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VII.

Am nächsten Morgen schrieb er an Julie:

»Ich habe Ihnen auf Ihr Billett, mein Fräulein, nur zu antworten, daß es so seltsam und so wenig verdient ist, daß es mir ebenso zur Unmöglichkeit geworden ist, meine Pläne für Sie durchzuführen wie die Ehre hinfort zu genießen, Sie zu sehen. Als Ihre Freundschaft mir innig und zärtlich schien, habe ich Ihnen mein Herz schmerzlich und liebevoll ergossen. Heute, da das Mißtrauen, ja selbst die Beleidigung an die Stelle der Gefühle getreten ist, die Sie mir einst so ausgiebig bezeugten, werde ich mich nicht zu einer Verteidigung erniedrigen, die ganz unnötig ist in den Augen des einfachsten Verstandes und der alltäglichen Vernunft. Denn man kann doch wohl wetten, daß, selbst wenn ich ein solcher Schuft wäre, wie Sie annehmen, ich doch nicht dumm genug bin, mich an der Lampe zu verbrennen, die ich selbst angezündet habe. Jedenfalls, mein Fräulein, wünsche ich Ihnen mehr Glück, mehr Gleichmut und mehr Vertrauen zu Ihren Freunden aus der Tiefe eines Herzens, das stets von Achtung für Ihre Tugend und hochschätzender Zärtlichkeit für Ihre Person durchdrungen sein wird. P. S. Ich glaube, mein Fräulein, daß Sie, bei Ihrer Art, über das Billett zu denken, es nicht mehr brauchen. Ich erbitte es daher zurück und erwarte von Ihrem Takt, daß Sie es mir mit meinen übrigen Briefen zurückschicken.«

Falls Mirabeau die Erwartung hegte, so leichten Kaufes diesem Abenteuer zu entrinnen, wurde er peinlich enttäuscht. Julie erwiderte:

»Mein Herr, wenn binnen drei Tagen, von heute an, nichts für mein Glück Positives von Ihrer Seite geschieht, so wird Verschiedenes für Ihr Glück Negatives von meiner Seite aus erfolgen.

J. D.«

Jetzt ging es um den Kopf. Er sann und grub in die Tiefen seines Hirns. Jetzt mußte etwas geschehen, das heransprengende Verhängnis aufzuhalten.

Er sandte ihr zwei Karten zum Opernball, die er aus den Mitteln einer neuen Anleihe bei dem keineswegs wohlhabenden Boucher erstanden hatte, gab ihr Verhaltungsmaßregeln, verabredete Erkennungszeichen unter der Maske.

Der Ballsaal war ein längliches Viereck. Rings um die Wände lief eine von Säulen getragene Galerie für die Zuschauer. Die eine Schmalseite des Saales buchtete sich in ein harmonisches Halbrund aus, das als Speiseraum diente. Lockende Körbe voller erlesener Früchte und leckeren Backwerks verhundertfachten ihr Bild in den ragenden Spiegeln des Büfetts.

Im Saal drängte sich eine tausendköpfige Menge im Domino, weiß, von Satin, die Damen; schwarz, von Seide, die Herren. Zwischen die hohen gepuderten Frisuren mischten sich die Federhüte à la Henri IV., die auch beim Tanze nicht abgesetzt wurden. Alle Stände mischten sich hier: Prinzen von Geblüt, Herzöge, Grafen, der gesamte hohe Adel, die Beamtenschaft, die Jobber, Abenteurer, Schieber, die diese Großen immer mehr in ihre materielle Abhängigkeit beugten, Anwälte, Künstler, Studenten, kurz jeder, der die achtzehn Livres Billett- und Maskenpreis für sich und seine Begleiterin besaß oder pumpen konnte.

Man schob sich dahin in gefährlichem Gedränge, die Hitze wurde erstickend, an Tanz war nicht zu denken.

