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X.

Der Sieger von Aix ging einer Zeit nagender Not entgegen. In der Familie herrschte die Ruhe der Walstatt. Die Mutter lebte in Paris, Louise im Kloster, der Vater in Bignon. Emilie beging, vom Throne der Liebeskönigin gestürzt, stille Tage in Aix, als die Zeit Ihre Schleier über die Dinge breitete.

Des Vaters Gleichgültigkeit gegen sein Geschick beraubte den Sohn jeder Unterstützung. Nach den Tagen von Aix äußerte er spöttisch: »Sogar aus Italien meldet man mir die Bewunderung meines Sohnes. Welcher Ruhm für den Enkel unserer Väter! Seine Wege sind nicht die meinigen. Mein Werk ist getan. Es ist jetzt seine Sache, die Entschlüsse zu fassen, die er für die zweckmäßigsten hält. Ich kann ihm nicht länger dienen, ihn nicht leiten und nicht für ihn bürgen.«

Er strich, der Tumulte satt und müde, den Sohn aus seinem Leben.

Und der Sohn hungerte. Er lebte in Paris von Tagesschriftstellerei. In teueren Zeiten ist die Arbeit der geistigen Lohnsklaven immer am billigsten. Er mußte bisweilen seine scharfe Feder verkaufen. Er schrieb Streitschriften über Geld- und Finanzfragen, nicht immer ohne materiellen Lohn von denen, denen sie Vorteil brachten. Man munkelte, daß er im Solde des Agios stehe. »Man bedient sich seiner wie eines tollen bissigen Hundes, den man auf den ersten besten hetzt«, sagte der Vater und lehnte sich friedlich und ergeben in seinen bequemen Sorgenstuhl zurück.

Es waren schwere Zeiten für Mirabeau. Er schuftete verzweifelt um das tägliche teure Brot. Aber er beobachtete bei aller persönlichen Misere scharf die Zeichen der Zeit.

Der Halsbandprozeß, dieser frechste Gaunerstreich aller Zeiten, das Werk der Gräfin La Motte, der gerissensten Hochstaplerin des Jahrhunderts, raubte dem Königtume, das er in der Königin erbarmungswürdig bloßstellte, das letzte bleiche Ansehen. Beaumarchais' Komödie »Figaros Hochzeit« war Mirabeaus wachsamem Auge ein Seismograph, der Untrüglich das noch ferne Beben der Grundfesten des Staates kündete.

Man hatte das Stück verboten. Doch auf allen Pariser Gassen war es zum Tagesgespräch geworden. Beaumarchais las es in vielen der ersten Salons der Stadt vor. Auch Mirabeau hörte es, obwohl er allen Grund hatte, dem witzigen Dichter zu grollen, der seine Werke verächtlich »Mirabellen« genannt hatte. Aber ihm handelte es sich um die Beurteilung der politischen Bedeutung der Komödie, nicht um ihren Autor, den »Seiltänzer Beaumarchais«, wie er ihn zur Revanche öffentlich nannte.

Er teilte die Erregung, die sie hervorrief. Sie griff Staatseinrichtungen, Verwaltung, Staatsgefängnisse heftig und kühn an. Das Verlangen, das Stück auf die Bühne zu bringen, schwoll lärmend an. Marie-Antoinette verlangt, es zu hören. In ihrem Kabinett wird es gelesen, diesem Kabinett in Gold und Weiß mit den großen Wandtafeln, auf denen geflügelte Sphinxe in den Rauch rosenumkränzter Dreifüße starren. Liebesrätsel? Darüber schweben Liebesgötter mit verbundenen Augen.

Der Wandschmuck ist wie ein Symbol.

Man setzt sich in die Nische vor dem Spiegel, der die Fenster scheidet. In dieser Nische lebt Marie-Antoinette ihr häusliches Leben. Hier ist sie umgeben von ihren lieben trauten geschmeidigen Möbeln, ihrer Harfe, dem Spinett von Toskin, das immer offen steht, in dem es summt von kaum verklungenen Melodien. Neben ihrem Polstersessel stehen die niedrigen Körbe ihrer Handarbeiten.

Von hier aus kann sie das etwas frostige Kabinett überblicken mit seinen Säulen, seinem Kamin von rotem Marmor, dem mächtigen eingelegten Tische, der überladen ist von Erinnerungsgaben, Nippes, Kunstwerken aller Art. An den Wänden hängen Miniaturen von Siccardi, Liotard und Campana. Und Porträts ihrer Lieben im fernen frohen, ach, so naiv fröhlichen Wien.

