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VI.

»M. de Rougemont au Ministre Amelot.
Vincennes, ce 13 décembre 1780.
Monseigneur,

J'ai l'honneur de vous rendre compte, qu'en exécution de l'ordre du Roy en date de ce jour, qui vient de m'être remis, j'ai fait mettre sur-le-champ en liberté M. le comte de Mirabeau fils, qui était détenu de ses ordres au donjon.

II n'y a rien autre de nouveau. Je suis avec respect, etc.

signé:
De Rougemont.«

Es war geschehen. Nicht der König, nicht die Prinzessin Lamballe, nicht die Damen des Schlosses hatten Mirabeaus Ketten gelöst. Der Vater hatte ihn endlich freiwillig dem Leben zurückgegeben. Nicht aus Milde und Versöhnlichkeit! Egoismus war die Triebfeder seiner Menschlichkeit. Er witterte Gefahr. Die Marquise entwickelte, trotz ihrer Gefangenschaft im Kloster Saint-Michel zu Paris, eine hysterische Betriebsamkeit. Ihre Anwälte bestürmten die Minister. Der Eheprozeß drohte, von neuem zu entbrennen. Man mußte sich wehren, mit der rabiaten Frau unterhandeln, die Minister bearbeiten. Wer war hierzu berufener als der Hitzkopf, der Bezauberer, der Wortverführer, der scharfe Dialektiker in Vincennes, der dem Vater, aller Ableugnung seiner Gaben zum Trotze, doch gewaltig imponierte!

So öffneten sich am 13. Dezember 1780 die Tore des Turmes von Vincennes. »Nackt wie ein Wurm«, schritt Mirabeau in den Gewändern, die in Fetzen von ihm fielen, hinaus in die Freiheit, die er fast vier Jahre entbehrt hatte.

Sein Schwager, der Marquis du Saillant, der große Schweiger, erwartete ihn am Gitter des Donjons. Brachte ihn in das Haus des Arztes, Apothekers und Barbiers Fontelliau, fuhr nach Paris, ihm Kleider und Wäsche zu holen.

Den Aufenthalt von wenigen Tagen und Nächten im Hause des Arztes, der ihm während der Gefangenschaft so manchen Liebesdienst erwiesen hatte, benutzte Mirabeau zur Vergeltung in Liebesdiensten seiner Eigenart. Er verführte die fünfzehnjährige Tochter Fontelliaus, hatte mit ihm ein blutiges Rencontre im Vincenner Walde, das die vierjährige Freundschaft mit Florettstößen durchlöcherte.

Dann floh er in den neuen Kleidern, die der Schwager just zur rechten Zeit brachte, nach Paris.

Hier harrte seiner Liriette, Julie Dauvers, seine Liriette – die süße kluge witzige Liriette der Briefe, die er täglich empfangen hatte. Seine ungeduldige ehrgeizige Liriette, die nicht begriff, warum seine frühere Geliebte Lamballe ihr noch immer nicht die Stelle bei der Königin verschafft hatte. Er vertröstete: »Laß mich nur erst frei sein, laß mich nur erst nach Paris kommen, laß mich nur erst meinen persönlichen Einfluß üben – dann – dann wird sofort alles zu Deiner Befriedigung erledigt, meine kluge süße wonnige Liriette!«

Nun war er in Paris! Der Vater wohnte in seinem neuerworbenen Palais in der Rue de Seine. Er verschloß dem Sohne sein Haus. Wenn er ihm auch die Freiheit zurückgab, wenn er auch seine Dienste forderte, persönlichen Verkehr mit diesem Sprößling wünschte er ebensowenig, wie mit dessen materiellen Ansprüchen behelligt zu werden. Obdachlos, ohne Sous, sah Mirabeau sich genötigt, die Hilfe seines Freundes Boucher, des Polizeileutnants, in Anspruch zu nehmen. In seinem Hause in der Rue de Grammont fand er eine gern gewährte Zuflucht.

Auf den ersten Blick erkannte Mirabeaus Auge, das Verhältnisse und Zustände im Kleinen wie im Großen scharf durchdrang und schlagend beurteilte, den traurigen Wirrwarr dieses Heimes des guten, überschwenglichen, liebevollen Bewunderers seines Geistes.

Auf der Treppe zu den oberen Stockwerken krabbelten schmierige Rotznäschen mit hängenden Hosenlätzchen, die Läufer der Treppe waren durchlöchert, das ihm bestimmte Zimmer starrte mit fast undurchsichtigen Fensterscheiben und zerrissenen schmutzigen Gardinen; fingerhoch lagerte der Staub.

Boucher entschuldigte den traurigen Zustand seines Hauses mit verlegenem gutmütigem Lächeln:

»Es ist nicht alles so, wie ich es Ihnen gern bieten möchte, lieber Freund. Aber ein Mensch kann nicht alle Gaben haben. Sie ist eine große Künstlerin.«

Er sagte es mit schwärmerischem Entzücken.