Vor einer Loge staute es sich. Dort feierte ein neues Modewunder sein Debüt. Hier thronten einige maskierte Damen des Hofes mit kleinen flachen, nach der Kopfform gebogenen Wasserbehältern im Haare, in denen die Stengel frischer Blumen sich tränkten. Das Urteil des Publikums schwankte. Manche fanden es unbequem und albern, andere scharmant.

Reine-Anne, die sich an Mirabeaus Arm durch die Menge schob, frohlockte: »Ei sieh, Gabriel. Der Frühling im Schnee!«

Sie deutete auf das gepuderte Haar der Damen. Vielen Beifall fand der Kopfschmuck der Herzogin du Nord. In ihrer Frisur nistete ein kleiner Vogel aus kostbaren bunten Edelsteinen, der sich auf einer Feder wiegte über einer blühenden Rose.

Als ein Teil der Gäste sich zum Speisen in den Rundsaal zurückgezogen hatte, ward Raum für den Tanz. Quadrille, Menuett, Konter waren die Mode. Ein Pas de deux des Marquis de Noailles und der Madame Holstein, die, obwohl maskiert, von allen an ihrer Grazie erkannt wurden, erregte Bewunderung und Nachahmung.

In einer Ecke des großen Saals hinter einer Säule stand, vor Erregung zähneklappernd, Julie und La Fage. Sollte ihr Traum wirklich Wahrheit werden? War Mirabeau, trotz allem, kein Betrüger? Er hatte es mit überzeugender Bestimmtheit zugesagt. Ja, weshalb denn auch nicht?! Wußte nicht jeder, daß »sie« sehr oft zu diesen öffentlichen Bällen kam mit einer einzigen Hofdame!

»Zittere nicht so,« schalt La Fage, »beherrsch dich. Du wirst deine Fassung brauchen!«

Doch seine Larve wippte auf seiner Nase, so bebte er.

Da trat Mirabeau hastig heran, hob sekundenlang die Maske und flüsterte: »Kommen Sie!«

Ohne La Fage zu beachten, faßte er Julies Hand, deren Eiseskälte durch den weißen Glacéhandschuh drang, und zog sie mit sich durch das Gewühl. La Fage folgte. In einer Nische harrten zwei große schlanke Masken. Als Mirabeau nahte, kamen sie lebhaft auf ihn zu, die eine mit dem unverkennbaren berühmten schwebenden Gange Marie-Antoinettes. Julie erstarrte das Herz vor Freude und Schrecken. Sie blieb stehen. Die Füße trugen sie nicht weiter.

»Kommen Sie,« flüsterte er, »keine Furcht. Jetzt entscheidet sich Ihr Geschick.«

Als sie vor den beiden Damen standen, stellte der Graf vor: »Fräulein Julie Dauvers, von deren Fähigkeiten ich Ihnen, Mesdames, gesprochen habe.« Die Damen nickten. Julie sank zum Hofknicks zusammen.

»Nicht doch!« rief die Königin mit herrlicher Altstimme. »Sie verraten uns!«

Julie taumelte empor.

Die Königin sprach liebenswürdig: »Der Graf von Mirabeau, ein Freund meiner Freundin –« sie wies diskret auf ihre Geleiterin – »hat mir von Ihnen erzählt, mein Fräulein.«

Julie stammelte dumpfe Laute.

»Sie wollen mir Ihre Dienste widmen. Darf ich Sie bitten, die Maske auf einen Augenblick abzulegen.«

Es gelang Julies zitternden Fingern mit Mühe, das Band am Hinterkopfe zu lösen.