Die Augen der Königin wandern über die guten Gesichter hin, während die Campan dieses Stück vorliest, das solch wilde Wogen gegen den Thron aufwirft. Da ist die Mutter, Maria-Theresia, der Vater, die Brüder, die Schwestern und die Gespielinnen ihrer glücklichen, so fernen glücklichen Kindheit, die Prinzessinnen von Hessen-Darmstadt. Wie ein treues Behüten sind diese stummen beredten Bilder um sie her.

Sie kann der Lektüre nicht aufmerksam folgen. Ihre schönen blauen klugen Augen wandern über die große kostbare chinesische Vase, über die vielen Vasen aus Sèvres und Venedig, über den Blumenreigen hin, den sie bergen, der immer ihr Zimmer durchduftet. Sie sinnt und grübelt, weshalb in den letzten Jahren alles so anders geworden ist, als in der heiteren Anmut ihrer Dauphinezeit und der ersten Regierungsjahre. Sie weiß genau, wie schmerzlich der König und sie selbst an Ansehen verloren haben. Sie weiß oder ahnt dunkel, daß das Volk sie haßt. Sie sieht auf ihren Fahrten durch die Straßen oft Blicke, die ihr das Herz im Leibe erbeben machen. Mein Gott, was tut sie bloß, daß man sie jetzt so haßt! Dem Volke kann es doch gleichgültig sein, ob sie die veraltete Etikette einhält oder nicht, ob sie tanzt oder nicht, ob sie spielt oder nicht, ob sie liebt oder nicht. Sie tut damit doch keinem von diesen Leuten, die ihr solch giftige Blicke zuwerfen, etwas Böses. Sie begreift diese jähe Wandlung ihrer früheren Beliebtheit nicht, sooft und soviel sie auch darüber grübelt. Ihr Blick bleibt an dem feisten, unbedeutenden, gutmütigen Gesicht des Königs haften. Sie liebt ihn nicht. Doch er ist nun der Vater ihrer Kinder. Wie angestrengt er aufpaßt, um alles zu begreifen. Ein armes mattes Gehirn. Er tut ihr leid in seiner angestrengten Anspannung.

Jetzt ruft er mit seiner fettigen Stimme: »Das ist geschmacklos. Dieser Mensch bringt die Unarten italienischer Concetti auf die Bühne!«

Bei der Stelle gegen die Staatsgefängnisse springt der Phlegmatiker fast lebhaft auf: »Das ist abscheulich! Das wird nie gespielt werden. Man müßte die Bastille zerstören, damit die Vorstellung dieses Stückes nicht eine gefährliche Inkonsequenz wäre.«

»Lassen Sie sie zerstören!« sagt plötzlich die Königin.

Louis und die Campan starren sie an.

»Madame – –?!« murmelt der König unsicher.

»Ich meine es ernst.«

»Madame – dann können wir abdanken. Aber Sie scherzen. Fahren Sie fort.«

Die Campan liest weiter.

Am Schluß fragt Marie-Antoinette: »Man wird es also nicht spielen? Schade. Es hat viel Geist.«

»Geist des Aufruhrs«, entgegnet der König unwillig. »Dieser Mensch macht sich über alles lustig, was man an einer Regierung respektieren muß.«

»Gott,« seufzt die Königin, »man kann Dinge von so vielen verschiedenen Standpunkten aus sehen.«

»Für uns gibt es nur einen Standpunkt. Man wird dieses Stück nicht spielen«, entscheidet der König.

Trotz des Verbotes wird die Vorführung am Théâtre Français heimlich vorbereitet. Im letzten Augenblicke wird sie dem König verraten. Eine lettre de cachet untersagt die Vorstellung. Im Saale sind schon etliche Zuschauer, in allen Straßen, die zum Hôtel des Menus-Plaisirs, dem Theatergebäude, führen, drängen sich die Karossen, die Kabrioletts. Wagen wollen vorrücken, andere wollen zurück, Stauung des Verkehrs, Lärmen, Ärger der umsonst geputzten Damen, Groll allgemeiner Enttäuschung.

