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IV.

Am Sonnabend, dem 9. Juni 1775, stand die junge Königin Marie-Antoinette auf einem Balkon der Rue de Vesle in Reims, der alten Krönungsstadt der Könige von Frankreich, den Festzug zu erwarten. Der König erschien, nach altem Brauche, allein bei den Aufzügen und sakralen Zeremonien.

Sie trug das gepuderte Haar nach der neuesten Mode hoch aufgebauscht, von einem Busche blauer und weißer Federn gekrönt, den Diamantagraffen im Haare hielten. Zwei Zöpfe ihres prachtvollen aschblonden Haares fielen, in natürlicher Farbe, über die entblößten warmen Schultern.

Die Staatsrobe aus blauem Brokat, mit den goldgestickten Lilien der Bourbonen, stand steif und würdig mit ihrem starren Reifrock um sie her. Ihr liebreizendes feines Gesicht, mit dem pikant gebogenen kecken Näschen, war von Erwartung und Schaulust sanft gerötet. Sie sprach in ihrer Erregung unaufhörlich auf die Polignac und die Lamballe ein, die neben ihr standen.

Jetzt tönten Tubatöne. Die Königin federte elastisch empor. Ein Duft von Puder und Parfüm, von Jugend und Frische strömte von ihr aus in den warmen Junitag.

»Sie kommen, sie kommen!« rief sie und ballte in nervöser Lust das Spitzentuch in den erregungsfeuchten kleinen festen Händen.

Durch das Volk, das die Straße säumte und bisher neugierig zu der Königin hinaufgestarrt und ihr manche spöttische, leise Bemerkung entlockt hatte, rieselte eine Bewegung. Aller Augen richteten sich nach rechts, dem Stadttore zu. Sie kamen.

Zuerst ein Piquet der Garde mit den Fanfaren der Stadt. Dann eine Gruppe Männer, würdevoll einherschreitend in schwarzem Mantel und Kragen, eine Goldlilie auf der Brust: die Vertreter der Stadt Paris, die gekommen waren, dem Könige zu huldigen.

Die Menge schreit: »Hoch der König! Hoch der König!«

Die Königin ist vergessen, ist heute Privatperson, Zuschauerin, wie jede andere Frau aus dem Volke.

Jetzt donnern die Kanonen. Der König hat die Stadt betreten. Von allen Türmen singen die Glocken. Jetzt eine Abteilung Musketiere, die Gendarmen der Garde, die Pagen der großen und kleinen Ritterschaft, die Wagen der Prinzen des Hofes. Und jetzt die Karosse des Königs, geleitet von den Haustruppen, den Schweizern, Garde du corps und Chevaulegers. Die Vertretung der Bürgerschaft bildet den Schluß.

Der König hebt sein breites, dickes, gutes Gesicht zur Königin empor, grüßt mit der schweren Hand und lächelt.

Marie-Antoinette blickt dem Zuge nach. Die Straße ist geschmückt mit Teppichen, die blumig von allen Balkonen, aus jedem Fenster herniederwallen. Von Haus zu Haus spannen sich über den Damm Girlanden, Laubbogen wölben sich, symbolische Statuen prangen mit französischen oder lateinischen Inschriften, Lobpreisungen des jungen Königs.

Unter dem Balkon drängt und schiebt sich das Volk, folgt dem Zuge zur Metropolitankirche, vor deren Tor der Herr von Frankreich das Knie beugen wird, das geweihte Öl vom Kardinal zu empfangen. –

Später steht die Königin im Schloß des Erzbischofs in einem kleinen Saale, ganz allein und empfängt das Kapitel, die Vertretung der Stadt, der Universität, des Präsidiums. Sie hört immer wieder: »Die Tugenden, die Eure Majestät schmücken, sind unzertrennlich von der Grazie, die ihr Gefolge sind« oder »Seit das glückliche Geschick Frankreichs die Tage Eurer Majestät mit denen unseres erhabenen Monarchen verbunden hat, drang ein unaussprechliches Gefühl des Glückes in unsere Herzen. Niemals hat ein strahlenderes Licht, ein reinerer Tag auf unser Haupt herniedergeleuchtet!«

Sie muß auf alle diese ewig gleichen Phrasen antworten, das Lächeln des Spottes verbeißen, das so leicht die Lippen schürzt, für alle diese wichtigen braven Leute das rechte Wort, die bezaubernde Geste finden.

Heute ist die Salbung, morgen am Sonntag die Krönung, dann Bälle, Manöver, Feste. Tagelang, viele, lange, frohe Tage. Die Königin ist in einem Fieber des Genusses, des Erlebens. »Ah,« ruft sie ganz laut beim Feste des Erzbischofs, »diese herrlichen Krönungstage! Mein lebelang werde ich sie nicht vergessen!«

Alles lächelt über diese junge, sprühende, lebensfrohe Begeisterung.

Ganz Frankreich feierte die Krönung Ludwigs XVI. den Juni und einen Teil des Juli 1775 hindurch. Jede Stadt, jeder Weiler baute seine Ehrenpforte, stelzte seine Umzüge der Honoratioren, schwelgte in Bällen und Maskeraden. Die Zeiten waren teuer, das Geld sank täglich im Werte. Die Vergnügungssucht der Menschheit steht immer im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wohlfahrt.

Auch Pontarlier, ein kümmerliches Städtchen in der Nähe der Grenze des Schweizer Kantons Neuchâtel, dessen Einwohner ebenso rauh und frostig waren wie das Klima ihres Wohnortes, wollte seine Krönungsfeier haben. Den militärischen Teil der Festlichkeiten hatte die Besatzung der dem Orte vorgelagerten Feste Joux auf dem Schlosse in Parade und Gottesdienst vollzogen. Doch die Bürger forderten ihren bürgerlichen Anteil.

Im Salon der Marquise von Monnier, der Gattin des Ersten Rechnungskammerpräsidenten a. D. von Dôle, tagte die Beratung. Alles grübelte angestrengt nach würdigem Begehen.

»Ich hab's«, rief der Artillerieleutnant von Montperreux und wippte, von seiner Idee geschleudert, im Stuhle auf, daß sein unwiderstehlicher Zopf wie ein ausgestrecktes langes Ausrufungszeichen vom Haupte abstand.

Alles blickte den jäh Erleuchteten an.

»Wir könnten einen Ball veranstalten«, platzte er heraus, allgemeiner Bewunderung seiner erstaunlichen Entdeckerkunst gewiß.

Erwartungen enttäuschen. Ein allgemeines »Oh« der Verachtung fiel frostig auf die Knospen erharrten Ruhmes.

Die hübsche Schwester des Staatsanwalts Michaud, Madeleine, aber nahm das Wort, das gesprochen werden mußte. Sie hatte ihre Gründe. Sie – wie die ganze Stadt – wußte, daß der schneidige Artillerieleutnant in nahen Beziehungen zur Herrin des Hauses stand, in sehr nahen, tuschelte man. Nun hatte Fräulein Madeleine Michaud allerdings keine begründete Ursache, futterneidisch zu sein. Auch sie hatte ihre feste Ration an den Süßigkeiten des Lebens. Aber auf begründeten Anlaß zur Eifersucht legen Frauen kein Gewicht. Sie tun gern, was sich gerade machen läßt. Hier ließ sich etwas machen, hier bot sich eine mildtätige Gelegenheit, den Geliebten Sophie von Monniers zu demütigen. Madeleine zog also ihren hübschen Mund in liebenswürdige Falten und lächelte:

»Herr Leutnant, diese geradezu geniale und durch ihre Originalität verblüffende Idee verrät den vertrauten Umgang mit der klügsten und geistreichsten Dame der Stadt.« Sie verbeugte sich gegen Frau von Monnier, die über diese Bosheit erbleichte.

Die Herren lächelten heimlich, der Leutnant starrte unbegabt, begriff dann, ward bleich und stammelte: »Mein Fräulein – aber mein Fräulein, es war doch nur ein Vorschlag. Wenn er die Billigung des Komitees nicht findet, so – –«

Der Rest ertrank in seiner Verlegenheit.

Jetzt bekam der Staatsanwalt Mut. Sein glattes Juristengesicht ward runzlig im Eifer.

»Die Idee des Herrn Leutnants ist am Ende nicht so abwegig«, bedachte er und hob, Aufmerksamkeit heischend, den Zeigefinger. »Sie läßt sich verwerten. Nur dürfte es kein einfacher Ball sein, sondern ein Maskenball.«

Er sah sich im Kreise um, die Lorgnette vor den kurzsichtigen Augen. Das war doch mal ein Vorschlag!

Er fand indessen nur die ekstatische Begeisterung seiner Schwester. Maskenball war gut, sehr gut. Unter der Maske konnte sie ihren Liebsten einschmuggeln. Im Gebäude der Festlichkeit würde es sicher einen verschwiegenen Winkel geben, der sich zum Liebesneste eignete. Sie hatte leider nicht allzuviel Gelegenheit, dem Gefangenen der Feste Joux zu begegnen.

Sophie von Monnier aber sagte mit einem leisen lieben Lächeln: »Ich finde, wir müßten zu diesem historisch bedeutungsvollen Anlasse einer Krönungsfeier etwas – verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt – etwas – Vergeistigteres finden. Ein Maskenball kann sehr gut den Beschluß des Abends bilden. Doch vorher müßte irgend etwas Bezügliches den besonderen Tag besonders weihen!«

Der alte Kommandant der Feste Joux, Graf Saint-Mauris, ihr glühender Verehrer, klatschte in die weißen feinen Greisenhände. »Sehr gut, Madame, ausgezeichnet!«

»Nur daß die Hauptsache noch fehlt«, bemerkte neidisch der Staatsanwalt.

»Ich denke an eine Theatervorstellung«, erläuterte Sophie bescheiden ihren Vorschlag.

»Ausgeschlossen!« rief ihr Gatte mit seiner vertrockneten Stimme. Er hatte etwas Mumienhaftes. Seine Zweiundsiebzig hatten ihn ausgedörrt. »Ausgeschlossen! Theater hat etwas Unsittliches. Diese Berührung der Geschlechter – das Küssen – –«

Seine bleiche Stimme ging in einem Orkan des Widerspruchs unter, der wenig Achtung vor der sittlichen Größe des Ersten Rechnungskammerpräsidenten a.D. bekundete.

Als Ruhe eintrat, sprach Sophie fort, als wäre die Mumie nie zu neuem Leben erstanden. »Es müßte etwas Allegorisches sein. Die Tugenden des Königspaares symbolisiert und – –«

Hier lachte Madeleine heraus. Sie war leider sehr frivol.

»Famos! Und leicht zu machen. Die Tugend des Königs kann ein Eunuch versinnbildlichen. Die Tugend der Königin aber ließe sich am besten durch ein Sieb veranschaulichen!«

Alles schwieg. Dann brüllte der Leutnant lachend los. Marquis von Saint-Mauris meckerte greisenhaft vergnügt, Sophie lächelte gezwungen. Der Marquis von Monnier aber klappte entrüstet mit den Augendeckeln und schnappte nach Luft. Der Staatsanwalt ward Amtsperson.

