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Siebzehntes Capitel.
Heirathen.

Zuletzt verlieren alle Menschen Alles,
Und mit dem Balle fängt das Kind schon an,
Mit seinem Flachshaar und den ersten Zähnen.
Und grause Fragen kannst du dann an Arme
Und Reiche, Hohe, Groß' und Kleine thun,
Da an den Feldherrn, den geschlag'nen, sprich:
»Wo hast du denn dein Heer?« ... und an das Weib:
»Wo hast du deinen Mann?« ... und an die Tochter:
»Wo hast du, ach, dein Kind?« – Und also kannst du
Jedweden schwer nach Etwas fragen; denn die Welt
Verschonet Keinen mit der Wahrheit. Keinen
Verläßt sie aber auch mit Trost und Hülfe,
Soweit ihm noch zu helfen ist; und sicher
Zu Thränen doch, zu Duldung und – zum Grabe.
Und endlich hat kaum Einiges die Ehre,
Ein Märchen für den Winterherd zu werden,
Woran die ganze Welt mit Bär und Hund,
Wolf, Esel, Mönch, Hirt, Königskind und König
Dem klaren Zauberaug' der frohen Kinder
Als bunte Seifenblase nur erscheint.
                *        *
                    *
Dem größern Menschen wächst die Welt stets – kleiner!


Der Ritter Savern war mit seiner Schwester Isidore an einem und demselben Tage aus Vivaldi's Palast nach der Schweiz geschieden, und Raimund mit Gaiette nach dem Niederrhein. Savern hatte den französischen Edelknaben ... Raimund den Mohrenknaben mitgenommen; Isidore den Goldlockenkopf, den ihr ein Speciale nach der Kunst einbalsamirt; Gaiette war gegangen und hatte noch einmal zum ewigen Andenken in den Wagen des Nikolas gerochen, der noch ganz nach Melonen roch, und hatte sehr hineingeweint um ihre Irmengard. Auch der stolzbegeisterte Nikolas that ihr leid, der durch immer ihm ausgesuchte Kost und frische Luft liebenswürdig gediehen. Es war ihr unbegreiflich, wo Beide geblieben? Ob eins das andere Krankgewordene in einer einsamen Hütte pflege? Ob sie vorausgeeilt? Ob sich vielleicht Beide vor Schande und Unglück das Leben genommen? Also vor Verstande! Warum Savern nicht gewarnt, ja sich nicht in des Porcus Schiffe ein- und verladen zu lassen? Nur waren sie auf einem andern, weitern Wege gekommen, als die Kreuzfahrer gezogen. Daß Raimund von der Hitze immer mehr bedrückt, fast keines vernünftigen Gedankens, kaum einer folgerechten Sorge mehr fällig war – das war nicht mehr zu leugnen. Denn einen Augenblick scheint jeder Wahnsinnige sogar verständig. Und dies ward alle Tage schlimmer mit ihm, und sie seufzte: Ach, was muß sich der Mensch doch Alles gefallen lassen! selbst närrisch zu werden! ... oder der Narr wieder klug ... wie unsere Kinder, und ich selbst! – Sie betrieb die Heimreise ängstlich für ihn.

Durch die brave Lombardei, wo die Meisten in ihrem Sinn und ihrem Herzen verhüllte Katharer waren, ließ man den Zug mit den Kameelen ruhig schweigend, aber mitleidig vorüber; denn von ihnen war nicht ein einziges Kind mitgezogen, und die Kinder standen gesund und blühend, nur neugierig am Wege. Anders ward es schon in der Schweiz, von Zug, Zürich und Basel an; denn hier bemerkten sie, daß sich die Aeltern mehr um den Himmel als um ihre Kinder kümmerten. Und so ward es immer schlimmer in den Städten am Rheine zu Thal. Immer ging ihnen ein dumpfes Gerücht von Zurückkehrenden vom Kinderkreuzzuge voraus. Die Leute standen an dem Wege, die Thränen in den Augen, und wenn sie stumm vorüberreiten wollten, schrien die Weiber sie an: Nun, habt ihr kein Mitleid? Wir wissen nicht – ihr wißt; darum macht uns ruhig, und überlaßt dann uns den Trost: Alles kann ja nicht Allen geschehen! – Dann antwortete Frohmuthe vom Kameel herab, während Raimund wie versteinert auf dem seinigen sitzen blieb und sich die Welt ganz verwundert ansah. Nun, sprach sie, Alle sind nun nicht geradezu todt, verhungert, verloren, verkauft; doch wol über die Hälfte – die Hälfte aber freilich ganz! So kann noch ein Jedes von euch hoffen, gerade die Seinigen wiederzusehen.