Beim Frühstück traf Mirabeau dann die »große Künstlerin« mit unfrisiertem Haare, unsauberem Schlafrock, sehr hübsch, bebend vor Nervosität, die Beute hinraffender Reizmittel, fieberhaft sprechend. Auf dem Tische fehlte ungefähr alles. Ein schmuddeliges Dienstmädchen maulte der keifenden Wut der Herrin entgegen. Auf dem Boden krochen die Kinder. Madame sprang auf und erklärte, dieses Leben des banalen Alltags nicht länger ertragen zu können. Lieber ins Wasser! Der arme Boucher nahm sie kosend in die Arme, besänftigte sie, rannte, flitzte hinaus, holte Tassen und Kannen und Brot. Madame fiel in den Stuhl, schnappte nach Luft, blickte den erstaunten Gast teilnahmefordernd an, jammerte: »Das muß man täglich erdulden, und der Kopf raucht von Entwürfen!« Und während der Polizeileutnant ein und aus lief, die Kinder päppelte, die Frau bediente, die bald ihr Riechfläschchen, bald ein Taschentuch, dann wieder ihren Baldrian vermißte, und selbst nicht dazu kam, etwas zu genießen, begann Madame, unverschämt mit dem Gaste zu kokettieren. Plötzlich entführte sie ihn in ihr Atelier. Einige sehr flott gemalte und ausdrucksvolle Porträts standen auf den Staffeleien. Exzentrisch, fahrig warf sie sich Mirabeau ans Herz. »Ich kenne Sie aus den Schilderungen meines Mannes. Sie sind groß, Sie sind erhaben. Lassen Sie mich bei Ihnen Ruhe finden vor den Qualen dieses Hauses. Sie haben Sinn für Größe, für den Flug in die Höhen der Kunst!«

Sie war sehr hübsch und, trotz der nervösen Schlankheit ihrer Überspanntheit, zum Teil recht mollig. Der dünne Schlafrock verbarg seinen dreisten Händen nichts. Er erwiderte ihre Zärtlichkeiten und versprach in Bälde mehr. Für jetzt aber war er in Eile. Er hatte an Julie Dauvers nach der Rue Saint-Nicaise bei der Ankunft einen Boten gesandt und sie zu einem Rendezvous bestellt.

»Wohin?« hatte er Boucher gefragt, der so manchen Brief an die süße Liriette bestellt hatte und gönnerlich lächelnd neben ihm stand. »Ins Café Valois, den Pavillon Foy, in die Taverne anglaise, das Palais-Royal? Wohin?«

»Lassen Sie sie doch ins Café de la Régence kommen. Sie wohnt ja nur zwei Schritt davon.«

So vertröstete er die liebebedürftige Maler-Madame und eilte in seinem braunen spitzenverbrämten Rocke, Zweimaster, den Kniehosen, weißen Strümpfen, Schnallenschuhen, einen langen warmen Mantel über diese funkelnagelneue Herrlichkeit gebreitet, zum Stelldichein. Zwischen Louvre und Tuilerien, in diesem vornehmen und prunkliebenden Viertel, dicht bei der Oper und der Musikakademie, an der Place du Palais-Royal, im Winkel der Rue Saint-Honoré lag das berühmte Café.

Als er dort landete, sah er eine Dame um die Ecke der Rue Saint-Nicaise und Rue Saint-Honoré biegen und an dem gewaltigen Gebäudekomplex des Hospice royal des Quinze-Vingts eilig entlang schreiten.

»Das wird sie doch nicht sein!« dachte er erschreckt, und die Enttäuschung umklammerte sein knabenhaft erwartungsfroh pochendes Herz.

O gnadenbringende Dichterphantasie! O freudetötende grausame Wirklichkeit! Alle Gaben seines schönheitstrunkenen Gemütes hatte er auf diese Geliebte seiner Einbildung schwelgerisch gehäuft, zu einem Wunder aller weiblichen Reize hatte er sie erhoben in den langen Monaten seiner Gefangenschaft mit ihrer Leere an wahrer Frauenanmut.

Die junge Dame, die jetzt hastig auf die Tür des Cafés zuschritt, war groß und sehr gut gewachsen. Eine echte Pariser Figur. Sie trug einen üppigen Pelzmantel, der, in der Taille eingerafft, sich nach unten weit und glockig entfaltete. Das gepuderte Haar trug sie nach der neuesten Mode zu erstaunlicher Höhe emporgebauscht durch Einlagen von Werg und falschen Zöpfen. Hoch oben balanzierte ein – im Verhältnis zu dem Turmbau – winziges Pelzhütchen mit wehender blauer Feder.

Es war ein alltägliches regelmäßiges Gesicht, mit gespannten, vom Ehrgeiz gezeichneten unruhigen Zügen. Es war eine Enttäuschung.

Julie Dauvers blieb stehen, blickte sich um, sah Mirabeaus pockennarbiges, gewaltiges, unschönes Gesicht, erschrak, forschte ihn fragend an, er trat auf sie zu, würgte an seiner Bestürzung und sagte heiser:

»Julie?!«

Sie nickte.

In gegenseitiger Verlegenheit traten sie in den weiten prunkvollen Saal des Cafés, dieser Akademie des Schachspieles, die unter der Leitung Philidors, des Weltmeisters seiner Zeit, stand.