»Ich muß dich doch sehr bitten, liebe Madeleine,« wandte er sich an die lose Schwester, »von den allerhöchsten Personen nicht in dieser – dieser – obszönen Weise zu sprechen.«

»Was habe ich denn gesagt?« trotzte sie. »Ich habe nur wiederholt, was die Spatzen vom Dach pfeifen. Und was den Spatzen recht, ist –«

»– der Spottdrossel noch lange nicht billig«, vollendete der Bruder. »Merke dir das, oder ich werde in der Öffentlichkeit deine Gesellschaft meiden müssen.«

Madeleine schnitt ein Gesicht, als bedeute die Erfüllung dieser Drohung für sie kein Mindermaß an Glückseligkeit. Schwestern sind Brüdern gegenüber oft ohne rechte Innigkeit – und umgekehrt.

Sophie suchte taktvoll zu überbrücken.

»Es handelt sich hier um eine Huldigung, liebe Madeleine, zu einem Ehrentage des Königspaares. Vergessen wir also alles Gerede in der Verehrung, die wir ja alle den jungen Regenten Frankreichs herzlich entgegenbringen. Beraten wir über den Vorschlag. Wer ist für eine Theatervorstellung, die symbolisch die Tugenden des erlauchten Paares darstellt? Übrigens –« fuhr sie in poetischem Eifer fort – »das Glück könnte zum Schluß ihre Büsten krönen, der Erfolg ihnen huldigen – kurz, ich sehe allerlei Möglichkeiten. Wer ist dafür?«

Alle außer der Mumie waren einverstanden. Herr von Monnier aber sprach: »Ich bleibe dabei, das Theater ist unsittlich. Dieses Berühren der Geschlechter – –«

Keiner hörte auf ihn. Das Ende seines Bedenkens sabberte er vor sich hin.

»Nun erhebt sich die Frage,« erwog der Leutnant, der bisher ob seines ersten Mißerfolges grollend geschwiegen hatte, »wer das Theaterstück verfaßt. Ich bin leider durch anstrengenden Dienst verhindert. Sonst – Sie wissen, ich habe mich oft auf diesem Gebiete – ich darf wohl sagen mit Erfolg – versucht.«

»Schade«, erwiderte Sophie und lächelte ihm liebreich zu.

Madeleine schlug den Abbé vor. Er machte ihr bisweilen Augen. Doch man lehnte ihn ab. Er war zu salbungsvoll, auch in seinen Predigten.

Da ließ der alte gute Marquis Saint-Mauris sich vernehmen. Seine roten Bäckchen glänzten noch polierter als sonst:

»Ich weiß einen. Der ist unser Mann.« Er schwieg pfiffig.

»Nun – reden Sie! Heraus damit, Marquis! Spannen Sie uns nicht auf die Folter.«

Erfreut über den Erfolg seines Erzählertricks, schmunzelte der Kommandant. »Ahnen Sie nichts? Können Sie auch nicht. Er blüht im Verborgenen. Bei mir blüht er – oben auf der Feste.« Er wies mit dem Daumen hinter sich gegen die Wand. Die Feste aber lag just in entgegengesetzter Richtung. Doch das verschlug fast nichts.

»Ihr Gefangener?« rief Sophie.

»Der Graf Mirabeau?« forschte der Staatsanwalt streng.

Madeleine errötete.

»Jawohl«, sagte Herr von Saint-Mauris großartig.

»Darf der denn in die Stadt?« fragte der Leutnant.

Madeleine lächelte hinter ihrem Spitzentaschentuche. Leutnants können doch bisweilen zu töricht fragen.

»Wenn ich es gestatte – ja«, erklärte majestätisch der Kommandant.

Da lächelte Madeleine wieder und fand, daß auch höhere verdiente Offiziere unklug reden können.

»Nein, nein«, wehrte ängstlich die Mumie. »Ich habe gehört, er soll sehr gottlos sein.« Dann starb sie wieder.

»Er soll uns ja auch keinen Psalm dichten«, flüsterte der Leutnant den Damen zu.

»Och,« machte der Kommandant, »gottlos? Davon habe ich noch nichts bemerkt. Aber ein genialer Patron ist er. Und ein Schriftsteller. Hat einen Essay über den Despotismus geschrieben, der gerade in Neuchâtel verlegt worden ist. Und jetzt schreibt er über die Salinen der Freigrafschaft. Wie gesagt, ein Dichter. Der ist unser Mann!«

Man beschloß, diesen Dichtersmann durch den Herrn Kommandanten für den folgenden Tag um vier Uhr einzuladen. –

Am Abend trat der biedere alte Kommandant der Feste Joux in das Zimmer seines Staatsgefangenen. Mürrisch blickte Mirabeau ihm entgegen.

»So finster, Graf?« rief der Marquis. »Wo fehlt es?«

»Wo?« knurrte Mirabeau, »wo? fragen Sie. Fragen Sie lieber, wo nicht. Alles fehlt mir, Freiheit, Zerstreuung, Leben.« Er reckte die mächtigen Arme. »Unter die Wölfe, in ein Eulennest bin ich verbannt. Keinerlei Freiheiten! Keine Erlaubnis, in die Stadt zu gehen, die eine Viertelstunde entfernt ist. Keine Gesellschaft, keine Bücher!«

»Erlauben Sie mal! Leiste ich Ihnen nicht jeden Abend Gesellschaft? Habe ich Ihnen keine Bücher verschafft? Jedes Buch, das Sie verlangt haben, habe ich herbeigeschleppt.«

»Also meinetwegen – Ihre Gesellschaft und Bücher. Aber wie ganz anders war es im Château d'If! Dort wurden die Entbehrungen des Gefängnisses durch rücksichtsvolle Behandlung gemildert – –«

»Graf – das ist stark! Ich tue doch, was ich darf. Ich habe meine strikten Anweisungen.«

»Gerade deswegen fühle ich mich ja so unglücklich in Ihrer Obhut.«

»Sie sollen sich nicht mehr über mich beklagen. Ich bringe Abwechslung und eine gewisse Freiheit!«

»Mann Gottes, seien Sie gesegnet!«

Er schloß den Alten stürmisch in die Arme.

»Reden Sie, reden Sie! Ich brenne in Erwartung.«

Der Marquis befreite sich, ordnete gewissenhaft sein Spitzenjabot und berichtete dann den Entschluß des Festkomitees von Pontarlier.

»Morgen dürfen Sie zum ersten Male in meiner Begleitung das Schloß verlassen.«

Mirabeau lächelte seltsam.

»Gelt, Sie freuen sich?« nickte der brave Alte.

Doch der Gefangene lächelte nicht nur vor Freude.

Während Saint-Mauris erzählte, wanderten seine Gedanken. Er gedachte der vielen Ausflüge, die er in der Dämmerung über die Mauern des Schlosses unternommen hatte. Aufs Geratewohl war er das erstemal entronnen, vom Drange nach Freiheit gepeitscht.

Er rannte auf das Städtchen zu, dessen erste Lichter in die Dämmerung blinkten. Auf der Landstraße überholte er Madeleine Michaud, die von einem Spaziergange heimkehrte. Sie war das erste Weib, das ihm seit seinen Beziehungen zu der Kantinenfrau begegnete. Er war irr vor Verlangen. Er sprach sie an, aus ihm lohte die Brunst. Er sah kaum ihre Züge, er empfand nur das Geschlecht. Sie sah einen Mann von hohem Wuchs mit einem mächtigen Kopfe auf breiten starken Schultern, hörte seine wunderbare, zarte, einschmeichelnde und geschmeidige Stimme, die leidenschaftliche, aufwühlende Worte raunte, die Feuerbrände des Begehrens schleuderte. Sie fühlte diese kochende Männlichkeit. Sie konnte nicht Widerstand leisten, als er sie griff. Sie war überwältigt von dieser wilden Kraft, benommen von diesem Feuer, zerschmolz in dieser ausberstenden Lohe.

Er riß sie auf das maikühle Gras, er fegte über sie hin, wie die Frühlingsbise dieser Lande.

Dann wartete sie oft auf ihn an dieser Stätte ihres ersten betäubenden Rausches. Oft vergeblich. Nicht alle Wachen der Feste waren bestechlich, nicht jeden Tag der Weg über die Mauern gangbar.

Daran dachte jetzt Mirabeau und lächelte. Als Saint-Mauris Sophie Monnier erwähnte, rief der Graf: »Von der Dame habe ich gehört.«

»Von wem?« fragte der Marquis.

»Ich weiß es nicht mehr«, wich er aus, denn seine Quelle war Madeleine Michaud.

»Sie soll ja eine recht amoureuse Dame sein.«

Entrüstet federte der Marquis von seinem Sessel.

»Wer wagt, das zu behaupten? Die Marquise von Monnier eine amoureuse Dame! Die Marquise! Eine niederträchtige Verleumdung, Graf. Nennen Sie mir den Namen dieses Schurken! Er muß mir vor den Degen!«

»Ich weiß ihn wirklich nicht mehr.«

»Die Marquise von Monnier eine amoureuse Dame!! Nicht zu glauben. Eine Heilige ist sie.« Er setzte sich wieder. »Sie, die die Tugend selbst ist. Im Vertrauen, Graf, ich habe ihr den Hof gemacht. Ich bin noch heute in sie entflammt. Alle meine Anstrengungen waren vergeblich. Alle!«

»Na, dann«, meinte Mirabeau sehr ernst, »haben wir ja den besten Beweis ihrer unbesieglichen Tugend.«

Der Kommandant blinzelte ungewiß. Bei diesem Menschen da wußte man nie recht, ob er ernst sprach oder spottete.

»Nun ja,« sagte er unsicher; »denn im Vergleich zu dem Ersten Rechnungskammerpräsidenten bin ich doch sozusagen ein begehrenswerter Jüngling.«

»Das sind Sie, Marquis,« lachte Mirabeau schallend, »ein verliebter galanter Jüngling von sechzig. Ein echter Kavalier unserer sterbenden galanten Zeit. Erzählen Sie mir mehr von der Frau, die diese hübsche Idee mit der Theatervorstellung und damit den Schlüssel zu meiner Freiheit fand. Wie alt ist ihr Mann?«

»Zweiundsiebzig. Diese Ehe war eine Gemeinheit. Er hat zum zweiten Male nur geheiratet, um seiner Tochter aus erster Ehe, die einen kleinen Ehebruch beging und ihren Verführer nach langen Kämpfen ehelichte, die Erbschaft zu entziehen. Aber mit dem Kind, das diese Rache erst vollständig machen würde, sieht es windig aus.«

»Kein Wunder. Nicht hinter jedem Mut und jedem Selbstvertrauen steht der Erfolg. Wie lange sind sie verheiratet?«

»Zwei Jahre. Ein gutes Wort Voltaires muß ich Ihnen erzählen. Er ist mit dem Vater der Marquise, dem Präsidenten der Rechnungskammer von Burgund, Ruffei, befreundet. Auf die Nachricht von der Verlobung schrieb er ihm: ›Ich wußte nicht, daß Herr von Monnier ein heiratsfähiger junger Mann ist. Ich mache ihm mein Kompliment dafür und versage ihm nicht meine Bewunderung. Ich wünsche beiden jedes mögliche Gedeihen.‹ Was sagen Sie dazu? Jedes mögliche Gedeihen! Der alte Spötter!«

Er lachte, daß seine roten Bäckchen brannten. Mirabeau aber stimmte nicht in die Fröhlichkeit seines Kerkermeisters ein.