»Sehr hübsch«, summte die Königin anerkennend. »Bitte sehr, Mademoiselle, maskieren Sie sich wieder. Ihr Wunsch soll erfüllt werden. Zur Zeit haben wir wohl keine Vakanz, Louise?«

»Augenblicklich nicht, Madame,« entgegnete die Lamballe, »doch in drei bis vier Wochen geht Madame Doublet de Persane mit ihrem Gatten nach Deutschland. Dann wird ihre Stelle frei.«

Die Königin nickte gnädig. »Sie werden zur Zeit durch die Prinzessin von mir hören, Mademoiselle.«

Sie neigte den Kopf, auch die Lamballe nickte huldvoll. Julie sank tief zusammen, Mirabeau riß sie hoch. »Nicht doch, Sie verraten die Damen!«

Als Julie zur Besinnung kam, hatte der Schwall der Menschenwogen die beiden Masken verschlungen.

Sie hielt sich benommen den Kopf, ihr Gehirn wirbelte, eine Ohnmacht dämmerte herauf. »He,« lachte Mirabeau, »was sagen Sie nun, Sie Ungläubige?«

»Verzeihen Sie – verzeihen Sie mir«, stieß sie leidenschaftlich hervor und ergriff seine Hand. La Fage trat hinzu.

»Sie waren es,« raunte Julie mit versagender Stimme, »sie waren es wahr und wahrhaftig. Ich habe sie sofort nach den Bildern erkannt. Und die Stimmen –!«

La Fage stellte sich Mirabeau vor. Der Graf tat sehr zurückhaltend. Er konnte sich jetzt diesen Schützlingen gegenüber einigen Hochmut leisten.

»Ich muß Sie nun verlassen,« sagte er großspurig, »ich habe viele Bekannte hier, die ich begrüßen muß.«

»Schade«, trauerte Julie, jetzt aufflammend im Mitteilungsbedürfnis. »Ich hätte so viel noch mit Ihnen zu sprechen. Kommen Sie morgen zu uns, Herr Graf. Mein Vater wird sich sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ich werde sehen, ob ich Zeit finde«, entgegnete er gemessen.

»Oh, Graf, mein unüberlegtes Billett hat Sie erzürnt. Ich bedauere es mit Tränen. Vergeben Sie mir. Haben Sie nicht noch einige Augenblicke für uns?«

»Jetzt nicht.«

»Aber morgen. Kommen Sie! Kommen Sie bestimmt!!«

Er wollte gerade zusagen, um loszukommen, da erhob sich in der Mitte des Saales wüstes Kreischen und Gellen. Zwei Kurtisanen hatten um einen Kavalier Streit bekommen und waren mit Nägeln und Zähnen übereinander hergefallen. Die Fetzen ihrer Dominos und Wäsche flogen.

Alles drängte lachend hinzu, nahm Partei, feuerte die Amazonen durch Zurufe an. Der Puder stäubte, Haare lösten sich, Beine und Schenkel wurden unter freudigem Hallo sichtbar. Schon floß Blut. Endlich trennten Saaldiener die Rasenden, die sich nun mit Salven unflätiger saftiger Kotworte beschossen.

Der Zuschauerstrom floß, scherzhaft angeregt durch die Szene, nach allen Seiten auseinander. Man hatte derartiges auf Opernbällen oft erlebt, auch in höheren Kreisen als in denen der angenehmen Mädchen. 1778, vor zwei Jahren, hatte der Graf d'Artois, des Königs Bruder, die Herzogin von Bourbon geohrfeigt. Es gab einen unerhörten Skandal vor allen Leuten. Und im vorigen Jahre waren zwei andere große Damen in des Wortes primitivster Bedeutung sich in die Haare geraten. Am folgenden Tage hatte die eine von der andern Genugtuung gefordert und ihr die Wahl gestellt zwischen Säbel und Pistole. Diese aber hatte wohl keinen rechten Sinn für Komment, denn sie ging hinaus, kam mit einem Teppichklopfer zurück und drosch blindwütig auf die Dame ein, die für sich selbst Kartell trug.

Der Tumult hatte Mirabeau dem Liebespaare entrissen. Er verließ eilig den Saal. Draußen wartete ein Kabriolett. Er stieg ein – und lag in den Armen Reine-Annes. Sie lachten, daß der Wagen in seinen Federn schaukelte.