Hier war der Sammelplatz der Künstler der nahen Oper und Akademie, das Rendezvous der Gecken à la mode, das »Café Wahnsinn« des Paris des sterbenden alten Regimes. Sie drangen durch den Lärm des Künstlerteiles im Hauptsaale zu dem stillen Seitenflügel der Schachspieler. Hier waren sie unbeobachtet.

Er half ihr ablegen. Unter dem Pelzmantel enthüllte sich ein karmelitfarbenes seidenes Kleid mit ovalem tiefem Ausschnitt, den gefältelte Spitzen säumten. Der Rock stand steif und glockig um ihre Glieder. Sie zog ihn empor, sich zu setzen. Die Kellnerin, eine reizende kleine Grisette in weißem Häubchen, eilte herbei. Julie wünschte Schokolade. Er bestellte zwei Portionen. Dann sah er sie an und sagte geistvoll:

»Das bist du also!«

Sie war trotz ihrer zweiundzwanzig schon irgendwie verblüht. Unter den Augen rundeten sich tiefgegrabene dunkle Halbkreise. Mirabeau war kein Kostverächter. Er nahm, was sich ihm bot: Kantinenweiber, Kammerzofen, Matronen, exaltierte Malweiber. Doch dieses Mädchen lehnte er ab. Auf sie war er erbittert, als habe er durch die Arbeit seiner Phantasie ein Recht erworben auf ihre Verpflichtung, schön und bestrickend zu sein. Er grollte ihr erbost.

»Das bist du also!« wiederholte er gereizt.

»O bitte,« verbesserte sie, »wir wollen uns doch ›Sie‹ sagen. In den Briefen war das etwas anderes.«

»Aber, bitte sehr«, genehmigte er ohne Widerspruch. Mühsam quälte das Gespräch sich dahin. Sie sprachen von seiner Gefangenschaft, seiner Erlösung.

Dann brachte die Kellnerin die Schokolade. Julie zog die grauen Wildlederhandschuhe von den Fingern, aß mit Appetit den Kuchen, der auf dem Tisch stand, trank gierig und begann, lebhaft zu sprechen. Mirabeau schwieg, staunte und ließ ihre Seele sich ihm hemmungslos erschließen. Er war Menschenkenner genug, um sie nach einer Viertelstunde ganz zu durchschauen. So nebenbei erfuhr er, daß sie seit sieben Jahren die Geliebte La Fages war, daß sie ihn zu heiraten gedachte, sobald sie die Stellung errungen hatte, nach der sie trachtete. »Und die Liebesbriefe,« dachte Mirabeau verwundert, »diese glühenden Briefe an mich?!«

Sehr bald wußte er, daß sie nur einer Liebe fähig war: der Liebe zum Erfolge; daß er ihr nichts war, als eine Leiter zum Emporklimmen. Ihr Gemüt war kalt und frostig, ihr Herz steril. Ihre Klugheit, die Intelligenz, die ihn in den Briefen entzückt hatte, richtete sich allein auf den Weg zu einer Hofcharge. Er wußte sehr bald Bescheid und schalt sich ingrimmig einen albernen Narren, der in die Falle dieser erheuchelten Liebe gegangen war.

»Und nun, Herr Graf,« fragte sie messerscharf, »wie steht es mit den Empfehlungen der Lamballe? Ich will nun endlich einmal den Erfolg sehen. Seit Mai führen Sie mich an der Nase herum. Jetzt haben wir Mitte Dezember.«

Ihm ward sehr unbehaglich zumute. »Ja – ja,« wich er aus und rückte verlegen auf dem Stuhle, »das geht alles nicht so glatt, wie Sie sich das denken. Die Lamballe ist eine sehr hitzige unbedachte Person. Alles stand glänzend, da hatte sie einen Krach mit der Königin aus Eifersucht auf die Polignac – Sie wissen doch, wie Frauen sind –, und alles war wieder in Frage gestellt.«

»Hm«, Julie kniff die schmalen bleichen Lippen – diese Lippen des herzlosen Willensmenschen – fest zusammen. »Wie denken Sie sich nun das Weitere? Ich habe keine Lust, noch lange zu warten. Und La Fage auch nicht.«

»Aber, mein Gott,« rief Mirabeau mit unterdrückter Stimme, »mit Gewalt läßt sich da doch nichts machen!«

»Das müssen Sie wissen!« entgegnete sie bissig. »Die Lamballe war Ihre Geliebte –«

Mirabeau packte sie fest am Arm. »Schweigen Sie – um Himmels willen –, wenn man Sie hört! –«

Er sah sich ängstlich um.

»Keiner hört«, sagte sie ruhig und entwand ihren Arm seinen gewaltsamen Fingern. »Es kann doch nicht so schwer sein, von einer früheren Geliebten eine kleine Gefälligkeit zu erlangen.«

»Nein, nein«, erwiderte der Graf sanft und hätte das liebe Mädchen freudevoll erwürgt. »Ich gehe noch heute zu ihr ins Hotel Toulouse. Aber um eins bitte ich Sie: geben Sie mir meine Briefe zurück. Die Liebe zwischen uns war ja nur ein Traum unseres Briefwechsels. Er ist verflogen. Die Ihren stehen Ihnen selbstverständlich auch zur Verfügung.«

Da lächelte sie sarkastisch.