»Wie alt ist sie?«

»Einundzwanzig.«

»Ein Frevel!«

»Und wenn er wenigstens sonst noch ein netter Mensch wäre! Aber er ist bigott, beschränkt, geizig – soweit er nicht völlig verloschen ist. Und sie ist die klügste und schönste Frau von Pontarlier.«

»Sie sind kein unparteiischer Zeuge, Marquis«, zweifelte Mirabeau. »Lassen Sie lieber mich morgen urteilen.«

»Aber eins bitte ich mir aus,« der Marquis wurde ganz Kommandant, »daß Sie mir keine Streiche spielen, wie im Château d'If. Ich bringe Sie in die erste Gesellschaft der Stadt, bringen Sie mich dafür nicht in Ungelegenheiten.''

»Bei mir ganz ausgeschlossen.«

»So – so! Und die erbauliche Geschichte mit der Kantinenwirtin, he?«

»Ich bitte Sie, Marquis! Sie war im Château das einzige weibliche Wesen, das auch so aussah. Ich war sechsundzwanzig. Zu tun, als hätten mich ihre Reize verführt, wäre ein furchtbares Verbrechen.«

Der Kommandant lachte. »Ich warne Sie jedenfalls. Und nun, Graf, erzählen Sie mir eine ihrer famosen Anekdoten. Aber eine recht gepfefferte.«

Er setzte sich behaglich im Stuhle zurecht, und Mirabeau schüttete, wie jeden Abend, aus dem reichen Topfe seiner Schnurren eine leckere Pastete vor den in greisenhafter Wollust genießenden Hüter der Feste Joux. –

Am nächsten Tage, kurz vor drei Uhr nachmittags, setzte Mirabeau über die Mauer und eilte der Stadt zu. Diese Frau, die den einen eine galante Dame, den anderen eine Heilige war, beschäftigte seine leidenschaftliche Phantasie. Sie dünkte ihn die Zerstreuung, die ihm in diesem elenden Orte gebührte. Alles stand zu seinen Gunsten. Eine einundzwanzigjährige Frau neben einem morschen Greise, klug, schön. Ihm war sie vom Schicksal bestimmt. Ihm vorbehalten. Das neue Erlebnis, nach dem er hungerte. Denn Madeleine Michaud –! Nun ja – eine Verlegenheit der Sinne. Ein Abstecher. Kaum ein Abenteuer. Doch diese liebesbedürftige Heilige war eines Mirabeau wert. Eine innere Stimme flüsterte. Sie täuschte ihn selten.

Er wollte die Frau unter vier Augen sprechen, ehe die andern kamen. Er wollte sie überrumpeln. Darum übersprang er die Mauern.

Leicht fand er das Haus des Marquis von Monnier.

Sophie las. Der Gatte lag im Mittagsschlummer. Sie stutzte, als der Diener den Grafen Mirabeau meldete. Erstaunt ließ sie ihn hereinbitten. Sie erschrak, als er in der Tür stand, vor seinem aufgedunsenen, von den Blattern entstellten Gesicht, seiner Mähne von braunem krausem Haare, seinen Augen, die fahlrot zu ihr hinüberfunkelten, seiner großen gedrückten Nase.

Er verbeugte sich und sprach. Sein kleiner Mund mit den weißen, schön gereihten Zähnen fiel ihr auf und die feine Form der Hand, die er zur Brust hob.

Dieser große wuchtige Mensch, der kraftvoll sich aufdrängende Männlichkeit atmete, ängstigte sie.

Sie bezwang sich, begrüßte ihn mit ihrer angeborenen Liebenswürdigkeit.

»Entschuldigen Sie, Madame,« begann er, »daß ich vor der festgesetzten Zeit gekommen bin. Ich bin dem Kommandanten Saint-Mauris entsprungen, der mich zu Ihnen führen wollte. Ich wollte Sie allein sprechen.«

Kühn wie immer, stürmte er auf sein Ziel los.

Sie preßte sich scheu gegen die Rückenlehne des Sessels, diesem dreisten Angriffe auszuweichen.

»Ich verstehe Sie nicht!« flüsterte sie.

»Ich habe viel von Ihnen gehört, Madame. Meine Neugier war aufgescheucht. Die einen behaupten, Sie wären eine galante Frau, die andern, eine Heilige. Ich sehe, Sie sind beides.«

Das Blut siedete ihr in das bleiche Gesicht bis zu dem welligen, weichen, ungepuderten Haare, das sie, zu einem griechischen Knoten gebunden, im Nacken trug. Die dunklen Augen glommen in Unmut und Staunen.

»Herr Graf,« rief sie, »was erlaubt Ihnen, so zu mir zu sprechen?!«

»Das Recht, Madame, das zwischen Weib und Mann besteht, die sich bestimmt sind.«

»Sie sind dreist, Graf.«

»Ich bin es, Madame. Aber nicht Ihnen gegenüber. Ich kam zu Ihnen mit einem unbeirrbaren Vorgefühl. Ich wußte, das Schicksal hat uns für einander erkoren. Werden Sie nicht zornig. Krausen Sie nicht diese pikante Nase Roxelanes, die ein reizender Schmuck Ihres schönen Gesichtes ist. Lassen Sie nicht den Ärger Ihren Hals einer Göttin straffen. Ich fühle, Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch. Lassen Sie für uns einen ungewöhnlichen Sittenkodex gelten!«

Sie lächelte benommen und befangen.

»Also sprechen Siel«

»Erzählen Sie mir von Ihrem Leben«, gebot er.

»Was ist da zu erzählen?« wehrte sie.

»Wie konnten Sie diesen Greis heiraten?«

Sie empfand die Vergewaltigung seiner Frage, wollte trotzen und sagte doch in einem unerklärlichen Banne: »Ich wurde nicht gefragt. Ich sah den Marquis erst nach der Verlobung.«

»Sind Sie glücklich?« inquirierte er.

»Graf!« Sie bäumte sich entrüstet auf.

Er ließ sie nicht aus den Fängen seines Willens.

»Sind Sie glücklich?« wiederholte er.

Sie wehrte sich innerlich gegen seine Gewalt und beichtete doch: »Man glaubt es. Ich spiele ein Glück vor meinen Eltern, vor meinen Verwandten, vor allen. Ich versuche, geduldig unter dem Kettenzwang meiner Pflichten die Tage zu verträumen, indem ich anderen diesen Glauben vorgaukele.«

Sie seufzte schwer. Er schwieg abwartend lauschend, in der Furcht, das Bekenntnis zu stören, das sich wider ihren Willen auf ihre Lippen drängte. Sie sprach wie hypnotisiert fort: »Aber je länger ich in dieser Verstellung beharre, um so schwerer wird die Zentnerlast, die mich zu Boden drückt. Diese zwei Jahre, die ich als Sklavin bei dem Marquis zubrachte, dieser Zeitraum, den ich mein ungetrübtes Glück spiele, war die entsetzlichste Epoche des Grauens vor der Lebensöde und trostloser Trauer. Der Inbegriff meines Daseins, meiner ganzen erheuchelten Glückseligkeit bestand darin, mit dem Marquis Whist zu spielen.«

Sie schwieg und strich mit den Händen über den Atlas ihres weiten Rockes.

Mirabeau nickte vor sich hin. »So habe ich mir Ihr Leben gedacht. Genau so. Aber woher kommt es, daß man im Städtchen über Sie klatscht?«

»Weil ich mich seit kurzem entschlossen habe, meine Fesseln zu sprengen. Ich will mein Dasein nicht ungenützt verströmen lassen.«

Eine trotzige Lebensinbrunst spannte ihre sanften empfindsamen Züge. »Obgleich ich abgesondert, still resigniert dahinvegetierte und es mir nicht erlaubt war, mit irgendeinem Menschen ein Wort zu reden, ward der Marquis mit jedem Tage zänkischer und eifersüchtiger, ohne selbst recht zu wissen, über wen und über was. Da zerriß ich die Bande. Ich lud mir Leute ins Haus. Zuerst den Kommandanten Saint-Mauris. Er machte mir temperamentvoll den Hof. Er war ein wehmütiger Ersatz für das Leben. Dann kam der Leutnant von Montperreux in unser Haus. Er war unternehmend und kühn. Ich hielt ihn für einen Mann. Ach, er ist keiner, ganz abgesehen von seiner geistigen Leere. Ich weiß, er hat mit meiner Gunst geprahlt. Ohne Grund, Graf, das schwöre ich Ihnen.«

Und sie raunte ganz leise: »Ich bin heute noch das unberührte Mädchen, als das ich diese Stadt betrat.«

Dieses scheue und verzweifelte Bekenntnis traf Mirabeau ins Herz. Zum ersten Male in seinem Freibeuterdasein empfand er einem Weibe gegenüber ein tieferes Gefühl als das der Gier des Besitzes. Ein warmes und mitleidvolles Verlangen, Trost zu spenden, packte ihn.

»Madame,« flüsterte er, »welch tragisches Los!«

Da riß sie sich empor aus dieser marklosen Schwäche des Beichtens. »Lassen wir es.« Sie strich das Haar aus der schmalen Stirn und lächelte zaghaft. »Erzählen Sie von sich. Wie kamen Sie auf die Feste?«

Er berichtete von seinen harten Kindertagen unter der Fuchtel des Vaters, der ihn wegen seiner Häßlichkeit haßte.

»Schon als Neugeborener war ich ein Monstrum. Mein dicker Schädel zerfetzte meine Mutter. Ich brachte zwei ausgebildete Backenzähne mit auf die Welt. Als Säugling hieb ich mit den Fäusten auf meine Amme ein.« Er erzählte von den Leiden der Militärpension des Abbé Choquard in Paris. Dann war er mit fünfzehn in das Regiment Berri-Kavallerie in Saintes eingetreten, das der grausame Marquis von Lambert befehligte. Hier hatte er Schulden gemacht und in einem Liebeshandel seinen Nebenbuhler, den Oberst Lambert selbst, ausgestochen. Der Oberst rächte sich, beleidigte ihn schwer. Er vergalt die Injurie und floh, als er auf Posten stand. Der Vater tobte. Eine lettre de cachet warf ihn in die Zitadelle. Dann befreite ihn der Feldzug nach Korsika. In La Rochelle, vor der Einschiffung, verwundete er noch schnell einen Kameraden schwer in einem blutigen Duell. Er erzählte von seiner jungen Ehe im Schloß Mirabeau, das bald zum Stelldichein sämtlicher Wucherer und Gerichtsvollzieher der Gegend wurde.

Er erzählte emphatisch. Er sprach von seinem Weibe. »Sie hat mich betrogen. Ich verzieh ihr. Zum Danke hat sie mich verlassen, tanzt und buhlt in Paris. Ich habe ganz mit ihr gebrochen.«

Sophie hörte mit weiblich gefühlvoller Teilnahme zu.

»Auch Sie sind nicht glücklich gewesen«, entschied sie leise, als er schwieg.

»Nein, das bin ich, weiß Gott, nicht, Madame. Ich habe mir mein Leben anders gedacht.«

»Das tun wir wohl alle«, seufzte sie.

Da sprang er empor. »Aber ich will nicht der Sklave meines Geschickes sein! Ich will mein Leben schmieden nach meiner Kraft und meiner Begabung. Ich will wirken, weit hinaus. Unsere Zeit steht im Zeichen einer Neugestaltung aller Begriffe, aller Formen. Das Können bricht sich Bahn. Glauben Sie, daß der brennende Ehrgeiz, der mich erfüllt, in Gefängnismauern ersticken soll! Madame, wir sind beide unglücklich. Das Geschick hat uns zusammengeworfen. Reichen wir uns die Hände! Zwingen wir gemeinsam das Schicksal, uns zu beglücken! Machen wir, Hand in Hand, aus unserem Dasein ein Leben!«

Er ging auf sie zu. Sie hob sich erschrocken aus dem Sessel. Da ging die Tür. Der Erste Rechnungskammerpräsident a. D. trat ein.