Das Verbot des Königs wird zu einem erbitternden Anschlag auf die öffentliche Freiheit. Durch alle Straßen, alle Salons, alle Cafés hallt der Ruf »Bedrückung!«, »Tyrannei!« mit einer Leidenschaft wie niemals zuvor. Beaumarchais ruft laut von den Stufen des Theaters in die zornige Menge: »Eh bien, messieurs, man will das Stück hier nicht aufführen! Ich schwöre Ihnen, daß es eines Tages im Chor von Notre-Dame gespielt werden wird.« Alles klatscht, man schreit, man jauchzt. Die beste Gesellschaft! Man hört in diesem Worte prophetischen Geist. Die Revolte brodelt. Der König sieht sich gezwungen, nachzugeben. Das Stück wird gespielt. Der Verfasser wandert ins Gefängnis. Ein letztes Mittelchen letzter Willkür. Nie sah ein französisches Theater solchen Fanatismus des Beifalles. Mirabeau ist im Zuschauerraum. Er hört dieses laute Signal der heranbrausenden Revolution.

Doch noch dämmert nicht sein Tag. Er kann sich in Paris, in dem die Brotpreise von Tag zu Tag steigen, nicht halten. Er sucht in London seinen Unterhalt. Er geht in die Fremde. Das Elend geht mit. Doch auch die Liebe, die ihn, wie die Armut, sein Leben lang treu geleitete. Sie heißt jetzt Henriette-Amélie de Nehra. Doch was bedeutet der Name! Es ist Sophies guter Geist und ihre gütige Seele, wie es die Seele und der Geist aller der reinen sorgenden mütterlichen Frauen ist, die ihr Leben dem Manne ihrer Liebe hingeben, hingegeben haben und hingeben werden. Sie sind zeit- und namenlos. Sie sind das ewig Weibliche in seinem höchsten Adel. Sie sprechen ewige Worte, wie Henriette-Amélie, das uneheliche Kind des Willem Van Haren, eines hervorragenden holländischen Staatsmannes, sie zu dem Manne sprach, dem sie im Frühling 1784 im Erziehungskloster der »Petites-Orphélines« in Paris durch Zufall oder Schicksalsfügung begegnet war.

Sie hob das »Engelsgesichtchen mit seinem verführerischen Reiz«, blond, zart und rosig zu ihm empor und sagte trotz ihrer siebzehn Jahre die uralte letzte Frauenweisheit: »Geliebter, alles hat dich im Stich gelassen. Eltern, Freunde, Glück. Du hast bloß noch mich. Laß mich dir alles ersetzen. Laß mich in den Gefahren deines sturmbewegten Lebens bei dir stehen. Ich gelobe dir, nur noch für dich zu leben, um dir in guten und bösen Tagen dienen zu können.«

So sprach sie, ganz schlicht, und folgte ihm – nach London. Sie hungerten dort, aber zusammen. Er verpfändete in London ihre Sachen, alle, ihre und seine. Die Liste, die sie aufstellte, war nicht gehaltvoll:

Von dem Herrn. Grafen: Von der Frau Gräfin:
16 Hemden 4 Hemden
1 Unterkleid von Nankin 1 Paar Handschuhe
1 Paar weißleinwandene Unterhosen 1 Chemise von Linon
1 alte Weste, einst gestickt 1 Robe à l'anglaise
1 Paar neue Schuhe 14 Servietten
12 Paar Strümpfe, schadhaft 10 Schnupftücher
1 Hut 1 alter Muff
50 gebundene und ungebundene Bücher 1 schwarzer Domino
  4 Unterröcke
  2 Kamisölchen
  4 Korsetts
  1 alter weißer Pelz
  3 Mantelets, sehr schadhaft
  2 Florschürzen, schadhaft
  1 Paket Flicken.

Andere Reichtümer hatten sie nicht, die grimmigste Not abzuwehren.

Auch in London leuchtete ihnen kein Stern. Sie kehrten nach Paris zurück. Er schrieb wieder finanztechnische Broschüren, griff den Finanzminister Calonne heftig an. Und hungerte.

Und doch nahm Mirabeau in diesen Tagen das verwaiste zweijährige Kind seines Freundes, des Bildhauers Lukas von Montigny, an Kindes Statt an. Der kleine Lukas fand in Amélie eine zweite Mutter. Und er ist sicher immer satt geworden.