»Nein, lieber Graf. Von den Briefen trenne ich mich nicht. Sie sind mir teure Andenken.«

Er erkannte seine Meisterin, gab sich nicht eine Sekunde lang irgendwelchen Täuschungen darüber hin, daß sie diese verfänglichen Briefe als Sporn seines Eifers verwenden wollte. Er war in ihrer Hand.

Ihm ward übel. Er fürchtete, seine Selbstbeherrschung zu verlieren, drängte zum Aufbruch. Gab vor, er wolle sofort zur Prinzessin Lamballe.

An der Ecke der Rue Saint-Honoré und der Rue Saint-Nicaise trennten sie sich.

»Wann höre ich von Ihnen?« fragte sie. Es war wie ein Ultimatum.«

»Bald.«

»Nein, bitte genauer. Morgen?«

»Gut, morgen.«

»Um welche Zeit?«

»Ich schicke einen Boten, sowie ich etwas Bestimmtes gehört habe.«

»Ich werde morgen vormittag zu Hause bleiben.«

Während er die Rue Saint-Honoré hinabschritt, ballte er die Fäuste in den Taschen seines neuen Mantels, daß die Nägel tief in die Handflächen eindrangen. Der körperliche Schmerz tat ihm wohl.

Das ihm! Dieser Reinfall ihm! Diesem Eisblock von Weib und ihrem Galan mit Haut und Haaren ausgeliefert! Kein Zweifel, wenn er ihr nicht die Stelle bei der Königin verschaffte und rasch verschaffte, würde sie sich schuftig rächen, der Lamballe seine Briefe übersenden. Dann erfuhr die Prinzessin die unerhörte Verleumdung, sie, die ihn nicht einmal einer Antwort gewürdigt, als er ihr gegen die Gefahr Goupil seine Hilfe angetragen hatte. (Goupil war sehr bald darauf in Vincennes an galoppierender Schwindsucht gestorben.)

In ihrer Empörung würde die Prinzessin alles in Bewegung setzen, ihn wieder in einem der Staatsgefängnisse über seine verrückte Prahlerei nachgrübeln zu lassen. Herrgott! Eine nette Patsche, in die er sich da gebracht hatte! Ja – aber was? was? was? Wie sollte er diesem ehrgeizbesessenen Weibe eine Anstellung bei Hofe verschaffen?! Er, der hilflose arme Teufel, der keinen Menschen in Paris kannte und alle Hände voll zu tun hatte, des Vaters Wünsche zu erfüllen.

Er mußte mit der Mutter verhandeln, noch heute. Sie hatte einen neuen Prozeß angezettelt vor der großen Parlementskammer von Paris. Der Termin stand bevor. Er war aus Vincennes nur befreit worden, hier einzugreifen. Er mußte sofort zur Mutter. Und sollte diesem Weibe und ihrem Galan helfen, er, der selbst der Hilfe so dringend bedürftig war! Es war zum Verzweifeln.

Er wandte sich dem Kloster St.-Michel zu, in dem die Mutter noch immer auf Grund der lettre de cachet vom Jahre 1777 schmachtete.

In düsteren Gedanken gegen sich und seinen Lügewahn wütend, schritt er die lange und sehr breite Straße Saint-Honoré hinab und stolperte über die holperigen Kopfsteine. Einen Bürgersteig gab es nicht. Ohne auf die Auslagen der großen Geschäfte aller Art zu achten, stürmte er dahin. Nur einmal blieb er staunend stehen. Dicht an ihm vorüber fuhr eine Staatskarosse mit zwei Hofdamen. Zu beiden Seiten des Wagens steckte je eine von ihnen den Kopf mit dem hohen Frisurgebäude zum Fenster hinaus. Im Wagen war hierfür kein Raum.

Da lachte er doch, trotz seines Jammers. »Angenehm muß solche Fahrt sein«, dachte er. »Ich fürchte, den Damen wird der Hals steif werden, bis sie nach Versailles kommen.«

Er kam zum Kloster. Mit bangem Herzklopfen folgte er der führenden Nonne durch die niedrigen Gewölbe der Gänge. Dann stand er in dem dunklen engen Hofzimmer der Mutter. Lange, lange Jahre hatte er sie nicht gesehen.

Er blieb an der Tür stehen. Die Mutter saß am Tische, eine Brille vor den alternden weitsichtigen Augen, und schrieb mit gehässigem Eifer eine ihrer tausend Instruktionen, die Schrecken ihrer Anwälte. Sie blickte auf, blinzelte, riß hastig die Brille von der Nase. Er sah ihr fanatisches, von Leid und Leidenschaft ausgemergeltes altes Frauengesicht.

»Mutter!« rief er.

Sie klammerte sich an den Rand der Tischplatte, hob sich mit Anstrengung empor – die Beine waren matt vor freudigem Erschrecken.

»Gabriel!«

Da war er bei ihr, ihr alter müder gehetzter haßglühender Kopf lag an seiner breiten Brust.

Er streichelte ihr ergrautes dünnes Haar, von dem die Haube gerutscht war.