»Du hast Besuch, meine Liebe?« staunte seine verdorrte, zornig überraschte Stimme. Seine Augen blinzelten noch schlaftrunken nach der Siesta. Sein spärliches Haar hing wirr. Er kam mit mühsam trippelnden Greisenschritten durchs Zimmer.

Mirabeau sah mit einem drolligen Gemisch von Unglauben und Wut auf den Hausherrn. Dieses Herbariumexemplar eines Menschen war der »Mann« dieser jungen vollsaftigen, durch ihn noch nicht zum Weibe erweckten, Frau! Er sah dem Präsidenten stolz und verachtend entgegen. Der blieb vor ihm stehen – der Rock hing lose um seine mageren Glieder – und blickte zu dem großen Gaste auf mit rotumränderten ausgebrannten Augen. Mirabeau starrte unverfroren auf ihn nieder.

Da sprang Sophie ein und stellte vor. Beide Herren verbeugten sich kaum.

Die Stimme der Mumie sprach fahl: »So – so. Graf Mirabeau? Der Gefangene. Sie sind sehr gottlos, hab' ich vernommen.«

Damit setzte er sich ächzend. Seine Kniegelenke krachten gichtisch.

»Ja,« lachte der Graf hohnvoll und suchte ebenfalls seinen Stuhl, »sind Sie denn so gott-voll?«

»Ich denke doch.«

Sophie rückte unruhig in ihrem Sessel. »Wissen Sie denn überhaupt, was Gott ist, Herr Marquis?«

Da meckerte der Greis. »Hihihi – ob ich weiß, was Gott ist?! Ich! Das habe ich schon gewußt, wie Sie noch nicht das Abc gelernt hatten, junger Mann.« Er blickte seine Frau, Zustimmung fordernd, an. Doch sie sah an ihm vorüber.

»Dann gratuliere ich Ihnen«, entgegnete Mirabeau in kaltem frechem Tone. »Dann sind Sie ein sehr weiser alter Mann! Ein sehr kluger Philosoph verlangte Zeit, als ein König ihn nach dem Wesen der Gottheit fragte. Als er schließlich zu einer Antwort gedrängt wurde, sagte Simonides zu Hieron: »Je länger ich diese Frage ergründe, desto erhabener scheint sie mir über meiner Einsicht zu stehen.«

»Sie vergessen, daß er ein Heide war«, bedeutete überlegen der Marquis.

»Eine sehr kluge Antwort«, rief Sophie. Ihr Beifall galt Mirabeau. Er sprach nur noch für sie. Er sah ihre schwarzen Augen im Erkenntnisdrang leuchten.

»Racine wird Ihnen, wenn er von Gott spricht, versichern:

Sein Name heißt Ewigkeit, die Welt sein Werk!‹«

»Ein bewunderungswürdiger Vers!« hustete der Greis.

»Aber eine schlechte Erklärung!« schaltete Sophie ein.

Mirabeau nickte ihr herzlich zu. »Wollen Sie etwas Größeres und weniger Unklares hören?«

»Mit Freude«, bat sie und beugte sich aufhorchend zu ihm vor.

»Nach Plutarch stand über dem Eingang zum Tempel zu Saïs: ›Ich bin alles, was war, was ist, was sein wird, und kein Sterblicher hob noch meinen Schleier!‹ Freilich vergaß man dabei den Herrn Marquis von Monnier.«

Der Präsident a. D. starrte gelähmt vor empörter Verblüffung aus seinen entzündeten Augenrändern auf den unverschämten Sprecher.

Sophie rettete rasch die Situation, indem sie sanft und bewundernd sagte: »In der Tat dürfte man kaum einen erhabeneren Ausdruck für eine undurchdringliche Unwissenheit finden.«

Der Marquis wandte den Blick seiner Gattin zu. Sie sah er, wie beschränkte Männer ihre Frauen sehen. Sie war dumm und ungebildet. Und sie wagte, diesem Gotteslästerer beizustimmen! In seinem gottesfürchtigen Hause! Wagte, ihm offen zu trotzen vor einem Fremden, vor diesem hergelaufenen Burschen! Seine Alterswut packte ihn.

»Was stimmst du da zu!« keifte er heiser. »Was verstehst du davon! In meinem Hause wird Gott verehrt. Verstanden!«

Sie schwieg, peinlich betroffen.

Doch in dem ergrimmten Grafen erstand ihr der Ritter.

Er sprach nur zu ihr: »Ich mißtraue allen Leuten, die Gott fortgesetzt im Munde führen. Ich habe erfahren, daß es Menschen sind, die die Hinterlist heiligen und alle Moral mit einem System in Verbindung bringen, das, wenn es nicht falsch wäre, so doch abgeschmackt und verderblich ist, das unaufhörlich in Widerspruch gerät zu den Leidenschaften, den Interessen und den Forderungen des menschlichen Lebens.«

Die Mumie hatte nur das Wort »Leidenschaften« erfaßt. Sie liebte Leidenschaften nicht, hatte hierzu ihre höchst persönlichen Gründe. »Ha,« rief der Präsident a. D., »legen Sie endlich die Maske ab! Darauf kommt es also hinaus! Natürlich, natürlich. Die Furcht des Herrn wird verbannt, Zucht und Sitte verpönt, damit man ungehemmt seinen niederen Lüsten frönen kann.«

Sophie, die seit Jahren zum ersten Male die Stimme eines tiefen Verstandes vernahm, die zum ersten Male wieder in diesem Provinzstädtchen, das seelisch so eng begrenzt war wie seine Bannmeile, ein Licht in das hungrige Dunkel der Nacht ihres Geistes leuchten sah, zuckte ungeduldig zusammen. »Reden Sie weiter«, flüsterte sie.

Da brach die Rotte des Komitees ins Zimmer.

»Da steckt er ja!« keuchte ärgerlich der Kommandant. »Wie kommen Sie hierher? Ich habe Sie im ganzen Schlosse gesucht. Sie kannten doch gar nicht den Weg zur Stadt.«

Madeleine lächelte hinter des Leutnants Monperreux schlankem Rücken. Mirabeau aber sagte unschuldig:

»Ich glaubte, wir hätten uns hier verabredet.«

»Ja – aber wie sind Sie nur an dem Posten am Tore vorbeigekommen? Er hat Sie nicht gesehen.«

Ehe Mirabeau noch antworten konnte, sprang Sophie mit einem schüchternen Lächeln für ihn ein: »Auf Pegasus' Rücken ist unser Dichter über die Mauern der Feste geflogen, Herr Kommandant.«

Da lachte alles, und diese Frage war erledigt. Für Herrn von Monnier aber war die religiöse Erörterung noch keineswegs abgetan. Mit greisenhafter Hartnäckigkeit klebte er an dem Rechte, sich in seinem Hause durchzusetzen. Kaum hatte man Platz genommen, klagte er Mirabeau an vor diesem Gerichtshofe der Intelligenz der Stadt.

»Meine Damen und Herren, Sie haben einen Gottesleugner in Ihrer Mitte. Herr von Mirabeau leugnet Gott!«

»Wie interessant!« jauchzte Madeleine. »Erzählen Sie, Herr Graf.«

Der Staatsanwalt Michaud zog die Juristenstirn in Streifen. »Viele«, sagte er, »gefallen sich heute darin, Rousseaus überspannte Ideen nachzubeten. In allen französischen Salons wird Gott entthront. Man sollte – wie früher – dagegen einschreiten.«

»Sehr richtig – sehr richtig, Herr Prokureur«,stimmte Monnier bei und sabberte vor Eifer in sein Spitzenjabot.

Mirabeau fühlte den kitzelnden Reiz, zwischen der Geliebten, die er draußen auf der Landstraße seinem Willen unterworfen hatte, mit der ihn ein geheimes Einverständnis schalkhaft inmitten der andern verband, und dieser jungen Frau zu sitzen, die er sich unterjochen wollte, nein, nicht nur körperlich unterjochen. Es war mehr, reiner, edler. Er liebte sie, liebte ihre Zartheit, ihre Entbehrung, ihre sanfte Fraulichkeit, ihren Drang nach Wissen, der in ihren Augen fieberte, wenn er sprach. Es tat ihm wohl, vor diesen beiden Wesen mit seinem Geiste zu paradieren. Darum sagte er:

»Ich habe nur bezweifelt, daß man fromm sein könne, ohne leicht verlogen und fanatisch zu werden.«

»Da hören Sie es«, entsetzte sich die Mumie.

Der Staatsanwalt wiegte bedenklich das Haupt.

»Weiter!« Madeleine wollte Eifer bezeugen.

»Wenn ich ein solches Wunderexemplar gesehen habe« – Mirabeau verbeugte sich artig gegen den Hausherrn, der Leutnant, Madeleine und Herr von Saint-Mauris kicherten –, »werde ich vielleicht glauben, daß es nicht unmöglich, aber noch lange nicht, daß es sehr häufig ist. Bis dahin bleibe ich im Innersten überzeugt, daß die ›wahren Gläubigen‹« – er blickte ostentativ auf den Präsidenten a. D. – Madeleine preßte ihr Tuch an die Lippen, sie fand »ihren« Grafen »göttlich« – »weiter nichts als leichtgläubige Ignoranten, interessierte Scheinheilige, unumwundene Schurken oder gefährliche Phantasten sind.«

Der Präsident erstickte fast. Er wollte reden, die erstorbene Stimme fand kein Leben.

Der Staatsanwalt aber sprach indigniert:

»Das ist denn doch das Stärkste, das ich in dieser Richtung gehört habe. Das kommt von dieser unbegreiflichen Toleranz der Regierung. Die Gottlosigkeit ist nicht nur froh, daß sie geduldet wird, sie geht zum Angriff über und, nach ihrer ganzen Veranlagung, zu einem allem Anstande hohnsprechenden. Sie haben es gehört, meine Damen und Herren. Wie nannte uns Gläubige Herr von Mirabeau? Ignoranten, Scheinheilige, Schurken.«

»Unglaublich«, ächzte die erstorbene Stimme, die endlich auferstanden war. »Ich aber sage,« der Staatsanwalt plädierte jetzt mit gewaltiger Stimme, als wolle er einen Gerichtssaal mit ihr erbeben machen, »ich aber sage: ohne Glauben keine Moral.«

»Sehr richtig!« Der Greis piekte bestätigend mit seinem gelblichen Zeigefinger gegen die Brust des Redners.

»Wir sehen es ja Tag für Tag. Woher kommt diese ewige Kritik an allen staatlichen Einrichtungen? Wohin ist es mit der Autorität der Regierung, der Achtung vor dem Königshause gekommen! Ich wiederhole: nur der Glaube gibt moralischen Halt. Und um starke Worte zu gebrauchen, wie der Herr Graf: Unglaube führt zum Verbrechen!«

»Sehr richtig!« zeterte die Mumie und wackelte mit dem Kopfe.

Mirabeau sah die Augen der Frauen, die eine Entgegnung forderten. Der Leutnant verstand wenig von dem, was vorging, der Kommandant war in religiösen Fragen gleichgültig, hatte aber seine Freude an jedem Disput.