Als die Not am höchsten gestiegen war, riet Henriette-Amélie, die nicht nur lieb und schön, sondern, wie alle guten Feen, auch sehr klug war:

»Gehen wir nach Schloß Mirabeau. Dort können wir sehr billig leben. Du kannst dich dort sammeln, dein ausgepowertes Hirn ausruhen und dann ein großes Werk schreiben, das deinen literarischen Ruhm begründet.«

Sie stand vor ihm in einem ganz leichten, ganz einfachen Musselinkleidchen, das ein Sammetband in der Taille gürtete, zart und elfenhaft und lächelte beschwörend und ermunternd.

Er schüttelte den Kopf.

»Yet-Lie« – er hatte diesen innigen Kosenamen aus Henriette-Amélie gebildet – »Yet-Lie, ich will nicht mehr schreiben«, rief er gequält. »Ich fühle es. Ich weiß es. Ich bin zu handeln geboren, zum handelnden Staatsmann. Ich will durch Taten wirken, durch das lebendige Wort, das mein Werkzeug und meine Waffe ist.«

Sie sah trübe vor sich hin. »Aber du siehst doch, Gabriel, sie lassen dich nicht hinauf, diese Minister. Du gehst, du bittest, du drohst. Nichts hilft. Sie fürchten dich.«

Er schwieg bedrückt.

Sie sprach fort: »Wir leben in einer Zeit des Niederganges. Ich glaube, es ist immer ein Zeichen des inneren Zerfalles eines Staates, daß er nicht einmal mehr die Kraft noch den Mut aufbringt, große Begabungen zu nutzen.«

Er sah sie lange an: »Du bist eine sehr kluge kleine achtzehnjährige Frau, Yet-Lie«, sagte er bewundernd. »Ich liebe dich von Tag zu Tag mehr. Weißt du, Sophie habe ich mit Leidenschaft geliebt, mit tausend Sinnen. Du bist die erste Frau, die mein Herz liebt.«

Sie trat zu ihm und küßte ihm wortlos das Herz. Sie wußte, daß er die Wahrheit sprach, die Wahrheit der Liebe, die im Männermunde immer die Wahrheit der Stunde ist.

Er ging sinnend in dem kleinen Pariser Zimmer auf und nieder. Plötzlich blieb er stehen mit vorgebeugtem Kopfe und starr auf einen Punkt gerichteten Augen. Sie atmete kaum. Sie kannte diese ihm typische Haltung schärfster Überlegung.

Dann drehte er seinen schweren Körper mit einer wunderbaren Elastizität herum, sein Gesicht strahlte, sein Körper ward schnellende Energie.

»Ich hab's, Yet-Lie!«

»Was ist es?«

»Wenn man hier zu klein ist, mich in den Staatsdienst zu nehmen, dann gehe ich zu dem größten Manne Europas und biete mich ihm an.«

»Dem größten –? Das ist –«

»Nun – wer ist das?« fragte er triumphierend.

»Friedrich der Große.«

Er nickte, sprang auf sie zu und riß sie, im Überschwang dieses glücklichen Gedankens, in die Arme.

Sie äußerte Bedenken. Sein Enthusiasmus wehte sie beiseite.

Wenige Tage später war er mit seiner »Horde«, Yet-Lie und Coco, dem kleinen Lukas von Montigny, auf der Reise nach Berlin. Im »Hotel zur Stadt Paris« stiegen sie ab. Noch am selben Tage schrieb er an den König:

»Sire,

es ist vielleicht allzu unbescheiden, eine Audienz bei Ew. Majestät zu erbitten, wenn man nicht in der Lage ist, Allerhöchstdieselbe von interessanten Dingen unterhalten zu können. Vielleicht aber werden Ew. Majestät Nachsicht für einen Franzosen haben, der seit seiner Kindheit die Welt von Allerhöchstdero Namen erfüllt fand und das Verlangen hat, den größten Mann dieses und anderer Jahrhunderte in größerer Nähe zu sehen, als man für gewöhnlich Könige sieht, und wollen Ew. Majestät geruhen, mir in Gnaden zu gestatten, daß ich Allerhöchstderselben in Potsdam aufwarten darf. In tiefster Untertänigkeit

Graf Mirabeau.«

Am nächsten Tage schon erhielt er die Antwort in einem eigenhändigen Schreiben des Königs.

»Potsdam, 23. Januar 1786.

Herr Graf Mirabeau!