»Mein Gabriel – mein Gabriel!« flüsterte sie weinend. »Bist du endlich frei! Bist du herbeigeeilt, deiner armen alten Mutter gegen diesen Geier zu helfen, der ihr Herz zerfleischt? Mein Gebriel!«

Sie hob den Kopf und betrachtete ihn lange prüfend. »Groß und breit bist du geworden. Aber deine Haut ist schwammig. Du siehst nicht wohl aus, mein guter Junge. Hat er dich auch morden wollen, dieser Mörder! Aber hier – hier.«

Sie wurde plötzlich lebhaft, als durchströme sie magische Kraft, sie wuchs. »Hier!«

Sie raffte die Papiere vom Tisch. »Da lies, mein Junge. Das wird diesen Teufel in die Hölle stürzen. Ich habe Hilfe gefunden. Mächtige Leute bei Hofe. Jetzt soll es ihm ans Leben gehen. Lies!«

Sie zog die Leinengardinen vom Fenster fort, damit er mehr Licht habe.

Er blickte auf die kleine nervöse Schrift. Las Beschimpfungen, Klatsch, gräßliche Enthüllungen geheimsten Familienunheils. Er ließ die Bogen sinken.

»Mutter,« begann er vorsichtig, »wäre es nicht besser, endlich mit dem Vater Frieden zu schließen und –?«

Sie riß die Augen auf und starrte ihn wortlos an. Ihr Gesicht, durch dessen kalkige Haut die Knochen schimmerten, ward noch totenkopfähnlicher.

»Was sagst du da?!« schrillte sie. »Frieden! Jetzt Frieden, wo ich ihn vertilgen werde?! Jetzt Frieden, nachdem ich wieder vier Jahre hier Rache gebrütet habe, wo ich endlich einen Lichtstrahl sehe? Jetzt Frieden? Das sagst du, den er vier Jahre lang eingekerkert hat?! Ha – du –,« mit unglaublicher Spannkraft lief sie auf ihn zu, umkrallte seine Arme – »er hat dich bestochen – er hat dich gekauft – ich weiß es – ich fühle es – ich habe es sofort an deiner kalten Zurückhaltung gefühlt – er schickt dich zu mir – mich auszuhorchen – mich auszuspionieren –«

Sie schleuderte seine Arme von sich – »Dazu also kommst du – in seinem Sold – ein Schurke –!«

Und plötzlich schrie sie hysterisch: »Fort mit dir! Hinaus! Hinaus!«

Es gellte gegen die Wölbungen der Decke. Er suchte sie zu beruhigen. Sie stieß ihn mit der Kraft des Wahnwitzes von sich und schrie, daß die Nonnen zusammenliefen, hereinstürzten.

»Er will mich verraten – mein schurkischer Sohn will mich verraten!« zeterte sie, anklagend die Arme gegen ihn ausgestreckt.

Ehe er recht zur Besinnung kam, hatte man ihn aus dem Zimmer geführt. Noch lange hörte er die gellenden Schreie ihm nachhallen durch die Gänge.

»Ein erfreulicher Tag«, dachte er, als er wieder auf der Straße stand. »Nun zum Parlementsgebäude, Parlemente hießen die obersten Gerichtshöfe in Paris, Rennes, Rouen, Metz, Bordeaux, Toulouse, Aix. die Akten einsehen, mit den Richtern verhandeln – –«

Das Mittagsmahl im Hause des Polizeileutnants bildete das gleiche Tohuwabohu wie das Frühstück. Kinder krochen um die Stuhlbeine, wimmerten und grölten. Boucher lief, schleppte Schüsseln und Terrinen, vermittelte sanft zwischen der scheltenden Madame und dem raunzenden Dienstmädchen, blickte, wenn er einen Moment verschnaufen konnte, den Gast mit seinem lieben vergebungheischenden Lächeln an, als wolle er wieder sagen: »Von einem Menschen kann man nicht alle Vollkommenheiten erwarten, nicht wahr? Entweder ist man perfekte Hausfrau oder geniale Künstlerin.«

Die geniale Malerin saß an der Breitseite des Tisches neben Mirabeau, der die Spitze innehatte. Sie trug noch denselben schmuddeligen Schlafrock, der sie beim Frühstück geziert hatte. Ihre Haare hingen noch ebenso wirr und zerzaust. Sie aß wacker, sprach von ihren Nerven und rieb ihr Knie an dem Schenkel des Herrn Grafen.

Boucher keuchte herein mit dem Braten.

Nach Tisch bat er, ihn zu entschuldigen. Sein Amt forderte seine Gegenwart. Er empfahl den Freund der Gattin, von der er rührend zärtlich Abschied nahm. Die Gattin nahm die eheherrliche Empfehlung ernst. Sie lud den Gast in ihr Schlafgemach. Auf der Treppe krabbelten die Kinder.

Mirabeau floh bald die gastliche Schlafstätte. Gab wichtige Arbeiten vor. Unruhe des Geistes beeinträchtigt Behagen des Körpers. Sein Gehirn suchte gemartert eine Rettung aus den Krallen der Stellenjägerin.