»Sie meinen,« begann Mirabeau, gegen Michaud gewendet, »ein Mensch, der nicht an den Gott der Christen noch an die heiligen Mysterien noch an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, könne nur ein Verbrecher sein, weil er keinen Grund mehr hat, seine Begierden zu zügeln?«

Der Staatsanwalt nickte. »Allerdings.«

»Nun, ich bitte Sie alle zu entscheiden, wer dem Menschen mehr Ehre erweist und mehr sein Vertrauen und seine Achtung verdient: jener, der glaubt, daß Tugend und Anstand mit der Religion nichts zu tun haben, und daß sie doch, wenn es auch weder Himmel noch Hölle gibt, sehr notwendig und sehr geheiligt seien, oder jener, der denkt, daß die Religion und ihre Schrecken der einzige Zügel für menschliche Leidenschaften sind.«

»Der erste!« entschied Madeleine sofort. Sophie sagte nichts, doch ihre warmen Augen sprachen so lebhaft, daß Mirabeau schloß: »Freilich ist in den Augen der Frommen das größte aller Verbrechen die Lust der Liebe. Wenigstens tun sie öffentlich so. Für uns ist die Liebe mit allem Rausche das erste Glück. Für uns ist die Liebe das ausschließlichste und folglich das keuscheste aller Gefühle.«

»Bravo!« jubelte Madeleine beglückt. Sie wußte, daß »ihr« Graf das nur für sie gesprochen hatte.

Sophie sah sinnend zu Boden. Dann rang sie ihre Gefühle nieder und lächelte: »Lassen wir es nun, meine Herren. Jeder von Ihnen hat recht. Denn wir wissen in diesen Dingen ja nicht das Rechte. Und nun zu Ihrer Dichtung, Herr Graf.«

Man besprach dann das Theaterstück. Mirabeau fühlte aber aus jedem Worte, daß er die Frau dort drüben gewonnen hatte. –

Auf dem Heimwege zum Schlosse kollerten dem braven alten Saint-Mauris dicke Freudentränen über die glattrasierten Backen. »Sie sind ein Teufelskerl, Graf! Wie Sie es diesem Tapergreise und dem Staatsanwalt gegeben haben! Nun erzählen Sie mir zum Dank für diesen Tag Ihrer Freiheit eine Ihrer Anekdoten.«

»Wenn ich diesen Präsidenten sehe,« begann Mirabeau, »muß ich immer an Mazarin denken, den Neffen des großen Kardinals. Ich glaube, zwischen diesen widerwärtigen Herrschaften gibt es viele Berührungspunkte. Mazarin hatte das schönste Weib Europas. Er berührte es nicht – weil es ihm Sünde schien.«

»Hahaha,« lachte Saint-Mauris, »unser Freund hat gewichtigere Gründe.«

»Er war von einer wahrhaft mönchischen, ganz tollen und abgeschmackten Frömmigkeit. Er machte für hunderttausend Taler Stiftungen zugunsten von Nonnen, verweigerte seiner Frau aber jedes Hemd.«

»Haha – und hatte nichts davon, daß sie dann nackt war! Scharmant!«

»Er verteilte in den Dörfern Katechismen einer eigenen Fassung.«

»Das wäre des Herrn von Monnier sehr würdig, wenn er nur Geist genug hätte, sie abzufassen.«

»Er erließ Vorschriften über die Schicklichkeit, die ein Apothekergehilfe zu beachten habe, wenn er ein Klistier gibt, und verbot den Frauen, zu melken und das Spinnrad zu treten – wegen der ›erregenden‹ Stellung und Bewegung.«

»Eine Gesetzgebung, die Monnier zum Vater haben könnte!«

»Er verstümmelte alle die prachtvollen Stuten, die der Kardinal ihm hinterlassen hatte, weil er diese anstößige Nacktheit nicht ertragen konnte.«

»Unverfälschter Monnierstil!« jauchzte der alte Genießer.

»Eines Tages ging er zum König und ließ ihn wissen, daß der Erzengel Gabriel ihm erschienen war mit der Botschaft, Seine Majestät aufzufordern, die La Vallière fortzuschicken. – ›Er ist auch mir erschienen‹, antwortete Ludwig, ›und hat mir mitgeteilt, daß Sie verrückt geworden sind.‹«

Lachend erreichten sie die Feste Joux. –

Die Nacht hindurch arbeitete Mirabeau an der »Huldigung der Tugenden«. Er wollte sich einen Vorwand schaffen, Sophie Monnier am nächsten Tage wieder zu besuchen. Sein heißes Blut duldete keine langsame Entwicklung. Der Begriff »Geduld« stand nicht im Wörterbuch seines Gemütes.

Er las dem Kommandanten die Dichtung in hochtrabenden Alexandrinern vor. Der war begeistert. »Geben Sie her,« rief er, »ich bringe es noch heute unserer Patronin.« Er griff nach dem Manuskript. Doch Mirabeau zog es zurück.

»Dem Dichter gebührt der Lohn«, scherzte er.

»Sie haben recht«, nickte Saint-Mauris. »Holen Sie sich selbst den Dank der Dame. Ich habe es mir übrigens überlegt. Sie sollen das Stück doch einüben, müssen also täglich in Pontarlier sein. Unter diesen zwingenden Gründen, für das Wohl des Vaterlandes und des Königshauses« – er zwinkerte listig mit dem linken Auge – »halte ich mich für ermächtigt, Ihnen zu gestatten, sich in der Stadt ein Zimmer zu mieten.«

Da fiel der Graf dem Alten um den Hals und küßte ihn schallend auf die roten Bäckchen.

»Aber keine Tollheiten, wenn ich bitten darf! Sonst komme ich in Teufels Küche.«

»Ich – und Tollheiten!« beteuerte Mirabeau mit scheinheiligem Augenniederschlag.

Noch früher als gestern trollte er sich vom Schlosse, diesmal mit einem Dauerpassierscheine erhaben an der Torwache vorbeischlendernd. Dann sprang er mit Sturmesschritten den Berg hinab. Er hatte gestern gemerkt, daß Herr von Monnier Siesta hielt, als er gekommen war. Die Zeit wollte er ausnutzen. Als er an der Stelle der ersten Niederlage Madeleine Michauds vorüberkam, pfiff er einen leichtfertigen Triller. Neue, edlere Ziele grüßten.

Sophie empfing ihn überrascht errötend. Sie hatte seit gestern viel an diesen gewaltsamen starken Mann mit dem häßlichen bezwingenden Gesicht und dem bannenden Wesen gedacht. Sie ahnte das gekerkerte Leben in ihm, das seine Fesseln sprengen wollte. Die Gewißheit, daß sie ihn bald wiedersehen würde, hatte sie erregt und beunruhigt. Sie hatte ihn indessen erst in einigen Tagen erwartet. Jetzt stand er vor ihr, das fertige Manuskript in der Hand.

»Lesen Sie«, bat sie.

Er schüttelte das mächtige Haupt. »Das können wir später in Gegenwart Ihres Gatten. Benutzen wir die Zeit seines Schlummers zu Besserem.«

»Sie kennen schon gut die Gewohnheiten dieses Hauses, Graf«, lächelte sie.

»Die Liebe sieht scharf«, erwiderte er und sah ihr in die Augen.

Sie errötete wieder unter ihrer weißen zarten Haut. »Ich bitte Sie, reden Sie keinen Unsinn. Geben Sie mir etwas von Ihrer Weisheit.«

Da drang seine verführerische Stimme auf sie ein: »Sophie, alle meine Philosophie ist auf einen einzigen Satz zusammengeschrumpft: ich liebe Sie. Alles in mir ist Verwirrung außer dem Gefühl, das Sie mir einflößen.«

»Graf«, flüsterte sie abwehrend und empfand wieder seine unwiderstehliche Macht, der sie zu erliegen drohte.

»Ja – ich liebe Sie. Es braucht dazu keiner Zeit. In Sekunden entscheiden sich urewige Zusammenhänge.«

»Nein, nein«, raunte sie. »Schweigen Sie. Ich darf nichts hören.«

»Doch dürfen Sie. Wenn ich Sie liebe, müssen Sie mich hören. Die Liebe, die ich für Sie empfinde, ist ein Heiligtum. Sie allein sind der Altar, an dem ich sie niederlegen kann.«

»Schweigen Sie! Ich will nicht dadurch schuldig werden, daß ich Sie anhöre.«

»Liebe, Sophie, ist nur dann schuldig, wenn sie nicht grenzenlos ist. Nie kann ein großes Gefühl schlecht sein, nie ist eine Frau keuscher, als wenn sie wahrhaft liebt. Entscheiden Sie, die nach Liebe und Leben dürstet, ob die Scham darin besteht, dem Geliebten alles, auch die stammelnden Worte, zu verweigern, und die Mäßigkeit darin, Hungers zu sterben. Meine süße Freundin, Tugend gleicht so wenig dem, was man gewöhnlich Tugend nennt, wie dem Laster. Glauben Sie mir, wahre Tugend hängt nicht im geringsten von menschlichen Launen, fanatischen Einbildungen, Konstruktionen der Moralisten und Dogmatiker ab, noch von Anschauungen einer Zeit, einer Gegend, eines Geschlechtes. Sie besteht in einem reinen, empfänglichen, aufrichtigen Herzen und dem Gebrauche aller seiner Fähigkeiten.«

Er schwieg.

Sie bewegte gepeinigt die Glieder. »Sie haben gewiß recht. Aber – –«

Sie blickte ihn gequält an. Ihr Gesicht war bleich und verstört.

»Lieben Sie mich nicht?« fragte er geradeheraus.

»Ich weiß es nicht.«

»Sie lieben mich«, jubelte er. »Nicht wissen in solcher Lage bedeutet, alles wissen.«

Er fiel vor ihr nieder. »Sophie, Sie lieben mich. Ich habe es gewußt. Vom ersten Augenblicke an. Wir waren von Anbeginn für einander erschaffen. In Leid hat uns beide das Schicksal gefoltert, daß wir reif für einander wurden, daß wir das Glück unseres Begegnens zehntausendfach tiefer empfänden.«

Er küßte in ehrlicher Ergriffenheit ihre Knie.

Sie drängte ihn bestürzt von sich.

»Nicht – nicht!! Wie kann ich einem Manne wie Ihnen gefallen! Ich bin geistlos, unwissend, schwach, einfach. Sie werden es bald erkennen, wenn Sie aus dem Rausch erwachen. Ersparen Sie mir dieses neue Herzeleid.«

Vor ihr kniend, sprach er zu ihr empor: »Nein, nein. Nichts ist so liebenswert wie dieses Gewand der Hingabe und der Wahrheit, das Sie tragen. Es verleiht Ihnen diesen hohen Reiz, es macht Sie rührend. Ihre Schlichtheit verdunkelt die falschen Brillanten, die Schöngeister entzücken. Sie können diesen falschen Schmuck, der nur über die Dürre der Seele und die Verdorbenheit des Geschmacks hinwegtäuschen soll, wahrhaftig entbehren. Sie haben vor allem das, was Spannkraft des Gefühls heißt, und einen Takt, der mich entzückt. Ihre wundervolle Natürlichkeit, Lebhaftigkeit, ihre reizende Bescheidenheit, die Hingabefähigkeit, die ich in Ihnen zittern fühle, werden mich ewig fesseln.«

Er suchte ihre Knie zu umspannen. Sie erhob sich.

»Graf,« flehte sie, »schonen Sie mich. Lassen Sie mir Zeit. Setzen Sie sich dorthin. Plaudern wir, wie zwei gute Freunde.« Er stand gefügig auf und setzte sich. Auch sie nahm wieder Platz.