In den Städten wurden sie im Nachtlager von den Rathsherren besucht, von den Priestern und Mönchen sogar; ja, Frohmuthe ward in das Sprechzimmer der Nonnen ins Kloster höflich eingeladen und kam meist ohne Athem um Mitternacht erst wieder, und verzweifelte, daß ihre Lunge und Zunge bis nach Köln ganz weg sein würden. Raimund aber ging unter den armen Aeltern und Müttern umher, und beschenkte die Armen, die auch keine Kinder hatten und nicht einmal zu weinen brauchten, und doch mit ihnen weinten, über die Maßen reichlich, sodaß die Verwunderung über die Welt und gute Menschen doch ein Weilchen ihre Wehmuth betäubte. Raimund aber hatte unterwegs einige Hinrichtungen getroffen, mit angesehen, und wünschte, im Gegentheil von Nero, nicht der ganzen Menschheit einen einzigen Kopf, um mit einem Schwert und mit einem Streich sie Alle zu enthaupten, sondern er beneidete die stolzen, vornehm in Sammet und Seide gekleideten Scharfrichter, weil sie die Narren und Missethäter abthun durften mit Ruhm und Ehren, wie ohne Gewissen.

Auf den Kameelen mußten sie oft eine Stunde unter den Menschen halten, die alle durch Fragen sich alle Antworten selbst gleichsam ersäuften. Zuletzt kam ihnen ein Schwarm Menschen bis Bonn entgegen, und unter dem Severinthor von Köln ward den Kameelen selbst bange, daß sie widerwärtig schrien. Darunter waren auch viele rohe Bursche »mit langen Nasen« gewesen, die ganz schwarz angestrichen waren. Denn von Herzlosen kann Alles verspottet werden, und sie verspotten es, um es gleichsam in eine höhere Welt, in die der Fabeln und Märchen zu erheben – und aus Honig und Essig wird wirklich ein kühlender Balsam.