»Mein Kompliment,« ächzte er zwischen den Lachkrämpfen, »mein Kompliment, o Königin. Du hast meisterhaft gespielt. Und deine Kollegin nicht minder. Meisterhaft!«

Sie lachten, bis der Wagen vor der Taverne anglaise hielt. – – –

Nachdem er am nächsten Morgen spät aufgestanden, Boucher abermals angeborgt, aber zu seinem Schmerz erfahren hatte, daß der brave Polizeileutnant selbst keinen Centime mehr besaß, heute aber Vorschuß auf sein Gehalt nehmen würde, um dem Freunde gefällig zu sein, ging Mirabeau doch in die Rue Saint-Nicaise zu den Dauvers. Besser war besser, und Vorsicht hat noch immer das in sie investierte Kapital gut verzinst.

Er fand das Haus in freudetaumeligem Aufruhr. Man empfing ihn als Ehrengast und Wohltäter. Der Hofzahnarzt dienerte und bog seinen geschmeidigen Rücken vor diesem Freunde aller-allerhöchster Herrschaften. Ob er dem Herrn Grafen nicht irgendwie dienen könne? Er stehe mit Hab und Gut zur Verfügung.

Solche Worte hörte Mirabeau gern. Doch nicht so gern, daß er sie sich zweimal sagen ließ. Er nahm den Herrn Hofzahnarzt beiseite. Eine kleine augenblickliche Verlegenheit. Revenuen, auf die er bestimmt gerechnet hatte, waren durch einen unseligen Zufall ausgeblieben und – –«

»Aber kein Wort weiter, bester Graf. Bagatelle! Wieviel denn?«

»Hm, fünfhundert Livres reichen vollkommen. In acht Tagen – – –«

»Schon gut, schon gut. Bitte, hier ist die Kleinigkeit. Wollen Sie den Schein unterschreiben, Herr Graf? Reine Formalität unter Ehrenmännern, wegen Leben und Sterben – – –«

Ein Krösus verließ Mirabeau das gastliche Haus.

Doch die kurzen Beine der Lügen sind keine naturwissenschaftliche Irrlehre.

Wenige Tage später plombierte Herr Dauvers einen erkrankten Zahn der Madame Campan, der ersten Kammerfrau und Vorleserin der Königin. Er verdankte seine vornehme Klientel nicht zum kleinsten Teile seiner angenehmen Plauderkunst, die den Patienten oft über peinliche Eingriffe seiner Instrumente hinwegtäuschte.

So sprach er denn heute vertraulich über den letzten Opernmaskenball.

Die Campan bedauerte, daß sie ihn nicht habe besuchen können. Die Königin sei etwas unpäßlich gewesen – nur eine Kleinigkeit, wie sie Frauen zustoße – habe das Bett gehütet, sie habe ihr vorgelesen.

»Au«, schrie die erste Kammerfrau.

Der rotierende Bohrer war ihr unter die Zunge gefahren. So hatte ihre Erzählung diese unfehlbare Hand erschüttert.

Bald wußte der Hofzahnarzt, daß seine Tochter einer fatalen Komödie zum Opfer gefallen war. Zuerst wollte Julie es nicht glauben. Auch La Fage nicht. Aber wenn sie alles, ohne Voreingenommenheit, ohne Verblendung, ohne Verführung durch Lügensuggestion überdachte – –

»Und fünfhundert Livres habe ich dem Lumpen geliehen!« zeterte Herr Dauvers.

Er eilte zum Sekretär und zerrte den Schuldschein heraus. Zum Glück war er nur auf acht Tage ausgestellt, also morgen fällig.