»Ich gehorche«, lächelte er, »und stimme La Bruyère zu, der sagt: ›Mit dem Menschen zusammen sein, den man liebt, das genügt. Träumen, man spräche mit ihm, nicht mit ihm sprechen. An ihn denken, an gleichgültige Dinge denken, aber in seiner Nähe, alles ist gleich.‹«

»Das ist sehr schön«, sagte sie leise. »Und nun geben Sie mir etwas von Ihrem reichen Wissen. Ich verdurste nach Weisheit!«

»Sie sind wundersam herrlich«, nickte er. »Und wie sind Sie schön!«

»Nicht doch«, sie schüttelte matt den Kopf.

»Sie haben die schönsten Augen der Welt. Ihre Stirn ist die vollkommenste, die Klugheit prägen kann, Ihre Haut schimmert wie Samt und Lilien.«

»Schweigen Sie – Sie Dichter!«

»Diese Dichtung ist Wahrheit.«

»Sprechen wir von Ihnen.«

»Von mir? Was ist da zu sagen! Ich bin ein gefangener Adler. Aber ich fühle, die Stunde naht, wo die Macht des Talentes größer und weniger gefährlich wird. Wo man nicht mehr vor den Zuckungen des Despotismus zu erbeben braucht. Wo man den Menschen allein nach dem schätzt, was er in dem kleinen Raum unter der Stirn, zwischen den Augen, trägt.« Er schlug sich gegen den markigen Schädel. »Ich fühle es, das alte Regime wird stürzen. Vorzeichen künden. Geliebte Frau, dann will ich dabeisein. Ich will! Ich will! Dann wird es gelten, an Stelle dessen, was die Revolution einreißen wird, einen neuen Bau zu errichten. Dann will ich der Baumeister sein!«

Sie sah auf zu dem Manne, der emporgesprungen war und in flammender prophetischer Ahnung sprach.

In diesem Augenblicke wußte sie, daß sie ihn liebte. Und mit der hellseherischen Kraft der Liebe weissagte sie: »Dann werden Sie dabeisein!« Begeistert von seinen Visionen, sprach er fort: »Der Engländer Burke sagt, Frankreich sei für den Politiker nur noch eine große Leere. Ha, er hat damit eine Riesendummheit gesagt. Nie fanden Politiker ein üppigeres Feld! Die ›Leere‹ ist ein Vulkan, dessen unterirdisches Grollen dem vorsichtigen Staatsmanne den drohenden Ausbruch künden sollte. Wäre ich doch heute Staatsmann! Diese Sehnsucht verbrennt mir das Herz. Wie großartig war darin das Altertum! In Athen durfte jeder Bürger, der etwas dem allgemeinen Wohle Nützliches zu künden hatte, die Tribüne besteigen und zum Volke sprechen. Nichts Erhabeneres gibt es. Könnte ich heute sprechen oder morgen, wenn der Vulkan ausbricht! Aber ich, ich bin zur Stummheit verdammt!«

»Sie sind der geborene Redner!« rief Sophie voller Bewunderung. »Ihr Feuer, Ihr Pathos!«

Er lachte bitter auf. »Ich bin für das Pathos geboren, wie der Windhund zum Laufen. Ach, was bin ich alles!! Ein Athlet der Liebe! Der Dämon des Unmöglichen. Der Herkules der kommenden Revolution möchte ich werden und den Augiasstall des alten Regimes der Willkür ausfegen, daß die Wolken stieben.«

Da stand sie auf, trat zu ihm und reichte ihm die Hand.

»Ich habe mir immer gewünscht,« sagte sie schlicht, »einmal einen großen Mann zu sehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir diesen Wunsch erfüllt haben.«

Er nahm ihre Hand und preßte seine Lippen auf die zartgeäderte Haut. Sie ließ sie ihm. Da zog er sie an seine Brust. Erst die nahenden Schritte des Marquis rissen sie von seinem Munde.

Mirabeau faßte sich sofort. Er sprach liebenswürdig auf Monnier ein, um Sophie Zeit zu schaffen, sich zu sammeln. Er entschuldigte seine Heftigkeit vom Tage zuvor, machte allerhand Redensarten und gewann, wie immer, wenn er es darauf anlegte, den Präsidenten im Handumdrehen für sich.

»Er ist ja ein reizender Mensch,« gestand die Mumie ganz verblüfft seiner Frau, die eifrig über das Manuskript gebeugt saß, »das habe ich ja gar nicht gewußt. Und schon fertig mit der Dichtung! Das geht bei Ihnen aber fix. Lassen Sie hören.«

An diesem Tage bot sich keine Gelegenheit zu weiterer Vertraulichkeit. Bei den Proben, den Festlichkeiten mied sie ihn scheu, ließ sich von keiner seiner gewagten Zudringlichkeiten überraschen. Gleich nach der Feier reiste sie ohne Abschied zu den Eltern nach Dijon. Dort blieb sie bis in den späten Herbst.

Mirabeau tobte, wütete. Hatte er sich so in dem Charakter dieser Frau getäuscht oder in den Mitteln, sie zu gewinnen? Sie hatte doch an seiner Brust gelegen, ganz Hingabe, ganz Raub der Sinne. Sie liebte ihn doch! Er hatte es bis ins Mark empfunden. Und nun diese Kälte, dieses Meiden, diese Flucht! Sie war feig und kleiner als ihre Liebe. Er wütete. Doch er war nicht der Mann, einer aussichtslosen Liebesaffäre elegisch nachzutrauern. Er hatte für alle Fälle noch Madeleine Michaud im Hintertreffen.

Sie schmollte zuerst ein wenig, denn ihr war sein Werben um Sophie Monnier nicht entgangen. Auch hatte sie ihren Stolz. Doch Stolz sättigt nicht den Hunger des Körpers. Und die erfreulichen Männer wuchsen nicht wild in Pontarlier. So ließ sie sich denn sehr bald erweichen, zumal es jetzt nicht an Bequemlichkeit gebrach. Ein solides junges Mädchen aus den besten Kreisen der Stadt verkehrt mit einem jungen Manne lieber in der Geborgenheit der vier Wände eines behaglichen Zimmers als in der Gefährdung sommergrüner Wiesen. (Auch ist es für die Gewandung ersprießlicher.)

So schlich Madeleine denn bald täglich in das kleine Haus, das der Athlet der Liebe sich zur Wohnung erkoren hatte. –

Im Oktober traf der Graf Sophie Monnier unversehens auf der Straße. Sie war am Tage zuvor aus Dijon zurückgekehrt. Er wollte in gekränktem Trotze mit flüchtigem Gruße an ihr vorübereilen. Sie hielt ihn an.

»Guten Tag, Graf Mirabeau«, grüßte sie mit bleichem Lächeln. Sie war schmal und abgezehrt. »Kennen Sie mich nicht mehr?!«

»Ich bin kein Spielzeug«, entgegnete er abweisend.

»Ich habe mit Ihnen nicht gespielt,« rief sie, und das Blut schoß ihr in die Wangen, »ich habe mit mir und mit Ihnen gekämpft. Ich wollte meinen Pflichten treu bleiben. Wollte vor meiner Liebe fliehen. Man flieht sich nicht.«

Ihr sanftes feines Gesicht flammte auf in diesem Bekenntnis, mit dem sie diese langen Monate hindurch bis zur Erschöpfung gerungen hatte.

Er faßte ihre Hand. »Sophie!«

Sie entzog sie ihm hastig. »Vorsicht!« mahnte sie.

»Ich muß Sie sprechen. Darf ich Sie besuchen?« drängte er.

»Nein! Nicht zu mir! Mein Mann ist zu argwöhnisch. Nicht bei mir.«

»Komm zu mir!« Er nannte seine Wohnung. Sie schwankte. Zauderte. »Komm,« er riß sie wieder in die Kraft seines Willens, »wir müssen uns aussprechen.«

Sie nickte in schmerzlicher Ergebung. »Morgen – aber – ich flehe Sie an – achten Sie meine Schwäche, die sich Ihrer Ritterlichkeit anvertraut.«

»Aber natürlich!« beteuerte er zwischen Ernst und Leichtsinn.

Sie kam. Von Kämpfen, Gewissensmartern und dem Begehren des in ihr erwachten Weibes zermürbt. Er spielte den Kavalier. Sie sprachen gezwungen von ihrer Reise, der Langenweile Dijons, von Büchern, die sie gelesen hatte. Von Du Young.

»Er hat sublime Sachen gemacht,« lobte er, »daneben viel Bizarres, einiges Verrückte. Seine Bücher gehen zu Herzen, wenn man unglücklich ist, denn niemals ist man empfänglicher.«

,,Ich war sehr unglücklich«, klagte sie leise. »Und bisweilen erschien mir alles matt, was ich las.«

»Wenn man liebt,« bestätigte er, »erscheinen einem die größten Schriftsteller nicht mehr als Meister, wenn von der Liebe die Rede ist. Denn dann weiß man um das Geheimnis Gottes.«

Sie nickte weh vor sich hin.

Da machte er der Komödie ein Ende und fiel vor ihr nieder, bestürmte sie mit seinen Worten und seinen Händen. Sie verteidigte sich, flehte.

»Denken Sie an Ihren Abscheu vor der Tat Ihrer Gattin. Soll ich ebenso werden!«

»Bei dir liegt es anders«, trotzte er. »Ganz anders. Sie betrog mich mit dem Manne, der meine Freundschaft besaß. Sie hatte mich aus Liebe geheiratet und mich fünf Nebenbuhlern vorgezogen. Ich habe ihre Wünsche erraten, bevor sie ausgesprochen wurden, habe ihr jede Laune erfüllt, mich für sie ruiniert. Mein Alter und mein Benehmen lieferten ihr keine Entschuldigung. Mit einer nichtswürdigen Entartung der Seele und des Geistes hat sie sich ihren Verirrungen hingegeben.«

»Und ich?« fragte sie mit großen angstvollen Augen, in denen das Unterliegen schon flackerte.

»Du? – Du bist von deiner Familie ausgeliefert, nicht verheiratet worden. Das ist der unermeßliche Unterschied. Die Ehe ist zweifellos ein heiliger Vertrag, die Grundlage der Gesellschaft. Doch bist du verheiratet? Mit einem Manne, der dein Großvater sein könnte? Mit dem du nichts gemein hast als das Wappen, die Livree und den Namen?! Zur Ehe gehört ein Mann. Ist diese abergläubische, mönchische, vertrocknete und regungslose Seele ein Mann? Bist du nach zweijähriger Ehe nicht noch Mädchen? Darf er bei dir die Rolle des niedrigen Eunuchen und zugleich des gebietenden Sultans spielen? Nein, nein, nein!« Er umfaßte sie leidenschaftlicher. Sie sog die sophistischen Worte ihres Rechts oder Unrechts – wer will da richten?! – trunken von seinem Munde.