Es soll mir sehr angenehm sein, Sie kennenzulernen und Ihr Anerbieten, sich hier einzustellen, ist mir durchaus willkommen. Wollen Sie mir übermorgen, am 25., dieses Vergnügen bereiten und sich an den Generalmajor Grafen Goertz wenden, so könnte ich Sie noch an demselben Tage sehen. Inzwischen bitte ich Gott, daß er Sie, Herr Graf Mirabeau, in seinen heiligen Schutz nehme.

F. R.«

Am 25. Januar fuhr Mirabeau nach Potsdam. Klopfenden Herzens schritt er durch den Park, die Terrassen von Sanssouci hinauf.

Der Kammerdiener führte ihn in das runde Arbeitszimmer des Königs. Er saß am Schreibtisch, in Pelze und Bettdecken gehüllt. Es roch nach Medikamenten. Auf einem Tischchen standen Medizinflaschen in Wassergläsern.

Mirabeau blieb ehrfürchtig an der Tür stehen. Er wußte, daß er in der Arbeitsstätte eines der Größten aller Zeiten stand.

Der König wandte den Kopf.

»Kommen Sie näher, Herr Graf«, sagte er mit klarer leiser Stimme.

Mirabeau schritt zum Tische, zaghaft, auf den Zehen. Er sah, wie krank der alte Mann war, abgezehrt, Haut und Knochen. Nur die großen grauen Augen lebten.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so empfange«, der König deutete mit zittriger Hand auf die Pelze und Decken. »Das Alter. Frese behauptet Wassersucht. Der Teufel hole ihn und seine Wassersucht! Ein bißchen Schwäche ist es.«

Mirabeau sah rote Fieberflecke auf den eingefallenen lederhäutigen Wangen des Königs, seine Zähne klirrten im Schüttelfrost. Vor ihm lagen Papiere. Er arbeitete noch – trotz Fieber und Schüttelfrost.

»Setzen Sie sich.«

Der Kammerdiener trug einen Stuhl herbei und ging. Mirabeau setzte sich.

»Ich freue mich, Sie zu sehen«, hob der König an, nicht ohne Anstrengung. »Sie sind mir kein Unbekannter. Ich kenne die Geschichte Ihrer Jugend. Ich habe Gründe zu lebhafter Teilnahme für einen Mann, den schwere Jugendschicksale betroffen haben.«

»Eure Majestät sind sehr gütig.«

Der König zog die Pelzdecken enger um die Schultern, seine verdorrten schmalen Lippen verzogen sich schmerzhaft. Mit Mühe fuhr er fort: »Ich höre, Sie wollen nach Sankt Petersburg?«

»Ich fürchte, Eure Majestät zu ermüden«, wandte Mirabeau ein, der des Königs Qualen sah.

Friedrich schüttelte den Kopf. »Sprechen Sie.«

»Majestät,« begann Mirabeau, »ich darf wohl sagen, daß ich in meinem Vaterlande für die Dienste, die ich Frankreich in finanziellen Angelegenheiten erwiesen habe, schlecht belohnt, ja in meinem Rufe und selbst in meiner persönlichen Sicherheit durch den derzeitigen Finanzminister gefährdet worden bin, weil ich mich weder für seine letzte Anleihe noch für seine Louisdorspekulation bemühen wollte. Ich klage nicht an. Ich kann es verstehen, daß Minister, die meist homines novi und nur im Besitz einer prekären und unsicheren Existenz sind, die also alles zu gewinnen und nichts zu verlieren haben, ihre zerbrechliche Macht so schnell und so viel als möglich dazu benützen, um sich ein Vermögen zu erwerben, Kreaturen an sich zu fesseln und ihre Begierden zu stillen. Sie müssen den Augenblick benützen, morgen werden sie nicht mehr sein.«

Er schwieg. Der König sah ihn lebhaft aus seinen Feueraugen an. »Interessant,« nickte er; »fahren Sie fort!«