Er ging in sein Zimmer, erstattete dem Vater ausführlichen Bericht über den fragwürdigen Erfolg seiner ersten Mühen. Auch auf dem Gericht hatte man den Vermittler des Marquis Mirabeau nicht allzu freundlich empfangen. Die Aktien der Marquise standen zur Zeit fraglos in der Hausse.

Dann saß er und grübelte finster. Diese kleine eigensüchtige Ratte! Diese närrische infernalische Intrige! Dieses blödsinnige Lügengespinst, das ihm nun zum Netz wurde, in dem er erstickte! –

Plötzlich ward sein Blick starr. Sein erfinderisches Hirn hatte sich auf eine Idee gestürzt. Hoho! Kühn. Gab aber einen Aufschub. Los!

Er riß einen Bogen an sich und schrieb mit verstellter zarter Schrift:

»Liebster! Warum so ungeduldig? Alles steht gut. Du darfst mich nur nicht zu sehr drängen. Morgen spreche ich bestimmt nochmals mit ›ihr‹. Die kleine Dame soll etwas Geduld haben.

Deine Louise.«

Mit einigen Zeilen sandte er »dieses Billett, das ich soeben von der L. erhalten habe«, in die Rue Saint-Nicaise.

Dann ging er hinunter in den Salon, in dem sich jeden Nachmittag eine bunte Horde von Malern, Schriftstellern, Anwälten, Angestellten der Ämter, Männlein und Weiblein voller wahren oder eingebildeten Talentes, Taktes, Geistes einstellte.

Als Mirabeau eintrat, fand er den Salon in schnatternder Lebhaftigkeit. Paris hatte wieder einmal eine Sensation. Paris, diese große Kleinstadt, in der jedes Interesse sich um den Hof schlang, um sein Tun, sein Lassen, sein Lachen, seine Trauer, jede banalste Äußerung seiner Launen und Stimmungen. Da war etwas im Gange! Paris horchte auf, lauschte, suchte das Geheimnis zu durchdringen, zu erraten. Was war geschehen? Was bedeutete diese Hast des Adels? Dieses Umherschwirren der Karossen? Diese ängstlichen Gesichter der hohen Damen und Herren?

Man riet, man vermutete. Alle diese leicht beweglichen Menschen im Salon Boucher flatterten in geheimnisvoller Erregung.

»Alles ist in Aufruhr«, berichtete ein junger Anwalt des Châtelet. »Es fiebert in den Häusern und Palästen um den Louvre, in diesem enormen Viertel der Paläste, der Parks, der Avenuen bis zur Rue des Petits-Champs und zur Seine. Etwas ist im Gange!«

»Vielleicht wieder ein Millionenkonkurs?« schlug ein junger Maler wohlwollend vor. »Möglich, sehr möglich«, rief es von allen Seiten. Und alles sprach durcheinander.

Jedermann spekulierte und jobberte in dieser Zeit der niedrigen Valuta, der Teuerung, der Krisis. Das liegt im Blute aller Epochen der Katastrophen. Je weniger das Geld gilt, desto toller jagt alles ihm nach. Jeder Prinz, jeder Minister, jede Favoritin spielte und spekulierte unsinnig. Alles hasardierte mit unbedenklicher Wut. Vermögen, Ehre, Freiheit, Ruf stürzte oft über Nacht. Baudouin, Mirabeaus Genosse von Vincennes, hatte so manchen Nachfolger gefunden.

Die Grenzen des Adels verwischten sich. Er gab sich Spekulanten, Schiebern, Abenteurern in die Hände, von der Gier nach Gewinn verlockt; verkettete seine Ehre, seinen Rang, sein altes Blut mit diesen Emporkömmlingen des Geldes, pulste mit ihnen in gleicher Hoffnung, gleicher Furcht, gleicher Reue, im gleichen Sturze.

Darüber sprachen, schalten, witzelten die begabten jungen Leute des Salons Boucher, die alle heute nichts hatten, denen das Morgen alles geben sollte: Reichtum, Glück, Erfolg, Ruhm, politische Freiheit.

»Ist etwa Rose Bertin gestorben?« rief eine schöne Frauenstimme.

Alles wandte sich lachend der jungen Sängerin zu.

Das wäre das größte Staatsmalheur! Was täte dann Marie-Antoinette? Die Hoffeste müßten abgesagt werden. Nicht auszudenken! Die Mode wäre mit ihr gestorben.

Andere aktuelle Vermutungen stiegen empor. Hatte etwa die Flotte, die auf seiten der amerikanischen Insurgenten in ihrem Freiheitskampfe gegen England stritt, eine Niederlage erlitten? Keineswegs. Ihr Kommandant, Graf d'Estaing, war soeben verwundet, aber siegreich nach Frankreich zurückgekehrt.

Hatte man Necker entlassen? Nein, nein, die Königin stützte ihn. Am Ende war Beaumarchais, der Spekulant und Armeelieferant der amerikanischen Empörer, bankrott?! Komödie! Der scheffelte Millionen!