Er schlang die Arme um ihren Nacken. »Heut nacht träumte ich von dir in der Freude deines Kommens. Ich küßte deine Lider. Ich trennte deinen Mund in zwei Rosen, und, immer tiefer in ihn eindringend, fand ich den Weg zu deinen stillsten Geheimnissen. Unsere Herzen riefen einander, antworteten sich, unser Atem war in eins verschmolzen, und unsere Stimmen, die nicht mehr waren, erstarben in Seufzern. Ich war entzückt, und deine Seele folgte der meinen. Laß den Traum Wahrheit werden! Nimm dir endlich deine unveräußerlichen Frauenrechte –! Werde Weib – werde mein Weib!!«

Ihr Gesicht sank auf seine Arme – der Hals – der weiße Busen gab sich seinen sengenden Küssen preis – seine Hand wagte, sich zu verirren – sie wehrte sich kraftlos – ihre Augen schlossen sich – sie erbebte, ein Schauer der Angst, des Verlangens, der Seligkeit rieselte über sie hin, der Boden versank unter ihren Füßen – sie lächelte verzückt – fühlte sich emporgehoben von seinen starken Armen – sie lag auf dem Bett – lallte: »Du mein Höchstes – du mein alles!« Dann schlug der Taumel der Weibwerdung über ihr zusammen. – – –

Sie war sehr sanft, kühl und äußerlich sehr ruhig. Doch es ist eine alte Erfahrung, daß die Leidenschaften stiller Wesen, wenn sie einmal entflammt sind, unendlich feuriger sind als die Gluten leicht entzündlicher Frauen und unbezähmbarer. Der Mann ihrer Liebe war ihr Glück, Ruf, Familie – das Leben geworden. Sie kannte nichts mehr als ihn. Sie lebte nur ihrer Leidenschaft, vergaß Klugheit und Vorsicht. Kam zu allen Stunden in das kleine Haus an der Stadtgrenze, trotz der besorgten Warnungen des Geliebten.

Bald hätte die ganze Stadt ihr Geheimnis gekannt. auch wenn Madeleine Michaud, argwöhnisch ob der steten Abweisung, ihr nicht eifersüchtig aufgelauert und ihre »Schande« nicht in allen Honoratiorenhäusern Pontarliers herumgetragen hätte.

Als der brave Kommandant der Feste Joux den Skandal erfuhr, packte ihn Grimm und Furcht. Grimm über den glücklicheren Nebenbuhler, Furcht vor den Folgen dieses Glückes. Er haftete der Regierung für die Aufführung seines Gefangenen. Wie leicht konnte dieser Exzeß, wenn der betrogene Gatte sein Hahnreitum entdeckte, zu lauten Verwicklungen führen!

Erbost erließ er an den Grafen den Befehl, sofort in die Feste zurückzukehren. Mirabeau las das Schreiben, runzelte überlegend die Stirn, griff zum Kiele und erwiderte:

»Mein lieber Marquis! Der entflogene Vogel kehrt niemals in den Käfig zurück. Er fliegt ins Weite. Leben Sie wohl.

Ihr Graf Mirabeau.«

Den Brief sandte er durch einen Boten auf das Schloß. Dann sann er in Eile. Zur Flucht brauchte er Geld. Sein Beutel war leer, wie immer. Der Vater hielt ihn knapp. Der Wechsel reichte kaum für das Notwendigste. Sophie mußte helfen. Er rannte zu ihr. Ließ sie durch die Zofe, die Vertraute und Botengängerin ihrer Liebe, in den Flur herausbitten.

Sophie erschrak. Fliehen! Von ihr? Ihre Kraft zerbrach. Hier im Flur konnte er nicht bleiben. Der Marquis, der auf ihre Rückkehr zum Whist wartete, konnte jeden Augenblick ungeduldig herauskommen. Wohin mit ihm? In der Stadt war er nicht sicher. Der Kommandant fahndete bereits nach ihm. Heute bekam er kein Pferd mehr. Es war stockfinstere Nacht. Morgen – ja. Herrgott, wohin mit ihm? Boden und Keller waren eiskalt, jetzt im Dezember, in diesem eisigen Klima. Eine Erleuchtung. »Hélène, in dein Zimmer! Verbirg den Herrn Grafen in deiner Kammer. Rasch. Nachher sehen wir weiter.« Die Zofe führte den jähen Gast in ihr Zimmer. Er blickte sich um, sah das Mädchen an. Sie war ein blitzsauberes Kind der Freigrafschaft. Aus ihrer Hilfeleistung entsprang eine gewisse Vertraulichkeit zwischen ihr und ihm.

»Heute nacht werde ich wohl da schlafen müssen«; er deutete vergnügt schäkernd auf ihr Mädchenbett.

»Wenn die Frau Marquise es befiehlt, trete ich es Ihnen gern ab, Herr Graf.«

»Und du, mein Kind?« Er bohrte die Hände in die Hosentaschen, stand breitbeinig vor ihr und wippte unternehmend auf den Ballen.

»Ich finde schon eine Unterkunft, Herr Graf.«

Endlich erhaschte Sophie eine Gelegenheit, zu ihrem Geliebten zu schlüpfen.

»Mein armer Gabriel,« barmte sie, »in einer Dienstbotenkammer! Heut nacht mußt du hier hausen. Hélène wird in der Küche schlafen. Bei den andern Mägden wäre wohl Platz, aber dann stellen sie Fragen. Wir dürfen sie nicht einweihen. Du erhältst gleich dein Essen. Ich muß wieder zu ihm.«

Sie küßte ihn voll Glut und irrte hinaus.

Nach dem Essen kam die Zofe und richtete das Bett.

»Du schläfst in der Küche?« fragte er teilnehmend.

,Ja, Herr Graf, auf einem Stuhle. Die Frau Marquise gibt mir dafür einen Louisdor.«

»Hm. Ein Stuhl! Kein weiches Lager für einen zarten kleinen – –« Er tätschelte sie auf den gefährdeten Körperteil. »Wie wär's, wir teilen? Nicht den Louisdor, aber das Bett?«

»Herr Graf!!«

»Man schläft nicht gut auf Stühlen. Ich kenne das von meiner Soldatenzeit in Korsika. Lieg bei mir, da ist's weicher und wärmer. Überraschung ist ausgeschlossen. Der Marquis schläft schlecht. Das kommt so vor bei ausgebrannten Greisen. Die Marquise kann nicht wagen, das Schlafzimmer zu verlassen.« »Aber. Herr Graf!«

»Ich lass' also die Tür offen, bis du hier bist.« –

Während Sophie die Nacht in Sorgen und Bangen durchwachte, fand ihr Geliebter wenig Ruhe unter ihrem Dache. Die Zofe war jung und rassig, der Athlet der Liebe unersättlich. –

Am Morgen krachte die Katastrophe herein.

Der Kommandant Saint-Mauris war gegen die Wand getaumelt, als er Mirabeaus unverschämten Absagebrief erhielt. Dieser Mensch! Dieser undankbare Mensch! So seine Güte zu lohnen! Wenn der Gefangene entfloh, erfuhr man an vorgesetzter Stelle von seinem Einbruch in die Eherechte des ersten Mannes der Stadt. Das bedeutete Skandal, das bedeutete Zorn in den Höhen, Verjagung aus der Sinekure der Kommandantur der Feste Joux! Dieser Mensch! Dieser undankbare, sittenlose Teufel!

Der Marquis verwünschte alle Anekdoten, die ihn je für diesen Freibeuter der Ehre eingenommen hatten, und schickte eine Patrouille aus, ihn in seiner Wohnung auszuheben. Doch der Vogel war ausgeflogen. Er ließ die Stadt, die Umgegend absuchen. Vergeblich. Denn in das Bett der Zofe Hélène drangen die Soldaten nicht ein.

In der Frühe des nächsten Tages eilte der Kommandant zum Marquis von Monnier, mit diesem würdigen entwürdigten Greise die Sachlage zu beraten. Die Mumie saß mit der bleichen sorgenvollen Gattin beim Frühstück. Alte Herren sind Frühaufsteher.

Saint-Mauris bat um eine Unterredung unter vier Augen. Böser Ahnungen voll, zog Sophie sich zurück, schlich zur Kammer der Zofe. Das Herz hing ihr fühlbar lastend in der Brust. Was sollte nun werden?! Wie sollte sie die Trennung von dem Geliebten tragen? Undenkbar – lieber den Tod! Sie öffnete die Tür der Zofenkammer. Mirabeau lag behaglich ausgestreckt auf dem Rücken und schnarchte. Er hatte nachzuholen. Fürsorglich schloß die Frau wieder die Tür, den Schlummer des Liebsten nicht zu scheuchen. Dann verließ der Kommandant das Haus. Monnier rief seine Gattin ins Zimmer. Er schlotterte, sein sonst gelblich vergangenes Gesicht war kalkig. Er schrie ihr seine Schmach ins Gesicht. Er stelzte auf sie zu, wollte die Hand gegen sie erheben. Sie sah ihn mit so leidvoller Verachtung an, daß die geballte Greisenfaust marklos herabtorkelte.

Doch er handelte. »Noch heute bringe ich dich zu deinen Eltern nach Dijon«, verfügte er in haßböser Energie. »Wer weiß, wo dieser saubere Patron sich versteckt hält.«

Er schloß sie, ehe sie ahnte, was er plante, in ihr Zimmer ein. Sie konnte dem Geliebten die überstürzenden Geschehnisse nur durch Briefe mitteilen, die sie unter dem Türspalt der Zofe zuschob. Er schrieb zurück: »Gehorche ihm. In einigen Tagen folge ich Dir nach Dijon. Dir sofort zu folgen, wäre gefährlich. Ich bleibe bis zu meiner Flucht in dieser Kammer.«

Hélène stand neben ihm. Er sprach ihr die Worte beim Schreiben vor. Sie küßte ihm zum Dank den Scheitel. »Bleiben Sie meinetwegen?« fragte sie schelmisch.

»Ja, mein Schatz. Ich glaube, wir haben uns noch einiges zu sagen.«

Noch am Vormittage preschte die Postchaise mit Sophie und dem Marquis aus Pontarlier hinaus. Die Fahrt war ein blutiges Martyrium für die junge Frau. Hinter ihr blieb der Geliebte und die nagende Angst um ihn; vor ihr lag das Haus der strengen Eltern, ihre Vorwürfe, die Verachtung des moralischen Bruders, der scheinheiligen Schwester, ein Grauen. Sie wäre aus dem Wagen gesprungen, hätte sich in den ersten Bach am Wege gestürzt, wenn die Hoffnung auf eine glückliche Wiedervereinigung mit Mirabeau nicht trotz allem und allem als Wunderlampe des Glaubens in ihrer Brust gebrannt hätte. –

Nach drei langweilig verschlafen verlebten Tagen und vier kurzweilig verliebten Nächten folgte Mirabeau. Hélène hatte ihm ein Pferd verschafft, Sophie ihm Geld hinterlassen. Vor Tagesanbruch ritt er aus der Stadt, gewann die Landstraße und die Freiheit. Hélène warf sich schluchzend auf das noch warme zerwühlte Lager.

Er kam gegen Abend unangefochten nach Dijon, erkundete vorsichtig die Lage, erfuhr, daß die Familie des Rechnungskammerpräsidenten Ruffei heute zum Balle bei dem Generalprofoß von Burgund, Herrn von Moutherot, geladen war. Da ritt ihn der Satan. Da trieb ihn das wilde Blut der Mirabeaus zur vernichtenden Tollkühnheit. Er wollte Sophie sofort sehen, und wenn es Freiheit und Glück kostete. Er glaubte an seinen guten Stern. Doch auch gute Sterne trügen. Er ging in das Palais des Generalprofossen, ließ sich bei dem Hausherrn als »Marquis von Lancefoudras« melden mit dem Hinweis, daß er wichtige Empfehlungen überbringe. Herr von Moutherot lud den Fremdling zum Balle. Ehe er noch Sophie sprechen konnte, die als fahle Gefangene von den Eltern zu dem Feste geschleppt worden war – sie fürchteten, Mirabeau könne in ihrer Abwesenheit ins Haus brechen –, wurde er von der Mumie erspäht und erkannt.