Und so that denn der alte Hausmeister Hagebald ihnen wieder das alte Hausthor auf, diesmal angelweit. Diesmal war die Frau Rath aber die Frau van Graveland. Den Bräutigam kennend, wie die meisten Bräute ja nur oberflächlich, hatte sie ihn sobald als schicklich geheirathet, als Besitzerin von eigenem großen Vermögen, und ihre an ihrer ersten Verheirathung aus Stolz und Ehrsucht schuldige Mutter, lebte nun ausgesöhnt bei den jungen Eheleuten, die Beide zusammen nur erst 72 Jahre alt und prächtige Leute waren. Nur was Irmengard, wenn sie ja wiederkäme, zu der Heirath sagen würde, besorgten sie ihretwegen; aber heimlich lächelten sie dazu. Gaiette schlief herzlich froh wieder im Bett ihres saubern Stübchens. Der Mohrenknabe war ihr Edelpage. Da sie ganz liebenswürdig und klüger und interessanter als ihre gnädige Frau geworden, so ward sie von ihr zum Gesellschaftsfräulein erhoben; aber das vornehme Leben meist nur für Spiel und Schein ansehend, brach sie bei schicklicher Gelegenheit noch oft in kurzes Gelächter aus. Der redliche Jost kam völlig gesund mit »unsichtbar geheilter Nase«, die er mit Recht seine »Märtyrerin« nannte; er brachte Frau und Kinder mit, ohne auf Raimund's Besuch zu warten, da ihm Don Ramon als Verständiger auch des Unverstandes vertraut hatte, daß sein redlicher Freund Raimund ein unrettbarer Candidat des Unverstandes, nicht der Narrheit sei, und Beide konnten ihn kaum ohne Thränen ansehen, und voll Wehmuth redeten sie gezwungen zuletzt nur wie mit Kindern mit ihm, und von Kindersachen – von Märchen, Sagen, Geistererscheinungen, Verwandlungen durch gute sowol wie durch böse Geister, und ihm am liebsten vom Wiederkommen der Todten. Da war er ganz Feuer und Flamme. Dabei war er nicht nur ganz unschädlich, sondern höchst wohlthätig, nützlich und hold wie ein Vater oder Bruder gegen Alle. Er schenkte mit reichen Händen – er ging überall umher, überall willkommen, bedankt, ja gesegnet. Auch dem liebenswürdigen menschlichen Erzbischofe schenkte er in seine Sparbüchse zum künftigen Bau eines Doms, seines Geistes- und Herzenskindes, alle Monate an einem gewissen Tage eine bedeutende Summe, wodurch er bei dem verständigen geistlichen Herrn immer freien Zutritt hatte. Er wollte es sogar einmal bei Nacht versuchen ... oder des Tags drei mal, und lächelte verschmitzt dabei, im voraus der huldreichsten Auf- und Annahme gewiß. Vivaldi hatte ihm seine Schuld mitgegeben, und auch noch einige seiner Foderungen eingetrieben und nachgesandt. In Aachen war die große Scharfrichterei verkäuflich geworden und auch die ansehnliche, hoch in Ehren stehende Stelle des Scharfrichters offen; ein Anverwandter von Raimund hatte ihn um Geld dazu gebeten, und – Raimund hatte sie gekauft und dem Vetter zur Verwaltung und Vertretung übergeben, was erlaubt und Rechtens war; ja, er war selbst mit nach Aachen gezogen mit seinem getreuen Diener, hatte den Vetter gesehen starken Kälbern, ja wolligen Stähren die Köpfe auf einen Hieb, ohne Unterlage in freier Luft, vom Rumpf abhauen, und hatte es – zum Scherz – selbst versucht und prächtig gekonnt. Auch in seinem Wahnsinne machte er Fortschritte; er hatte, als immer aufmerksam, schon einige Töchter gefunden, die ihren Müttern, wie man sagt »lächerlich« ähnlich sahen; nur den Unterschied der Frischheit abgerechnet oder dazu. Nur begriff er nicht, wie sie Beide zu gleicher Zeit nun da wären? bis er die Mutter für die Tochter Chrysalide hielt, und den Doctor fragte, ob man auch Wiedergekommene, z. B. Weiber, als doch im Grunde dieselben, noch ein mal heirathen dürfe? Laß sie nur erst wiederkommen! Das Weitere wird sich schon machen; hatte ihm der Doctor, in Kummer um ihn, gesagt, und ihm zur Ruhe nur gewünscht, daß sein Wahn Gestalt annehme und ihm freundliches Leben werde! Wie er wegen der frommen Gaben, stand auch Don Ramon für die glücklich hergestellten Augen in so großer Gunst bei dem Erzbischof, daß er ihm eine Freibitte im voraus zugestanden. Auch van Graveland, der den schönen Greis prächtig in ein großes Altarbild des heiligen Antonius gemalt, in dem er vor demselben in vollem Ornate kniet, und dadurch selbst kirchen- und altarfähig worden, war wohl angesehen von dem dankbaren Kirchenfürsten, der manches bewundernde »Hm!« vor dem nun auch wie heiligen Bilde aus der Seele herauf zur Welt gebracht. Das ganze Haus stand in Achtung und Ehren, und die nach Rom gelieferte Tochter war vergessen, und auch von Rom aus war in dem großen Wirrwarr daselbst keine Nachfrage nach ihr und nach ihrem mit dem Kirchenstempel zum Ungeheuer gestempelten redlichen Seelenfreunde. Sr. Gnaden der Erzbischof hatte eine große Todtenmesse für die Kreuzzugskinder befohlen, und Jost hatte dabei sich nur ausbedungen, daß sie ganz unverfänglich für Diejenigen sein sollte, welche lebendig zurückkehrten. Denn er hatte gestern in der Abenddämmerung drei Knaben getroffen, die sich zum Abschied von der Reise die Hände gegeben und in die Thüren dreier Nachbarhäuser geschlichen, worauf darin unermeßlich frohes Geschrei geworden, und in den plötzlich erleuchteten Zimmern die Umarmungen der Aeltern und Kinder gesehen und mit geweint.

