernichtung der Zimbern, als durch die der Adelsaristokratie von Rom.«

Er holte tief Atem, ehe er schloß: »Wehe den bevorrechteten Ständen, wenn sie es dahin kommen lassen, daß man seinen Platz lieber in den Reihen des Volkes sucht als in denen des Adels! Denn die Privilegien enden, aber das Volk ist ewig!!«

Die Menge erhob sich spontan, wallte empor zur Bühne, trug ihn aus dem Theater auf den Schultern, die sich aufreckten im Stolze der sie überschattenden Freiheit.

Er war der Heros des Volksvertrauens geworden. Seine Wahl war gesichert. Er war der Abgott der Provence. Wo er erschien, wo er redete, ward er gefeiert, wie nie ein König in diesem eigenwilligen freiheitstrotzigen Himmelsstriche gefeiert worden war.

Was focht es ihn jetzt an, daß die Regierung in Paris in ohnmächtiger Empörung gegen ihn wütete. Seine Berichte waren unter dem Titel »Geheime Berichte des Berliner Hofes« erschienen. Olive Lejay hatte mit verblüffender Geschicklichkeit operiert. Ehe die Polizei einschritt und das Buch verbot, waren hundertfünfzigtausend Exemplare verbreitet. Der Schlag gegen den Verleger und Drucker traf ins Leere. Sie waren längst in Sicherheit. Gegen den Volkstribun der Provence, den vom Jubel der Menge Umtobten, wagte die Regierung nicht einzuschreiten.

Die Entrüstung über den Landesverrat stieg wie ein Geiser auf. Politische Verwicklungen blieben nicht aus. Die diplomatischen Vertreter Preußens, Österreichs (Mirabeau hatte Joseph II. einen »gekrönten Henker« genannt), Sachsens, dessen Kurfürst in Hohn getaucht war, erhoben die heftigsten Beschwerden. Prinz Heinrich, der noch in Paris als Gast der Regierung weilte, war über sein bloßstellendes Porträt aufs tiefste verletzt. Ungelegenheit auf Ungelegenheit brach über den Minister des Auswärtigen herein. Graf Montmorin mußte beschwichtigen, entschuldigen, Bußgänge tun. Er schrieb einen wutschnaubenden Brief an diesen Menschen, der zweimal als demütiger Bittsteller vor ihm gestanden hatte.

Mirabeau erwiderte nicht. Er wollte ihm die Antwort erst nach seiner Wahl geben. Wichtigere Aufgaben forderten jetzt seine Kraft. Er durchreiste seinen Wahlkreis, er sprach zum Volke. In Lombesk, in Saint-Cannat umringten Tausende seinen Wagen, jauchzten ihm zu, spannten ihm die Pferde aus. Bei seiner Rückkehr nach Aix läuteten die Glocken von allen Türmen der kirchenreichen Stadt, der Jubel stieg zu ausgelassener Tollheit. Zehntausend Bürger und Bürgerinnen erwarteten ihn an dem Triumphbogen, den sie ihm errichtet hatten, siebzig Gemeinden brachten ihm ihren Dank dar. Anreden stiegen empor zum tiefblauen Himmel, saftvolle, kraftberstende, übersprudelnde Provencer Reden. Er wurde mit Blumen überschüttet, Männer und Frauen umarmten ihn, die Trommeln rasselten, Tamburins dröhnten, Flöten schrillten. Abends ward die Stadt festlich erleuchtet. Raketen stiegen, Symbole seines zu den Sternen strebenden Namens. Eine Trunkenheit der Freude und der Zuversicht war in aller Herzen. Man jauchzte ihm zu als dem »Vater des Vaterlandes«, als dem »Befreier des Volkes«.

Er war der größte Sohn der Heimat geworden durch das Vertrauen und die Hoffnung, die sein Wort in die freiheitsträchtige Scholle dieser Herzen gesät hatte.

Eine Deputation aus Marseille traf ein, mit der Bitte, er möge der Abgeordnete der Stadt in der Nationalversammlung werden. Die Bürger von Aix nahmen die Männer von Marseille eifersüchtig gefangen, zwangen sie aber, mit ihnen in die Rue Mazarine, zum Palais Marignane zu ziehen. Plötzlich stand Emilie, die sich unter der Menge am Triumphbogen mit stürmisch klopfendem Herzen verborgen hatte – denn der Mann, den sie dort zum »Vater des Vaterlandes« krönten, war ja doch, trotz allem und allem, »ihr« Gabriel, der Vater ihres toten Kindes, der Mann, der sie glücksbebend einst im Arme gehalten, der sie aus allen Frauen Frankreichs einst erkoren, der ihr in mancher trauten Stunde von seiner kommenden Größe geschwärmt hatte, trotz ihres kaum verbissenen Spottes –, ohne Vorbereitung stand Emilie dieser Schar wackerer Bürger zweier Städte gegenüber. Sie verlangten, sie solle sich mit dem »Befreier des Vaterlandes« aussöhnen. »Denn,« meinte der Wortführer: »Madame, es ist doch eine zu schöne Rasse. Es wäre schade, wenn sie ausstürbe!«

Sie fand keine Worte der Entgegnung. Sie ertrank im Strudel aufwogender Gefühle. Sie weinte vor Verwirrung, Verlegenheit und Freude. Sie nickte nur, gab jedem der braven Bürger ihre feste kleine Hand.