Sophie vernahm plötzlich einen Tumult, traute ihren Augen nicht, konnte diese unsinnige Dreistigkeit nicht fassen, sah, wie Häscher ihren Liebsten unter heftiger Gegenwehr abführten.

Er wurde im Château von Dijon festgesetzt, entsprang aber bald und floh in die Schweiz. Aus dem Geflüster der Angehörigen erfuhr Sophie seinen wilden Weg. Hörte, daß er in Verrières, dem Grenzort auf kantonalem Boden, weilte. Schrieb ihm verzweifelte Briefe:

»Ich bin von Spionen umgeben. Man droht mir mit der Salpêtrière, Das Dirnenarbeitshaus von Paris. mit dem Kloster. Rette mich! Ich kann diesen Zustand des Leidens nicht länger ertragen. Es ist zu schrecklich, seinen Gemahl in der Ferne und unglücklich zu wissen. Vereinigen wir uns, oder laß mich sterben. Hier werde ich das kommende Jahr nicht erleben. Ich kann und will es nicht. Von Dir getrennt leben, heißt, täglich tausendmal sterben. Meine Losung lautet: Gabriel, oder der Tod!«

Er antwortete ausweichend. Er hatte in Verrières seine Schwester Louise von Cabris mit ihrem Geliebten, dem Hilfsunterarzt der Royal-Roussillon Briançon, getroffen, zufällig eines Tages, mit Verwunderung und Hallo. Louise war aus Grasse ihrem Trottel und den immer drohenderen Stimmen der allgemeinen Empörung entlaufen.

Sie verbummelten gemeinsame Tage des Übermutes. Jetzt erfuhr Mirabeau auch das Urteil, das in der Sache Villeneuve gegen ihn ergangen war. Er war in absentia zur Zahlung von 6000 Livres, zu demütigenden Abbitten sowie zur Strafe des »Verweises«, einer entehrenden Sühne, die der Landesverweisung wenig nachstand, verurteilt worden.

Als guten Witz erzählte es Louise, als guten Witz vernahm es der Bruder. Er war weit vom Schusse. Er war in Sicherheit. Der Gerichtsspruch war ein machtloser Fetzen Papier.

Er berichtete von seiner letzten Eulenspiegelei in Dijon, erzählte von Sophie, wies ihre Briefe.

»Laß sie nicht kommen!« riet Louise. »Die Frau wirst du nie wieder los. Sie wird sich wie eine Klette an dich hängen.«

»Ja – ja,« bedachte er beklommen, »es wäre die größte Torheit, sie zu entführen. Ich sehe es ein. Aber unglücklicherweise habe ich mich mit ihr in eine Lage gebracht, in der man nur noch Fehler begehen kann.« »Liebst du sie so, daß du ohne sie nicht leben kannst?« fragte Louise bündig.

Mirabeau und Briançon grinsten. »Lacht nicht so hämisch,« schalt Louise, »als ob meine Frage Männern gegenüber eine Narretei wäre. Du könntest doch ohne mich nicht leben? Oder doch?« Die Frage galt dem Unterarzt der Royal-Roussillon. Briançon beeilte sich mit der Versicherung, daß er ohne »seine Louise« nicht leben könne. Er sprach die Wahrheit. Ohne sie wäre er verhungert. Mirabeau aber gestand, daß er die Möglichkeit, fern von Sophie ein recht vergnügliches Leben zu führen, nicht leugnen wolle.

»So antworte ihr nicht. Wozu dir diese Lebenslast aufbürden! Sie wird dann ihr Schicksal erkennen und sich ins Unvermeidliche fügen.«

Doch Sophie war nicht die Natur, sich ohne Kampf zu ergeben. So zart und feinfühlig sie war, so hartnäckig und kühn rang sie, wenn ihr Herz sich einmal entschieden hatte. Das Schweigen des Geliebten machte sie nicht irre. Die Briefe wurden eben abgefangen. Sie plante Flucht. Sie mißlang. Man bewachte sie schärfer. Sie durfte nur in Begleitung das Haus Ruffei verlassen.

Eines Tages kam sie mit der Schwester am Gasthof »Zu den königlichen Lilien« vorüber. Die Postkutsche fuhr gerade vor. Eine Dame entstieg ihr. Instinktgetrieben sahen die beiden Frauen sich an. Sophie erbebte. Dieses Gesicht? Wo hatte sie dieses Gesicht schon einmal gesehen?! Sie blieb zum Staunen der Schwester stehen und starrte der Dame unerzogen ins Antlitz.

Die Fremde stutzte und fragte den Wirt, der in das Tor trat, sie zu begrüßen, nach der neugierigen Dame in dem schwarzen Gewande.

»Das ist die Marquise von Monnier, Euer Gnaden, die Tochter des Kammerpräsidenten von Ruffei.«

Da zuckte die Reisende zusammen und blickte lange der hohen Gestalt der langsam weiterschreitenden Frau nach. Das war sie also – das!

Auch Sophie wußte jetzt, wer die Fremde war. Mit roten Erregungsflecken auf den fahlen Wangen schritt sie an der Seite ihrer Wache. Sie wußte jetzt, wo sie dieses Gesicht gesehen hatte. Eines Tages, als sie in Mirabeaus Lade eine Aufzeichnung suchte, war ihr ein Pastellbild in die Hände geraten.

»Wer ist das?« fragte sie und hielt ihm das Porträt entgegen.

»Meine Frau.«

Sie betrachtete es lange.

Sie wußte jetzt, wer die reisende Dame war. – –

Es war Emilie. Zwei Tage zuvor hatte sie Paris und das Haus des Menschenfreundes verlassen.

Man war nicht wieder nach Bignon zurückgekehrt. Der Marquis hatte ein neues Palais gekauft, das geräumige Hotel der Königin Marguerite, in der Rue de Seine, gegenüber der Rue Mazarine. Das Einrichten und Einwohnen hatte die Rückkehr nach Bignon während des Sommers 1775 vertagt.

Sie hatte Paris genossen. Wenn es ihrem Ehrgeiz auch nicht gelang, in Versailles bei Hofe vorgestellt zu werden, so hatte sie doch in den ersten Häusern der Stadt getanzt, gesungen und Triumphe gefeiert. Auch ihr Herz und ihre Sinne hatten nicht gedarbt.

Doch das neue Palais in der Rue de Seine beherbergte drei Frauen: die schwarze Katze, Bonnette und Emilie. Die Eleganteste, Schickste, Umworbenste war Emilie. Das Ende konnte kein gutes sein. Karoline du Saillant blieb zwar stets gleich lieb und zutraulich. Sie hatte inzwischen wieder geboren. Aber die schwarze Katze fauchte, fauchte immer neidischer dem Menschenfreunde in die verliebten Ohren. Er begann, der Schwiegertochter anzudeuten, daß auch Besuche das allgemeine Erdenlos der Vergänglichkeit teilen. Sie tat harthörig. Paris gefiel ihr. Der Musketier Gassaud stand jetzt dort in Garnison. Doch dauernd Taubheit simulieren, entnervt. Sie fand notgedrungen ihr Gehör wieder und reiste schweren Herzens mitten im Winter zu ihrem Vater nach Aix. Der Weg führte über Dijon. Langsam schritt sie hinter dem führenden Wirt die Stufen des Gasthauses »Zu den königlichen Lilien« hinan. Im Hause des Menschenfreundes wurde man über Gabriels Abenteuer bestens unterrichtet. Sie wußte von seiner Liebe und Flucht. Sie kannte Sophie von Monniers Beziehungen zu ihrem Manne. Sie blickte noch einmal der langsam davonschreitenden hohen Gestalt dieser Frau nach, deren Schultern wie Flügel eines todwunden Vogels hingen. Dann warf sie den schwarzen Kopf zurück und trat resolut ins Haus.

Der Mann war für sie und in ihr tot. Aix und der Liebeshof in Tourves harrten ihrer. Es war nicht Paris. Gewiß nicht. Doch nach dieser Pariser Schule würde es ihr leicht fallen, die Königin von Schloß Tourves zu entthronen und selbst die Krone des Liebeshofes zu usurpieren. Nicht zurückblicken! Enttäuschungen zogen Runzeln in das hübsche glatte Fell. Vorwärts geschaut! Die Aufgabe rief: die erste Frau der Provence zu werden! – –

Bald darauf brachte man Sophie nach Pontarlier zurück. Die Schwester und der Bruder geleiteten sie, den Ersten Rechnungskammerpräsidenten a. D. bei der Überwachung zu unterstützen. Sie verzweifelte nicht, harrte auf eine neue Gelegenheit zur Flucht.

Zu dem Kleeblatt in der Schweiz stieß eine Base, das dreiundzwanzigjährige Fräulein de la Tour-Beaulieu. Sie war verlobt. Vielleicht bewog nur dieser eheschwangere Zustand sie, sich vom gefälligen Vetter Gabriel in den kommenden Pflichten unterweisen zu lassen. Man lebte in Saus und Braus. Die reiche Marquise von Cabris bestritt die Kosten.

Eines Tages vereinigte die Abendandacht die Hausgenossen der Villa Monnier zu Pontarlier. Sophie fehlte. Man suchte, durchstöberte jeden Winkel. Ahnungen gischteten auf. Bleiche Gesichter starrten sich an. Die Mumie stürzte mit wankenden Füßen zum Wichtigsten, zur Kassette. Brach über ihr mit gellendem Schrei zusammen. 10000 Livres in Gold und der gesamte Familienschmuck fehlten.

Abgehärmt, zerzaust von der Flucht, abgerissen, trat eines Mittags Sophie in den munteren Kreis zu Verrières.

Es waren nicht allzu zärtliche Gefühle, mit denen Mirabeau, in Staunen versteint, zu ihr aufblickte. Er führte sie in sein Zimmer. Sie fiel beseligt an seine Brust, netzte ihn mit den Freudentränen der Erlösung. Da erwachte in ihm die alte Zärtlichkeit. Ihre Gegenwart siegte und besiegte ihn. Er riß sie an sich. Doch die Sorge erhob ihr graues Haupt; er wußte, daß dieser Augenblick eine unerträgliche Last an die Unsicherheit seines Lebens kettete. Wovon sollten sie leben? Louise würde, ergrimmt ob seines Wankelmutes, ihre Kasse sperren. Was dann?

Da schüttete Sophie den Inhalt ihrer Reisetasche in seinen Schoß, das Geld, die Edelsteine.

Er starrte entgeistert.

»Ich durfte es tun,« verteidigte sie ihren Raub, »er behält mehr in meiner Mitgift.«

Da schwanden seinem Leichtsinn die Bedenken. Für die nächste Zukunft war gesorgt. Alles Weitere würde sich finden. Er war nicht gesonnen, auf Monate vorzubauen.

»Wir müssen sofort fliehen«, stieß er hervor. Er schämte sich vor Louise, vor Briançon, denen er oft großartig versichert hatte, die Episode Sophie Monnier sei erledigt. Er fürchtete den Zorn der hübschen Base ob der jähen Unterbrechung des eifrig gepflegten Eheunterrichtes.

Er schrieb einen Abschiedsbrief an das stürmische Trio und floh noch in derselben Nacht nach Holland mit Sophie – und dem klingenden Inhalte ihrer Reisetasche.–


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