Julie brach unter der Wucht dieser Enttäuschung zusammen. Allen Freundinnen hatte sie schon erzählt, daß sie in drei bis vier Wochen Ehrendame der Königin sein würde und hatte sich heilsam an ihrem Neide geweidet. Und nun! Alles Schimäre! Alles Lug! Alles elende Komödie! Sie brach zusammen. Man brachte sie zu Bett. Doch Herr Dauvers nahm die Sache jetzt in seine Finger, die gewohnt waren, zehrende Fäulnis erbarmungslos auszumerzen. Er schrieb dem Herrn Grafen einen Brief, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen ließ. Wenn die fünfhundert Livres nicht morgen eingingen, würde er ihn beim Ehrengericht der Marschälle Frankreichs verklagen, die an seine Tochter gerichteten Briefe dort vorlegen und – –

Den Rest konnte Mirabeau sich selbst ausmalen. Zusammen mit diesem freundlichen Schreiben war ein Brief Sophie Monniers aus dem Kloster Gien eingetroffen, dem ein Schlüssel entfiel. Er hatte sie, weiß Gott, völlig vergessen, seit die Freiheit mit ihrem Strudel der Ereignisse ihn wirbelte. Vom getreuen Boucher hatte sie seine Adresse erfahren. Sie schrieb:

»Ich harre Deiner zu jeder Stunde. Ich weiß, der erste Weg Deiner Freiheit wird Dich zu mir führen. Endlich, endlich, nach vier Jahren furchtbarer Trennung! Ich habe alles vorbereitet, habe diesen Nachschlüssel zum hinteren Tore anfertigen lassen. Ich erwarte Dich von nun an jede Nacht! Komm, komm! Was kann Dich zurückhalten? Komm! Ich stehe jede Nacht an der Pforte!«

Unwillig schleuderte er den Brief auf den Tisch. Dann sollte sie eben in der Januarkälte am Tore stehen! Diese Weiber! Er hatte jetzt doch wahrhaftig anderes zu tun, als Vergnügungsausflüge nach Gien an der Loire zu machen!

Zum Teufel die Weiber!

Er zog sich hastig an. Heute war der Termin vor der Großen Parlementskammer. Er eilte hin. Der Vater hatte ihn mit seiner Vertretung betraut. Er plädierte schlecht in der Unruhe seines Gemütes. Er verlor den Prozeß. Ein vernichtendes Urteil erging gegen den Vater.

Der Sohn schlich bedrückt nach Hause.

Madame Boucher empfing ihn. Der Polizeileutnant hatte seine Dienstreise nach Vincennes angetreten. Die schöne nervöse Frau zürnte dem Hausgast ob seiner Vernachlässigung. Doch sie trug nicht nach. Sie war bereit, zu verzeihen. Sie zog den Bekümmerten in ihr Zimmer, er trat über die kribbelnden Kinder fort, folgte ihr, trostbedürftig.

Es war einer jener Unglückstage, deren letzte Ursachen noch der gelehrten Forschung trotzen. Der Polizeileutnant hatte heute morgen endlich den erbetenen Vorschuß, den ersten während seiner Laufbahn, erhalten. Auf dem Wege überfiel ihn die Sorge, der Freund könne in Ungelegenheiten geraten. Er kehrte um, ihm das Geld zu bringen. Er suchte ihn. Fand ihn im Zimmer seiner Frau. Die Trösterin hatte vergessen abzuschließen.

Er ging wortlos hinaus. Er sagte kein Wort. Nicht zu dem Freunde, nicht zu dem Weibe, das er abgöttisch liebte. Aber es zerschmetterte ihn. Er starb wenige Wochen später. Nicht an gebrochenem Herzen. Diese Möglichkeit leugnen die ärztlichen Autoritäten. Doch was liegt an der sachkundigen Diagnose! Sie ändert nichts an dem tragischen Ausgang. Er starb stumm und ohne laute Klage, wenige Wochen darauf.