Mirabeau erfuhr von dieser Deputation. Er schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt andere Sorgen.

»Ich habe zuviel Männerdinge im Kopfe,« wehrte er, »um an Frauendinge zu denken.«

Er hatte recht. Schon rief eine neue Pflicht. In Marseille war infolge einer neuen Fleisch- und Brotteuerung der Aufruhr ausgebrochen. Wer konnte da helfen, wenn nicht der »Freund des Volkes«! Man rief ihn. Er eilte hin. Seine Gegenwart allein dämpfte die wilden Triebe, scheuchte die Plünderer. Er organisierte eine Bürgerwehr, stellte die Ordnung wieder her. Vier Nächte kam er nicht ins Bett. Er war überall, mahnte, redete. Seine Kräfte vertausendfachten sich.

»Alles wird bald anders werden,« vertröstete er, »aber wir wissen, daß sich nicht alles an einem Tage ändern kann. Ich hoffe also, ihr werdet alle sagen: die Mindestpreise, die ich für Brot und Fleisch festgesetzt habe, sind annehmbar. Dies ist gerecht, jenes notwendig. Jeder wird sich ruhig verhalten, damit die andern es auch sind, und euer Beispiel wird überall den Frieden schaffen!«

Er hatte die Sprache des »Vaters des Vaterlandes« gefunden, der zu seinen ungebärdigen Kindern redete. Doch er irrte sich, wenn er glaubte, das gute Beispiel von Marseille würde nun überall den Frieden sichern. Während er in Marseille Ruhe stiftete, tobte die Revolte in Aix. Die Menge hatte gegen die Truppen eine drohende Haltung eingenommen, diese hatten gefeuert. Ein Kampf wütete in der Prachtstraße, den Alleen des »Cours«. Es gab Tote und Verwundete. Man schrie nach dem »Vater des Vaterlandes«. Er eilte herbei. Sein Ansehen schuf Ordnung. Er trotzte kühn dem Adel, der die alte Gewalt gegen die Rädelsführer anwenden wollte und verlangte, daß sie ins Gefängnis geworfen würden. Er predigte dem Volke Vernunft, das – zum Nachspiel des Kampfes – einige vom Adel an die Laternen zu knüpfen begehrte.

Wenige Tage später wurde er in Marseille und in Aix zum Reichstagsabgeordneten gewählt. Er nahm die Wahl in Aix an.

Das Ziel war erreicht. Der Weg für sein Genie als Staatsmann lag frei.

Und nun beantwortete er den Brief Montmorins. Doch es war nicht mehr der Bittsteller vom Jahre zuvor, der die Feder führte, es war der souveräne Erwählte des Volkes.

»Wenn Ihr Brief, Herr Graf,« schrieb er – »gestatten Sie, daß ich es sage – nicht gerade die Höflichkeit des letzten Jahrhunderts aufweist, so zeigt er um so mehr dessen Grundsätze. Es scheint mir, daß Sie Ihre Zeit nicht richtig beurteilen, und trotz der Achtung, die ich den Ministern des Königs entgegenbringen will, kann ich nicht umhin, Ihnen zu bemerken, daß eine Drohung aus dem Munde eines Sterblichen gegen mich, er mag in hoher Stellung sein oder nicht, weder ein Akt der Würde noch des Anstandes ist. Sie schreiben mir, Sie verzichteten auf die Ehre, mich je wieder zu empfangen. Nun wohl, Herr Graf, als Privatmann nehme ich die Ehre der Ächtung an, die Sie mir auferlegen, aber als Mann der Öffentlichkeit, der ich, seitdem Sie Ihren Brief geschrieben haben, geworden bin, erkläre ich dem Minister des Königs, daß, wenn ich jemals im Interesse meiner Auftraggeber in die Lage kommen sollte, ihn um eine Audienz zu ersuchen, ich glauben müßte, ihm Unrecht zu tun, wenn ich annehmen würde, daß er mich auch nur einen Augenblick darauf warten ließe.

Ich habe die Ehre, mit ehrerbietigen Gesinnungen zu sein

Graf Mirabeau.«

Der bettelhafte, entwurzelte, verfemte Mann war durch Volkes Gnaden ein Ebenbürtiger der Machthaber von »Gottes Gnaden« geworden.


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