»Man kann von den Ministern sagen, daß sie oft viel Geist haben, wenigstens genug, um die andern und sich selbst zu täuschen. Sie glauben nur zu leicht, daß sie wissen, was sie verstehen; daß sie verstehen, was sie mit geistvollen, listigen Blicken anhören; daß man sie leicht zu dem bewegen könne, was man ihnen bewiesen hat. Das sind ganz irrige Meinungen. Viele Minister wollen, einzig und allein bemüht, die Genüsse der Eitelkeit, und auch der nichtigsten aller Eitelkeiten, tausendfach auszukosten, der Not des Augenblicks zu entfliehen, die Mittel und Wege zu finden, um morgen noch Minister zu sein, ohne zu wissen, ob sie es noch in acht Tagen sein werden, Kniffe und Schliche und keine Ratschläge, Schmeichler und keine Freunde, Lobhudeleien und nicht die Wahrheit, wofern nur ihre Sippschaften ihnen Weihrauch streuen und ihre Plagegeister sie in Ruhe lassen. Wofern es nur ihrer Leichtfertigkeit nicht an Zerstreuungen fehlt und sie nichts in ihren Vergnügen stört, gehen die Geschäfte immer gut genug. Sie stellen sie monatelang zurück. Dann verwenden sie eine Stunde auf eine Angelegenheit, welche die angestrengteste Aufmerksamkeit und das reiflichste Nachdenken erfordern würde, kurz, man darf ihnen nichts zutrauen als die Intrige und die Interessen ihrer kleinen Passionen.«

Der König lächelte bitter.

»Sie kennen diese Herren. Aber Sie wollten von Ihren Plänen sprechen, Herr Graf.«

Mirabeau glaubte, jetzt den Boden für seine Absicht gedüngt zu haben.

»Eure Majestät hatten die Güte, mich zu fragen, ob ich nach Sankt Petersburg zu gehen gesonnen bin. Ich beehre mich, zu antworten: es ist allerdings meine Absicht, in dem Lande eine Anstellung zu suchen, das meines Wissens am meisten der Ausländer bedarf: ich will nach Rußland. Aber wahrlich, Eure Majestät, ich würde dieses vierschrötige Volk, dieses wilde Land nicht aufsuchen, wenn ich nicht hätte einsehen müssen, daß Eurer Majestät Regierung so vollkommen organisiert ist, daß ich mir nicht mit dem Gedanken schmeicheln darf, Eurer Majestät nützlich zu sein.«

Der König schwieg und zog die Decken empor.

Das Herzklopfen der Hoffnung meisternd, fuhr Mirabeau mutig fort: »Eurer Majestät zu dienen – nicht müßig in den Akademien zu sitzen – wäre freilich mein höchster Ehrgeiz gewesen.«

Der König schwieg beharrlich.

Schon zaghafter sprach Mirabeau fort:

»Die Stürme meiner frühesten Jugend und die nunmehr völlig getäuschten Erwartungen in bezug auf meine Heimat haben allzulange meine Gedanken von diesem schönen Vorhaben abgelenkt, so daß ich fast fürchte, es sei jetzt zu spät!«

Er schwieg in bebender Erwartung. Jetzt lag sein Lebensschicksal in der Hand dieses großen kranken Mannes.

Der König sah ihn fest an und sagte:

»Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir erweisen. Ich weiß es ebenso zu würdigen wie die Gründe, die Sie veranlassen, in der Fremde eine bessere Verwertung Ihrer Talente zu suchen. Seien Sie überzeugt, daß ich stets an dem Geschick eines wie Sie verdienten Mannes Interesse nehmen werde, indem ich von Herzen wünsche, daß es sich günstiger und Ihren berechtigten Erwartungen entsprechender gestalten möge.«

Mirabeau sank in sich zusammen.

»Übrigens hängt es lediglich von Ihnen ab, wie lange Sie in Berlin verbleiben. Ich hoffe, Sie während Ihres Aufenthaltes noch einige Male zu sehen und bei besserem Wohlbefinden, um lebhafter Ihre geistreiche Gegenwart genießen zu können.«

Mirabeau erhob sich hastig. Der König nickte liebenswürdig – der Kammerdiener trat ein – Mirabeau verbeugte sich noch einmal an der Tür – doch Friedrich hatte bereits wieder zur Feder gegriffen und schrieb mit Fingern, die der Fieberschauer schüttelte. –

Die Enttäuschung war vernichtend. Lange irrte Mirabeau im Parke von Sanssouci umher. Lange stand er am Kanal, von Todesgedanken durchzittert. Doch sein starker südfranzösischer Optimismus rang sich sieghaft empor. Sein geschmeidiges Hirn stellte sich auf eine andere Kombination ein. Eins hatte die Audienz ihm gebracht: die Erlaubnis, in Berlin zu bleiben. Diesen Gewinn galt es auszumünzen.