Ein Schriftsteller brachte endlich die Klärung aller Zweifel: der galante Herzog von Guines war vom Hofe gejagt worden, weil er gewagt hatte, im Kabinett der Königin – bitte, im Kabinett der Königin!! – der Gräfin Polignac mehr als sein Herz anzubieten. Während die Gräfin noch mit sich kämpfte, ob sie das Angebot annehmen sollte, war Marie-Antoinette eingetreten, hatte das Verfängliche der Situation überschaut, dem gabenfreudigen Herzoge die Tür gewiesen, der Polignac eine Szene gemacht.

Man lachte, schwelgte in schlüpfrigen Anekdoten, erzählte sich Märchen von dem Freiheitsdrange der Königin, ihren geheimen Besuchen auf Maskenbällen, zu denen sie in der Droschke fuhr.

Bald war ein allgemeines Gespräch über die Sittenlosigkeit des Hofes im Gange, über seine Verschwendungssucht, über die Teuerung, die allgemeine Not, den Getreidewucher, den Hunger des Volkes.

Jedes Gespräch nahm in den Salons von 1780 diesen Marsch.

Mirabeau hörte nur im Unterbewußtsein zu. Er überlegte: die Polignac in königlicher Ungnade, bedeutete die Stunde erhöhter Gunst der Lamballe. Sein Weizen blühte! Ausbeuten die günstige Gelegenheit. Neue Hoffnungen erwecken – hinhalten – das war die Hauptsache. Für den nächsten Tag sorgen und sich keine grauen Haare wachsen lassen.

Die junge Sängerin mit der schönen Stimme verteidigte jetzt die Königin.

»Sie hat recht, daß sie sich gegen diese wahnwitzige seelenmordende Etikette wehrt. Ihre erste Kammerfrau hat einer Bekannten von mir folgende wahre Begebenheit erzählt.«

Alles schwieg und lauschte dem Schmelz dieser Altstimme.

»Sie wissen alle, daß die Etikette genau die Vorschriften des Ankleidens regelt. Vor einigen Tagen steht die Königin splitternackt; die Campan, ihre erste Kammerfrau, will ihr gerade das Hemd überwerfen. Die Ehrendame tritt ein, zieht eilig die Handschuhe aus und nimmt das Hemd. Es klopft, man öffnet. Die Herzogin von Orleans erscheint. Sie hat die Handschuh' in der Hand, eilt vorwärts, das Hemd zu nehmen. Aber die Ehrendame darf es ihr nicht direkt geben. Sie muß es der Kammerfrau reichen, diese gibt es der Prinzessin. Es klopft abermals. Es ist Madame, die Gräfin der Provence. Die Herzogin von Orleans reicht ihr das Hemd. Die Königin steht, die Arme über der Brust gekreuzt und zittert vor Kälte. Madame sieht ihre Pein, begnügt sich damit, ihr Taschentuch fallen zu lassen, behält die Handschuhe an und reißt der Königin, ungeschickt in der Hast, beim Überziehen des Hemdes die eben vollendete Frisur vom Kopfe.

»Die Königin lacht, um ihren Ärger zu verbergen, flüstert dann aber abgewandt: ›Welcher Unfug! Wie lächerlich!‹ Meine Damen und Herrn –« die Altstimme wird heller, »gegen diesen Zopf kämpft diese gerade offene Frau seit zehn Jahren. Vergessen wir das nicht, wenn wir sie beurteilen!«

Man klatscht in die Hände, andere schütteln den Kopf. Die Unzufriedenen reißen die Stimmung an sich. »Sie regiert – sie ist der böse Geist des guten Königs – sie wirft die Millionen auf die Straße, während das Volk hungert.«

Und das Wort »Revolution« züngelt auf.

Da faßt Boucher seinen Freund um die Schulter. »Sprechen Sie«, flüstert er. »Sagen Sie diesen Gelbschnäbeln, was die Zukunft ist.«

Und ohne seine Zustimmung abzuwarten, ruft er laut in das brandende Chaos:

»Meine Damen und Herren! Geben Sie dem Grafen Mirabeau das Wort, dem größten politischen Genie, das unter uns lebt. Demnächst erscheint sein Werk: ›Die Haftbefehle und die Staatsgefängnisse‹. Das Buch wird seinen Namen unsterblich machen und ihn zum Führer unserer Zeit erheben.«

Alles schweigt, reckt die Hälse, klettert mit den schmutzigen Stiefeln des Dezemberkotes auf die Polsterstühle, drängt heran.

Ein Graf!? Alle Achtung! Ein Zauberwort unter diesen Libertins, diesen Freiheitsdürstern. Ein echter blaublütiger Graf! Man lauscht voll Ehrfurcht, was ein echter Graf in diesem bürgerlichen Kreise sagen wird.

Mirabeau bebt vor Zorn. Dieses alberne kindische Spielen mit der »Revolution«, mit diesem Heiligtume seines Lebens, empört ihn, ekelt ihn an.

Er hebt seine gewaltige Stimme:

»Meine Herrschaften! Was würden Sie tun, wenn der König oder die Königin jetzt in diesen Salon träte?«

Man blickt erstaunt empor zu dem großen Manne mit dem Löwenhaupt.

»Schmeicheln würden Sie ihnen. Ihren Freiheitsmut von sich werfen und auf den Knien vor den Majestäten rutschen.«

Ein Murren des Unwillens knurrt im Gemach. Mirabeau hebt die feine weiße Hand gebieterisch. Lautlose Stille.