Und so kamen denn in den nächsten Wochen viel Kinder, mehr Knaben als Mädchen zurück. Zuerst die, welche auf dem Hinwege schon erkrankt waren; dann die mit rüstigen Beinen, welche bis in die Lombardei gedrungen, aber dort die arabischen Pocken bekommen und ganz entstellt waren, sodaß ihre Aeltern sie nicht erkannten, nicht für die Ihren annehmen wollten und klagten: Ach, wo ist mein schmuckes Gretel hin! ...

. . . Mein Annelchen, bist du es denn? ...

. . . Ach, mein Magdelchen, das bist du gewiß nicht! sprich: auf welchem Auge bin ich blind? ... Wie heißt unser Hund? ... Unsere Katze? ... Wie viel hast du Geschwister? ... Wie lange ist der Vater todt?

. . . Nun Pelz, hast du Aermel, so rede! sprach ein Vater in einem andern Hause zu seinem Pantaleon; Kerl, du bist ja ein Riese geworden!

Ihr Trudelchen fragten andere Geschwister: Nun, bist du denn nicht bis ins Gelobte Land gekommen? Aber da sie im Meere bei Genua mit in der Ebbe gesessen, antwortete sie treuherzig: Nur bis ins Gelobte Wasser.

Und nun ward aufgetragen, was jede Mutter nur irgend Gutes hatte, geweint und gelacht, Gott gedankt, zu Bett gegangen – und die Nacht nicht geschlafen. Das ganze Heer der deutschen Knaben und Mädchen hatte sich aufgelöst, die Hälfte der letztern waren in Pisa in zwei Schiffe verschwunden. Chronicon Senoniensi. Die Trotzigsten aber auf dem Wege nach Rom fortgezogen, ja, von einem gewissen Brindisi Vincenz von Beauvais. aus hatten sie erst noch ihren Kopf aufsetzen wollen. Die in das Land Heimgekehrten wurden überall verspottet und verlacht; ja, vor Scham waren sie womöglich nur die Nacht, so barfuß, abgehungert, abgerissen gewandert, und hatten nur stumm sich vor die Thüren gestellt, aber keine Hand ausgestreckt, noch ein Wort gesagt, nur zur Erde gesehen, daß es nicht hätte »gebettelt« heißen sollen. Die mitgezogenen Weibspersonen und junge Dienstmädchen aber schlichen vor Scham nur im Dunkeln in der Stadt und verbargen sich bei armen barmherzigen Bekannten oder den Barmherzigen Schwestern selbst; denn bei Einigen hatte man Kindchen aus ihren Armen, unter dem über den Kopf gedeckten Mantel schreien gehört. Fragm. apud Urstis: »Quia plurimae etc.« »Aber Alles lagert sich zuletzt wieder, selbst ein Erdbeben, und ein wüthend übergeschwollener Strom tritt zurück und fließt, auf sein Maß gebracht, wieder in seinem gewöhnlichen Bette – wie ein sogenanntes unschuldiges Kind. Das kennt man schon!«

So sprachen die vernünftigen, immer gutmüthigen Kölner bei ihrem Glase Wein, der dies Jahr wie aus Vorsehung zur Beruhigung sehr lobenswerth gerathen.



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