Vor Yet-Lie, die ihn mit angstvoller Skepsis aus Potsdam zurückerwartete, verbarg er seinen Mißerfolg, spielte den Zuversichtlichen, der berechtigt sei, von des Königs freundlicher Aufnahme alles zu erwarten.

Insgeheim schrieb er an seinen Freund Talleyrand und bat ihn, ihm bei dem Minister des Äußern, Herrn de Vergennes, eine Stelle als offiziöser Beobachter, als einer höheren Art Spion, in Berlin zu verschaffen. Es gelang. Man war froh, den angriffswütigen Mann fern von Paris zu halten. Man bewilligte ihm ein kärgliches Gehalt.

So blieb er in Berlin und schrieb geheime chiffrierte Berichte an die Pariser Regierung. Geniale Gesichte seiner staatsmännischen Begabung, seines politischen Scharfblicks.

Es war das letzte Abendrot einer großen Zeit. Im August starb der König. Friedrich Wilhelm II., der dicke Wilhelm, wie ihn der Volksmund nannte, bestieg den Thron. Preußens Abstieg zur Niederung von Jena begann. Die Mätresse des Königs, die Gräfin Lichtenau, die Trompetertochter, führte die Regierung. Hart umrissene Porträts des neuen Hofes sandte Mirabeau nach Paris.

Über den Todestag Friedrichs des Großen schrieb er:

»17. August 1786.

Es ist geschehen! Friedrich Wilhelm ist König. Einer der Größten, die je auf einem Thron gesessen haben, ist dahin! Solch einer findet sich so leicht nicht wieder!

Friedrich hörte zu leben auf am 17. August 1786. Zu regieren hörte er auf am Abend des vorhergehenden Tages.

Alles, bis zu dem Tribut von Irrtümern, den er der menschlichen Schwäche zollte, trug den Stempel seiner Größe, seiner Eigenart, seines unbeugsamen Charakters. Nie wurde ein Sterblicher so ausgestattet, um den Befehl zu führen! Er wußte es: er schien in sich die Weltseele zu spüren!«

Er warf Bericht auf Bericht nach Paris, angefeindet von der Eifersucht des französischen Gesandten in Berlin, Herrn d'Esterno. Er hoffte, man werde in Versailles den Geist erkennen, der in seinen Berichten glühte, werde den Verfasser würdigen und auf den ihm gebührenden Platz erheben.

Er täuschte sich. Man verkannte ihn, behandelte ihn voller Geringschätzung und Verachtung. Er biß die Zähne zusammen und schrieb seine chiffrierten Geheimdepeschen.

Da – Anfang 1787 – ein Posaunenruf! Die Stimmung in Frankreich ist überhitzt, sie braucht ein Ventil. Endlich entschließt der König sich, die Reichsstände, die Vertretung des gesamten Volkes, der drei Stände des Adels, der Geistlichkeit, der Bürger zu berufen.

Mirabeau liest es, Tränen stürzen ihm aus den Augen. Er schreit, er lacht, er wirbelt Yet-Lie im Kreise, wirft den kleinen erstaunten Coco in die Luft und fängt ihn jauchzend wieder auf.

»Yet-Lie – die Reichsstände werden einberufen! Die Reichsstände, die seit 1614 nicht mehr versammelt waren! Begreifst du, was das bedeutet?!«

Sie begreift es nicht.

»Die Nationalversammlung bedeutet das. Die friedliche Revolution! Die Reformen! Das Ende des Despotismus bedeutet es. Meinen Aufstieg zur Tat bedeutet es. Einen Schauplatz meiner Gaben bedeutet es. Meinen Weg, Yet-Lie. Ich muß gewählt werden, muß, muß, muß! Ich muß der Versammlung angehören, koste es, was es wolle. Der Herr dieser Versammlung muß ich werden kraft meiner Einsicht, meines politischen Instinktes, meiner Macht des Wortes. Ich werde Taten vollbringen und Freuden erleben, die mehr wert sind als die Kinderklappern des Hofes. Leiter von Frankreichs Geschick muß ich jetzt werden. Der Weg ist frei! Endlich frei der Weg zur Tat – zu meiner Tat!«

Er schleudert das unwürdige Amt des Spions von sich. Er reist Hals über Kopf mit seiner Horde nach Paris.

Er will das Werk seines Lebens beginnen, endlich, endlich.


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