»Meine Herrschaften, es gibt keine angenehmere und verbreitetere Krankheit als die Liebe zur Schmeichelei. In unseren sklavischen Staaten, in denen eine lange Despotenherrschaft den Geist der Knechtschaft großgezogen hat, verkehren die Menschen alle miteinander auf dem Fuße dieser niedrigen Heuchelei, die uns noch in den einfachsten Dingen das Falsche an die Stelle des Wahren zu setzen zwingt. Die Gesellschaft ist nur noch ein Verkehr voller Trug und Lug, in dem jeder den andern ein nie empfundenes Lob hören läßt, auch dann noch, wenn sein Gewissen widerspricht. In einem solchen Land zu leben verstehen, heißt zu schmeicheln, zu heucheln, zu verbergen, zu lügen verstehen, und Väter und Mütter, Erzieher und Freunde spornen zu dem unwürdigen Handel, der Grundlage jeglichen Erfolges, an. Es wäre eine schöne Arbeit, das Elend zusammenzustellen, das die Schmeichelei über die Nationen gebracht hat, und die Dienste, zu denen sich Günstlinge für ihre Herren verstanden haben. Und die Dummköpfe zahlen die Kosten. Man sollte die herrliche Mahnung, die unser Landsmann Thomas dem Sohne Marc Aurels gibt, öffentlich anschlagen: ›Du aber, der diesem großen Manne folgen soll, Sohn Marc Aurels, bleibe eingedenk der Bürde, die die Götter auf deine Schultern gelegt haben; vergiß nicht der Pflichten dessen, der befiehlt, der Rechte derer, die gehorchen. Zum Regieren bestimmt, mußt du der gerechteste aller Menschen werden oder der schuldigste. Bald wird man dir sagen, daß du allmächtig bist; das wird der erste Betrug sein, denn die Grenzen deiner Macht sind die Gesetze. Man wird dir weiter sagen, daß du groß bist, daß deine Völker dich anbeten. Vernimm: als Nero seinen Bruder vergiftet hatte, sagte man ihm, er habe Rom gerettet; als er seine Gemahlin erdrosselt hatte, lobte man seine Gerechtigkeit; als er seine Mutter ermordet hatte, küßte man die verbrecherische Hand und lief in die Tempel, um den Göttern zu danken. Du sollst dich auch nicht durch die Demut, mit der man dir gegenübertritt, blenden lassen. Wenn du keine Tugenden hast, wird man dich preisen und hinter deinem Rücken hassen. Glaube mir und mißbrauche nicht die Geduld deiner Völker; die beleidigte Gerechtigkeit wacht in allen Herzen. Herr der Welt, du kannst mich sterben heißen, aber nicht, dich achten.‹

Diese Seite aus dem herrlichen Buche sollte man öffentlich anschlagen – für die Könige und die Völker.«

Man schwieg beklommen. Boucher schüttelte dem Redner enthusiastisch die Hand. Madame verkündete jubelnd seine Größe. Sie trug noch immer den Schlafrock.

Die junge Sängerin aber trat auf Mirabeau zu und sagte schlicht: »Ich danke Ihnen!«

Er blickte überrascht in das kluge Gesicht mit den tiefen genialen braunen Augen.

»Wer sind Sie?« fragte er leise.

»Reine-Anne-Antoinette Clavel«, erwiderte sie, »von der königlichen Oper.«

»Wir wollen plaudern, Reine-Anne«, bat er und zeigte auf zwei leere Sessel.

Sie waren bald in ein spannendes Gespräch verstrickt.

Die Dame des Hauses sah es mit Mißvergnügen. Sie rauschte mehrmals so dicht an den selbstvergessen Plaudernden vorüber, daß ihr wehender unsauberer Morgenrock sie überflatterte. Sie merkten es nicht.

»Kommen Sie mit in die Oper,« lud Reine-Anne ihn ein, »ich singe heute zum ersten Male die Dido in Piccinis Oper.«

Er eilte in sein Zimmer, Hut und Mantel zu holen. Er fand ein Billett von Julie Dauvers.

»Mein Herr,

wofür halten Sie mich und Herrn de La Fage? Ihr Billett ist eine grobe und schlechte Fälschung. Ich durchschaue jetzt Ihr arges Spiel. Hüten Sie sich.

J. D.«

Er starrte auf das Schreiben. War gelähmt. Dann schob er es zerknittert in die Hosentasche. Morgen! Jetzt wartete Reine-Anne. Da fühlte er, daß er keinen Sou in der Tasche hatte.

Er stahl sich noch einmal in den Salon, pumpte den braven Boucher an. Er gab bereitwillig, was er hatte. Madame sah ihm mit bös zuckenden Lidern nach, als er ohne Gruß ging.

Nach der Oper und dem jubelnden Beifall des Publikums, das die gottbegnadete Stimme und Menschengestaltung der jungen Reine-Anne feierte, begleitete Mirabeau sie nach Hause. Als sie träumerisch entrückt auf seinen Knien kauerte, raschelte der Brief Julie Dauvers in seiner Tasche.


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