Mirabeau war emporgestoben und in sein Zimmer geflüchtet. Während er bestürzt überlegte, was jetzt geschehen sollte – er mußte das beleidigte Haus sofort verlassen, soviel stand fest –, erschien Herr Dupont, der Vertraute des Vaters, mit dem gemessenen Befehle, – ihm sofort in das Hotel in der Rue de Seine zu folgen. Benommen gehorchte der Sohn. Ängstlich trottete er neben dem schweigenden Gesandten des Marquis her.

»Der Alte wird in schöner Stimmung sein!« dachte er mit Zagen. Gerade in dieser Verfassung muß ich ihn nach sieben Jahren wiedersehen!« Aber Annahmen täuschen, zumal bei den Mirabeaus. Den Vater hatte sein Unglück im Prozeß milde gestimmt.

»Da ist der verlorene Sohn!« rief Herr Dupont und schob Mirabeau durch die Tür des Gemaches. Der Sohn eilte auf den Vater zu und stürzte ihm zu Füßen.

Er hob ihn empor, schloß ihn in die Arme. Dann sah er ihn lange stumm prüfend an: »Groß und stark bist du geworden,« lobte er, »besonders in den Schultern. Nach Gestalt, Wuchs und Gang bist du ein echter Mirabeau. Deinen hellen Teint aber hast du nicht von uns. Prächtig sind deine Haare, deine Stirn ist offen und deine Augen. Nun laß mich hören, ob deine Sprache noch so affektiert ist wie früher.«

Herr Dupont, der gelehrte Freund, ging. Vater und Sohn blieben allein. Sie sprachen über den verlorenen Prozeß.

»Wir lassen uns nicht kleinkriegen!« rief der Marquis. »Umsonst stammen wir nicht von jenem Helden Jean-Antoine, meinem Vater. Er verteidigte die Brücke, trotzdem ihm eine Kugel den rechten Arm zerschmettert hatte. Auch wir kämpfen weiter und halten die gefährdete Position!«

Sie berieten. Dann gerieten sie ins Plaudern. Der Marquis, der selbst einst wegen seines Buches über die Steuerpächter, deren verderbliches Walten er kühn geißelte, auf einige Wochen eingekerkert gewesen war, sprach bedenklich von den inneren Zuständen Frankreichs.

»Es wird immer wahrer, was ich schon 1760 Ludwig XV. schrieb. Das Volk zieht sich vom Könige zurück, ohne es selbst zu wissen. Denn der Wille der einzelnen hängt noch an seiner Person. Und unser Zeitalter ist, wenn man es auch nicht zu sagen wagt, ein schwaches und furchtsames. Die königliche Gewalt aber beruht auf nichts anderem, als auf der Verbindung des Willens einer starken, handelnden Menge mit des Königs Willen. Daraus folgt, daß die Lösung dieses Bundes zwischen Volkswillen und Königswillen den Nerv der Königsmacht zerschneiden würde. Ich fürchte sehr, dieser Nerv wird eines Tages zerschnitten werden.«

»Er wird es!« bestätigte der Sohn hart. »Ich sehe deutlich den Weg, der zum Abgrund führt, auf dem wir – –«

Da scheuchte gewaltiger Lärm auf der Straße Vater und Sohn empor. Sie eilten zum Fenster und sahen hinab. Am Eingang des Palais stritt der Huissier mit einer kreischenden, wild kämpfenden Frau.

Es war die Marquise von Mirabeau, die heute auf Grund des Urteils das Kloster St.-Michel verlassen hatte und Einlaß begehrte.

Ein Auflauf entstand. Die alte Frau rang mit den Berserkerkräften hysterischer Gewalt. Da traf ihr Blick Vater und Sohn am Fenster des ersten Stockes. Sie ließ von dem Portier ab und geiferte giftgetränkte Bosheiten zu dem Fenster hinauf. Der Chor der Straßenjungen sekundierte jauchzend.

Vater und Sohn flüchteten ins Zimmer.


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